1 Einleitung

Belfast galt lange Zeit als Epizentrum des Nordirlandkonflikts, doch mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 erlebt die Stadt einen bemerkenswerten Aufschwung. Mit diesem Wandel, vom Sinnbild einer schmutzigen Vergangenheit (Theroux 1983 (1999): 73 f) zur angesagten Partystadt (Lonely Planet o. J.), symbolisiert Belfast die Erfolgsgeschichte des nordirischen Friedensprozesses. Mit dem massiven Rückgang der Gewalt einher ging die politische Zusammenarbeit zwischen ehemals verfeindeten britisch-protestantischen Unionisten und irisch-katholischen Nationalisten. Mit Hilfe lokaler und internationaler Investitionen entstand eine post conflict Infrastruktur bestehend aus Hotels, Besucherzentren und landmark buildings. Doch zugleich ist der Friedensprozess vor Rückschlägen nicht gefeit. Noch immer existieren paramilitärische Strukturen (Gray et al. 2018, S. 106–112). Und während die politische Zusammenarbeit zwischen Unionisten und Nationalisten regelmäßig von Krisen erschüttert wird (Nagle 2017), ist die Polarisierung zwischen beiden Bevölkerungsgruppen kaum weniger geworden (Jarman 2016, S. 144). Der nordirische Friedensprozess ist geprägt von diesem Widerspruch, welcher sich nirgendwo so gut beobachten lässt wie in Belfast.

Dieser Artikel tritt jenem Paradoxon mittels einer räumlich-kulturell verorteten Studie zum Unionismus in Belfast entgegen. Die Parallelität und Gleichzeitig eines gelungenen und eines stagnierenden Friedensprozesses ist in Belfast auch in den Stadtraum eingeschrieben. Zentral geht es um die Frage: Wie verorten sich unionistische Akteure von Belfast in diesem widersprüchlichen Friedensnarrativ? Ziel ist es, durch ethnologische Perspektiven auf Prozesse der urbanen Erneuerung einen alternativen Blick auf den nordirischen Friedensprozess zu eröffnen. Auf lokaler Ebene werden Begriffe wie Frieden und urbaner Wandel geschaffen und verhandelt, so auch in den mehrheitlich protestantischen Wohnvierteln Sandy Row und Ost-Belfast, welche in diesem Artikel im Fokus stehen. Primärdaten aus Interviews und ethnographischen Beschreibungen lassen dabei erkennen, wie in beiden Stadträumen Strategien der Abschottung und Anpassung geprobt werden, um Anschluss an dominante Repräsentationsmuster von einem befriedeten Belfast zu finden.Footnote 1 Dafür ist es zu Beginn nötig, das Gewebe der unionistischen Bedeutungswelt in Belfast, genauer in Pitt Park, zu verorten.

2 Pitt Park: Unionistische Identität in einem neuen Belfast

Pitt Park, gelegen an der unteren Newtownards Road im Osten von Belfast, wirkt im Vergleich zu einer klassischen Grünanlage eher unscheinbar: Eine Rasenfläche in der Größe eines Fußballplatzes, ein paar Bäume, einige Bänke und ein Kinderspielplatz, mehr nicht. Dennoch lädt dieser Ort zum Verweilen ein, wenn man auf der Suche nach dem protestantisch-britischen Belfast ist. Pitt Park ist symbolisch aufgeladen, vereint auf engstem Raum jene Mythen und Geschichten, welche die Identität von Nordirlands Unionisten prägen:

Das Gedenken an den Ersten Weltkrieg ist hier allgegenwärtig. Im November eines jeden Jahres, rund um den Remembrance Day, entsteht auf der Grünfläche des Parks ein Meer aus kleinen Holzkreuzen, versehen mit dutzenden Poppies – stilisierte rote Mohnblüten als Zeichen des Erinnerns an die Männer aus Ost-Belfast, welche in beiden Weltkriegen für King and Country gefallen sind. Als 1914 der erste jener Kriege ausbrach, waren viele der Männer bereits an den Waffen organisiert, als freiwillige Mitglieder der 1912 gegründeten UlsterFootnote 2 Volunteer Force (UVF). In der protestantischen Miliz fanden sich tausende britische Iren zusammen, welche bereit waren, gegen eine immer stärker werdende irische Nationalbewegung zu kämpfen. Schließlich unterband der Erste Weltkrieg dieses Vorhaben, und aus der UVF wurde die 36th Division, eine offizielle Einheit der britischen Armee. Der Kampf um das Vaterland fand von nun an auf den Feldern Frankreichs statt. Den Ulstermen an der Waffe ist in Pitt Park ein Wandgemälde gewidmet, For Valour – für Tapferkeit, steht es in großen Lettern an einer Mauer geschrieben. Nie soll die Opfergabe dieser Männer vergessen werden, nie soll vergessen werden, wie loyal man der britischen Nation sein kann.

Aufrichtigkeit, Hingabe und Stolz sind auch die Werte, die einem anderen Ereignis jener Zeit zugeschrieben werden. Vor der Rasenfläche des Parks wird mit den Skulpturen von drei Arbeitern – sie tragen Westen und Ballonmützen, sind dargestellt mit ernstem Blick und schnellem Schritt, auf dem Weg in die Werft von Harland & Wolff – an den Bau der Titanic erinnert. To the memory of men who built giants steht es neben den 2012 errichteten Figuren geschrieben, 100 Jahre nachdem das größte Schiff seiner Zeit Belfast verließ und wenig später mit dem Untergang im Atlantik zum Mythos wurde. Lange genug ist dieses Unglück nun her, so dass der Stolz über die Leistung der zumeist protestantischen Yardmen stärker wiegt als das unheilvolle Ende der Titanic. Die Schiffsbautradition der Stadt begann Mitte des 19. Jahrhunderts und war lange eine Erfolgsgeschichte (Lynch 2012, S. 41), von der noch heute zwei riesige, gelbe Kräne im Hafen der Stadt zeugen. In den 1970er Jahren gebaut, thronen sie im Hintergrund über Pitt Park, von fast überall in Belfast sind sie zu sehen. Die Kräne der Werft wurden zum Wahrzeichen der Stadt, zu einem Monument der protestantischen Arbeitsethik.

Gegenüber von Pitt Park, auf der anderen Seite der Newtownards Road, steht die Westbourne Church, in Erinnerung an die Arbeiter aus der Gegend auch Shipyard Church genannt. Unter dem Dach der presbyterianischen Kirche, dem mitgliederstärksten Zweig des protestantischen Glaubens in Nordirland, wird Religion zum Motor der Tüchtigkeit. Auch politisch hat die Westbourne Church eine stolze Geschichte zu erzählen. Im Jahr 1912 rief die unionistische Führungselite Nordirlands die protestantische Bevölkerung dazu auf, mit ihrer Unterschrift den Verlust des britischen Irlands an die Anhänger der irischen Unabhängigkeit zu verhindern. Am 28. September 1912, dem Anlass entsprechend Ulster Day getauft, fanden sich tausende Unionisten in dutzenden öffentlichen Einrichtungen des Landes zusammen, um den Ulster Covenant zu unterzeichnen: Das förmlich verbriefte und stolz ausgerufene Versprechen, mit aller Macht und mit allen Mitteln der britischen Krone treu zu bleiben. Die Westbourne Church war einer der Orte, an welchen sich die protestantischen Männer (und ihre Frauen, welche eine ähnliche Erklärung with their menfolk unterschrieben) in großer Zahl einfanden. Heute wird diese Geschichte beständig weitererzählt, von der Kirchengemeinde unter der Leitung von Pfarrer Mervyn Gibson.

Gibson ist gleichzeitig hochrangiges Mitglied der Bruderschaft des Oranier-Ordens, welcher die Einheit bildet zwischen dem protestantischen Glauben und der britischen Identität in Nordirland. Während der marching season in den Sommermonaten macht der Orden mit zahlreichen Paraden auf sich aufmerksam, es ist das vielleicht bekannteste Element protestantischer Identität in Nordirland. Der Paradentradition ist dann auch eine weitere Wandinstallation in Pitt Park gewidmet, auf einem asphaltierten Areal neben der Grünanlage, angebracht an der Längsseite eines Schiffscontainers.Footnote 3 Darauf zu sehen sind drei Männer in Reih und Glied, abgebildet in historischen Gewändern der UVF. Sie sind in Bewegung dargestellt, als Teilnehmer einer Parade, spielen die pipes and drums, die Flöten und Trommeln als klassische Begleittöne solcher Märsche (Law 1998, S. 52–54). Die Figuren sind größer als der Container, im Drang des Marschierens scheinen sie auszubrechen aus dem Wandbild. Neben ihnen, in weißer Schrift auf gelb-rotem Grund, steht geschrieben: Culture Threatens No one.

2.1 Protestantisches Kulturerbe – doppelter Boden

Doch Culture Threatens No one bedeutet mehr als ein oft beschworener protestantischer Stolz. In Nordirland, wo das Gegeneinander zwischen britischen Protestanten und irischen Katholiken nach wie vor das politische und gesellschaftliche Leben definiert, wird auch der KulturbegriffFootnote 4 in diesen Kategorien gedacht. Der nordirische Konflikt hat sich in den vergangenen 20 Jahren von einer militärischen zu einer kulturellen Auseinandersetzung gewandelt (siehe Bryan 2000; Jarman 1997; Parr 2017). Kultur kann eben doch eine Gefahr sein für die einen, oder selbst in Gefahr geraten, meinen die anderen. Kultur kann gesellschaftlicher Kitt sein, ist aber oft spaltender Pfahl, kann gleichermaßen gewichtiges Kapital sein oder erdrückende Last. Kultur wird zum Indikator, wie gut sich die beiden politischen Traditionen mit dem Friedensprozess arrangieren können. In den vieldeutigen und gegensätzlichen Bedeutungen, die insbesondere dem protestantischen Kulturerbe zugeschrieben sind, spiegelt sich der gegenwärtige Zustand der Tradition des Unionismus. Den Erinnerungsorten von Pitt Park sind noch weitere Narrative zugeschrieben, viele davon bereiten der unionistischen Gemeinschaft ein ernsthaftes Imageproblem. Der Unionismus, so scheint es, stand und steht das ein oder andere Mal auf der falschen Seite der Geschichte.

Mit der Teilung der irischen Insel im Jahr 1921 wurde der Grundstein gelegt für einen Konflikt, welcher bis heute nicht überwunden ist.Footnote 5 Aus den 26 irischen Grafschaften, welche den von Großbritannien unabhängigen irischen Freistaat begründeten, wurde „ein katholischer Staat für ein katholisches Volk“, wie es Regierungschef Éamon de Valera im Jahr 1934 formulierte. Dem setzte Nordirlands Premierminister James Craig entgegen, die sechs Grafschaften der Provinz Ulster, welche das britische Nordirland formten, hätten ein „protestantisches Volk und ein protestantisches Parlament“ (Edwards 2011, S. 16). Beide Bekundungen gingen jeweils zulasten der katholischen Minderheit im Norden und der protestantischen Minderheit im Süden. Beide Gruppen waren im Idealbild der neuen Staaten nicht vorgesehen. Doch während das Schicksal der deutlich kleineren protestantischen Bevölkerung im Süden Irlands von Auswanderung, Resignation oder Anpassung geprägt war (Bury 2017), gipfelten die Forderungen der nordirischen Katholiken nach Gleichberechtigung lautstark in den Bürgerrechtsbewegungen der 1960er Jahre. Der nordirische Staat war unwillig und später unfähig, Ungleichbehandlungen bei der Arbeits- und Wohnungsvergabe sowie bei der politischen Partizipation zu beheben. Bürgerrechtsdemonstrationen mündeten zunehmend in Ausschreitungen, mobilisierten mehr und mehr katholische Unterstützer und protestantische Widersacher (Bardon 1992, S. 643–655). Ende der 1960er Jahre entwickelte sich eine Spirale der Gewalt, welche weder durch zaghafte politische Reformen noch durch den Einsatz der britischen Armee gestoppt werden konnte. Schließlich schlitterte Nordirland in einen fast 30 Jahre währenden Konflikt, welcher knapp 3600 Todesopfer forderte und tiefe gesellschaftliche Narben hinterlässt (Downs et al. 2009, S. 894).

In diesem historischen Kontext wurde eine wiederbelebte UVF zu einer der tödlichsten paramilitärischen Akteure des Nordirlandkonflikts. Dabei machte man sich den traditionsreichen und respektierten Namen aus dem frühen 20. Jahrhundert zu nutze. Heute hat sich die UVF, wie andere lokale Paramilitärs, neue Tätigkeitsfelder gesichert, viele davon im Bereich der organisierten Kriminalität (Basra und Neumann 2018). Der Osten von Belfast, rund um Pitt Park, gilt als ein Hoheitsgebiet der Organisation, dargestellt durch Flaggen oder, als bildliche Vergegenwärtigung eines eigentlich beendeten Konflikts, Wandbilder von vermummten, bewaffneten Volunteers, dazu in großen Lettern die Erläuterung: We seek nothing but the elementary right implanted in every man: The right if you are attacked, to defend yourself. Auf der Suche nach einer Aufgabe im heutigen Nordirland dient der Name der historischen UVF den Paramilitärs als Anker. Eine UVF im Weltkrieg, eine andere UVF im Nordirlandkonflikt aktiv. Die eine geehrt, die andere gefürchtet. Oder, wie es die moderne UVF formulieren würde: In beiden Fällen waren es mutige Männer, die getan haben, was getan werden musste. Während die Bombardements der IRA in manchen Kreisen als legitimier Freiheitskampf interpretiert werden und sogar von Popgrößen wie John Lennon honoriert wurden (Brown et al. 2001, S. 69), gilt das Werk der Loyalisten durchweg als Frevel. Im Gegensatz zu ihnen haben die Kämpfer der IRA ihren Platz im Frieden gefunden. Als Sinn Féin Mitte der 1980er Jahre überraschende Wahlerfolge feierte, wandelte sich deren Strategie von einer militärischen in eine politische. Die Kampagne der IRA wurde langsam abgewickelt, aus IRA volunteers wurden einflussreiche Sinn Féin Politiker (Belfast News Letter 3. Juni 2011). Den Loyalisten hingegen fehlen bis heute einflussreiche Partner. Auf der parteipolitischen Ebene gilt die kleine, lediglich auf kommunaler Ebene vertretene Progressive Unionist Party als politischer Arm der UVF (McAuley 2004, S. 527 f). An der Basis, in den ehemaligen Hoheitsgebieten der protestantischen Paramilitärs, fungiert die Vereinigung Action for Community Transformation als wohltätige Einrichtung und zivile Nachfolgeorganisation der UVF (Edwards 2017, S. 312 f, 333). Dennoch, so der Historiker Tony Novosel, sehen die Unionisten der Mittelklasse die Loyalisten der UVF häufig als „embarrassment and not worthy of study or serious consideration because of their involvement in violence“ (2013, S. 5). Loyalismus in Zeiten des Friedens bedeutet dem Journalisten Malachi O’Doherty zu Folge: „All that is required of them is that they be silent“ (2015, S. 32).

Der Nordirlandkonflikt erschütterte auch die stolze protestantische Schiffsbautradition. In den 1970er und 1980er Jahren neigte sich die goldene Ära der Schwerindustrie überall in Westeuropa ihrem Ende zu, in Belfast wurde dieser Prozess noch verstärkt durch den alltäglichen Terror in der Stadt (O’Connell 2012, S. 290–296). Während Belfast zum Schauplatz eines blutigen konfessionellen Konflikts wurde, brach der Stadt die wichtigste Industrie weg: Das britische Königreich hat seine Vormachtstellung auf den Weltmeeren verloren, der Hafen in Belfast war nicht eingestellt auf den Bedarf an immer größer werdenden Schiffen, die Konkurrenz aus Asien und Ost-Europa wurde übermächtig (Lynch 2012, S. 50–59). Vom Aus der Schiffsindustrie war fast ausschließlich die protestantische Arbeiterklasse betroffen, nur wenige Katholiken waren in diesem Sektor angestellt.

Immerhin hat der Mythos der Titanic überlebt. Kein Schiff verkörpert den Stolz der Yardmen aus Ost-Belfast so sehr wie der Luxusliner. Es war ein Schiffsbautriumph, zwischen 1909 und 1912 erschaffen in der Werft von Harland & Wolff. Wenig später, nach dem kolossalen Unglück auf dem Atlantik, wurde das Schiff zunächst zum Symbol für das Unheil der Moderne sowie für die Grenzen des technologischen Fortschritts (Neill 2011, S. 71 f). Aus Stolz wurde Schmach, welche sich schnell in eine gesellschaftliche Erinnerungslücke verwandelte. Doch mit James Camerons Leinwanderfolg aus dem Jahr 1997 kam die Titanic zurück nach Belfast (Hodson 2019, S. 232). Das Schiff entwickelte sich zu einer Chance. In Nordirland stritten Parteien, Paramilitärs und die Zivilgesellschaft um und für einen politischen Frieden, Belfast wollte nicht länger Europas Hauptstadt des Terrors sein, sehnte sich nach Normalität und sah in der Titanic das Potential eines gänzlich unpolitischen Alleinstellungsmerkmals. Das Ship of Dreams wurde zu einem gewaltigen Infrastrukturprogramm für die Stadt, ein Teil des verwaisten Hafengeländes auf Queen’s Island wurde in ein Titanic Quarter umgewandelt. Im Jahr 2012, 100 Jahre nach dem Unglück, eröffnete hier das neue Wahrzeichen der Stadt, ein interaktives Museum mit dem Namen Titanic Belfast. Die in das Schiff gesetzten Hoffnungen gingen auf, Belfast lockt nunmehr als Titanic Town Touristen aus aller Welt an. Doch die Suche nach einem unpolitischen Symbol geht zu Lasten der unionistischen Geschichte: Selten wird vom Platz des Schiffes im kulturellen Gedächtnis der Protestanten gesprochen, von der Titanic als Sinnbild britisch-protestantischer Ingenieurskunst. Der Mythos vom Schiffbau hat in Belfast überlebt, ist in Form der Titanic gar zum größten Exportschlager der Stadt geworden. Doch dass der neue Stolz ein Stück protestantische Kultur darstellt, geht dabei allgemein unter (Hodson 2019, S. 237–238).

Im Gegensatz dazu steht die Politik und Tradition der presbyterianischen Kirche allzu sehr im Fokus und verkörpert für viele den Habitus des nordirischen Unionismus. Mit der fundamentalen Ablehnung der gleichgeschlechtlichen Ehe steht die Glaubensgemeinschaft zunehmend auf Kriegsfuß mit weiten Teilen der nordirischen Bevölkerung. Insbesondere im urbanen Kontext von Belfast zeichnet sich eine starke Opposition gegen die Position der presbyterianischen Kirche ab. Eine Umfrage aus dem Jahr 2015 zeigt, dass 68 % der nordirischen Bevölkerung schon lange auf die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe drängte, welche erst seit Januar 2020 gesetzlich verankert ist. Doch verteilt man die Zahlen auf die politischen Parteien, zeigt sich das Dilemma des Unionismus. Während die irisch-katholischen Parteien Sinn Féin (zu 80 %) und die Social Democratic and Labour Party (zu 61 %), ebenso wie die überkonfessionelle Alliance Party (zu 79 %), geeint für die gleichgeschlechtliche Ehe stritten, ist der Unionismus gespalten: Die beiden großen Parteien, die Democratic Unionist Party (DUP, zu 45 %) und die Ulster Unionist Party (zu 49 %), weisen deutlich geringere Zustimmungsraten auf (Cromie, 6. Juli 2015). In der Debatte um die gleichgeschlechtliche Ehe steht der Unionsmus isoliert und ohne Verbündete da.

Mit der presbyterianischen Kirche eng verbunden ist der Oranier-Orden, wie das Beispiel von Orangeman Gibson als Pfarrer der Shipyard Church illustriert. Die Paradentradition der Bruderschaft ist zum Sinnbild des nordirischen Kulturkampfs geworden. Darf der Oranier-Orden, auf der Grundlage seiner altbewährten Marschrouten, auch weiterhin Stadtviertel passieren, welche heute vornehmlich katholisch bewohnt sind? Die Bruderschaft beruft sich auf ihr right to march, das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit. Katholische Anwohnerinitiativen hingegen verstehen diese Forderung häufig als Provokation. Für sie ist der Oranier-Orden das historische Sinnbild protestantischer Fremdherrschaft über die Katholiken. Der Paradenkonflikt symbolisiert die nordirische Gretchenfrage: Ist der Boden, auf dem Unionisten und Nationalisten gemeinsam leben, nun ein britischer oder ein irischer Boden? Das Marschieren oder Blockieren ist dabei ein Versuch, diese Frage öffentlichkeitswirksam zu beantworten (Bryan 2000). Nicht selten endet der Streit um eine Parade in handfester Gewalt und tagelangen Unruhen, zuletzt in den Jahren 2013 und 2015. Es sind solche Bilder, die ein düsteres Bild der protestantischen Paradentradition zeichnen.

Es spricht vieles dafür, Nordirlands Unionisten eine Krise der Identität zu attestieren. Seit der Teilung der irischen Insel im Jahr 1921 verteidigen die Unionisten ihre politische und kulturelle Überzeugung von einem britischen Nordirland. Im Ringen um den richtigen Weg liegt dabei ein schier unerschütterlicher Stolz und die ständige Angst vor dem Ausverkauf der eigenen kulturellen Identität eng beieinander. Die Geschichten aus Pitt Park illustrieren das Dilemma des Unionismus: Der vielfach zitierte Stolz jener Tradition ist nicht universell, steht aus anderen Perspektiven für bedrückende Überreste des Nordirlandkonflikts, für fortschrittsfeindliche Positionen, für einfältige und bornierte Überzeugungen.

Alte Ideale der protestantischen Ethik gelten vielen Unionisten noch immer als vorbildlich. Die Verpflichtung gegenüber der Kirche und der Krone, harte Arbeit und Disziplin, der individuelle und kritische Geist. Doch diese Taktik stößt an ihre Grenzen. Generell leidet der Unionismus unter dem Stigma der Kulturlosigkeit. Fernab des Oranier-Ordens, so die immer wieder durchschimmernde Ansicht von Politikern und Journalisten, habe der Unionismus kaum kulturelles Kapital anzubieten. Während die irische Nationalbewegung seit jeher mit kulturellen Elementen wie der irisch-gälischen Sprache, traditional Irish music oder Gaelic sporting Games in Verbindung gebracht wird, fehlt den Unionisten eine solche Beziehung (McCoy und O’Reilly 2003, S. 156; Vallely 2008, S. 249). Der Vorwurf der unionistischen Kulturlosigkeit ist dabei, wie es der Politikwissenschaftler Connal Parr aufzeigt, Teil der politischen Debatte: Der Unionismus, so das Argument vieler irisch-katholischer Nationalisten, sei auf der Illusion von einem britischen Nordirland aufgebaut, und die Identitätskrise mit all ihren kulturpolitischen Ursachen sei die logische Konsequenz aus diesem Trugschluss (2017, S. 12–19). Diese Darstellung mag misslich sein, doch wirklich gekümmert hat sie einen Großteil der Unionisten bislang nicht. Schließlich, folgen wir dem Argument der protestantischen Ethik, wussten die Unionisten um ihre Stärken. Der Pomp und die Zurschaustellung sei den Katholiken überlassen, mit besserer PR gewinnt man vielleicht Sympathien, jedoch nicht die Deutungshoheit über die irische Frage. Doch der Friedensprozess von 1998 bringt eine neue Form der politischen Auseinandersetzung mit sich, welche diese defensive Position des Unionismus ins Wanken bringt.

2.2 Frieden in Belfast: doppelte Geschwindigkeit

Im imposanten Rathaus von Belfast ist seit 2017 auch eine Dauerausstellung zur lokalen Geschichte untergebracht. Zentral gelegen, ist das Rathaus oft die erste Anlaufstelle für Gäste der Stadt, welche sich nun über den Wandel von Belfast im Spiegel der Zeit informieren können, vom ruhigen Dorf zur „vibrant, innovative, attractive city it is today“ (Love Belfast, 15. Mai 2017). So ist fast alles zu sehen, was Belfast ausmacht, von berühmten Söhnen und Töchtern der Stadt über den Auf- und Abstieg als Industriemetropole bis hin zum Belfast slang. Auffallend wenig Aufmerksamkeit wird jedoch der jüngeren Geschichte gewidmet. Erklärungen und Einordnungen zum Nordirlandkonflikt bleiben aus. Stattdessen ist dieser Periode der Geschichte ein Reflection Space gewidmet. Zitate von Opfern des Konflikts stehen an den Wänden eines kleinen, mit weißem Licht gefluteten Raums geschrieben. Die wenigen Quadratmeter vermitteln einen Eindruck vom Leid dieser Zeit und den damit verbundenen, anhaltenden Schmerzen. Doch Fragen zur Schuld werden nicht gestellt, Täter werden nicht genannt. Voraussetzung für das Entstehen der Ausstellung war es, dass die beiden dominanten politischen Traditionen sich angemessen repräsentiert sahen. Geht es um das Erbe des Konflikts und um Fragen von Schuld und Verantwortung, war ein Raum der Ruhe der Minimalkonsens. Oder, wie es einer meiner Forschungspartner ausdrückte: „They couldn’t agree on anything“.

Das Karfreitagsabkommen von 1998 beendete die heiße Phase des Konflikts. Die Auseinandersetzungen dieser Zeit sind Geschichte, gut aufgehoben in einem Reflection Space und taugen nicht als Zukunftsvisionen für Nordirland. Darüber sind sich die meisten protestantischen und katholischen Akteure einig, doch viel weiter reicht der Konsens nicht. Weder das Friedensabkommen noch die seither verstrichene Zeit haben erreicht, dass Misstrauen und Zorn zwischen beiden Seiten verschwinden. Auch scheitert man daran, ein universelles Narrativ für die Vergangenheit zu etablieren, Fragen von Schuld und Verantwortung bleiben unbeantwortet, Definitionen von Opfern und Tätern umkämpft. Das Karfreitagsabkommen skizzierte vielmehr, manchmal vage und manchmal konkret, wie ein friedliches Zusammenleben in Nordirland aussehen sollte. Das Jahr 1998 markiert einen Meilenstein für den hiesigen Friedensprozess, der jedoch als dessen Anfang, nicht als Endpunkt zu verstehen ist. Wandel basierend auf Vertrauen einst verfeindeter politischer Fraktionen oder Bevölkerungsgruppen wird auf der Grundlage politischer Abkommen ermöglicht, braucht aber deutlich mehr Zeit und nicht selten auch mehr Mühe (Brewer 2010, S. 15). Für Nordirland bedeutet das, dass sich die nach wie vor existente Polarisierung zwischen Katholiken und Protestanten nicht aufgelöst hat. Das gilt auch für Belfast: Viele Bereiche des alltäglichen Lebens sind vom Gegensatz zwischen britisch-protestantisch und irisch-katholisch gezeichnet. Ein Großteil der Grundschulen sind protestantisch oder katholisch, integrated education bleibt die Ausnahme. Auch, weil working class districts überwiegend als homogen britische oder irische Viertel markiert sind. Während sich Belfast bereits zu Zeiten der industriellen Revolution in vornehmlich irische und britische Stadtviertel unterteilen ließ, verstärkte sich dieser Trend mit dem Ausbruch des nordirischen Konflikts. Die Angst vor und das Erleben von ethnisch begründeter Gewalt trieb die Menschen in homogene Nachbarschaften (Doherty und Poole 1997, S. 532 f). Und wo unterschiedlich geprägte Stadtviertel aneinandergrenzen, ist die Trennung auch baulich markiert, durch Hauptverkehrsstraßen, Sackgassen, Brachland, Zäune oder Mauern (Belfast Interface Project 2017, S. 7). Um der Gewalt an den konfessionellen Grenzen in der Stadt Herr zu werden, wurden provisorische Barrieren errichtet. Aus den Barrieren der späten 1960er Jahre wurden Mauern, und über die Jahrzehnte wurden es immer mehr. Nur die wenigsten konnten wieder abgerissen werden, die meisten wuchsen in die Höhe, viele davon auch nach dem Karfreitagsabkommen von 1998. Die sogenannten Friedensmauern machen einen sozialen Friedensprozess an diesen Orten fast unmöglich, stattdessen definieren sie Orte als politische und ökonomische Brennpunkte. Doch allzu oft erfüllen sie eben auch noch ihren Zweck. Sie sichern den brüchigen Frieden an diesen Orten, und einige Nachbarschaften fürchten sich vor einem Rückbau der Barrieren (Wilson 2016, S. 64–66). Hinter den Friedensmauern ringen paramilitärische Gruppen noch immer mit Gewalt, Einschüchterungen und kriminellen Geschäften um die Kontrolle über die oft abgehängten Viertel (Nolan 23. April 2018). Friedensmauern sind zu einem Symbol verkommen für die Spaltung der nordirischen Gesellschaft und für die Tücken des Friedensprozesses. Und währenddessen – als Folge von traumatischen Erlebnissen aus dem Nordirlandkonflikt, der ständigen Angst vor Gewalt, ökonomischer sowie sozialer Isolation – weist Nordirland die höchste Selbstmordrate des Vereinigten Königreichs auf, zudem fanden 45 % der zwischen 1965 und 2012 verzeichneten Suizide nach 1998 statt (McKee 25. August 2017).

In einigen Teilen der Stadt bleibt der Frieden somit ein unerfülltes Versprechen. Doch Städte tragen verschiedene, oft gegensätzliche Repräsentationen mit sich (Shields 1996, S. 235, 245). Belfast kann nach wie vor als das Sinnbild einer polarisierten Stadt gelesen werden, doch parallel gilt die Stadt auch als befriedet, aufstrebend und angesagt. Mit dem Friedensprozess der 1990er Jahre ging die von katholischen und protestantischen Paramilitärs ausgeübte Gewalt spürbar zurück. Im Jahr 2007 schließlich zog die britische Armee ihre Soldaten ab, beendete ihren über 30 Jahre währenden Einsatz im Nordirlandkonflikt. Das Stadtzentrum rund um die prachtvolle City Hall ist nicht länger ein militärisch gesicherter Bereich, sondern das kommerzielle und kulturelle Herz von Belfast. Diverse Kaufhäuser aus viktorianischer Zeit, etliche Zweckbauten der 1970er und 1980er Jahre, sowie moderne Glasfassaden der frühen 2000er Jahre bilden die urbane Kulisse für Einheimische und Gäste. Während der Konflikt also keinesfalls komplett aus Belfast verschwand, blühten insbesondere das Stadtzentrum und die daran angrenzenden Viertel auf (siehe: Komarova und O’Dowd 2013; Murtagh 2018; Shirlow 2006).

Doch sind diese aufstrebenden und kommodifizierten Stadtnarrative vereinbar mit dem unionistischen Identitätskorsett, wie es sich in Pitt Park präsentiert? Die Altlasten des Nordirlandkonflikts sind nicht beräumt. Nationalisten drängen auf ein vereinigtes Irland, Unionisten wehren sich. Um in diesem ständigen Abnutzungskampf zu überleben, so der Politikwissenschaftler Arthur Aughey, entwickelte der Unionismus eine „Kultur des Fatalismus“, welche sich aus einem fragilem ‚Wir sind immer noch da‘ – Optimismus speist (2000, S. 185 f). Die Zukunft gilt als prekär, Misstrauen und Unsicherheit bestimmen den unionistischen Handlungsspielraum. Den nordirischen Friedensprozess entwickelt sich somit in zwei Geschwindigkeiten. Nirgendwo sonst wird dieser Dualismus so deutlich wie in der Hauptstadt Belfast. Die doppeldeutige unionistische Bedeutungswelt, wie sie in Pitt Park manifestiert ist, verbindet die Gemeinschaft mit den Idealen des alten, konfliktträchtigen Belfasts, mit einem unperfekten Frieden. In den Stadtvierteln Sandy Row und Ost-Belfast ist man schließlich gezwungen, dieser Dialekt zu begegnen.

3 Sandy Row

Das unscheinbare Wohnviertel Sandy Row, eine protestantische Enklave, grenzt direkt an die Innenstadt von Belfast. Bislang hat das Areal kaum vom Aufschwung der Stadt profitiert. Während der Stadtkern immer weiter an Sandy Row heranrückt, machen die hiesigen Gassen einen geschundenen Eindruck. Der geplante Umbau des angrenzenden Bahnhofs an der Great Victoria Street könnte das Schicksal des Viertels endgültig besiegeln, fürchten Anwohner. Ein Bauvorhaben zieht besonders viel Protest auf sich: Im Zuge der Umbaumaßnahmen soll die unscheinbare aber historische Boyne Bridge abgerissen werden. Dagegen machen die Boyne Bridge Defenders mobil.

Noch endet Belfasts Innenstadt dort, wo Sandy Row beginnt. Doch der Aufschwung der Stadt stellt diese alten urbanen Grenzen in Frage. Während Hotels, Restaurants und Geschäfte immer mehr Platz brauchen, vegetiert Sandy Row vor sich hin. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis sich der kapitalistische Trend auch in diesen Teil der Stadt sichert. Sandy Row wäre lukratives Bauland für Hotels, Bars und teure Wohnungen in bester Lage. Rings herum entsteht bereits viel Neues, doch das kleine Arbeiterviertel scheint sich dem Trend zu verwehren. Einfache Häuser und graue Gassen, zwischendrin Brachland, ein Community Club, ein kleines Ladengeschäft, eine Kneipe, ein Gemeindehaus des Oranier-Ordens und diverse Wandbilder: Manche zieren die Queen oder Nordirlands Fußballer, andere die Wappen loyalistischer Paramilitärs: Nicht selten wird Sandy Row als ein place apart bezeichnet, der nicht recht reinpassen will in seine moderne Umwelt. Doch nun könnte ein Infrastrukturprojekt dieses Image aufbrechen. Der in die Jahre gekommene Bahnhof Great Victoria Street soll zu einem Transport Hub umgebaut werden, welcher den Ansprüchen einer expandieren Stadt Rechnung trägt. Gleichzeitig soll rings um den neuen Hauptbahnhof auch ein neues Stadtviertel, Wavers Cross, entstehen. Laut Translink, dem nordirischen Nahverkehrsbetrieb und Auftraggeber des Projekts, ermöglicht der Transport Hub Besuchern „an excellent first impression of a confident capital city“ (2017, S. 1).

Doch endet dieser tolle erste Eindruck nicht vielleicht in just dem Moment, in dem sich der Blick auf Sandy Row richtet? Was bedeutet die Vision von Wavers Cross für das schmucklose Arbeiterviertel? Anwohner haben wenig Vertrauen. Sie kämpfen um den Erhalt ihres Viertels, konkret um die unscheinbare aber historisch bedeutende Boyne Bridge. In Sandy Row wird Kultur zur letzten Patrone. Auf den folgenden Seiten wird deutlich, dass der Streit um die Boyne Bridge auch die Geschichte eines Friedensprozesses ist, der sich für die Bewohner von Sandy Row zu einem gebrochenen Versprechen entwickelte.

3.1 „I don’t trust anyone“: Streit um die Boyne Bridge

Vielleicht zwanzig Personen haben sich an einem Samstagvormittag im August vor dem Rathaus von Belfast versammelt.Footnote 6 Im Gewusel der Wochenendbesorgungen geht die Gruppe fast unter, lediglich die Uniformen von drei Polizisten sowie dutzende Union Jacks und Banner (Loyal Peoples Protest) machen deutlich, dass es sich hier um eine Demonstration für den Erhalt der Boyne Bridge handelt. Ich geselle mich dazu, und sofort nimmt mich ein älterer Herr in Beschlag.

Besagte Brücke, so erklärt es mir der Herr, wurde in seiner heutigen Form im Jahr 1936 errichtet, ihr Ursprung soll jedoch auf das 15. Jahrhundert zurück gehen. Als Nord-Süd-Achse war die Boyne Bridge lange Zeit eine bedeutende Verkehrsader in Belfast, Mächtige aller Couleur sollen die Brücke überquert haben (BBC 9. August 2017; Save the Boyne Bridge 2020). Heute passieren Züge von oder nach Great Victoria Street die Brücke, welche wie eine profane Straße daherkommt. Auch ihre strategische Bedeutung hat die Boyne Bridge längst eingebüßt, wird der Nord-Süd-Verkehr doch heute über den nahe gelegenen Westlink geleitet. Doch auf diese Punkte kommt der Herr nicht zu sprechen, schnell verschiebt sich sein Fokus, weg von der Brücke, hin zu den Verantwortlichen des Projekts. Translink will die Brücke in eine Straße umwandeln und mit künstlerischen Elementen an ihre historische Bedeutung erinnern. Doch für die Demonstranten wäre das kein annehmbarer Kompromiss. Die Brücke dürfe für den Transport Hub nicht abgerissen werden, im Gegenteil, ihr Wert soll durch eine umfassende Renovierung hervorgehoben werden. Mehr als 3000 Unterschriften haben sie bereits für den Erhalt der Boyne Bridge gesammelt, das könne Translink nicht einfach ignorieren. Ich frage ihn, ob sich sein Protest auch gegen den Transport Hub und das neue Stadtviertel Wavers Cross an sich richtet. Er sei jedenfalls nicht davon überzeugt, dass Sandy Row von dem Unterfangen profitieren würde, seine Erklärungen mir gegenüber werden nun emotionaler. Verbittert verweist er auf frühere Versprechen, welche den Bewohnern von Sandy Row gemacht wurden. Ihre Unterstützung für Bauprojekte rings um Sandy Row herum sollte mit dringend benötigten Investitionen im Viertel belohnt werden. Der Bau eines Hotels sollte mit dem Bau neuer Wohnungen einhergehen, stattdessen entstand ein Parkhaus. Dementsprechend misstrauisch beäugen die Demonstranten das Translink-Projekt: „I don’t trust anyone“, versichert mir der Herr.

Der Protest wirkt bizarr und doch nachvollziehbar. Sandy Row, soviel ist sicher, hat Modernisierungsbedarf. Das Bauvorhaben von Translink wird die direkte Nachbarschaft des Viertels herausputzen. Davon könnte auch Sandy Row profitieren, geht mit städtebaulichen Investitionen in Millionenhöhe doch stets der Wunsch einher, kulturhistorische Orte aufzuwerten. Doch das Argument, Kultur zu retten kann nur dort greifen, wo Kultur auch als solche anerkannt wird. Stadträume sind dabei stets mit Bedeutungen aufgeladen, gelten als Träger von lokalen Werten und Interessen (Kuper 1972, S. 421). In diesem Kontext gilt Sandy Row vielen als protestantische Enklave, schützenswertes Kulturerbe ist hier nicht die erste Assoziation. Die misstrauischen Reaktionen auf das Bauprojekt rund um Sandy Row spiegeln auch eine unionistische Geisteshaltung gegenüber den aus ihrer Sicht oft faulen Versprechen des Friedensprozesses, von welchen wir im folgenden Abschnitt mehr hören werden. Für den älteren Herren von der Demonstration ist die Sache jedenfalls klar: „I am not prepared to sell my history to anyone!“, ist seine trotzige Reaktion auf den Wandel der Stadt.

3.2 „We believed we were save“: Vom Frieden enttäuscht

An einem Freitagvormittag im SeptemberFootnote 7 bin ich mit OliverFootnote 8 verabredet, einige Tage zuvor habe ich den Mann im mittleren Alter bei einer Führung zum Erbe des Ersten Weltkriegs in Ost-Belfast getroffen. Zunächst bin ich von der Hoffnung getrieben, dank Oliver mehr über die Bedeutung des Great War für den Unionismus zu erfahren. Dazu kommt es nicht, unser geplanter Besuch des Somme Heritage Centres muss ausfallen, das Museum bleibt freitags geschlossen, unsere Ausfahrt wird nicht belohnt. Doch bereits einige Stunden zuvor treffen wir uns in Olivers Haus in Sandy Row, wir trinken Tee und unterhalten uns, über sein Viertel, die Boyne Bride, den nordirischen Frieden. Oliver will mir seine Leidenschaft, das Gedenken an den Ersten Weltkrieg, näherbringen. Dazu lotst er mich auf seine Facebookseite, auf welcher er dutzende historische Fotos und Dokumente teilt und hochlädt. Beim Überfliegen seiner Inhalte erblicke ich auch politische Inhalte, zu den meisten schweigt Oliver. Auf einen Beitrag von Save the Boyne Bridge kommt er jedoch zu sprechen: Oliver erläutert mir den Hintergrund des Brückendisputs und bekennt, dass er sich selbst für den Erhalt der Boyne Bridge engagiert. Den Abriss hält er, wenig überraschend, für unnötig. Schnell, kommt Oliver auf größere Sachverhalte zu sprechen. Er ruft die einstige Größe von Sandy Row in Erinnerung und erläutert, wie das Viertel mit der Expansion des Stadtzentrums immer kleiner wurde. Er spricht davon, wie den Bewohnern von Sandy Row seit Jahren neue, dringend benötigte Häuser verwehrt werden, weil die Finanzkräfte kein Interesse an diesem Viertel hätten.

Ich kann dem Eindruck von Oliver wenig entgegensetzen. Obwohl das Viertel nicht groß ist – die Sandy Row, Herzstück und Namensgeber, von welcher kleine Gassen abgehen, misst keinen Kilometer – ist der Kontrast zur direkten Umgebung gewaltig. In Sandy Row vertreibt ein Geschäft diverse Paraden-Utensilien, über Lautsprecher wird die Straße mit protestantischer Marschmusik beschallt. Und als bräuchten Olivers Worte noch weitere Beweise, ist eine Brachfläche mitten auf der Sandy Row drapiert wie eine Kulisse: Statt der ersehnten Wohnhäuser befinden sich hier nur haufenweise leere Dosen und Flaschen als Überbleibsel der Oranierparade vom 12. Juli, dahinter ein Altkleidercontainer, das alles vor einer angrenzenden Gibelwand und einem großen Banner mit der Losung British and Proud.

Nach einer Tasse Tee verlassen wir Sandy Row, Oliver will mich jemandem vorstellen, seinem Bekannten JackFootnote 9, Pfarrer und Gründer einer Community Church im Niemandsland zwischen der katholischen Falls Road und der protestantischen Shankill Road. Die Kirche hat mit einem sakralen Gebäude wenig gemein, erinnert eher an eine große Turnhalle. Doch für Jack, der in etwa Olivers Alter teilt, ist die Community Church vielmehr ein Ort, um die Nachbarn aus der Shankill Road und der Falls Road zusammen zu bringen, der Glaube an Gott ist dabei nachrangig. Jack ist mit seiner Arbeit ein Advokat des Friedens, und doch entwickelt sich dieses Gespräch zwischen ihm und Oliver zu einer Abrechnung mit dem, was man in Nordirland Friedensprozess nennt.

Jack gibt uns einen Kaffee aus, später einen zweiten, dazu bestellt er einige süße Teilchen. Jack erzählt zunächst seine Geschichte: Er stammt aus Ballymurphy, einer Gegend im Westen von Belfast, seine Familie musste zu Beginn des Nordirlandkonflikts jedoch in die Shankill Road umziehen, ihre protestantische Konfession drohte ihnen in ihrem Heimatort zum Verhängnis zu werden. In den 1960er Jahren schließlich war Jack selbst involviert in die täglichen Straßenkämpfe, beteiligte sich an Angriffen auf Katholiken. Er teilt diese Geschichte mit Oliver, auch er war in die alltägliche Gewalt involviert, verbüßte seine Taten im Gefängnis. Jack hat sich später schließlich dem Ulster Defence Regiment der Britischen Armee angeschlossen und ist seit 1982 verbunden mit dieser Kirche. Die persönlichen Einlassungen von Jack bewegen schließlich auch Oliver, eine Geschichte aus dieser Zeit mit uns zu teilen. Auf seiner damaligen Arbeitsstätte kannte er einen jungen Katholiken flüchtig. Eines Tages wurde der junge Mann erschossen, Paramilitärs hatten ihn verwechselt. Oliver war in der Nähe, der junge Mann starb in seinen Armen. Die Geschichte ist kurz, jäh ist ihr Ende. Beide machen deutlich, wie sehr sie den heutigen Frieden schätzen, und doch teilen sie eine tiefe Wut.

Dabei haben beide Männer für den Friedensvertrag von 1998 gestimmt, Oliver gar aus tiefer Überzeugung. Den Tür-zu-Tür-Wahlkämpfern der DUP, damals Gegner des Karfreitagsabkommens, hat er vor dem Hintergrund der andauernden Gewalt und mit Blick auf seine Kinder und Enkelkinder gesagt: „Don’t ask me to keep this going“. Jack und seine Frau wollten zunächst mit Nein stimmen: „We wanted peace but not at this price“. Doch nach einem Wahlkampfauftritt von Tony Blair in Belfast und den dort gemachten (und später, so Jack, gebrochenen) Versprechen, katholischen Paramilitärs keine Zugeständnisse zu machen, haben sie im Vertrauen auf ihren Premierminister und gläubigen Christen Blair mit Ja gestimmt.Footnote 10 Heute sagt Jack: „If I would turn the time back I would vote no“. Für beide sind die Ziele des Karfreitagsabkommens zu einer Illusion verkommen.

Wir machen eine kleine Tour durch die Kirche, ich sehe den Kinderspielbereich, die Veranstaltungshalle sowie den Fußballplatz. Anschließend kehren wir zurück, zum zweiten Kaffee. Oliver und Jack sind mittlerweile auf das Problem der unionistischen PR zu sprechen gekommen, oder wie es Oliver formuliert: „The unionist PR is not existing“. Beide waren gegen die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe, doch Oliver stellt fest: „If we are not progressive the other side will see us as dinosaurs“, worauf Jack entgegnet: „I am not a dinosaur. I have an opinion. That opinion should not make me a dinosaur“. „We are not good in telling our story“ sagt Jack schließlich, und da sind sich beide einig, doch woran liegt das? Die Unionisten, so Jack, hätten stets gedacht: „We believed we were save. […] We won two world wars. But we were wrong“.

Jack und Oliver leben im Frieden, sie wollen keine Rückkehr der Gewalt. Doch ihr Verdruss gilt den politischen Prozessen hinter dem Karfreitagsabkommen. Ihnen zu Folge müssen die Unionisten bis heute einen hohen Preis zahlen: Die Aufgabe alter Privilegien, die Neuverhandlung öffentlicher Symbole, die gesellschaftliche Rehabilitierung von Kämpfern der IRA. Stadträume wie Sandy Row bilden vor diesem Hintergrund Rückzugsorte in eine alte Welt. Hier akzeptiert man das Schweigen der Waffen, will aber darüber hinaus wenig mit dem heutigen Friedensprozess zu tun haben.

3.3 Abschottung als Taktik

In Sandy Row wird die unscheinbare Boyne Bridge aufgewertet und umgedeutet zu einem politischen Symbol für die unionistische Unzufriedenheit mit dem Friedensprozess. Der Stadtraum wird zum Träger einer manifesten und unüberhörbaren Botschaft (Kuper 1972, S. 258). Der Protest illustriert den symbolischen und politischen Charakter, welchen Stadträume einnehmen können. Die Stadt ist fluide und formbar, ein Metatext mit parallelen und widersprüchlichen Botschaften (Shields 1996, S. 234, 245). Oliver und die Boyne Bridge Protestor widersetzen sich dem Narrativ vom modernen Belfast, welches eng verzahnt ist mit dem Narrativ vom befriedeten Belfast, suchen zugleich nach eigenen Anknüpfungspunkten. Sandy Row ist dieser Hinsicht entkoppelt von der nach kapitalistischem Vorbild modernisierten Innenstadt von Belfast, und das in ökonomischer, infrastruktureller und ideeller Hinsicht. Das Leben in geschröpften Städten und Vierteln verlangt von dessen Bewohnern, ihr gebautes Umfeld ständig neu zu denken und zu erfinden (Mah 2012, S. 175). In Sandy Row vollzieht sich dieser Wandel durch das Bewahren des Alten. Der Kampf um die Boyne Bridge soll unionistisches Kulturgut retten und zugleich die Brandmauer zu einem Belfast markieren, welches, anders als Sandy Row, von den Versprechen des Friedens profitierte. Noch hält die Opposition gegen Verdrängung und Gentrifizierung. Der mit der Brücke verbundene Streit lässt sich von dem Bauwerk loslösen und als Taktik auf andere Kulturgüter übertragen. Kultureller Wettbewerb bedeutet in Sandy Row Widerstand und Abschottung. Doch es bleibt fraglich, wie viel Kultur sich noch zur Waffe schmieden lässt, wie lange diese Taktik Erfolg haben wird.

Auch in Ost-Belfast steht man vor der Aufgabe, Verbindungen zum neuen Belfast aufzubauen. In der Ausgangslage ähneln sich beide Viertel, doch die Herangehensweise ist dort eine gänzlich andere.

4 Ost-Belfast

Ost-Belfast galt einst als Heimat der hiesigen Schwerindustrie und protestantischer Paramilitärs. Bis heute zehrt man von dieser Geschichte, welche, so wird es im folgenden Kapitel deutlich, stets auch in der Gegenwart erlebt und auf die Zukunft projiziert wird. Anders als Sandy Row ist der mehrheitlich protestantische Osten fernab der Innenstadt, getrennt durch den Fluss Lagen. In dieser Abgeschiedenheit versucht man nun, die Geschichten von industriellem Niedergang und politischer Gewalt umzuschreiben, um so ein modernes und auf den städtischen Wandel abgestimmtes Ost-Belfast zu gestalten.

Aslan der Löwe gilt als Star im Figurenensemble der Chroniken von Narnia, dem Märchen und Kinderbuchklassiker des in Ost-Belfast geborenen Autors C. S. Lewis. Aslan ist eine mystische Erscheinung, allwissend und barmherzig, er besitzt die Fähigkeit in anderen Körpern zu leben und mit Menschen zu sprechen. Lewis, selbst gläubiger Christ, versteckte biblische Parallelen in seinen Märchen, in welchen Aslan die Fleischwerdung Jesu darstellt. Auch im heutigen Ost-Belfast ist von der Inkarnation des prächtigen Löwen etwas zu spüren: Dem 2016 eröffneten Eastside Visitor Centre auf der Newtownards Road ist der C. S. Lewis Square angeschlossen. In dem Figurenpark, bestehend aus metallischen Nachbildungen von Charakteren der Narnia-Saga, bildet der auf einem Hügel thronende Aslan das Herz der Anlage. Wo Sandy Row dem Wandel der Stadt skeptisch gegenüber steht, hat ihn Ost-Belfast zu einem gewissen Teil bereits vollzogen. Der Untergang der Schiffsindustrie war ein schwerer Schlag für Ökonomie und Seele des Viertels, als Heimat der loyalistischen UVF erlebte der Osten eine besondere Bindung zum Nordirlandkonflikt und von den positiven Entwicklungen in der Innenstadt profitierte man schon allein deshalb nur zum Teil, weil der Fluss Lagan den Osten in mancher Hinsicht zu einem abgeschiedenen Teil der Stadt macht. Wie in keinem anderen protestantischen Viertel lernte man in Ost-Belfast daher schnell, notwendige Veränderungen selbst voranzutreiben.

So ist die eingangs zitierte, hoffnungsfrohe Botschaft Aslans Teil der Geschichte von Ost-Belfast. Orte wie der C. S. Lewis Square geben Auskunft darüber, mit welchen Antworten dem Wandel von Belfast begegnet wird. Das Zusammenspiel zwischen urbanen Veränderungen und unionistischem Agieren präsentiert sich in diesem Kapitel in einer neuen, weil mutigen und fortschrittsfreundlichen Form. Das aktive Erinnern an eine andere Geschichte von Ost-Belfast ist somit auch als Versuch zu lesen, Anschluss zu finden an das Narrativ vom befriedeten Belfast.

4.1 „Belfast is a transformed space“: Führungen durch das Kulturerbe des Ostens

„It is once again a place we can be proud of“ meint Tourguide Laura ganz am Ende der knapp dreistündigen Yardmen Walking Tour, quer durch den industriellen Nachlass der hiesigen Schiffsindustrie.Footnote 11 Es ist ein sonniger Nachmittag im August, allein der lausig kalte Wind lässt keine Sommergefühle aufkommen. Die 22-köpfige Gruppe wirkt nach dem langen Fußmarsch erschöpft, doch mit ihren Abschlussworten gewinnt Laura alle Aufmerksamkeit zurück. Die Tour begann und endete am Eastside Visitor Centre, die Backsteinfassade des Gebäudes verbindet die Nostalgie lokaler Industriegeschichte mit den Vorzügen zeitgenössischer Architektur, hier in Form von vielen Fenstern und Glaselementen. Das Besucherzentrum ist nicht besonders groß, trotzdem bildet das Gebäude, gemeinsam mit den Metallskulpturen des C. S. Lewis Square und einem kleinen Nachbarschaftsgarten, einen Dreh- und Angelpunkt im sozialen Leben des Ostens. Dieses Areal und der damit verbundene Tourismus, so Tourguide Laura abschließend, schaffe etwas lang ersehntes: „Giving us a sense of pride in what we once had“.

Stunden zuvor, als das Sonnenlicht tatsächlich mit vergleichsweise sommerlichen Temperaturen daherkam, beginnt die Tour „into the footsteps of the Yardmen“, wie Laura es formuliert, später spricht sie von „men who built giants“. Die Yardmen Tour ist eine Erzählung über die Größe und Bedeutung des Industriestadtteils Ost-Belfast, weit über den Schiffsbau hinaus, von der Leinen-Produktion bis zum besten italienischen Eis weit und breit. Die Industrialisierung veränderte diesen Teil von Belfast grundlegend. Die schweren Arbeitsbedingungen in den Werften, der ökonomische Verfall, heftige Zerstörungen durch Bombenangriffe der deutschen Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg, schließlich der Nordirlandkonflikt und dessen Nachwirkungen: „I don’t want to give the impression that it was glorious“, sagt Laura über die Lebensbedingungen der Arbeiterschaft, sinnbildlich gilt diese Aussage wohl für das gesamte Viertel. Doch am Ende sind es die positiven Entwicklungen, welche die Tour maßgeblich prägen. Laura betont das stolze Erbe der Yardmen, darüber hinaus lobt sie die Entwicklungen der letzten Jahre, den Frieden und den Tourismus. Tourguide Laura trifft den Geist ihrer Gruppe, wenn sie schließlich resümiert: „Belfast is a transformed space“.

Dieser Wandel soll auch auf Häuserwänden in den Straßen rund um das Visitor Centre sichtbar werden. Dutzende Wandgemälde entstanden in den letzten Jahren und sollen Botschaften von Frieden und Aufbruch vermitteln: Looking to a Better Future steht es an einem Haus geschrieben, Dream, Seek, Educate, Achieve! an einem anderen. In direkter Nachbarschaft finden sich prominente Fassaden, an welchen sich die UVF ihren Anteil am Straßenbild sichert: The Ulster Conflict Is About Nationality. This We Shall Maintain ist eine Botschaft. An anderer Stelle ist es eine schwarz gestrichene Giebelwand, in ihrer Mitte ein weißer Kreis, die Losung We Are The Pilgrims, Master; We Shall Go Always A Little Further sowie drei mit Maschinenpistolen und Handgranaten ausgerüstete, vermummte Loyalisten. Ost-Belfast erlebt die Gleichzeitigkeit von bewaffneten Geistern der Vergangenheit, bunten Friedensbilder und dem Kulturerbe einer lokalen Fußballikone. Sie alle streiten um ihr symbolisches Überleben im Frieden.

4.2 „It’s a lovely part of Belfast“: Heimat von George Best

„Has anyone ever met someone from the Best family?“ fragt Tourguide Peter, ein Herr im besten Alter und im Shirt des nordirischen Fußballverbands, in die zehnköpfige Teilnehmerrunde.Footnote 12 Peter akzeptiert das kollektive Nein aus der Gruppe, doch eine Bekanntschaft mit dem Fußballtalent von Manchester United oder seiner Familie hätte ihn vermutlich auch nicht tiefer überrascht. Auf der George Best Bus Tour erzählt Peter nicht vorrangig die Geschichte einer Sportikone, sondern die eines East Belfast Boys, welcher den Stolz der hiesigen Fußballwelt verkörperte und dessen früher Tod im Jahr 2005 noch immer eine Zäsur darstellt.

Seine fußballerische Heimat fand Best bei Manchester United, für die nordirische Nationalmannschaft hingegen spielte er nur selten, auch aufgrund seines exzessiven Lebensstils, für den Best im Laufe der Jahre ähnlich berühmt wurde wie für sein sportliches Talent.Footnote 13 Diese Schattenseite aus dem Leben von George Best wird von Peter jedoch so gut es geht ausgeblendet, Fragen und Kommentare dazu hält er klein. Über Best, so hält es Peter seit jeher, wird nur mit größtem Respekt und Anstand gesprochen.

Wir halten im Burren Way in Outer East Belfast, die Gruppe entert das alte Reihenhaus der Familie Best, hier wuchs die Ikone auf. „This is living history, you can book it for 70 Pound a night“ sagt Peter, heute ist das nach Vorbild der 1970er Jahre eingerichtete Haus im Besitz der örtlichen Tourismusbehörde. Jeder von uns bekommt eine Tasse Tee, während Peter voller Stolz ein von Best gezeichnetes Trikot präsentiert, er zeigt zudem Zeitungen herum, welche nach seinem Tod erschienen – Remember me for my Football, titelte der Belfast Telegraph. Auf einem Platz ganz in der Nähe lernte Best das Fußballspielen, ein Wandgemälde erinnert hier an ihn. Noch heute, so Peter, leben Katholiken und Protestanten in diesem Wohnviertel zusammen: „It’s a lovely part of Belfast“.

„I feel very proud of it. A very, very sad occasion. But what a legacy“: Peter kommt auf die Beerdigung von Best zu sprechen. Zu Tausenden säumten die Menschen von Ost-Belfast und darüber hinaus die Straßen um ihrem Belfast Boy die letzte Ehre zu erweisen. Roselawn Cemetery, Grabstätte von George Best, markiert dann auch den letzten Punkt der Tour. Mit Zustimmung seiner Familie ist dieser Ort der Öffentlichkeit zugänglich, Fans bringen Blumen, Fotos und Fanschals zu dem ansonsten schlichten Grab. „I couldn’t come here for ten years. I couldn’t face it“, bringt Peter seine Anteilnahme zum Ausdruck.

4.3 Kulturerbe als Ausweg

Der Zustand relativen Friedens gibt Ost-Belfast die Möglichkeit, Kulturerbe fernab des Nordirlandkonflikts zu produzieren. Die Beispiele der Yardmen-Tradition oder des Gedenkens an George Best machen deutlich, dass Rückgriffe auf die Vergangenheit für die Kulturerbeproduktion zwingend notwendig sind. Um aus Fragmenten lokaler Geschichte jedoch einen identitäts- und sinnstiftenden Faktor zu machen, müssen Teile dieser Geschichte im Hier und Jetzt neu definiert, konstruiert und zu einem einenden Gebilde modelliert werden (Kirschenblatt-Gimblett 1995, S. 370). Darüber hinaus verrät das aus der Vergangenheit entlehnte und in der Gegenwart nutzbar gemachte Kulturerbe auch etwas über die Zukunft: Im Konstruieren einer stolzen Vergangenheit spiegeln sich nicht selten Wünsche und Vorstellungen. Ist die Vergangenheit und Gegenwart geordnet und von lästigem Ballast bereinigt, kann sie als Inspiration für kommende Entwicklungen dienen (Bryant und Knight 2019, S. 196, 200). Führungen durch das Kulturerbe von Ost-Belfast spielen nicht allein im Gestern, sie appellieren viel mehr daran, lokalen Stolz wiederzuentdecken und in die Stadt zu tragen.

Die Ethnologen Jean und John Comaroff sprechen in solchen Fällen von empowerment, wenn sie die Suche nach einem kommodifizierbaren und in vielerlei Hinsicht gewinnbringenden Alleinstellungsmerkmal beschreiben (2009, S. 15). Weltweit vonstattengehende Prozesse der Kulturerbeproduktion, inklusive der damit einhergehenden ökonomischen und politischen Erfolge, werden auch in Ost-Belfast als Alternativen, „als vorgestellte Leben“ wahrgenommen und eröffnen die Möglichkeit, auch die eigene Zukunft in diese Richtung zu imaginieren (Appadurai 1996, S. 53).

5 Schluss

Ziel dieses Artikels war es, zu erkennen, wie sich unionistische Akteure von Belfast in einem Friedensprozess zweier Geschwindigkeiten positionieren, wie er in Nordirlands Hauptstadt auftritt. Das Bild der befriedeten Stadt hat die Assoziationen zu Terror und Konflikt nicht verdrängt, sondern ergänzt. Im Zustand von Belfast lässt sich somit die Parallelität eines erfolgreichen und eines stagnierenden Friedensprozesses erkennen. Für Unionisten, welche sich durch vermeintliche falsche Versprechen und der Omnipräsenz vom Albtraum eines vereinigten Irlands als Verlierer des Friedensprozesses erachten, bedeutet das eine Assoziation mit dem konfliktträchtigen Belfast. Für Akteure wie Oliver und Jack in Sandy Row oder Laura und Peter in Ost-Belfast gilt es, sich von diesem Narrativ zu lösen und Anschluss zu finden an das aufstrebende Belfast. In beiden Stadträumen lassen sich kreative Antworten auf den Wandel von Belfast und die Hürden des Friedensprozesses erkennen, in Form von kulturpolitischem Widerstand oder Anpassung. Diese Antworten und Strategien werden im öffentlichen Raum geschaffen und in Stellung gebracht gegenüber den neuen politischen Deutungswelten vom boomenden Belfast. Das Verhalten gegenüber diesem urbanen Wandel kann auch als Suche nach einem Platz im hiesigen Friedensprozess verstanden werden. Egal ob die Strategie Abschottung oder Anpassung lautet, es lässt sich in beiden Fallstudien erkennen, dass urbane Friedenskonsolidierung durch den Zugriff auf neue Stadtnarrative passiert. Dieser Artikel macht mit seiner ethnographischen Herangehensweise deutlich, dass übergeordnete Prozesse wie Frieden und Konflikt vor Ort konstruiert, negiert und gelebt werden. Der Blick auf Sandy Row und Ost-Belfast ermöglicht somit einen alternativen Blick auf regionale Entwicklungen des nordirischen Friedensprozesses. In beiden protestantischen Stadtvierteln bestimmt der Umgang mit der lokalen Vergangenheit über gegenwärtige Verortungen unionistischer Akteure im Friedensprozess.

Es ist davon auszugehen, dass der Wandel von Belfast zum Ideal einer post conflict city fortgeschrieben wird. Diese Entwicklung betrifft verlangt von den handelnden Akteuren vor Ort Antworten auf Prozesse urbaner Erneuerung, auf Friedensnarrative, vielleicht gar auf den konstitutionellen Status des Landes. Nordirland feiert im Jahr 2021 sein hundertjähriges Bestehen. Doch Nordirland als Herz und Heimathafen des Unionismus steht zur Diskussion. Umfragen deuten an, dass sich eine knappe Mehrheit der Nordiren im Zuge des britischen EU-Austritts für ein vereinigtes Irland aussprechen könnte. Die Verlässlichkeit der Daten ist dabei von nachrangiger Bedeutung, viel mehr ist die Irland-Frage im Zentrum der politischen Auseinandersetzung angekommen. All diese Debatten spiegeln sich im Stadtraum, hier konstituieren sich daraufhin Strategien und Antworten. Die in Belfast anzutreffende Gleichzeitigkeit von erfüllten und unerfüllten Friedensversprechen, von urbanem Aufstieg und Verfall, von unionistischem Stolz sowie der Angst vor einem vereinigten Irland ist hier kein Widerspruch, sondern Zustand der gelebten Alltagswelt.