1 Einleitung

Im Februar 2022 eskalierte der bereits seit acht Jahren andauernde bewaffnete Konflikt in der Ukraine zu einem offenen zwischenstaatlichen Krieg. Während ukrainische Männer aufgrund der Wehrpflicht das Land nicht verlassen durften, machten sich viele Frauen, Kinder und ältere Menschen auf den Weg, in Nachbar- und naheliegenden Staaten Schutz zu suchen. In den Bildern und Videos, die in sozialen Medien und auch der Tagespresse kursierten, entwickelte sich rasch eine Ikonographie, die diese FlüchtlingeFootnote 1 – weiße Frauen mit ihren Kindern – als vulnerable Subjekte zeigte, oder als beschützende und fürsorgliche Mütter. Bald darauf folgten aber auch andere Aufnahmen von schwarzen Menschen und People of Color – hauptsächlich junge Männer – an Bahnhöfen und Grenzübergängen. Vielen von ihnen wurde der Grenzübertritt zunächst verwehrt, obwohl sie versuchten, vor den selben Gefahren zu fliehen. Es wurde deutlich, dass sie aufgrund ihrer Hautfarbe und in nicht wenigen Fällen auch aufgrund ihrer Staatsangehörigkeiten und Pässe nicht mit den gleichen Privilegien ausgestattet waren.

Diese rassistische, rassifizierte und geschlechtsspezifische Doppelmoral ist weder neu noch auf diesen Fall beschränkt. Die unterschiedliche Behandlung von Flüchtlingen hat – wie wir in diesem Artikel darlegen werden – eine lange Geschichte. Sie ist fest im internationalen Flüchtlingsschutzregime verankert und reflektiert koloniales Othering. Othering spiegelt die konstruierte Kluft zwischen ‚Zivilisierten‘ und ‚Unzivilisierten‘ entlang kolonialer Trennlinien und Stereotype, die nicht-westliche Menschen unterordnen und rassifizieren. Eindrücklich schildert dies etwa Valentin-Yves Mudimbe in der 1988 erschienen Studie The Invention of Africa, die aufzeigt, dass Wissen und Vorstellungen über Afrika hauptsächlich von westlichen Eroberern und Forschenden geprägt wurden. Darüber hinaus betont Achille Mbembe (2014) in seiner Kritik der schwarzen Vernunft die imaginäre Figur des „Schwarzen“. Zunächst benannt als „‚Neger‘[,] einen menschlichen Rohstoff, weil er eine quantifizierbare Ware darstellt“, folgte später die Bezeichnung der „Schwarzen“. Sie kennzeichnet Bezüge zu Versklavung und „fehlende[r] Menschlichkeit“ und demonstriert „Ur-Erniedrigung“ (2014, S. 141–142). Dies zeigt, wie Othering Unterschiede kodifiziert. Im Gegensatz zum scheinbar ‚zivilisierten‘ eigenen Selbst werden den Anderen negative, primitive und barbarische Eigenschaften zugeschrieben. So werden die Anderen in subalterne Positionen versetzt und zu benachteiligten Außenseitern, das negative Kontrastbild zum privilegierten Insider und positiven Selbst (Olwig 2022).

Diese Prozesse lassen sich nicht nur in allgemeinen ideengeschichtlichen Entwicklungen beobachten. Sie wirken sich auch auf rechtliche Strukturen aus – einschließlich jener, die für den Schutz von Flüchtlingen sorgen sollen. Third World Approaches to International Law (TWAIL) legen dar, wie das Völkerrecht in westlichen Paradigmen sowie in kolonialen und imperialen Strukturen verharrt und so subalterne Positionen und strukturelles Othering kodifiziert (u. a. Otto 1996; Anghie 2005; Chimni 2017). TWAIL ist auch für die Aufarbeitung von Kolonialverbrechen relevant, wie Imani und Theurer in ihrem Beitrag zu diesem ZeFKo-Forum herausstellen. In unserem Beitrag wenden wir uns den Auswirkungen kolonialer Machtverhältnisse auf Flüchtlingsrecht und -schutz zu.

Unser Ziel besteht dabei nicht darin, einen spezifischen Fall zu analysieren, sondern den breiteren Einfluss westlicher Erfahrungen, Vorstellungen und Standards auf das internationale Flüchtlingsrecht und den Flüchtlingsschutz zu reflektieren, ebenso wie die daraus hervorgehende Figur des Flüchtlings in und aus (de)kolonisierten StaatenFootnote 2, insbesondere in Afrika. Zunächst untersuchen wir das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention) und zeigen, wie der Fokus der Flüchtlingsdefinition auf Europa zu strukturellem Othering und zur Vernachlässigung von Flüchtlingen in (de)kolonisierten Staaten führte. Die Exklusionseffekte dieses Ansatzes motivierten afrikanische Staaten, 1969 die Konvention zur Regelung der besonderen Aspekte der Flüchtlingsprobleme in Afrika der Organisation für Afrikanische Einheit (heute: der Afrikanischen Union, AU Flüchtlingskonvention) zu verabschieden. Wir legen dar, dass diese Konvention Schutzlücken schließt, indem sie sich mit spezifischen Problemen in Afrika beschäftigt, insbesondere mit solche, die die koloniale Geschichte des Kontinents hervorgebracht hatte. Der wichtigste Effekt dieser Konvention bestand darin, Menschen, die vor Kolonialismus flohen, in die Flüchtlingsdefinition einzuschließen.

Im zweiten Schritt erläutern wir, dass diese rechtlichen Änderungen der Ungleichbehandlung kein Ende setzten. Diese hielt an, auch als afrikanische Staaten ihre Unabhängigkeit erlangten. Die internationale Gemeinschaft reagierte zwar auf die steigenden Zahlen von Flüchtlingen in Afrika, legte dabei das Augenmerk jedoch auf humanitäre Hilfe, nicht auf Asyl im rechtlichen Sinne. Wir argumentieren, dass dies eine kritische Wende hin zur materiellen Hilfe für Flüchtlinge in (de)kolonisierten Staaten darstellte. Darauf aufbauend eruieren wir drittens, wie das internationale Schutzregime Flüchtlinge im postkolonialen Afrika primär als Opfer porträtierte, was den Fokus auf humanitäre Hilfe legitimierte und die Figur des Flüchtlings nicht nur depolitisierte, sondern auch pathologisierte. Im Zuge dieser Entwicklung schrieben sich Geschlechterstereotype in Vorstellungen von Flüchtlingen ein. Ihre Darstellung als Opfer führte zur Feminisierung von Flüchtlingen im Allgemeinen. Gleichzeitig setzten sich jedoch auch Vorstellungen von Männern als bedrohlich und Frauen als vulnerabel fest. In allen Fällen blieben die Individuen gemeinhin unsichtbar. Dies verstetigte das Othering von nicht-europäischen bzw. nicht-weißen Flüchtlingen. Durch die analytische Verknüpfung von Politik, Recht und Geschlecht können wir nachzeichnen, wie koloniales Othering in rechtliche und politische Entwicklungen eingebettet ist und wie es geschlechtsspezifisch wirkt.

2 Internationales Flüchtlingsrecht und sein exklusiver Ansatz gegenüber kolonialen Anderen

Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs kam es zu massiver Gewalt und Vertreibung, doch die internationale Gemeinschaft stellte nur unzureichende Aufnahme- und Schutzmaßnahmen für Flüchtlinge bereit. Unmittelbar nach dem Ende des Krieges nahmen sich deshalb die neu gegründeten Vereinten Nationen (VN) dieses Themas an. Sie setzten sich zum Ziel, ein System zu entwickeln, das Schutz zukünftig garantieren würde. Die VN beauftragten zunächst die Internationalen Flüchtlingsorganisation und wenige Jahre später das Hohe Flüchtlingskommissariat (UNHCR), für den Schutz und die Lösungen für Flüchtlinge zu sorgen. Zudem entwickelten die Mitgliedstaaten der VN ein internationales Abkommen, das den Status und die Rechte von Flüchtlingen definierte: die Genfer Flüchtlingskonvention. Sie wurde auf einer VN-Sonderkonferenz 1951 verabschiedet und stellt bis heute das rechtliche Rückgrat des internationalen Flüchtlingsschutzregimes dar.

Während das heutige Verständnis und die Anwendung der Konvention global sind, zeigt eine nähere Betrachtung der Flüchtlingsdefinition, wie tief sie zur Zeit ihrer Entstehung in kolonialen und imperialen Strukturen verstrickt war. Die Konvention definiert den Flüchtling als Person, die wegen begründeter Furcht vor Verfolgung aus bestimmten Gründen (Art. 1 a 2) durch „Ereignisse, die vor dem 1. Januar 1951 in Europa“ oder „in Europa oder anderswo“ (Art. 1 b 1) geflohen ist. Obwohl die Formulierung „Europa oder anderswo“ als Kennzeichen für die globale Relevanz der Konvention bewertet werden könnte, setzt sie Europa doch in den Mittelpunkt und ordnet alle anderen Teile der Welt „anderswo“ ein (Krause 2021a). Die Formulierung spiegelt eine postkoloniale Weltvorstellung, in der die zentrale Trennlinie nicht mehr zwischen Metropolen und Kolonien verläuft, sondern zwischen „the West and the Rest“ – wie Stuart Hall (2018) kritisiert. Dies korrespondiert mit Walter Mignolos Argument, dass „die Figur des Kolonisierten nicht für das ‚Recht des Menschen und des Bürgers‘ qualifizierte“ (2012, S. 239, eigene Übersetzung). Solche Begrenztheiten ‚universaler‘ Normen diskutiert auch Joël Glasman in seinem Beitrag zu diesem ZeFKo-Forum.

Es könnte angenommen werden, dass die Lage der Flüchtlinge in Europa damals so dringlich war, dass die VN-Mitgliedstaaten sie priorisieren mussten, oder dass sie vielleicht nichts von globalen Vertreibungen wussten. Doch die Diskussionsprotokolle widerlegen das. Sie bezeugen, dass sich die Staaten sehr wohl der gegenwärtigen und wahrscheinlich zukünftigen Vertreibungen sowie der Bedarfe von Flüchtlingen weltweit bewusst waren (vgl. Mayblin 2017; Krause 2021a). Tatsächlich handelten sie die Konvention zu einer Zeit aus, als die Befreiungsbewegungen in den Kolonien immer mehr Fahrt aufnahmen. Doch die Staaten gingen weder auf die Umstände ein, unter denen dieser Widerstand stattfand, noch auf die Brutalität, mit der dem Widerstand teilweise begegnet wurde. Daher berücksichtigten die Urheber*innen der Konvention auch nicht die durch den Widerstand und die Befreiungskriege gegen Kolonialmächte vertriebenen Nichteuropäer*innen im internationalen Flüchtlingsschutz (s. a. Abuya 2005; Peterson 2012). Vielmehr vernachlässigten die Staaten die Flüchtlinge ‚anderswo‘ und machten die kolonialen Anderen bei der Schaffung des internationalen Flüchtlingsrechts irrelevant (Krause 2021a, S. 609–616).

Dies überrascht nicht, wenn bedacht wird, dass unter den verhandelnden Staaten Kolonialmächte wie Belgien, Dänemark, Frankreich, Italien, die Niederlande und das Vereinigte Königreich sowie von Siedlerkolonialismus geprägte Staaten wie die USA und Kanada waren. Einige dieser mächtigen Staaten dominierten die Diskussionen. Während manche eine universelle Flüchtlingsdefinition forderten, bestanden andere auf eine Beschränkung auf Europa. Letztere setzten sich durch, wie die zeitlich und regional limitierte Flüchtlingsdefinition in der verabschiedeten Konvention zeigt. So kodifizierten die Staaten einen exklusiven Ansatz in die Konvention. Hätten sie Flucht aus Konflikten zum Widerstand gegen Kolonialismus als Fluchtgrund aufgenommen, hätten sie ihre eigenen kolonialen Projekte delegitimiert.

Dieser exklusive Ansatz führte dazu, dass die Konvention nicht reibungslos auf andere Teile der Welt angewendet werden konnte. In den 1950er und 1960er-Jahren kamen Fluchtbewegungen vorwiegend außerhalb Europas auf und wurde hauptsächlich von antikolonialen und postkolonialen Konflikten ausgelöst. Diese Flüchtlinge erhielten jedoch nicht unmittelbar Schutz durch die Konvention oder Unterstützung durch das UNHCR (siehe unten). Kritik wuchs in den VN, was 1967 zur Verabschiedung des New Yorker Protokolls führte, das die zeitlichen und regionalen Grenzen der Flüchtlingsdefinition aufhob (Davies 2007). Dennoch belegt die ursprüngliche Rahmung, wie die Konvention mit Blick auf eine bestimmte Flüchtlingsgruppe in einer bestimmten geopolitischen Region formuliert wurde und dabei die Erfahrungen und Vorstellungen internationaler Großmächte widerspiegelte (Mayblin 2017).

Auch unter den neuen unabhängigen afrikanischen Staaten wuchs Kritik. Sie berücksichtigten die zentrale Bedeutung von Politik und Eigeninteresse bei der Aufnahme von Flüchtlingen, was 1969 zur Verabschiedung eines eigenen Abkommens beitrug: die AU-Flüchtlingskonvention. Im Kern geht diese Konvention auf die Lücke zwischen der Genfer Flüchtlingskonvention und den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und schutzbezogenen Dynamiken im postkolonialen Afrika ein, indem sie auf spezifische Probleme in Afrika reagiert. Im Zentrum stehen dabei Menschen, die aufgrund der kolonialen Gewalt und des Widerstands gegen diese fliehen mussten. Daher bemühten sich afrikanische Staaten, den rechtlichen Schutz afrikanischer Flüchtlinge zu gewährleisten.

Bedeutsam ist die Tatsache, dass die AU-Konvention zwar in ihrer Präambel die Genfer Flüchtlingskonvention anerkennt und im Text deren Flüchtlingsdefinition aufnimmt, aber eine zusätzliche Definition formuliert, die auf die spezifischen Probleme im Zusammenhang mit den kolonialen Erfahrungen und den anhaltenden Widerständen in verschiedenen Ländern eingeht (Nyanduga 2004). Diese Definition reflektiert die Merkmale von Kolonisierung, indem sie „Aggression von außen, Besetzung, Fremdherrschaft oder Ereignisse, die die öffentliche Ordnung ernsthaft stören“ (Artikel I 2, eigene Übersetzung) als rechtlich anerkannte Fluchtgründe aufführt. Damit spiegelt die AU-Konvention die antikolonialen und antiimperialen Entwicklungen in afrikanischen Staaten wider (Abuya 2005).

3 Politische Ideologien und fluide Repräsentation von Flüchtlingen zum Ende des Kolonialismus

Der exklusive Ansatz der Genfer Flüchtlingskonvention prägte die politische Idee vom ‚Flüchtling‘. In der frühen Phase des Kalten Krieges verwendeten westliche Staaten, insbesondere die USA, eine ideologische Flüchtlingsfigur, die mit Tapferkeit assoziiert war und vor allem für Menschen galt, die aus der ehemaligen Sowjetunion flohen (Gatrell 2013, S. 97): die „starken, heldenhaften Figuren, die sowohl politisch als auch intellektuell für Freiheit und Gerechtigkeit kämpfen“ (Pupavac 2006, S. 1, eigene Übersetzung). Sie kristallisierten die Vorstellung vom Flüchtling als einen politisch aktiven weißen Mann mit einer individuellen Biographie, der aus politischen Gründen floh, möglicherweise mit nahen Familienangehörigen, für deren Sicherheit er verantwortlich war. „‚Mit seinen Füßen wählen‘, indem er in den Westen flieht“ (Johnson 2011, S. 1020, eigene Übersetzung) entwickelte sich zu einer zentralen Vorstellung der heroischen Figur des Flüchtlings. Dieser Figur schrieb der Westen politische Handlungsfähigkeit zu.

Flüchtlinge in kolonisierten und postkolonialen afrikanischen Staaten suchten die selbe Freiheit wie ihre ‚Counterparts‘ im Kalten Krieg. Doch sie waren im politischen Kalkül westlicher Mächte irrelevant (Kyoichi 1998, S. 50). Zwar erlebten kolonisierte Menschen Brutalität und Gräueltaten, die nach der Genfer Flüchtlingskonvention ohne Weiteres als Verfolgung klassifiziert werden konnten, aber Kolonialmächte sahen die gewaltvolle Unterdrückung der Kolonisierten als legitim und als Teil die ‚zivilisierende‘ Mission der Kolonisierung an. Die Kolonialverwaltungen nutzten überwiegend brutale Methoden, um koloniale Herrschaft durchzusetzen und zu festigen, und sie reagierten auf Widerstand mit bereits existierenden rassifizierten Ansätzen, die frühere Eroberer und Forschende entwickelt hatten. Sie stellten gewaltsame Rebellionen und Widerstand von indigenen Völkern in Kolonien als Wildheit und Ausdruck der primitiven und gewaltvollen Natur der Anderen dar.

Diesem Schema folgend wurden die Protagonist*innen des antikolonialen Widerstandes, die von der indigenen Bevölkerung in den Kolonien als Freiheitskämpfer*innen gefeiert wurden, von Kolonialverwaltungen in Ländern wie Namibia, Mosambik, Simbabwe und Südafrika als Terroristen gelabelt (z. B. Mitchell 2009). Dies unterstellte denjenigen, die Widerstand leisteten, subversive kriminelle Handlungen und brachte koloniales Othering zum Ausdruck. Ein solches Labelling hatte weiterhin gravierende rechtliche Folgen für Fliehende, da die Flüchtlingsdefinition der Genfer Flüchtlingskonvention nicht auf Menschen anwendbar ist, die „ein schweres nichtpolitisches Verbrechen“ begangen haben (Art. 1 f b; Kälin und Künzli 2000; Mégret 2009). Daher bedurfte es der AU-Konvention mit ihrer Flüchtlingsdefinition zum Schutz derjenigen, die sich Kolonisierung widersetzten.

Mit dem Fortschreiten der Unabhängigkeitskämpfe variierten politische Diskurse und Reaktionen auf Vertreibungen weiter. Westliche Staaten repatriierten oder evakuierten koloniale Siedler*innen (Ballinger 2016, 2020; Kalter 2022), während sie afrikanische Flüchtlinge primär den Nachbarstaaten überließen. Diese aufzunehmen, war für letztere aufgrund der eigenen antikolonialen Ideologie und des Gebots afrikanischer Solidarität oft nahezu selbstverständlich, trotz enger Budgets und zusätzlicher Sicherheitsrisiken durch Angriffe der Kolonialregime der noch zu befreienden Herkunftsländer. In einigen Fällen stellten sich Kolonialmächte aktiv gegen Schutz, was Achille Mbembes (2019, S. 34) „domination without responsibility“ reflektiert. Dies geschah im Fall der algerischen Flüchtlinge, die vor dem Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich (1954–1962) primär nach Tunesien und Marokko geflohen waren. Nachdem Tunesien und Marokko ihre Unabhängigkeit erlangten und den VN beigetreten waren, suchten die Regierungsvertretenden dieser Staaten Unterstützung im Flüchtlingsschutz. Bereits 1957 bat Tunesien in den VN um Hilfe,Footnote 3 die Frankreich jedoch mit der Begründung ablehnte, der Konflikt sei eine „innere Angelegenheit“Footnote 4, die durch „politische Rivalitäten“ und „Unterschiede in race und Sprache“ verursacht werde; Frankreich argumentierte sogar: „In keinem Fall können [die Spannungen] Frankreich zugeschrieben werden, das nicht auf sein Recht auf Selbstverteidigung verzichten kann“.Footnote 5 Dennoch forderten Tunesien und Marokko die ehemalige Kolonialmacht heraus und die VN-Generalversammlung verabschiedete schließlich Resolutionen, mit denen UNHCR ermächtigt wurde, ab 1958 Unterstützung für algerische Flüchtlinge zu leisten.Footnote 6

Als die Flüchtlingszahlen in den 1950ern und 1960ern etwa in Äthiopien, Angola, Südafrika und dem Sudan anstiegen, gewann die Hilfe von UNHCR an Bedeutung, eine Praxis, die als ‚good office‘ bekannt wurde. Doch das Genehmigungsverfahren war zeitaufwendig und so entschied die Generalversammlung 1959, dass UNHCR fortan Flüchtlinge weltweit durch das ‚good office‘ unterstützen sollte.Footnote 7 Hierbei ging es primär um humanitäre Hilfe (Chimni 2000; Elie und Hanhimäki 2008). Obwohl der Ansatz von ‚care and maintenance‘ auch für europäische Flüchtlinge im Zweiten Weltkrieg Anwendung gefunden hatte (Huhn 2021), reflektiert das Ausmaß und die Intensität des Ansatzes in afrikanischen Staaten die postkoloniale Unterordnung. Die internationale Gemeinschaft – die noch immer von westlichen Mächten dominiert war – sah Flüchtlinge in afrikanischen Staaten nach wie vor kaum als global relevant, sondern als interne, zeitlich begrenzte Probleme an (Davies 2007, S. 24). Das ‚good office‘ zeigt daher die Verlagerung des Schwerpunkts von einer hochgradig politisierten rechtlichen Handhabung von Asyl von westlichen Mächten in Europa hin zur humanitären materiellen Unterstützung in (de)kolonisierten Staaten – trotz der AU-Konvention. Dieses Verständnis hält bis heute an und wirkt auf das Labelling von Flüchtlingen.

4 Geschlecht und die verzerrte Flüchtlingsfigur nach dem Kolonialismus

Der Fokus auf humanitäre Hilfe in ehemals kolonisierten, nun souveränen afrikanischen Staaten schrieb der Flüchtlingsfigur eine Opferrolle zu. In humanitären Diskursen wurde die Flucht der Menschen nicht als politischer Akt, sondern als Leiden dargestellt. ‚Echte‘ Flüchtlinge waren nun „hilflose und passive Opfer“ (Turner 2005, S. 322, eigene Übersetzung), die Hilfe als notwendige „therapeutische Interventionen“ zu brauchen schienen (Malkki 1992, S. 34, eigene Übersetzung).

Diese Form des Othering war noch immer in kolonialen Zuschreibungen von Armen und ‚Primitiven‘ verwurzelt und offenbarte dabei auch geschlechtsspezifische Unterschiede. Der Hilfeansatz machte die Bedürftigkeit von Flüchtlingen zum entscheidenden Kriterium, was in eine Depolitisierung, Marginalisierung, Unsichtbarmachung und Pathologisierung von Flüchtlingen in den sich dekolonisierenden und später souveränen, afrikanischen Staaten zur Folge hatte. Die zugeschriebene Bedürftigkeit und Opferposition war in Geschlechterdichotomien verfangen. Denn die Hilfe beruhte auf westlichen, männlich dominierten und heteronormativen Prinzipien, in denen ‚White Saviourism‘ mitschwang, und Flüchtlinge – unabhängig ihres Geschlechts – wurden ‚feminisiert‘ (Hyndman und Giles 2011). Wie von Homi Bhabha (1994) in seiner Arbeit zu Sichtbarkeit und Sichtbarmachung beschrieben, zeigt die Art und Weise, in der Flüchtlinge präsentiert wurden, nicht nur koloniale Stereotype, sie bringt auch deren Individualitäten zum Verschwinden (Fröhlich 2018). Dieses Labelling diente den Hilfsstrategien, da die depolitisierte, pathologisierte und feminisierte Flüchtlingsfigur UNHCR half, die Spannungen des Kalten Krieges zu manövrieren, Empathie zu erzeugen sowie Hilfszahlungen und Spenden zu motivieren; aber das Othering war höchst umkämpft.

Feminisierung durch Hilfe stand in direktem Widerspruch zum Labelling mancher Männer als Terroristen – oder Freiheitskämpfer – während der Befreiungskriege. Diese Spannung dauerte nach der Unabhängigkeit an und schreibt sich in gegenwärtigen Fluchtbewegungen fort. Männer tragen die beiden widersprüchlichen Labels von Feiglingen einerseits und Sicherheitsbedrohungen andererseits, was sie in einen Status der „gefährlichen Vulnerabilität“ versetzt (Jaji 2021a, eigene Übersetzung). So machte die Feminisierung von Vulnerabilität Sicherheit und Leiden von Männern unsichtbar, und wenn humanitäre Akteur*innen dies anerkannten, wurde ihre Männlichkeit in Frage gestellt und lächerlich gemacht (Lukunka 2011; Jaji 2012; Olivius 2016).

Doch auch Frauen wurden als Subjekte unsichtbar. In den frühen politischen Diskursen wurden sie nicht als Freiheitskämpferinnen oder Terroristinnen dargestellt. Als Hilfsorganisationen begannen, auf Risiken für Frauen zu reagieren, wurde ein herabwürdigendes Bild von afrikanischen Frauen als Analphabetinnen, Landbewohnerinnen und verletzliche Leidtragende von Konflikten und Flucht kultiviert (z. B. Johnson 2011), das bis heute als Symbolbild für afrikanischen Flüchtlinge überhaupt gilt. Dies entspricht Gayatri Chakravorty Spivaks (1999, S. 284) bedeutender Kritik, weiße Männer müssten braune Frauen vor braunen Männern beschützen: Humanitäre Hilfe nach westlichen Normen scheint zu bedeuten, dass internationale humanitäre (d. h. westliche) Akteur*innen rassifizierte geflüchtete Frauen retten müssten (Crawley 2022). Damit wurde das koloniale Othering der Opferschaft und Passivität mit Weiblichkeit verknüpft.

Diese Probleme gehen über postkoloniale afrikanische Staaten hinaus. Sie betreffen generell Frauen in Ländern im ‚globalen Süden‘, die in humanitären Diskursen als schutzbedürftig gegenüber den Gewalttaten ihrer Männer abgebildet werden (Crawley 2022; Myrttinen et al. 2017; Hughes 2017). Auch in Ländern im ‚globalen Norden‘ bestehen weitreichende Abwertungen gegenüber Flüchtlingen aus dem Süden. Das zeigt sich darin, wie flüchtlingsfeindliche Stimmungen in nördlichen Ländern geflüchtete Männer als verdächtig behandeln und als Feiglinge, Eindringlinge, Kriminelle, Infiltranten und Terroristen anprangern (Jaji 2021b; Rettberg und Gajjala 2016; Scheibelhofer 2017). Eben diese Darstellungen dominierten die Debatten in Deutschland, nachdem es in der Silvesternacht 2015 in Köln zu sexuellen Übergriffen auf Frauen gekommen war, für die geflüchtete Männer verantwortlich gemacht wurden (Greussing und Boomgaarden 2017). In ihrem Beitrag zu diesem ZeFKo-Forum befasst sich auch Claudia Brunner mit solchen Verbindungen von Rassismus, Sexismus und Kolonialität.

Die Vergeschlechtlichung von Vulnerabilität in dekolonisierenden Teilen der Welt wird aber durch empirische Beweise widerlegt. Frauen waren in diesen Teilen der Welt keine hilflosen, apolitischen und uninformierten Opfer. Frauen wie die Amazonen von Dahomey (heute Benin), Königin Nzinga von Angola, Yaa Asantewaa aus dem Ashanti Königreich in Ghana und Mbuya Nehanda in Rhodesien (heute Simbabwe) wurden aufgrund ihres aktiven Widerstands gegen die Kolonialherrschaft zu Heldinnen der afrikanischen Geschichte. In Simbabwes zweitem Befreiungskrieg in den 1960er und 1970er-Jahren waren Frauen als Kämpferinnen und Kriegskollaborateurinnen beteiligt, was das politische Engagement von Frauen in antikolonialen Kämpfen belegt (Nhongo-Simbanegavi 2000). Es gibt wachsende Zahlen von politisch aktiven Frauen, die aus ihrem Land nicht als ‚passive Opfer von Konflikten‘, sondern als eigenständige politische Individuen fliehen, die von autokratischen Regimen dafür verfolgt werden, dass sie sich aktiv der Unterdrückung entgegenstellen (vgl. Crawley 2021). Hinzu kommt, dass Männer, die keine Kombattanten sind, häufig mit ähnlichen Formen der Vulnerabilität konfrontiert sind, die in humanitären Diskursen primär mit Frauen, Kindern und älteren Menschen assoziiert werden (Jaji 2021b; Krause 2021b). Auch wenn Menschen Vulnerabilitäten auf geschlechtsspezifische Weise erleben, impliziert dies keine Dichotomie, der zufolge Frauen vulnerabel wären und Männer nicht. So wie die politische Geschichte Afrikas zeigt, dass Frauen an sogenannten männlichen Aktivitäten teilnehmen (wie die obigen Beispiele illustrieren), zeigt die gleiche Geschichte auch, dass Männer, insbesondere nicht-kämpfende, in Gewaltsituationen die Vulnerabilitäten erfahren, die mit Weiblichkeit verknüpft werden.

Dennoch hält sich das koloniale Bild der apolitischen geflüchteten Frau, wobei afrikanische Frauen als Inbegriff dieser depolitisierten essenzialistischen Kategorie gelten (Jaji 2021a). Daher wird Flucht trotz gegenteiliger Beweise in humanitären Diskursen nicht als eigenverantwortlicher politischer Akt angesehen (Malkki 1992, 1996). Wo Vulnerabilitäten von Männern anerkannt und sie als Flüchtlinge akzeptiert werden, wird ihre Männlichkeit neu definiert, damit sie der Vorstellung von homogenisierten passiven Opfern (und nicht aktiven Individuen) entsprechen. So entsteht eine Geschlechterdichotomie, die Männern die paradoxe Forderung auferlegt, ‚wie Frauen‘ zu sein, damit ihre Suche nach Schutz legitim wird. Wenn Männer nicht in das Stereotyp der armen, ländlichen und unpolitischen Menschen passen und stattdessen Handlungsfähigkeit zeigen, werden sie verdächtig – wie die Anti-Flüchtlingsdebatten darlegen. Beispielsweise sind afrikanische Männer ‚echte‘ Flüchtlinge, wenn sie in Lagern auf dem Kontinent leben, werden aber eine Sicherheitsbedrohung, wenn sie Handlungsfähigkeit und Autonomie ausüben, indem sie diese Lager etwa auf der Suche nach besseren Verdienstmöglichkeiten verlassen. In dem Moment, in dem sie Initiative ergreifen, um Sicherheit außerhalb der Lager in afrikanischen Staaten oder anderenorts zu suchen, werden sie häufig in flüchtlingsfeindlichen Diskursen als Wirtschaftsmigranten umdefiniert und – außerhalb Afrikas – als Eindringlinge dargestellt, die versuchten, die Zufluchtsländer zu „afrikanisieren“ (Jaji 2021a).

5 Abschließende Gedanken

Obwohl die Genfer Flüchtlingskonvention zum Völkerrecht gehört und deshalb für alle Menschen gleichermaßen gilt, gibt es starke Unterschiede in der Art und Weise, wie Flüchtlinge in der Vergangenheit behandelt wurden und noch heute behandelt werden. Dies wird in der unterschiedlichen Darstellung und dem unterschiedlichen praktischen Schutz von Flüchtlingen über Zeit und Raum hinweg deutlich, die bis heute kolonialen Strukturen folgen. In diesem Artikel haben wir gezeigt, wie rechtliche Normen, politische Diskurse und Labels von Flüchtlingen eng verwoben sind und wie Flüchtlinge im (post)kolonialen Afrika seit Jahrzehnten Othering erfahren. Während etwa westliche Mächte im Kalten Krieg Flüchtlinge aus der Sowjetunion als Held*innen darstellten, die politische Handlungsfähigkeit im Sinne der westlichen ideologischen Vorstellungen ausübten, entstanden ‚anderswo‘ gegensätzliche Bilder. Kolonialverwaltungen und westliche Mächte labelten diejenigen, die sich Kolonialismus widersetzten, als Terroristen und drängten ihnen später eine Opferrolle auf, um humanitäre Hilfe zu legitimieren. Der humanitäre Fokus produzierte auch eine Geschlechterdichotomie: Frauen wurde Vulnerabilität ‚verliehen‘, während sie Männern abgesprochen wurde – im Einklang mit vergeschlechtlichten Ideologien, die Vulnerabilitäten von Männern in bewaffneten Konflikten übersehen.

Wie sich dieses koloniale Othering bis heute fortsetzt, wird nicht nur in dem zu Beginn des Artikels erwähnten Fall der Menschen, die aus der Ukraine geflohen sind, deutlich. Zudem werden im Gegensatz zur Vorstellung des Opferflüchtlings in Ländern im ‚globalen Süden‘ Flüchtlinge in Ländern im ‚globalen Norden‘, insbesondere in europäischen Ländern, zunehmend als unrechtmäßige Asylsuchende und Bedrohung für die innere Sicherheit – offenbar als koloniale Bedrohung – angesehen. Es sind insbesondere afrikanische und muslimische Männer, die in den Mittelpunkt politischer Debatten in der Europäischen Union rücken (Loftsdóttir 2016). Infolgedessen werden Flüchtlinge versicherheitlicht, was weiter zur dichotomen Sicht auf ‚gute‘ und ‚schlechte‘ oder ‚wirklich hilflose‘ und ‚eigentlich gefährliche‘ Flüchtlinge beiträgt.