1 Einleitung

Herkunftsbedingte Disparitäten und nach wie vor ungleiche Bildungschancen und -erfolge von Schüler*innen aus Familien mit Migrationsgeschichte charakterisieren insbesondere die Gelenkstellen des Bildungssystems, wie den Schuleintritt (Cloos 2017) und den Übertritt von der Grundschule auf eine weiterführende Schule (Walper und Gniewosz 2019). Die positive Bewältigung dieser Übergänge ist entscheidend für Teilhabechancen im Bildungssystem und das Gelingen der späteren Lebensführung (Griebel und Niesel 2021; Rabe-Kleberg 2011). Belastende Dynamiken in Transitionsverläufen können weitreichende Folgen für das Wohlbefinden, die Bewältigung des Alltags und die soziale Integration von Kindern haben (Grotz 2005; Li und Lau 2019). Der Fokus der Übergangsforschung liegt auf den Schüler*innen (im Überblick Mays et al. 2023). Eltern sind, v. a. in quantitativen Schulvergleichsstudien, über Faktoren wie Bildungsaspiration, soziökonomischer Hintergrund, Sozialisationsmuster und kulturelles Kapital ‚repräsentiert‘ (z. B. Reiss et al. 2019). Obwohl ihnen große Bedeutung für die Gestaltung der Übergangsphasen zugesprochen wird (u. a. Correia und Marques-Pinto 2016; Lichtblau 2014), ist ihre Perspektive jenseits dieser Merkmale, ihr individuelles Erleben und ihre Wahrnehmung von Transitionen, selten berücksichtigt. Dies trifft insbesondere für Eltern mit Migrationsgeschichte zu, die in der Forschung generell eine marginalisierte Stellung einnehmen (Westphal 2018).

Daher vollzieht der Beitrag im Rahmen eines Participatory Research Approachs (Bergold und Thomas 2012) einen Perspektivwechsel: Dieser betrachtet das Erleben von Eltern mit Migrationsgeschichte aus deren Perspektive. Eltern als schulische Akteur*innen beschreiben mittels der Critical Incident Technique (Flanagan 1954; Reuschenbach 2008; Viergever 2019) für sie bedeutsame Ereignisse, die sie in Übergangsphasen ihrer Kindern im Primarbereich erlebt haben, und gehen auch auf deren Folgen für sich selbst und ihre Kinder ein.

2 Eltern als schulische Akteur*innen bei Transitionen im Primarbereich

2.1 Übergänge im Primarbereich und die Rolle der Eltern

Griebel und Niesel (2021) definieren „Transitionen [als] Lebensereignisse, die Bewältigung von Diskontinuitäten auf mehreren Ebenen erfordern, Prozesse beschleunigen, intensiveres Lernen anregen und als bedeutsame biografische Erfahrung von Wandel in der Identitätsentwicklung wahrgenommen werden“ (S. 37)Footnote 1. Faust (2013) betont neben der Identitätsentwicklung die Veränderung von Rolle und Status, sowohl beim Übergang vom Kindergarten in die Grundschule als auch von der Grundschule in die weiterführende Schule. Übergänge bergen Entwicklungspotenziale, ebenso Einschnitte oder Brüche, wenn individuelle Lernausgangslagen keine Berücksichtigung finden (Gutzmann und Lassek 2018). Diese zu vermeiden, erfordert im Sinne einer Ko-Konstruktion das Zusammenwirken verschiedener Akteur*innen, die sich anhand des international rezipierten Transitionsmodells von Griebel und Niesel (2021) theoretisieren lassen (u. a. Dunlop und Fabian 2007). Demnach gelten Kinder und Eltern als natürliche Akteur*innen, die Entwicklungsaufgaben auf verschiedenen Ebenen (individuell, interaktional, kontextuell) aktiv bewältigen, das pädagogische Fachpersonal (u. a. Erzieher*innen, Lehrkräfte) moderiert als professionelle Akteur*innen den Übergangsprozess.

Kinder sind daher nicht alleinige Akteur*innen in den Transitionsprozessen, bedeutsam sind insbesondere auch die Eltern (u. a. Correia und Marques-Pinto 2016; Lichtblau 2014). Diese nehmen im Sinne des Transitionsmodells eine mehrfach besetzte Rolle in Übergangsprozessen ein. Sie sind Begleiter*innen und Unterstützer*innen ihrer Kinder, ebenso selbst ‚Betroffene‘, da sich auch ihr Status ändert (z. B. Wechsel von Eltern eines Kindergartenkindes zu Eltern eines Schulkindes). Der neue Status bedeutet neue Aufgaben, z. B. auf individueller Ebene die Unterstützung des Kindes bei Hausaufgaben und der Vorbereitung auf Prüfungen, auf sozialer Ebene den Kontaktaufbau zu Lehrkräften sowie auf kontextueller Ebene das Integrieren der Lebensbereiche Familie, Erwerbstätigkeit und Schule (Griebel und Niesel 2021). Zudem sind Eltern Entscheidungsträger*innen und Kooperationspartner*innen für die Institutionen.

2.2 Transitionsforschung zu Eltern im Primarbereich

Insbesondere die durch internationale Schulvergleichsstudien angestoßene Diskussion um die schulische Kompetenzentwicklungen im Kontext von sozialer Herkunft rückt Übergänge im Primarbereich (erneut) in den Fokus der (Fach‑)Öffentlichkeit. Umso mehr verwundert es, dass trotz der großen Präsenz dieses auf Herkunft Bezug nehmenden Diskurses gerade Eltern mit Migrationsgeschichte als Akteur*innen in diesem Forschungskontext kaum eine Rolle spielen. Die meisten Studien konzentrieren sich national und international auf die Bewältigung des Schuleintritts hinsichtlich der Entwicklung von Leistung, Engagement, Sozialverhalten und Fördermöglichkeiten im Übergang (siehe das Review von Mays et al. 2023) sowie die Bewährung der Selektionsentscheidung (z. B. Faust et al. 2012). Akteursbezogene Forschung, aus einem systematisierenden Blickwinkel entsprechend des Transitionsansatzes, beschäftigt sich v. a. mit dem Kind (z. B. Kasanmascheff 2019; Seven 2010) und dem pädagogischen Personal (z. B. Broström et al. 2014; Weber 2015). Zunehmend öffnet sich die Transitionsforschung für die Akteursgruppe der Eltern. International betrifft das aufgrund der schulsystemimmanenten Unterschiede (in den meisten Ländern erfolgt kein früher, selektiver Übergang) hauptsächlich den Übergang vom Kindergarten in die Grundschule (z. B. Roncancio-Moreno und Branco 2017).

Die Übergangsbewältigung hängt mit den individuellen familiären Lebensumständen und der elterlichen Auseinandersetzung mit den eigenen Schulerfahrungen zusammen, die sich auf das kindliche Übergangserleben auswirken (Hiebl 2020). Familiäre Hintergründe beeinflussen Haltungen zu Bildungseinrichtungen und die angenommene Rollen‑/Aufgabenverteilung unterschiedlicher Akteur*innen (Aminipour et al. 2018; Snell et al. 2009). In Präkonzepten von Kindern zu Schule spiegeln sich elterliche Vorstellungen wider (Kasanmascheff und Martschinke 2016), es gibt z. B. Zusammenhänge zwischen elterlicher Unsicherheit und einem als problematisch charakterisierten Übergang des Kindes in die Primarstufe (Buse 2017). Eltern mit einem positiven Übergangserleben sind zufriedener mit dem Kontakt zu den Lehrkräften, besser über Lernziele und schulische Strukturen informiert und weisen eine höhere Partizipation am Schulleben sowie ein sichereres Rollengefühl auf als Eltern mit negativem Erleben (Wildgruber et al. 2017).

Solche Studien betrachten Eltern als eine eher homogene Gruppe, selten wird die Perspektive von Eltern mit Migrationsgeschichte erfasst. Pfaller-Rott (2010) identifiziert als den Übergang begünstigende Faktoren bei Eltern mit Migrationsgeschichte den persönlichen Kontakt mit den aufnehmenden Institutionen, Informationen zu Unterstützungsmaßnahmen im Übergang sowie eine offene und diversitätssensible Atmosphäre, die relevante Informationen in verschiedenen Sprachen bereithält, Dolmetscher*innen nutzt, Partizipationsmöglichkeiten schafft und übergangserfahrene mehrsprachige Eltern als Ressource einbezieht. Wenn Übergänge und Selektionsentscheidungen spezifisch von Familien mit Migrationsgeschichte in den Blick genommen werden, gehen wenige Studien auf die Wahrnehmung der Eltern ein. Es bleibt meist bei der ‚Ansicht von außen‘ auf Familien mit Migrationsgeschichte, die häufig defizitorientiert ist und sich an (pauschal angenommenen mangelnden) deutschsprachlichen Kompetenzen von Kindern und ihren Eltern ausrichtet (Gomolla und Radtke 2009; Kratzmann et al. 2013; Tuppat et al. 2016). Eltern werden neben (zu) geringen Sprachkenntnissen ‚andere‘ Erziehungsstile, -praktiken, Erwartungshaltungen und Rollenvorstellungen in Bezug auf die Schule zugeschrieben (Anderson et al. 2020; Cross et al. 2019; El-Mafaalani 2013; Pfaller-Rott 2010). Solche Zuschreibungen wirken sich auf das Übergangserleben der Kinder und Eltern sowie auf Übergangsempfehlungen aus (Gaitanides 2006). International liegt der Fokus, neben den schon erwähnten Sprachbarrieren, auf der Darstellung von Vorstellungen und Formen der Zusammenarbeit und Rollenverteilung, die teils zwischen Eltern und Schule differieren (z. B. McWayne et al. 2016). Die Wahrnehmung und Zuschreibung von Differenz, wie sie in Studien und der Praxis geschieht, löst bei Eltern mit Migrationsgeschichte Verunsicherung aus (Kuger et al. 2014), was wiederum einen negativen Einfluss auf die Bewältigung und Begleitung des Transitionsprozesses hat.

Studien wie die von Kuger et al. machen das Forschungsdesiderat deutlich. Untersuchungen, die Eltern mit Migrationsgeschichte einbeziehen, fehlen (Westphal 2018). Bestehende Studien nehmen häufig die Perspektive ‚von außen‘ ein und berichten eher, was man für Eltern annimmt, als das, was diese selbst erleben und wahrnehmen. Deren individuelle Sicht auf Transitionsprozesse im Primarbereich bleibt folglich meist unberücksichtigt und kann ebenso wie die Folgen, die das Erlebte an den so bedeutsamen Gelenkstellen des Bildungssystems hat (Griebel und Niesel 2021; Rabe-Kleberg 2011), als Forschungsdesiderat formuliert werden.

3 Fragestellung

Besonders in der Forschung haben Eltern mit Migrationsgeschichte wenig (Sprach‑)Raum. Der Perspektivwechsel in der vorliegenden Studie vollzieht sich daher im Sinne eines Participatory Research Approachs (Bergold und Thomas 2012) vom Sprechen über zum Sprechen mit. Eltern skizzieren mittels der Critical Incident Technique von Flanagan (1954) bedeutsame, folgenreiche Ereignisse, die sie an den Übergängen ihrer Kinder im Primarbereich erlebt haben. Folgende Fragen waren forschungsleitend:

  1. 1.

    Welche bedeutsamen Situationen haben Eltern mit Migrationsgeschichte an den Gelenkstellen der Grundschule, dem Schuleintritt und dem Übertritt ihrer Kinder auf eine weiterführende Schule, erlebt? Zu welchen Kategorien lassen sich diese zusammenfassen?

  2. 2.

    Wie wirken sich diese Ereignisse aus? Welche Folgen haben diese und für wen?

4 Methode

4.1 Forschungskontext und Stichprobe

Die vorliegende Studie ist Teil des Projekts Schule für Alle, in dem der Lehrstuhl für Schulpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und die Stelle für interkulturelle Arbeit der Landeshauptstadt München kooperieren. Dessen Ziele liegen in der forschungsgestützten Implementierung nachhaltiger Maßnahmen für Schulen, Bildungseinrichtungen und Lehrer*innenbildung, die auf migrationsgesellschaftlich und diskriminierungskritisch reflektierten Konzepten beruhen. Die Stichprobe der vorliegenden Studie umfasst 40 Eltern mit Migrationsgeschichte als ‚subject matter experts‘ im Sinne der Critical Incident Technique (Blickle et al. 2011): Diese stehen im Kontakt mit der Schule durch mindestens ein schulpflichtiges Kind. Das Sampling erfolgte durch Selbstaktivierung bzw. sekundäre Selektion (Reinders 2012). Eltern wurden über eine Ausschreibung des Lehrstuhls über die Stadt München an Elternverbände in Raum München Stadt und Landkreis zur Teilnahme an einer Gruppendiskussion eingeladen. Der Fragestellung folgend, zeichnet sich die Stichprobe durch eine vielfältige Zusammensetzung aus und bildet breite Vielfalt ab (Krueger und Casey 2020): Die Eltern kommen aus unterschiedlichen Herkunftsländern, sprechen verschiedene Erstsprachen und leben unterschiedlich lange in Deutschland. Sieben von ihnen kommen aus der Türkei, vier aus China, je drei aus Brasilien, Griechenland und der Ukraine, je zwei aus Äthiopien, Italien, Polen, Russland und Syrien sowie je ein Elternteil aus Afghanistan, Argentinien, Frankreich, Irak, Kolumbien, Marokko, Mexiko, Portugal, Somalia und den USA. Die Zahl der Jahre, die die Eltern in Deutschland leben, variiert zwischen zwei und zehn Jahren. Weiter stammen die Eltern sowohl aus unterschiedlichen Grundschulen als auch aus verschiedenen städtischen (Schul‑)Umgebungen (bzgl. Kriterien wie u. a. soziale Lage, Anteil von Schüler*innen/Familien mit Migrationsgeschichte bzw. Geflüchtete), um Verzerrungen beispielsweise durch regionale Ballung zu vermeiden und größere Variation durch vielfältigere, breitere Argumentationen zu erreichen (Krueger und Casey 2020).

4.2 Vorgehen: Critical Incident Technique und Gruppendiskussionen

Der Participatory Research Approach geht von den Erfahrungen der Handelnden, hier denen der Eltern, aus. Aus diesen werden Wissen und Implikationen für den Handlungskontext, die Schule bzw. schulische Interaktion verschiedener Akteur*innen, abgeleitet (Bergold und Thomas 2012) und es wird eine Veränderung gewohnter (Forschungs‑)Formen von Interaktion, Interpretation und Machtverhältnissen angestoßen. In der vorliegenden Studie erfolgte die Umsetzung des partizipativen Vorgehens durch die Critical Incident Technique (CIT, Flanagan 1954), die Methode kritischer Ereignisse. Deren Grundidee liegt darin, Ereignisse, Verhaltensweisen und Handlungsepisoden in den Blick zu nehmen, in denen Handeln unter Unsicherheit, ohne eindeutige Vorgaben und unter der Prämisse begrenzten Wissens erfolgt (Reuschenbach 2008; Viergever 2019). Die CIT dient einem Erkenntnisgewinn über Situationen, (Berufs‑)Felder und Kontexte, die sich durch große Verantwortung, hohes Anforderungspotenzial, nicht (immer) vorhandene Handlungsroutinen, die Notwendigkeit zu komplexer Problemlösung und eine Vielzahl sozialer Interaktionen charakterisieren lassen. Dies trifft für den Kontext Schule und die dort stattfindenden Interaktionen vieler verschiedener Akteur*innen mit unterschiedlichen Rollen, Erwartungen und Ansprüchen zweifellos zu.

Critical Incidents lassen sich systematisch auswerten, um zukünftiges Verhalten zu antizipieren und Fehler künftig zu vermeiden oder zu verringern. Sie umfassen eine Beschreibung des Ereignisses, relevanter Gründe und Bedingungen sowie der Folgen für verschiedene Akteur*innen. Critical Incidents lassen sich, Flanagan folgend, in Gruppendiskussionen erfassen, begründet dadurch, dass Gruppendiskussionen Inhalte durch gegenseitige Stimulierung und Bezugnahme deutlicher und in der Aussagekraft geschärft zum Vorschein bringen und sich Bewusstseinsstrukturen erfassen lassen, die dem Erlebten zugrunde liegen (Lamnek und Krell 2016). Der Fokus liegt auf den „Relevanzsystemen der Betroffenen“ (Lamnek und Krell 2016, S. 389). Die Diskussionssprache war Deutsch, daher waren deutsche Sprachkenntnisse Voraussetzung für eine Teilnahme, was in der Einladung kommuniziert wurde. Allerdings unterschieden sich die Eltern in ihren Sprachkenntnisse deutlich. Daher wurde eine geringe Gruppengröße im Sinne eines ‚Schutzraums‘ gewählt: Es wurden zwölf Gruppen mit je drei, eine mit vier Eltern gebildet. Dadurch mussten sich Eltern, die aufgrund ihrer Sprachkenntnisse unsicher waren, nur vor wenigen exponieren (Prinzen 2020). Die Gruppen boten eine geschützte Atmosphäre, in der Beiträge, wo nötig, langsam vorgetragen und Nachfragen ohne Zeitdruck beantwortet werden konnten. Die zweistündigen Gruppendiskussionen erfolgten thematisch strukturiert anhand von Leitfragen. Diese waren orientiert an den genannten Forschungsfragen und der Methodik der CIT, für den Kontext bedeutsame Ereignisse zu generieren. Eltern konnten eigene Schwerpunkte setzen, z. B. das Thema Übergänge. Alle (Nach‑)Fragen wurden so formuliert, dass alle Eltern diese verstehen (kurze Fragen, wenig komplexe Formulierung, kein Fachvokabular etc.) und sich in ihrem Tempo und mit ihren individuellen Sprachkenntnissen an der Diskussion beteiligen konnten. Verständnisschwierigkeiten ließen sich durch Nachfragen niedrigschwellig beheben, so dass nur bekannte gruppendynamische Effekte (einige beteiligen sich mehr, andere weniger, Lamnek und Krell 2016) zu beobachten waren.

Jede Gruppe wurde durch erfahrene Mitarbeiter*innen aus der Lehrer*innenbildung moderiert und durch weitere wörtlich protokolliert. Die Protokollierung erfolgte auf Wunsch vieler Teilnehmender, die trotz ausführlicher Aufklärung über die Richtlinien von Datenschutz, Anonymität und wissenschaftlichem Arbeiten im Vorfeld Bedenken bezüglich einer Tonaufnahme äußerten (dies könnte möglicherweise Bedenken in Hinblick auf die Sprachkenntnisse geschuldet sein). Um einer möglichen Verzerrung bei der Protokollierung der Diskussionsbeiträge vorzubeugen, erfolgte zu einem im Vorfeld eine diesbezügliche Schulung der Protokollant*innen. Zum anderen gingen Moderator*in und Protokollant*in das erstellte Protokoll im Nachgang zeitnah gemeinsam durch.

4.3 Auswertung und Validierung

Die Auswertung erfolgte mittels zusammenfassender Inhaltsanalyse nach Mayring (2015). Dieses Verfahren kam zum Einsatz, da die Zielsetzung der vorliegenden Studie weniger in einer interpretativen Erschließung des Materials liegt, sondern in einer ersten Exploration, einer ersten Strukturierung mittels systemischer Textbearbeitung (Mayring 2015). Der Auswertung lagen keine theoretischen Konzepte zugrunde, sondern die Kategorien wurden induktiv aus dem Material entwickelt. Als Rahmen dienten lediglich die Strukturelemente von Critical Incidents (Ereignisse, relevante Bedingungen, Folgen). Die mehrfache Nennung von (ähnlichen) Ereignissen lässt den Schluss zu, dass es sich um überindividuelle Aspekte handelt, die viele Akteur*innen so erlebt und wahrgenommen haben. Die Auswertung bezieht 23 Critical Incidents ein, in denen Eltern in den Diskussionen explizit auf schulische Übergänge im Primarbereich und ihr Erleben dieser Gelenkstellen des Bildungssystems Bezug nehmen. Jedes Ereignis geht auf einen Elternteil zurück. Anzumerken bei der Auswertung ist, dass, Flanagan folgend, ‚kritisch‘ nicht als ‚negativ‘ oder ‚problematisch‘, sondern so zu verstehen ist, dass ein Ereignis bedeutsam, typisch, besonders folgenreich ist oder öfter auftritt. Dies wurde den Teilnehmenden so kommuniziert. Eltern schildern allerdings weitgehend Ereignisse mit negativ geprägter Ausgangssituation.

Im Zuge eines mehrstufigen Auswertungsprozesses wurden thematisch Kategorien aus dem Material herausgebildet. Als Hilfsmittel diente eine im Zuge der Analyse prozesshaft entwickelte Codierliste, die Erläuterungen und Beispiele zu den Kategorien enthält. Zuerst wurden durch intensive Lektüre der Protokolle Kategorien gebildet, diese konkretisiert und ausdifferenziert und folgend im Sinne einer thematischen Strukturierung reorganisiert, zusammengefasst, ggf. umbenannt und final zugeordnet (Mayring 2015). Die Auswertung erfolgte mit der Software MAXQDA. Das so entstandene Kategoriensystem basiert auf 13 Kategorien und 107 codierten Textstellen, deren Verteilung der Abb. 2 im Ergebnisteil zu entnehmen ist. Abb. 1 zeigt beispielhaft auf, wie die Textstellen codiert wurden.

Abb. 1
figure 1

Codierungsbeispiel

Die Auswahl der Critical Incidents sowie die Güte der Codierungen wurden durch eine zweite Mitarbeiterin überprüft. Die Berechnung der Intercoder-Reliabilität erfolgte mittels MAXQDA. Belur et al. (2021) folgend sind Reliabilitätskoeffizienten von 0,80 zufriedenstellend. Daher wurde, wenn weniger als 80 % der codierten Textpassagen einer Kategorie übereinstimmten, ein kommunikativer Validierungsprozess durchgeführt (Kvale 1995). Dadurch ließen sich die Kategorien trennschärfer gestalten und in ihrer Aussagekraft schärfen.

5 Ergebnisse

5.1 Modell zum Übergangserleben im Primarbereich aus Elternperspektive

Abb. 2 zeigt alle Kategorien systematisiert in einem Modell. Exemplarische Zitate aus den Critical Incidents dienen folgend der Illustration und Erläuterung von Kategorien und Modell. Diese wurden sprachlich nicht bearbeitet, sondern werden so wiedergegeben, wie die Eltern sie geäußert haben.

Abb. 2
figure 2

Modell zum Erleben von Übergangsphasen aus Sicht von Eltern

5.2 Zuschreibungen und niedrige Erwartungen als Kern kritischer Ereignisse

Im Mittelpunkt der von den Eltern skizzierten Ereignisse stehen Zuschreibungen bezüglich Migrationsgeschichte und Verhalten sowie niedrige Erwartungen an die intellektuelle Leistung der Kinder und die elterliche Kompetenz. Dies charakterisiert, im Modell dargestellt als Vier-Felder-Schema, das Erleben von Kindern (1) und Eltern (2) sowohl bei Schuleintritt als auch beim Übertritt in eine weiterführende Schule, auch hier von Kindern (3) und Eltern (4).

(1) Bereits der Einschulungsprozess zeigt sich, den Eltern folgend, durch niedrige leistungsbezogene Erwartungen gegenüber ihren Kindern gekennzeichnet.

„Ich wollte meine Tochter vor dem sechsten Geburtstag einschulen lassen. Sie musste mit einigen Kindern zusammen einen Test ablegen. Bei einer Aufgabe hat sie akustisch nicht verstanden und nachgefragt, die Lehrerin glaubt aber, dass sie nicht genug Deutsch versteht und sagte sehr frech: Wenn du nicht verstehst, kann ich dir auch nicht helfen.“ (EL_4_1)

Eltern beschreiben wiederholt, dass Leistung bzw. Leistungspotenziale vom pädagogischen Personal häufig (ausschließlich) über deutschsprachliche Kenntnisse definiert würden. Aufgrund der Migrationsgeschichte würden bei ihren Kindern Sprachbarrieren grundlos und unhinterfragt vorausgesetzt: „Ich suchte ein Gespräch mit der Schulleiterin. Obwohl sie meine Tochter gar nicht kannte, glaubte sie fest daran, dass meine Tochter zu wenig Deutsch versteht.“ (EL_4_1) Klärungsversuche blieben meist ergebnislos oder kämen gar nicht erst zustande. Solche Vorannahmen würden in der Schuleingangsphase zum tatsächlichen Hemmnis, da von diesen beispielsweise eindimensional auf fehlende ‚Schulfähigkeit‘ geschlossen würde.

Ähnliche defizitorientierte, teils stereotype Zuschreibungen bezüglich Leistungspotenzial schildern Eltern auch direkt bei Schuleintritt.

„Am ersten Elternsprechtag in der ersten Klasse wurde mir als positives Feedback gesagt, mein Sohn könne eine Hauptschule besuchen. Ich sollte Stolz empfinden, dass er es überhaupt soweit schaffen sollte.“ (EL_1_1)

Als besonders einschneidend erleben Eltern solche Äußerungen daher, da diese häufig bereits in den ersten Tagen und Wochen des Schuljahres oder im ersten Elterngespräch vorgebracht würden und die Wortwahl der Lehrenden teils sehr eindrücklich, direkt und absolut sei: „Am zweiten Tag des Schuljahres, als ich ihn [Sohn] nach dem Unterricht abgeholt habe, teilt mir die Lehrerin mit, dass er nur Wahnsinn macht … und fragt, warum ich ihn nicht zurückgestellt habe. Ich war fassungslos.“ (EL_5_1) Solche Erfahrungen in der ersten Kontaktanbahnung konterkarierten in ihren Augen eine Zusammenarbeit von Familie und Schule von Anfang an.

(2) Auch Eltern selbst sehen sich niedrigen, eindimensional aus Migrationsgeschichte und Sprachkenntnissen abgeleiteten Kompetenzeinschätzungen gegenüber.

„Ich habe zwei Söhne italienischer Herkunft. Gleich am ersten Elternabend empfahl mir die Lehrerin, einen ‚Alphabetisierungskurs‘ zu besuchen, weil mein Deutsch nicht so gut klang.“ (EL_1_1)

Auch in diesem Kontext gehen Eltern darauf ein, dass solche Zuschreibungen bereits früh, teils mit dem ersten Kennenlernen der Lehrenden geäußert würden. Damit verbunden sehen sich Eltern bereits mit Schuleintritt „unter Druck“ (EL_6_4) zu therapeutischer Hilfe für ihre Kinder, sich selbst oder die Familie gedrängt.

„Als er [Sohn] in der ersten Klasse war, hat mich die Lehrerin angesprochen, dass mein Kind unruhig ist. … Sie meinte, mein Sohn soll eine Therapie bei einer Psychologin machen. Ich war geschockt über ihren Vorschlag und habe versucht, ihr zu erklären, dass das Kind erst in die ersten Klasse ist. Noch dazu ist er erst seit sechs Wochen in der Schule.“ (EL_7_4)

In diesem Kontext verorten Eltern entsprechende Empfehlungen und Druck durch Lehrende in ihrer Migrationsgeschichte. Das für sie besonders einschneidende Element liegt darin, dass Lehrende den Bedarf an therapeutischer Hilfe aus der Einschätzung ‚elterlicher Kompetenz‘ und Erziehungspraktiken ableiten und dies kaum oder gar nicht begründen („wollte mich und meine Tochter immer zur Psychologin schicken ohne Grund. Ich denke, weil ich ihr wahrscheinlich nicht gefallen habe.“ EL_6_4).

(3) Ähnliche Erfahrungen und Mechanismen charakterisieren aus Elternsicht die Übertrittsphase in eine weiterführende Schule.

„Sie war eine der besten Schülerinnen. In der vierten Klasse hatte sie im ersten Halbjahr gute Noten. Die Lehrerin wurde dann wegen Krankheit gewechselt. Leider hat die neue Lehrerin meine Tochter entmutigt und sagte ihr immer wieder, sie soll auf die Realschule gehen, dann kann sie auch mit ihren besten Freunden zusammen in die weiterführende Schule gehen. Obwohl meine Tochter gute Noten hat, will sie jetzt nicht mehr aufs Gymnasium und will auch keine guten Noten mehr schreiben.“ (EL_6_4)

In diesem Beispiel beklagt eine Mutter nicht nur geringe leistungsbezogene Erwartungen. Darin spiegelt sich auch die Zuschreibung eines ‚für eine Schülerin mit Migrationsgeschichte passenden Bildungswegs‘ wider, den die Schülerin trotz eines eigentlich anderen Leistungsbilds gehen soll bzw. sogar dafür motiviert werden soll. Andere Beispiele lassen sich erneut mit dem zugeschriebenen Sprachpotenzial verknüpfen.

„Anfang des vierten Schuljahres hat die Lehrerin mich in die Sprechstunde gerufen und hat mir die Empfehlung gegeben, dass meine Tochter, die in Deutschland geboren ist, aber zweisprachig aufwächst, in einen Deutschförderkurs geht. … Das könnte zur Sicherheit sein, dass die Kinder auch aufs Gymnasium gehen können.“ (EL_3_1)

Eltern nehmen wahr, dass Lehrkräfte mehrsprachig aufwachsende Schüler*innen unabhängig von der eigentlichen Performanz als grundsätzlich förderbedürftig betrachten und für diese teils vorgefertigte Bildungswege im Kopf haben, von denen sie nicht abweichen wollen („Sie sagt, sie lässt ihn nicht in das Gymnasium“, EL_2_7).

(4) Auch Eltern selbst sehen sich an der Schnittstelle von Grundschule und weiterführender Schule geringen Erwartungen an ihre eigene Person und Rolle gegenüber.

„Mein Sohn hat in der Schule im Deutschunterricht keine Erfolgserlebnisse. Seine Lehrerin hat gesagt, obwohl ich gefragt habe, wie ich ihn unterstützen kann, dass für einen Schüler mit Migrationshintergrund eine Vier immer gut ist.“ (EL_1_6)

„Sie hat auch gesagt, meine Tochter muss nicht so viel lernen. … Weil wir Migranten sind, braucht sie nicht auch noch Hausaufgaben mit nach Hause nehmen. … Erst als ich mich als Lehrerin vorgestellt habe und gesagt habe, mir liegt es daran, … hat sich ihre Haltung geändert. Ich hatte den Eindruck, dass sie findet, dass Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund nicht so gut Deutsch lernen müssen wie andere Kinder.“ (EL_3_2)

Aus Erlebnissen wie dem ersten folgern Eltern – zusätzlich dazu, dass Migrationsgeschichte mit geringem Leistungspotenzial gleichgesetzt wird –, dass ihnen nicht zugetraut werde, helfen zu können, unterstellt werde, gar nicht unterstützen zu wollen oder ihre Unterstützung aufgrund der Migrationsgeschichte als unnötig abgetan würde. Sie beschreiben dann, sich dafür rechtfertigen zu müssen, möchten sie ihr Kind beim anstehenden Übertritt helfen.

In allen Kontexten bzw. Schnittstellen verstärkend, wirken aus Elternsicht (schul-)strukturelle Mängel, v. a. Kompetenzchaos und fehlende (Bereitschaft zu) Abstimmung, beispielhaft wie folgt erläutert:

„Kurz vor dem Einschulungstest wurde uns im Kindergarten gesagt, dass das Kind keine Sprachprobleme hat. Nach dem Test haben wir allerdings eine Empfehlung bekommen, wegen Sprachmangel in die Förderklasse zu gehen. … In der Schule hat man uns wieder gesagt, dass das Kind keine besonderen Sprachprobleme hat.“ (EL_5_6)

In der Folge stehen für die Eltern u. a. auseinanderklaffende Einschätzungen, Erwartungen und Überzeugungen verschiedener Fachpersonen unvereinbar gegenüber und wirken als Katalysator für weitreichende Folgen.

5.3 Folgen für Übergangsphasen und darüber hinaus

Eltern beschreiben in vielen Ereignissen, dass der Übergang bzw. angestrebte Bildungsweg trotz des Erlebten verwirklicht wurde („Meine Tochter ist jetzt in der ersten Klasse“ EL_7_2), aber nicht immer („Am Ende reichten die Noten nicht für das Gymnasium“, EL_7_1). Allerdings bewahren auch formal gelungene Transitionen nicht vor den negativen Auswirkungen des Erlebten. Äußerungen wie man solle stolz darauf sein, dass das eigene Kind überhaupt eine Hauptschule besuchen könne (EL_1_1) oder dass eine Vier bei Migrationsgeschichte immer gut ist (EL_1_6), werden als zutiefst abwertend und demütigend empfunden. Das trifft auch zu, wenn Mehrsprachigkeit als Hemmnis für Übergänge gesehen wird (EL_4_3) oder man Eltern zweisprachig aufwachsender Kind nahelegt, andere Sprachen als die deutsche nicht mehr zu benutzen (EL_4_1).

Als besonders demütigend werden verhaltensbezogene Zuschreibungen empfunden, verschärft dadurch, dass diese als Drohung eingesetzt werden: „Sie sagt zu ihm [Sohn] auch, dass wenn er in die Schule will, muss er sich benehmen und zuhören“ (EL_5_1). Bei Eltern stellen sich Hilflosigkeit und ein Gefühl des Ausgeliefertseins ein, keinerlei Handhabe gegenüber der Schule zu haben (EL_2_4). Um den angestrebten Bildungsweg ihrer Kinder nicht zu gefährden, schildern Eltern, trotz der Demütigung und aus der Hilflosigkeit heraus, Druck auf ihre Kinder auszuüben und sie zur Einhaltung der verhaltensbezogenen Erwartungen anzuhalten:

„Mein Sohn hat Angst. … Ich habe zu ihm gesagt, dass er sehr gut ist und dass er arbeiten, seine Hausaufgaben machen und ordentlich sein muss. Man darf keinen kleinen Fehler machen, damit die Lehrerin nichts sagen kann.“ (EL_7_5)

Besondere Beachtung bedarf, dass aus Elternsicht die skizzierten Folgen keineswegs nur kurz anhalten und dann verschwinden oder vergessen sind, wenn der Übergang erfolgt ist. Die berichtete hohe psychische Belastung („Ich habe den Stress meiner Tochter mitbekommen“, EL_6_3) würde Kinder und ihre Eltern lange begleiten, in die Folgezeit weiter präsent sein und über die Schule hinaus den Alltag beeinträchtigen. Geringe leistungsbezogene Erwartungen verunsicherten Kinder tiefgreifend, langanhaltend und wirkten weit über die Leistungsentwicklung hinaus: „Er schämt sich für alles. Er wird von seinen Klassenkameraden diskriminiert. Seine Noten [Mutter meint Leistungen, Anm. d. Verf.] sind nicht gut.“ (EL_6_2) Schüler*innen, deren Leistungspotenziale nur an ihren deutschsprachlichen Kenntnissen gemessen werden, fühlten sich stigmatisiert, so dass sie auch dann, wenn sie schon lange schulische Erfolge erzielten, immer wieder auf solche Erfahrungen zurückkämen und die Gedanken darum kreisten: „Meine Tochter … war sehr darunter gelitten und spricht jetzt immer noch von diesem unglücklichen Vorfall“ (EL_4_1). Drohungen, den angestrebten Bildungsweg zu ‚verhindern‘ (EL_2_7), beeinträchtigten Kinder trotz eines formal gelungenen Übertritts nachhaltig und seien auch nach erfolgtem Übergang präsent: „Das Kind ist jetzt im Gymnasium. Die Situation hat ihn kaputt gemacht und sehr verunsichert. Er hat jetzt Angst.“ (EL_2_7) Ähnliches berichten Eltern auch für sich selbst: „Auch wenn er jetzt in die erste Klasse gehen darf, hat uns dieser Prozess erschöpft. Niemand hat sich wirklich bemüht, ihn oder uns als Familie zu verstehen.“ (EL_6_1).

6 Diskussion

6.1 Der Blick von Eltern auf Transitionen im Primarbereich

Der Diskurs um herkunftsbedingte Disparitäten wird in der vorliegenden Studie durch die Perspektive von Eltern mit Migrationsgeschichte auf Übergänge ihrer Kinder im Primarbereich ausdifferenziert. Diese erleben die Transitionsphasen geprägt von leistungs- und verhaltensbezogenen Zuschreibungen gegenüber ihren Kindern wie ‚Für ein Kind mit einem Migrationshintergrund ist eine Vier immer gut‘ sowie eigenen Erziehungspraktiken (Anderson et al. 2020; Cross et al. 2019; El-Mafaalani 2013), u. a. eine pauschal angenommene geringe Unterstützungsbereitschaft und -fähigkeit. Solche Attributionen spiegeln differenzerzeugende Konstruktionen von Familien mit Migrationsgeschichte (Mecheril 2004) deutlich wider.

Zuschreibungen wie die angeführten sind bekannt, lassen sich allerdings durch die vorliegende Studie spezifizieren und schärfen. Die besondere Tragweite liegt aus Elternsicht darin, dass diese Zuschreibungen die Bildungsbiografie ihrer Kinder von Beginn an begleiten. Sie prägen alle Transitionsphasen, beginnend in der Einschulungsphase vor dem eigentlichen Schuleintritt hinein in die ersten Tage und Wochen nach Schulbeginn bis hin zum Übertritt in eine weiterführende Schule. Das bedeutet, dass am intellektuellen Leistungspotenzial von Kindern schon zu einem Zeitpunkt Zweifel geäußert werden, an dem diese entweder noch gar nicht oder erst wenige Tage oder Wochen in die Schule gehen. Die Einschulung ist bzw. wäre ein für Familien eigentlich erfreuliches Ereignis – zu dem sich die Frage stellt, wie das Miteinander von Schule, Kindern und Eltern gelingen soll, wenn differenzerzeugende Zuschreibungen wie ‚Man solle stolz darauf sein, dass der Sohn trotz Migrationshintergrund einen Hauptschulabschluss erreichen könne‘ bereits den Prozess des Sich Kennenlernens in der ersten Klasse überschatten. Ähnlich verhält es sich mit dem Übertritt in eine weiterführende Schule, wenn Lehrende Schüler*innen mit guten Leistungen mit Verweis auf deren Migrationsgeschichte oder auf Mehrsprachigkeit vom Gymnasium abraten oder sie sogar aktiv demotivieren. Daher beklagen Eltern auch, dass das Leistungspotenzial ihrer Kinder v. a. oder nur über deutschsprachliche Fähigkeiten definiert und bei Mehrsprachigkeit pauschal von Förderbedürftigkeit ausgegangen wird. Unhinterfragt vorausgesetzte Sprachbarrieren (Gomolla und Radtke 2009; Kratzmann et al. 2013; Tuppat et al. 2016) werden, obwohl gar nicht vorhanden, durch ihre Annahme zum Hindernis beim Eintritt in die Grundschule oder weiterführende Schule.

In Folge dieser Erfahrungen schildern Eltern langanhaltendes Belastungserleben durch die erfahrene Demütigung und Hilflosigkeit – davor bewahrt auch die formale Verwirklichung ihrer Bildungsambitionen nicht. Ebenso können Kinder einen formal geglückten Übergang nicht ‚genießen‘: Sie leiden unter emotionaler Erschöpfung, teils auch Ängsten, ihre Fähigkeiten Freundschaften zu schließen, sind beeinträchtigt (Grotz 2005; Li und Lau 2019). Zudem kreisen Kinder gedanklich immer wieder um das Erlebte, was mit vielen Risiken für die psychische Entwicklung verbunden ist (Nolen-Hoeksema 2012). Es ist sicherlich nicht (lern-)förderlich, wenn die neuen schulischen Anforderungen entweder des Schuleintritts oder der weiterführenden Schule auf bereits erschöpfte Kinder treffen; weitere negative Auswirkungen für Lernen und soziale Integration sind möglich.

Verschärfend wirkt eine von den Eltern skizzierte fast paradoxe Erziehungspraktik, in der sich folgenreiche Mechanismen schulstruktureller Diskriminierung widerspiegeln (Gomolla und Radtke 2009): Durch die leistungs- und verhaltensbezogenen Zuschreibungen sehen Eltern den Bildungsweg ihrer Kinder gefährdet. Es entsteht für sie Handlungsdruck. Da Eltern keine Handhabe sehen, sich gegen die Zuschreibungen zu wehren, sich ausgeliefert fühlen, geben sie den Druck nicht an die Schule zurück, sondern an ihre Kinder weiter: Sie halten diese dazu an, nicht aufzufallen und keine Fehler zu machen, um sich das Wohlwollen der Lehrkräfte zu sichern und den angestrebten Bildungsweg nicht zu gefährden. Dass so eine Erziehungspraktik ‚nötig‘ wird, ist ein eindrückliches Beispiel dafür, welche Folgen aus differenzerzeugenden Konstruktionen für Familien mit Migrationsgeschichte entstehen (vgl. Mecheril 2004).

6.2 Implikationen

Die Ergebnisse verdeutlichen die Relevanz bereits vielfältig diskutierter, bildungspolitischer und schulrechtlicher Maßnahmen zu herkunftsbedingten ungleichen Bildungserfolgen (z. B. Reiss et al. 2019), zum Umgang mit Mehrsprachigkeit in der Schule sowie zu Diskriminierung. Diese Maßnahmen sind für Übergänge zu schärfen. Bildungserfolg bzw. das Gelingen einer Transition darf nicht nur an der Übertritts- oder Rückstellungsquote gemessen werden – daran, ob der Übergang formal erfolgt oder nicht. Es bedarf auch bei formal gelungenen Übergängen Indikatoren wie Wohlbefinden von Kindern und Eltern, soziale Integration oder Fähigkeiten Freundschaften zu schließen. Solche Indikatoren sind nicht nur im Übergangsprozess, sondern mit Blick auf die leistungsbezogene und soziale Entwicklung der Kinder längerfristig zu verfolgen.

Hinsichtlich des langanhaltend eingeschränkten Wohlbefindens der Familien und möglichen Folgen für Lernen oder soziale Integration müssen Maßnahmen nicht nur vor dem Übertritt greifen, um diesen formal zu bewältigen, sondern auch, begleitend, danach. Das käme nicht nur Familien mit Migrationsgeschichte, sondern allen Familien mit einem potenziell schwierigen, beispielsweise unsicheren Übergang(-serleben) zugute. Neben einer Stärkung bekannter Maßnahmen der Diversitätssensibilität bedarf es in der Schule der Festlegung fixer Kommunikationswege und -angebote, mittels derer die von Eltern skizzierten Erfahrungen angesprochen und geklärt werden können, z. B. unter Einbezug externer Moderator*innen. Ebenso sind niedrigschwellig zugängliche Angebote erforderlich, die Familien bei Belastung, Ängsten und möglichen weiteren Folgen für Lernen und Wohlbefinden, auch während des Schuljahres, unterstützen. Solche Maßnahmen müssen so wirken, dass sie das Hilflosigkeitserleben und Paradoxon, dass Eltern den in Folge von leistungsbezogenen Zuschreibungen entstehenden Druck an ihre Kinder weitergeben ‚müssen‘, durchbrechen.

6.3 Limitationen

Viele Eltern berichten, trotz negativer Erlebnisse, von einem formal gelungenen Übergang. Es wäre daher hinsichtlich des Samplings durch sekundäre Selektion (Reinders 2012) denkbar, dass die Aufforderung zur Teilnahme an der Studie v. a. diejenigen Eltern angesprochen hat, deren Kinder (und sie selbst) sich trotz solcher Erfahrungen ‚behauptet‘ haben. Eltern, die keinen gelungenen Übergang erlebt haben, haben möglicherweise aus Enttäuschung oder Frust kein Interesse oder lehnen es ab, sich an einer Studie zu beteiligen. Weiter setzt die Teilnahme deutsche Sprachkenntnisse zumindest insoweit voraus, Erfahrungen wie die berichteten in Worte fassen zu können, was die Heterogenität der Elterngruppe einschränkt. Die divergierenden Sprachkenntnisse können zudem gruppendynamische Effekte innerhalb der Diskussionsgruppen verstärken: Nicht jeder Elternteil kommt möglicherweise in ähnlichem Maß zu Wort und kann sich gegen dominante Diskutant*innen behaupten (Lamnek und Krell 2016). Die kleine Gruppengröße sollte solche Effekte minimieren (Prinzen 2020).

Weiter gibt die Studie das Erleben ausschließlich der Eltern wieder. Möglicherweise haben an der Schule Tätige als bedeutsame Akteur*innen in Übergängen (Broström et al. 2014; Weber 2015) eine andere Sicht und Interpretation des Geschehenen. Das knüpft an der für die Critical Incident Technique diskutierte Frage an, in welchem Ausmaß sich die Ereignisse generalisieren lassen (Gremler 2015). Zur Objektivität und Validität tragen, Blickle et al. (2011) folgend, ein leitfadengestütztes Vorgehen, ein Manual zur Schulung der Moderator*innen und Intercoder-Reliabilitäten als Mittel einer validen Umsetzung (Dierdorff und Wilson 2003) bei, wie in der vorliegenden Studie geschehen. Zudem ließe sich gerade an der subjektiven Darstellung weitere Forschung anschließen. Die ermittelten Ereignisse ließen sich ins Feld zurückspiegeln und gemäß des Transitionsansatzes mit anderen Akteursgruppen diskutieren.