1 Einleitung

Sprachkompetenzen gelten nicht nur im deutschsprachigen Raum als entscheidende Schlüsselqualifikationen für die Entwicklung des Kindes und den schulischen Bildungserfolg. In den für den Elementarbereich handlungsleitenden Bildungs- und Orientierungsplänen wird daher die Fähigkeit der pädagogischen Fachkräfte (FK) zur sprachlichen Unterstützung und Förderung von Kindern entsprechend adressiert. Im Rahmen breit angelegter bildungspolitischer Initiativen (z. B. Bund-Länder-Initiative „Bildung durch Sprache und Schrift“ (BiSS); Bundesprogramm „Sprach-Kitas: Weil Sprache der Schlüssel zur Welt ist“, beide gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ)), werden unterschiedliche Sprachförderkonzepte entwickelt und evaluiert. Lagen anfangs die Schwerpunkte auf sprachdiagnostischen Verfahren und additiven Sprachfördermaßnahmen, etablierten sich im weiteren Verlauf vermehrt, alltagsintegrierte FormenFootnote 1 der Sprachförderung in Kindertageseinrichtungen (vgl. Hormann und Lichtblau 2022; von Salisch et al. 2021; Schneider et al., 2012; Wirts et al. 2021). Hierunter werden ganzheitliche Konzepte verstanden, die sich an den aktuellen Interessen, am individuellen Sprachentwicklungsstand sowie am benötigten Sprachinput der Kinder während des Alltagsgeschehens orientieren, um so die Sprachentwicklung aller Kinder zu fördern. Bisherige (internationale) Studien zeigen für alltagsintegrierte Settings der Sprachförderung positive Zusammenhänge mit der Entwicklung der sprachlichen Leistungen aller Kinder inklusive der Kinder mit geringeren Sprachkompetenzen (vgl. Geyer 2018; Zimmer et al. 2021; für einen Überblick: Beckerle 2017). Insgesamt scheint die Wirksamkeit alltagsintegrierter Sprachförderung dabei u. a. von der konkreten Gestaltung der Sprachfördersituation, dem darin vorhandenen Unterstützungspotential sowie der Interaktionsqualität abzuhängen (vgl. Kucharz 2017; Schneider et al. 2012). Die Fähigkeit, das eigene Sprachangebot adaptiv an das Sprachvermögen der Kinder anzupassen, gilt dabei als eine wichtige Voraussetzung für gelingende Spracherwerbsprozesse (vgl. Geyer 2018; Geyer und Müller 2021).

Der vorliegende Beitrag nutzt vor diesem Hintergrund das interactive model, um adaptives sprachförderliches Handeln von FK in dyadischen Bilderbuchbetrachtungen empirisch zu untersuchen. Dabei wird das interactive model nicht nur als theoretische Rahmung, sondern auch als Analyseheuristik verstanden, um aufzuzeigen, welchen Mehrwert eine solche Vorgehensweise für die Untersuchung von adaptiven interaktionsfördernden Strategien hat. Hierdurch werden bisherige wissenschaftliche Diskussionen um die Abbildung des Konstrukts der Adaptivität im sprachförderlichen Handeln ergänzt.

2 Das interactive model für die Sprachförderung

Das im Folgenden näher beschriebene interactive model fußt auf sozial-interaktionistischen Theorien (z. B. Bohannon und Bonvillian 1997), die davon ausgehen, dass das Kind Sprache in seiner natürlichen Umgebung erwirbt. Eingang im Elementarbereich fanden diese theoretischen Annahmen z. B. im Hanen-Programm „Learning Language and Loving ItFootnote 2 (Weitzman und Greenberg 2002) sowie im Elterntrainingsprogramm „The Hanen Early Language Parent Programm“ (It Takes Two to Talk) (Girolametto et al. 1986), durch das Eltern lernen sollen, ihre (Klein)Kinder mit Sprachentwicklungsverzögerungen im Alltag (gezielter) zu fördern. Auch im deutschsprachigen Raum existieren implizit bzw. explizit auf diesem Modell aufbauende und ursprünglich für die Eltern-Kind-Kommunikation konzipierte Konzepte zur Schulung von FK. Beispiele hierzu sind das Programm „Beziehung als Schlüssel zur Sprache“ (Dörfler 2019) oder das „Heidelberger Interaktionstraining“ (HIT) (Buschmann und Sachse 2018). Forschungen zeigen, dass sich dieses praxiserprobte Programm positiv auf das Interaktions- bzw. Kommunikationsverhalten der FK auswirkt und dabei die Sprachentwicklung der Kinder verbessert (vgl. Girolametto et al. 2003).

Inhaltlich umreißt das interactive model drei Grundprinzipien responsiver InteraktionsstrategienFootnote 3 (Three clusters of Responsive Interaction Strategies), die im Folgenden als „Säulen“ bezeichnet werden (Tab 1).

Tab. 1 Die drei Grundprinzipien (Säulen) der responsiven Interaktionsstrategien (vgl. Girolametto et al. 2000, 2003; Tannock und Girolametto 1992; Weitzman et al. 2006; Weitzman und Greenberg 2002)

Im interactive model werden alle drei Säulen als gleichwertig und wichtig für gelingende Sprachentwicklung betrachtet. Ausgehend von den sozial-interaktionistischen Theorien (vgl. Bohannon und Bonvillian 1997), dass das Kind Sprache in seiner natürlichen Umgebung (in Interaktionen) erwirbt, Sprachgebrauch mehr als die Übermittlung von Informationen ist und dass Beziehungen durch Interaktion/ Kommunikation entstehen bzw. aufrechterhalten werden, gilt AdaptivitätFootnote 4 hinsichtlich des sprachlichen Niveaus und zusätzlich immer unter stetiger Berücksichtigung der Aufmerksamkeitsfokussierung bzw. der Interessen des Kindes als relevantes Kriterium in allen drei genannten Säulen des interactive models, wenn auch mit jeweils unterschiedlichen Funktionen. Dabei wird adaptives Sprachförderhandeln bewusst und zielgerichtet an die individuellen Fähigkeiten des Kindes angepasst (vgl. Geyer 2018; Geyer und Müller 2021). Um sich dem Sprachentwicklungsstand des Kindes (ggf. in mehreren Schritten) situations- und kontextspezifisch anzunähern, liegt der Sprachinput der FK immer etwas oberhalb des Sprachentwicklungsstandes des Kindes und führt weder zu einer Unterforderung durch ein Orientieren am bereits Gekonnten, noch zu einer Überforderung durch das Aufgreifen eines noch entfernten Entwicklungsschrittes (vgl. Krashen 1981). Dadurch wird Adaptivität als Prozess der Annäherung im Handeln beschrieben, wodurch der Prozess der Anpassung an die sprachlichen Fähigkeiten des Kindes auch als potentiell fehleranfällig zu betrachten ist. Demzufolge sind mögliche Fehler bzw. eine Nichtpassung im Förderprozess – im Sinne von sogenannten „Kommunikationsstörungen/-engpässen“ (vgl. Long 1996, S. 418ff) – besonders in den Blick zu nehmen.

Auch aktuelle Studien (z. B. Beckerle und Mackowiak 2019; Geyer 2018; Geyer und Müller 2021; Hormann und Skowronek 2019) zu Adaptivität schließen an diese Vorstellungen an und untersuchen Adaptivität in verschiedenen sprachförderlichen Situationen mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen.

Forschungen zu Responsivität und Beziehungsgestaltung im Elementarbereich untersuchen u. a. die Organisation und Gestaltung der Sprachlernsituation(en), die Beziehungsqualität (u. a. sensitiv-responsives Verhalten gegenüber Kindern) sowie die Unterstützung kindlicher Lernprozesse (z. B. Göbel et al. 2020; König 2009; Remsperger 2013; Wadepohl und Mackowiak 2016). Zur Erhebung dieser Dimensionen, greifen eine Vielzahl von Studien auf standardisierte Instrumente zurück (für einen Überblick: Wadepohl und Mackowiak 2016), um so einzelne Facetten und Aspekte zu belegen oder deren Gelingen im pädagogischen Alltag zu untersuchen. Bisher wurde allerdings die Wahrnehmung von kindlichen Signalarten unter Berücksichtigung des aktuellen Aufmerksamkeitsfokus bzw. der kindlichen Interessen nur in Ansätzen gemessen.

Forschungsarbeiten zur Reziprozität und Interaktivität untersuchen den Dialog zwischen FK und Kind, u. a. mit Fokus auf den jeweiligen Redeanteil (z. B. Cordes et al. 2019), auf die Beteiligung des Kindes unter Berücksichtigung der Sprechimpulse (z. B. Erdogan et al. 2021) oder auf die Abgestimmtheit zwischen dem Sprachstand des Kindes und dem Sprachangebot durch die FK (z. B. Geyer und Müller 2021). Erdogan et al. (2021) können zeigen, dass durch eigene Impulse des Kindes dessen geäußerte Beiträge komplexer sind und betonen daher, dass eine Offenheit kindlichen Impulsen gegenüber sprachförderlich ist. Dies bestätigen auch Studien, die Fragestrategien als besonders gesprächsanregend identifizieren (z. B. Hormann und Skowronek 2019). Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass eine ausreichende Beteiligung von Kindern in sprachlichen Interaktionen mit FK nicht immer gegeben ist (z. B. Cordes et al. 2019). Noch nicht hinreichend geklärt ist, inwieweit die Aufrechterhaltung in den untersuchten Kommunikationseinheiten tatsächlich vom sensitiv-responsiven Verhalten von FK abhängt und ob die eingesetzten Fragestrategien an den Sprachstand oder an die Interessen des Kindes angepasst sind.

Die meisten Studien beschäftigen sich mit sprachstrukturellen Merkmalen innerhalb der Erwachsenen-Kind-Interaktionen. Im Fokus stehen hier insbesondere Sprachlehrstrategien in Form von indirekten Rückmeldungen zu fehlerhaften sprachlichen Strukturen durch korrektives Feedback, das Aufgreifen und Ausbauen kindlicher Äußerungen anhand von Modellierungstechniken sowie Frage‑/StimulierungstechnikenFootnote 5, die das Kind zum Sprechen anregen und damit gezielt helfen können, neue sprachliche Strukturen auf- oder umzubauen (z. B. Beckerle et al. 2018; Hormann und Skowronek 2019). Um zum einen die Qualität des Sprachförderangebotes zu untersuchen und zum anderen die Adaptivität der verwendeten Sprachlehrstrategien zu erheben, nutzen Studien häufig ein quantitatives Vorgehen, worin die eingesetzten Sprachlehrstrategien identifiziert, sowie Unterschiede in deren Anwendungshäufigkeit untersucht werden. Durch diese Analysen kann ein Einblick in die Gestaltung von Sprachfördermaßnahmen gewährt werden. Allerdings kann die Adaptivität innerhalb der Sprachfördersituationen sowie deren Passung an den individuellen Sprachentwicklungsstand des Kindes nur zum Teil berücksichtigt werden.

Auch wenn die zumeist aus quantitativen Studien bestehende Befundlage zu Adaptivität noch nicht hinreichend geklärt ist, gilt Adaptivität als eine wesentliche Gelingensbedingung für den Spracherwerb, die sich u. a. (un)mittelbar in sprachstrukturellen Herausforderungen oder im Gesprächsverlauf wiederfindet und die übertragen auf das interactive model in allen drei Säulen präsent ist. Schematisch und in Bezug zu wesentlichen Forschungsfeldern lässt sich dies wie folgt abbilden (Abb. 1):

Abb. 1
figure 1

Einbettung der drei Säulen des interactive models in bisherige Forschungsarbeiten

Das interactive model erweitert so bisherige auf einen Forschungsfokus bezogene Ansätze um einen ganzheitlichen Betrachtungsansatz. Zwar nutzen auch vereinzelte (quantitative) Instrumente wie die „Teacher Interaction and Language Rating Scale“ (TIRLSFootnote 6) (Girolametto et al. 2000) die drei genannten Säulen des interactive models, um die Qualität der InteraktionsprozesseFootnote 7 zwischen FK und Kind(ern) anhand von 11 Items und fünf Stufen zu messen, doch durch diese Form der Einschätzung wird das konkrete Zusammenspiel der Säulen und damit das adaptive Sprachförderhandeln der FK nur in einem geringem Maße berücksichtigt.

Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass sich das Modell bereits auf Adaptivität (implizit) in allen drei Säulen bezieht. Ein wesentlicher Aspekt in Säule 1 ist, dass die FK in der Lage ist, auf das Kind einzugehen und dabei die Interessen des Kindes berücksichtigt werden. Säule 2 fokussiert u. a. eine ausgewogene, an das Kind angepasste Gesprächsführung. In Säule 3 wird u. a. der Sprachinput an den Entwicklungsstand des Kindes angepasst. Somit bietet das interactive model eine gute Grundlage, um das Konstrukt der Adaptivität, mithilfe der drei Säulen, möglichst ganzheitlich zu erfassen. Folgende Fragen sind für die Analysen leitend, um das Potenzial des interactive models herauszuarbeiten:

Inwiefern eignet sich das interactive model als Analyseheuristik zur Beschreibung sprachförderlichen adaptiven Handelns?

  • Welche adaptiven sprachförderlichen Handlungsweisen zeigen sich?

  • Inwiefern erweitert die Berücksichtigung aller drei Säulen des interactive models dabei die Untersuchung von adaptivem sprachförderlichen Handeln?

3 Datengrundlage und Methodik

Der vorliegende Beitrag stellt eine qualitative Sekundäranalyse des Evaluationsprojekts „Gelingensbedingungen alltagsintegrierter sprachlicher Bildung im Elementarbereich (allE)Footnote 8“ dar, das im Rahmen der Bund-Länder-Initiative „Bildung durch Sprache und Schrift (BiSS)“ gefördert wurde. Die Gesamtstichprobe umfasst 84 FK aus 27 Kindertageseinrichtungen in Deutschland, um die Sprachförderarbeit zu evaluieren (für einen Überblick: Mackowiak et al. 2021).

Die für die Analyse genutzten Daten stammen aus dem ersten Messzeitpunkt (11/2015 bis 05/2016) und beziehen die 15-minütigen videografierten dyadischen Bilderbuchbetrachtungen und Daten des „Sprachentwicklungstests für drei- bis fünfjährige Kinder (3;0–5;11 Jahre)“ (SETK 3–5; Grimm 2015) ein. Für die Bilderbuchbetrachtung hat jede FK ein drei- bis fünfjähriges Kind mit sprachlichen Schwierigkeiten und ein beliebiges Bilderbuch ausgewählt. Hiervon wurden 16 KinderFootnote 9 näher betrachtet.

Da sich Adaptivität im sprachförderlichen Handeln von FK in Bezug auf den Sprachentwicklungsstand der Kinder zeigt, wurde die Auswahl der Videografien über die Ergebnisse der Sprachentwicklungstestung vorgenommen: Mittels eines Extremgruppenvergleichs wurden acht Kinder mit unterdurchschnittlichem (T-Wert < 40) und acht Kinder mit überdurchschnittlichem (T-Wert > 60) Sprachentwicklungsstand ausgewählt. Anschließend wurden die Videografien der Bilderbuchbetrachtungen (240 Minuten Videomaterial), der eben genannten Kinder, als Teilstichprobe gebildet.

Um diese Testergebnisse abzusichern, wurden zusätzlich mithilfe der Audiodateien und Transkriptionen (Spontan‑)SprachprobenFootnote 10 zu den jeweiligen Kindern erhoben. Die Auswertung erfolgte dabei angelehnt an das „Weingartner Analyseraster für Sprachproben – WASP“ (Löffler und Heil 2021). So konnten darüber hinaus weitere Hinweise auf sprachliche Stärken bzw. Auffälligkeiten in der sprachlichen Entwicklung – wie beispielsweise zusätzlich in grammatikalischen Strukturen – ersichtlich werden. Die Ergebnisse der (Spontan‑)Sprachproben wurden mit den jeweiligen Ergebnissen der Sprachstandserhebung verglichen. Hier zeigen diese Kinder ebenfalls ein unter- bzw. überdurchschnittliches Sprachvermögen.

Um das Potenzial des interactive models mit den dargestellten drei Säulen für die Auswertung adaptiven Sprachförderhandelns der FK zu untersuchen, eignen sich dyadische Bilderbuchbetrachtungen, da diese ein hohes Potenzial für eine individuelle sprachliche Anregung von Kindern bieten: Durch das Bilderbuch wird ein thematischer Kontext vorgegeben und die FK kann sich im dyadischen Setting bewusst auf das zu fördernde Kind konzentrieren. Um Adaptivität aus Perspektive der drei Säulen und unter Berücksichtigung des kindlichen Sprachentwicklungstands im Gesprächsverlauf zu untersuchen, wurde das folgend dargestellte sequentielle Vorgehen gewählt:

Adaptives sprachförderliches Handeln zeigt sich als Prozess der kontinuierlichen Anpassung des Inputs der FK auf sprachlicher, inhaltlicher und Beziehungsebene und kreiert Wege der Aufrechterhaltung der Kommunikation. So muss z. B. eine (zunächst) strukturell und/oder inhaltlich falsche Antwort des Kindes nicht zwangsläufig das Ende einer Kommunikationseinheit bedeuten, sondern gibt als Kommunikationsstörung/-engpass (vgl. Long 1996, S. 418ff) Anlass für adaptives Verhalten. Dementsprechend wurden in einem ersten Schritt die vorhandenen Kommunikationseinheiten in allen ausgewählten Sprachfördereinheiten (anhand der TranskripteFootnote 11) markiert. Als Kommunikationseinheit wird dabei ein laufender inhaltlicher Kommunikationsfaden zwischen FK und Kind verstanden. Dieser endet, wenn das Kind auch auf eine Nach‑/Rückfrage nicht reagiert, die FK oder das Kind ein anderes Thema einbringt oder durch sonstige Handlungen einen Bruch zum vorherigen Thema bzw. Inhalt provoziert.

Anschließend wurden in den identifizierten Kommunikationseinheiten der jeweiligen Transkripte die responsiven interaktionsfördernden Strategien: Child-oriented behaviors (Säule 1), interaction-promoting strategies (Säule 2) und language-modeling strategies (Säule 3) identifiziert. Die Sequenzen wurden dabei mehrfach codiert, weil die FK nicht nur eine Art der Wissensvermittlung oder -überprüfung vollzieht, sondern auch die sprachlichen Fähigkeiten des Kindes testen kann, um sich dem Sprachstand des Kindes anzunähern und damit Adaptivität zu ermöglichen. Die Codes wurden zunächst induktiv gebildet, um die spezifische Qualität des sprachlichen Interaktionsverhaltens der FK zu erfassen. Dabei wurden die Codes in einem nächsten Schritt den jeweiligen drei Grundprinzipien (Säulen) der interaktionsfördernden Strategien des interactive models zugeordnet, auch wenn, wie folgend dargestellt, die Säulen nicht als trennscharfe Kategorien fungieren können, und daher als Analyseheuristiken verwendet wurden. Insgesamt war eine Mehrfachzuordnung möglich, da alle adaptiven sprachförderlichen Handlungen erfasst werden sollten.

Aus Tab. 2 geht hervor, dass die einzelnen Aspekte teilweise nicht trennscharf voneinander operationalisiert werden können. Als Beispiel sei hier exemplarisch der Aspekt „Dem Kind Zeit geben“ angeführt, denn dieser kann Säule 1 zugeordnet werden, wenn er unter der Perspektive der Wertschätzung betrachtet wird, kann aber auch Säule 2 zugeordnet werden, wenn er eine interaktionsaufrechterhaltende Strategie – im Sinne einer Möglichkeit zur Partizipation – darstellt. Um die auftretenden Aspekte den jeweiligen Säulen zuordnen zu können, wurde daher jeder Aspekt unter Berücksichtigung der Sequenz und dessen Hintergrund eingeordnet und ggf. mehrfach codiert, da sich die Adaptivität zeitgleich in verschiedenen Elementen und dadurch in mehreren Säulen gleichzeitig zeigen kann.

Tab. 2 Die drei Grundprinzipien (Säulen) der responsiven Interaktionsstrategien und deren Operationalisierung (in Anlehnung an Dörfler 2019; Girolametto et al. 2000, 2003; Tannock und Girolametto 1992; Weitzman et al. 2006; Weitzman und Greenberg 2002)

4 Empirische Befunde

4.1 Ergebnisse der Videoanalysen

Die Anzahl (und Länge) der Kommunikationseinheiten innerhalb der videografierten Bilderbuchbetrachtungen unterscheiden sich stark voneinander. So gibt es zwei Bilderbuchbetrachtungen mit einem sprachlich unterdurchschnittlich kompetenten Kind, in der sich jeweils nur eine Kommunikationseinheit (vgl. FN0203; FN0801) erkennen lässt, während sich mit einem sprachlich überdurchschnittlich kompetenten Kind in einer Videoanalyse 12 Einheiten (vgl. FW0201) bestimmen lassen.

Bezogen auf Gesprächsabbrüche (also das Ende einer codierten Kommunikationseinheit) zeigen die Videoanalysen, dass das Aufrechterhalten der Kommunikation für die FK eine große Herausforderung darstellt, insbesondere bei Fragen, die von dem Kind (zunächst) strukturell und/oder inhaltlich falsch beantwortet werden. FK führen die Gesprächsabbrüche selbst herbei, indem sie beispielsweise das Gespräch/Thema abrupt beenden, sobald das Kind eine Frage nicht „richtig“ beantworten kann. Die Gesprächsabbrüche, welche durch die Kinder herbeigeführt werden, treten in den vorliegenden Analysen entweder auf, wenn es der FK nicht gelingt, mit ihren Gesprächsimpulsen an das kindliche Sprachniveau anzuknüpfen und damit das Kind einzubinden, oder auch, wenn die FK mit ihren Impulsen nicht über das Sprachniveau des Kindes hinausgeht. Dann scheinen die Kinder zunehmend kürzer oder gar nicht mehr auf die gestellten Fragen zu antworten.

Um Gesprächsabbrüche zu verhindern, ergreifen FK vielfältige Maßnahmen: Sie stellen Nach‑/Rückfragen, nutzen kurze Beschreibungen, Erzählungen oder sonstige Ausführungen, um einen Gesprächsstimulus auf der Ebene der sprachlichen Fähigkeiten des Kindes bzw. etwas darüber zu setzen. Hervorzuheben ist, dass FK insbesondere hierbei auf interaktionsfördernde Strategien (Säule 2) zurückgreifen. Nur wenn die gestellte Art der Frage (unabhängig ob offen, teiloffen oder geschlossen) am Sprachentwicklungsstand des Kindes orientiert war, hat das Kind in allen Fällen auf die Frage, wenn auch nicht immer strukturell und/oder inhaltlich richtig, reagiert. So wurde auch insbesondere durch geschlossene Fragen eine sprachliche Interaktion angeregt, die das Kind zum Erzählen, Weitersprechen oder (Nach)fragen animiert haben, sofern diese adaptiv formuliert wurden.

4.2 Exemplarische Interpretation einer Kommunikationseinheit anhand einer Bilderbuchsequenz

Der nachfolgende Transkriptauszug ist durch eine hohe Dichte an responsiven interaktionsfördernden Strategien: Child-oriented behaviors (Säule 1), interaction-promoting strategies (Säule 2) und language-modeling strategies (Säule 3) gekennzeichnet und ist daher geeignet, den Mehrwert der Berücksichtigung aller drei Säulen (vgl. Abschn. 2) des interactive models während der Analyse zu verdeutlichen.

Der ausgewählte Auszug umfasst die letzten 06:29 Minuten der 15-minütigen Videografie einer dyadischen Bilderbuchbetrachtung. Die FK (FR0102) schaut zusammen mit einem als sprachlich überdurchschnittlich kompetent eingeschätzten 3;1-jährigen Kind (KR01024Footnote 12) eine Bilderbuchseite an (Tab. 3).

Tab. 3 Transkriptauszug

Die FK leitet über den Aufenthaltsort (Dach), die Geschlechtszuschreibung der Person (Mann) und die Farbe (schwarz) das Thema ein. Zuvor unterhielt sich die FK mit dem Kind schon über Farben und führt daran anknüpfend einen neuen vorgegebenen Aufmerksamkeitsfokus ein (Verknüpfung der Farbe schwarz mit dem Beruf des Schornsteinfegers). In der ersten Frage überprüft die FK den Wissensstand des Kindes, indem sie eine teiloffene Frage stellt (Z 104). Um diese Frage beantworten zu können, benötigt das Kind die Fähigkeit zur kognitiven Abstraktion, da die Frage eine Begründung verlangt. Da das Kind auf die gestellte Frage nicht antworten kann (Z 105), wiederholt die FK die Frage im anschließenden Redebeitrag mit einer Umformulierung. Dadurch überprüft sie erneut den Wissensstand des Kindes, also die bereits vorhandenen Voraussetzungen über eine einfache geschlossene Frage (Z 106), wodurch sie die gestellte Frage adaptiert. Da das Kind äußert, dass es den Mann nicht sehen könne (Z 107), überprüft die FK, ob es an der sprachlichen Anforderung der gestellten Frage liegen könnte und gibt dem Kind eine weitere sprachliche Unterstützung, indem sie die gestellte Frage konkretisiert und vereinfacht (Z 108) und den inhaltlichen Bezug zur vorherigen Frage aufgreift. Das Kind beantwortet die Frage nonverbal mit einer Zeigegeste (Z 109). Die FK bestätigt die Antwort (Z 110) und vertieft den Inhalt mit einer weiteren teiloffenen Frage. Die FK testet dadurch erneut das Wissen des Kindes, indem sie nach der Beschreibung von einer wohl sichtbaren Tätigkeit fragt. Diese Vorgehensweise erweist sich als adaptiv, da dem Kind nun ermöglicht wird, sich in das Gespräch mit einzubringen. Die FK hat also mehrschrittig den gegenstandsbezogenen Wissensstand des Kindes überprüft, da sie das Fragenniveau von anspruchsvolleren Fragen bis hin zu einfacheren sachbezogenen Fragen adaptiert, bis das Kind auf die Frage mit einer Vermutung antworten kann (Z 111). Die Antwort des Kindes wird durch die FK als Frage wiederholt und als mögliche Option bestätigt. Auf diese Weise wird die Äußerung ernst genommen und dem Kind zugleich Respekt und Wertschätzung entgegengebracht. Im nächsten Satz deutet sie dem Kind in einer Ich-Botschaft ihre eigene Vermutung an, äußert eine Gegenidee und erfragt die Begründung (Z 112). Bei dieser Gegenthese führt sie offen einen neuen Aspekt ein, da sie den Mann als einen mit besonderen Befugnissen vorstellt und sich erkundigt, ob das Kind dazu eine Idee hat.

Zusammenfassend vermittelt die FK unterschiedliches Wissen und Lehrinhalte durch vielfältige interaktionsfördernde Strategien innerhalb der Gesprächsführung, wodurch adaptives Sprachförderhandeln unter Berücksichtigung aller drei Säulen ersichtlich wird. Inhaltlich werden dabei neben Alltagswissen, wie das indirekt vermittelte Wissen über den Schornsteinfeger, auch formale Kategorien wie Farben als Gesprächsthema eingebunden, die eine Ordnungskategorie darstellen. Auf sprachlicher Ebene werden Synonyme genutzt und damit neue Begrifflichkeiten eingeführt, die immer komplexer werden (Säule 3). Sie bestärkt das Kind zudem emotional durch Wiederholungen (Säule 1; 3) und Bestätigung seiner Äußerungen (Säule 1). Dieses Vorgehen signalisiert dem Kind Wertschätzung, wodurch diese im Sinne der ersten Säule des interactive models als gegeben zu werten ist. Antworten aufzugreifen, zu wiederholen, zu unterstützen, zuzuhören, aussprechen lassen und zu bestätigen und dadurch die Äußerung des Kindes ernst zu nehmen, dem Kind Zeit zu geben und damit auch die Beziehung zu gestalten, sind Aspekte, die in den Säulen 1, 2 und 3 des interactive models als notwendig formuliert sind. Sie überprüft durch verschiedene Fragestrategien u. a. den Wissensstand des Kindes und weist das Kind dadurch zusätzlich indirekt daraufhin, dass es an der Reihe ist, sich am Gespräch zu beteiligen (Säule 2). Darüber hinaus nimmt die FK die Rolle eines Sprachvorbildes ein und nutzt Strategien, die in der dritten Säule zusammengefasst sind, da sie (meist) in vollständigen, grammatikalisch korrekten Sätzen spricht und das Kind positiv korrigiert. Zusätzlich verwendet sie dabei Mimik und Gestik zur Unterstützung der verbalen Äußerungen. Weiter nutzt sie Beschreibungen, Erklärungen, Ich-Botschaften, stellt Vermutungen sowie Begründung auf, und stellt immer wieder einen Lebensweltbezug (durch alltägliche Begriffe wie „Mann“) her, was als sprachliche Vielfalt gewertet werden kann und dadurch in allen drei Säulen des interactive models wiederzufinden ist.

Aus dem vorgestellten Beispiel wird nicht nur deutlich, welche vielfältigen Anregungen eine Bilderbuchbetrachtung auf bildlicher Ebene bietet, sondern auch welche verschiedenen Möglichkeiten sich hinsichtlich der Adaptivität daraus für die FK ergeben. Ersichtlich wird, dass die FK im gesamten Gesprächsverlauf immer wieder über Frage‑/Stimulierungstechniken den Wissens- und Sprachstand des Kindes überprüft, insbesondere dann, wenn es zu sogenannten „Kommunikationsstörungen/ -engpässen“ (vgl. Long 1996, S. 418ff) kommt. Bei Feststellung eines Nichtwissens passt sie sich dem Kind an, indem sie den sprachlichen Input mithilfe von Frageformen und Umformulierungen solange adaptiert, bis er für das Kind verständlich wird. In der Passage zur Einführung des Begriffs und Sachverhalts „Schornsteinfeger“ ist darüber hinaus zu erkennen, wie die FK durch „herantastendes“ Fragen und durch verschiedene Einführungen ein Verständnisgerüst aufbaut und dadurch das Wissen zur Verfügung stellt, welches sich das Kind nicht alleine erarbeiten kann. Dabei nutzt die FK sowohl evaluative Fragen bezüglich des Wissensstandes als auch mehrere Varianten an interaktionsfördernden Strategien und gestaltet dadurch das Gespräch adaptiv (Säule 3). Gleichzeitig lässt sie dem Kind den Raum, sich am Gespräch zu beteiligen, indem sie seine Ideen aufgreift („Die schimpfen mit ihm?“) oder Fragen bei Nicht-Beantwortung mehrmals stellt, statt sie selbst zu beantworten und dem Kind auf diese Weise Bedenkzeit gibt (Säule 1 & 2).

Zusammenfassend geht aus dem Beispiel hervor, wie komplex diese Aufgabe der Herstellung von Adaptivität für die FK in einem Gesprächsverlauf ist. Es zeigt sich, dass sich Adaptivität nicht auf einen Faktor/Aspekt reduzieren lässt, sondern alle drei Säulen miteinander verschränkt sind. Auf der Ebene der Kinder erwies sich das Zusammenspiel aller drei Säulen zur Aufrechterhaltung der Kommunikation als hilfreich. Die Nutzung des interactive model zur Analyse der videografierten Bilderbuchbetrachtungen ermöglicht diese vielfältigen Strategien sichtbar zu machen, da auch über eine fehlende Antwort des Kindes hinweg, das Interaktionsverhalten der FK untersucht werden konnte. Insofern kann es als Analyseheuristik zur Beschreibung sprachförderlichen adaptiven Handelns betrachtet werden.

5 Zusammenfassung und Ausblick

In diesem Beitrag wird der heuristische Mehrwert des interactive models zur Beschreibung adaptiven sprachförderlichen Handelns unter Berücksichtigung aller drei Säulen untersucht. Die Analysen der ausgewählten Bilderbuchsequenzen zeigen, dass das besondere Potenzial des interactive models in der umfangreichen Erfassung und Systematisierung, der Vielzahl der in kommunikativen Interaktionen auftretenden Aspekte, liegt. Obwohl die Berücksichtigung aller drei Säulen, für die Analyse von Adaptivität in Sprachfördersituationen, mit einem zeitaufwendigen Vorgehen verbunden ist, zeigt sich, dass dadurch das adaptive Sprachförderhandeln in seiner Vielschichtigkeit umfangreicher erfasst werden kann.

Für künftige Forschungen ergeben sich daraus wichtige Anknüpfungspunkte, da die Operationalisierung des Konstrukts Adaptivität anhand einzelner Aspekte wie u. a. dem Umgang mit sprachstrukturellen Herausforderungen, Kommunikationsstrategien, die Gestaltung der sprachförderlichen Situationen oder die Art und die Häufigkeit der verwendeten Sprachlehrstrategien nicht ausreicht, um alle Facetten adaptiven Handelns in sprachförderlichen Situationen zu erfassen. Denn erst aus der Verknüpfung aller drei Säulen und den dadurch aufgezeigten verschiedenen Möglichkeiten adaptiv zu handeln, ergibt sich m. E. nach der Mehrwert des interactive models.

Diese wichtige Erkenntnis betrifft auch die (bestehenden) Aus- und Weiterbildungen. Bis heute finden sich die drei Säulen des interactive models implizit bzw. explizit nur vereinzelt in deutschsprachigen Schulungskonzepten wieder (z. B. Beziehung als Schlüssel zur Sprache, Dörfler 2019; Heidelberger Interaktionstraining, Buschmann und Sachse 2018) und sollten dahingehend weiter ausgebaut werden. So können FK neben einem sprachförderlichen Handeln gleichzeitig auch dahingehend sensibilisiert werden, dass sie insbesondere bei Fragen, die vom Kind (zunächst) strukturell und/oder inhaltlich falsch beantwortet werden, die Kommunikation nicht abbrechen muss (Säule 2), sondern diese Fragen auch umformuliert (Säule 2 & 3) oder zum Anlass für Verknüpfungen mit „alten“ gemeinsamen Themen/Gesprächsgegenständen (Säule 1) genutzt werden können, um sich so der Ebene der kindlichen Sprachentwicklung anzunähern.