1 Einleitung

Unbestritten ist die Vermittlung der Lesefähigkeit eine zentrale Aufgabe der Primarschule, die über das Fach Deutsch hinaus für den Bildungserfolg große Relevanz hat. Die in den unteren Klassen erworbenen basalen Lesekompetenzen bilden Grundlage und limitierenden Faktor für den Aufbau hierarchiehöherer Lesekompetenzen in den oberen Klassen (Cunningham und Stanovich 1997) und beeinflussen den Zugang zu höheren Bildungsinstitutionen entscheidend. PISA 2018 hat gezeigt, dass in der Schweiz 24 % der Sekundarschülerinnen und -schüler die vorgegebenen Mindestkompetenzen im Lesen in Bezug auf die Informationsentnahme, das Textverständnis und die Textbewertung nicht erreichten, in Deutschland waren es 23 %, in Österreich ebenfalls 24 %. Jugendliche mit Migrationshintergrund, in deren Familien nicht Deutsch gesprochen wird und die zu einem größeren Anteil aus bildungsferneren Haushalten stammen, zeigen statistisch signifikant schlechtere Leseleistungen als Jugendliche mit Deutsch als Erstsprache. Dabei zeigt die zu Hause gesprochene Sprache einen noch stärkeren Einfluss als der Migrationshintergrund an sich (Petrucci et al. 2019). Für Grundschulkinder existieren aus der Schweiz keine Daten, die Leseleistungen deutscher und österreichischer Grundschulkinder sind gemäß IGLU/PIRLS 2016 im unteren Mittelfeld der EU, wobei deutsche Grundschulkinder mit Deutsch als Zweitsprache knapp eine halbe Standardabweichung unter dem Durchschnitt lagen (Bos et al. 2017). In Anbetracht der Tatsache, dass in der Schweiz rund 34 % und in Deutschland etwa 32 % der Schülerinnen und Schüler einen Migrationshintergrund haben (Erzinger und Verner 2019; Bos et al. 2017), ist das Thema Lesekompetenz bei Kindern mit Deutsch als Zweitsprache überaus relevantFootnote 1.

Die zentrale Bedeutung der Lesekompetenz für Bildungsungleichheiten begründet die Notwendigkeit, die Prozesse des Leseerwerbs und die Faktoren, die diesen begünstigen, grundlegend zu erforschen und dabei auch sprachspezifische Besonderheiten wie die orthografische TransparenzFootnote 2 zu berücksichtigen. Auf der individuellen Ebene haben – neben allgemeinen kognitiven Fähigkeiten und einem fördernden Umfeld – die spezifischen Vorläuferfertigkeiten des Lesens sowie der Wortschatz Relevanz. Die hier präsentierten Ergebnisse stammen aus der Studie „Die Entwicklung von Wortschatz und Lesen“ (EnWoLe). Ausgangspunkt war eine bisher zurückhaltende Erforschung des Wortschatzes in der deutschsprachigen Forschung in den ersten zwei Grundschuljahren, obwohl gemäß Erkenntnissen der internationalen Forschung nachweislich auch hier bereits ein Zusammenhang mit der Leseleistung besteht (z. B. De Jong und Van der Leij 1999, 2002; Quinn et al. 2015). Das ursprüngliche Design der Studie, diesen Zusammenhang für monolinguale, deutschsprachige Kinder zu belegen, wurde deshalb um bilinguale Kinder ergänzt. Im vorliegenden Artikel steht die Rolle des Wortschatzes beim Leseerwerb bilingualer im Vergleich zu monolingualen Leseanfängern im Vordergrund, wobei für beide Gruppen verschiedene Wortschatzaspekte und Vorläuferfertigkeiten berücksichtigt werden.

2 Vorläuferfertigkeiten des Lesens

Unabhängig davon, ob ein Leseanfänger mono- oder bilingual ist, sind die phonologische Bewusstheit und die Benennungsgeschwindigkeit zuverlässige Prädiktoren für die Qualität des frühen Lesens. Die phonologische Bewusstheit ist die Fähigkeit, gesprochene Sprache zu sequenzieren und zu manipulieren (Anthony und Francis 2005). Diese Fertigkeit entwickelt sich bereits im Vorschulalter (z. B. Lonigan et al. 2009) und kann sprachübergreifend beobachtet werden (Durgunoğlu und Öney 1999). Sie spielt eine zentrale Rolle beim rekodierenden Lesen über den indirekten, phonologischen Pfad (Goswami und Bryant 2016; Wagner et al. 1994; Wimmer et al. 1991; zusammenfassend Castles und Coltheart 2004). Die Prädiktionsgüte der phonologischen Bewusstheit ist von der Transparenz der jeweiligen Orthografie abhängig (Anthony und Francis 2005). Studien aus dem deutschsprachigen Raum zeigen, dass im Deutschen die phonemische Bewusstheit ein besseres Vorhersagemaß für den Leseerwerb ist als die Fähigkeit, ganze Silben zu manipulieren, aber dass auch diese nur etwa 10 bis 15 % der Varianz in der Leseleistung erklärt (Pfost 2015). Bei Kindern mit Migrationshintergrund wird die phonologische Bewusstheit während des Kindergartens zunehmend von der Zweitsprache geprägt (Verhoeven 2007). Ihr Einfluss ist beim Leseerwerb bilingualer Kinder weniger relevant als bei monolingualen, obwohl die weitere Entwicklung bei mono- und bilingualen Kindern parallel verläuft. So identifizierten Duzy et al. (2013) bei monolingualen, deutschsprachigen Kindern die phonologische Bewusstheit als Faktor mit signifikantem Einfluss auf die Lesegeschwindigkeit, nicht aber bei den Kindern mit Deutsch als Zweitsprache (DaZ). Limbird et al. (2014; s. auch Limbird und Stanat 2006) stellten in der 3. Klasse einen größeren Einfluss der phonologischen Bewusstheit auf das Leseverständnis von monolingualen im Vergleich zu bilingualen Kindern fest, ebenso Jongejan et al. (2007) im englischen Sprachraum. Zusammenfassend gibt es Indizien für einen schwächeren Einfluss der phonologischen Bewusstheit auf das frühe Lesen von DaZ-Kindern im Vergleich zu monolingualen Kindern. Dieser kann aber nicht eindeutig dem phonologischen oder verstehenden Lesen zugeordnet werden.

Die phonologische Bewusstheit erklärt aber nur einen Teil der Varianz in der Leseleistung. Ein weiterer Faktor ist die Benennungsgeschwindigkeit, das Rapid Automatized Naming (RAN; Denckla und Rudel 1974). In den RAN-Tests werden den Probanden fünf Objekte, Farben, Buchstaben oder Zahlen in zehn Zeilen mit je fünf Stimuli präsentiert. Die Stimuli müssen so schnell und genau wie möglich benannt werden. Alphanummerische (Buchstaben und Zahlen) und nicht-alphanummerische (Farben und Objekte) RAN-Tests unterscheiden sich in ihrer Prädiktionsgüte: Während die nicht-alphanummerischen v. a. in Sprachen mit transparenten Orthografien für Vorschulkinder das frühe Lesen nach dem Schuleintritt prädizieren, sind die Resultate alphanummerischer RAN-Tests verlässliche Prädiktoren für das fortgeschrittene Lesen (De Jong und Van der Leij 1999). Der Grund für die hohe Prädiktionsgüte der RAN-Tests für das Lesen ist nicht endgültig geklärt. Bisweilen wird der RAN den phonologischen Fähigkeiten zugeordnet (Wagner et al. 1994), andere Modelle gehen davon aus, dass er in erster Linie die Verarbeitungsgeschwindigkeit des verbalen Abrufs eines visuellen Stimulus misst (Lervåg und Hulme 2009).

Alle diese Erkenntnisse legen nahe, dass die Leistungen bilingualer Kinder im RAN vergleichbar oder sogar besser sind als die monolingualer (Duzy et al. 2013; Jongejan et al. 2007; Lesaux und Siegel 2003). Was den Einfluss des RANs auf den Leseerwerb bei bilingualen Kindern angeht, sind die Evidenzen spärlich. Für Kinder mit Englisch als Zweitsprache leistete die Benennungsgeschwindigkeit von Zahlen in den unteren Klasse keinen wesentlichen Beitrag an die Varianzaufklärung des Wortlesens und des Leseverständnisses, anders als bei monolingualen Kindern (Jongejan et al. 2007; Lesaux und Siegel 2003). Duzy et al. (2013) fanden hingegen keinen Unterschied zwischen mono- und bilingualen Kindern in der Prädiktionsgüte des RAN im Kindergarten für die Lesegeschwindigkeit in der 1. und das Leseverständnis in der 2. Klasse.

3 Die Entwicklung des Wortschatzes und seine Rolle beim Leseerwerb

Zur Entwicklung des Wortschatzumfangs im frühkindlichen und vorschulischen Erstspracherwerb existiert eine Vielzahl von Studien (z. B. Clark 2009; Szagun 2013 für das Deutsche), die sich im Grundschulalter deutlich reduziert (z. B. Nagy und Scott 2000; Quinn et al. 2015; zum Deutschen Komor und Reich 2008). Der Wortschatzumfang deutschsprachiger Kinder bei Schulbeginn wird produktiv auf 3000 bis 6000 und rezeptiv auf 10.000 bis 14.000 Wörter geschätzt, wobei die Variation groß ist (z. B. Augst 1984; Moser et al. 2005). Eine prägende Rolle für die Wortschatzentwicklung spielt die familiäre Lesesozialisation und -motivation, nicht nur auf der Vorschulstufe (Lenhard und Lenhard im Druck), sondern auch in der Grundschule (Becker et al. 2010; McElvany et al. 2009). So zeigten McElvany et al. (2009) eine Abhängigkeit des Wortschatzes der Kinder von Bildungsgrad, Buchbesitz und Förderungskompetenz der Eltern. Der Wortschatz wiederum leistete einen beträchtlichen Beitrag zur Lesekompetenz (McElvany et al. 2009). De Jong und Van der Leij (1999, 2002) dokumentierten, dass das linguistische Verständnis (in Form von rezeptivem und produktivem Wortschatz) die Entwicklung des Leseverständnisses von der 1. bis zur 3. Klasse beeinflusst, eine Relation, die auch schon von Torgesen et al. (1997) beschrieben wurde. In der Studie von Quinn et al. (2015) wird betont, dass der Einfluss des Wortschatzes auf das Leseverständnis unidirektional ist, wenn Wortschatz als mehrdimensionales Konstrukt definiert und gemessen wird.

Wortschatz sollte dementsprechend nicht ausschließlich als Wortschatzumfang konzeptualisiert werden. Wortschatzkompetenzen beinhalten auch qualitative Aspekte, die in drei Teilbereiche gegliedert werden können: semantisches Wortwissen, relationales Wortwissen und formales Wortwissen, das grammatische und morphologische Informationen zusammenfasst (Juska-Bacher und Jakob 2014; Read 2004). Während letzteres beim Leseanfänger noch keine relevante Rolle spielt, haben semantisches und relationales Wortwissen bereits eine grundlegende Bedeutung für das verstehende Lesen. Semantisches Wortwissen bezeichnet die Tiefe der Bedeutungskenntnis eines Wortes, die graduell abgestuft ist und von allgemeinen, unklar abgegrenzten Informationen über kontextgebundenes Wissen bis zu elaborierten und differenzierten Kenntnissen der Wortbedeutung reichen kann. Das relationale Wortwissen beinhaltet kategorielle Eigenschaften eines Wortes wie Hyper- und Hyponymie und die Beziehungen des Wortes innerhalb des semantischen Netzwerks, die Kenntnis von Synonymen, Antonymen und Polysemen (Juska-Bacher und Jakob 2014; Schmitt 2014).

Der Wortschatz spielt insbesondere beim frühen Lesen bilingualer Kinder eine ausschlaggebende Rolle. Erst die Kenntnis des semantischen Gehalts der Wörter ermöglicht verstehendes Lesen (Perfetti 2007). Studien aus unterschiedlichen Sprachen zeigen einen negativen Einfluss fehlender Wortschatzkompetenzen auf das Lesen bilingualer Kinder (z. B. Droop und Verhoeven 2003; Lervåg und Aukrust 2010; Verhoeven 2000; für eine Meta-Analyse s. Melby-Lervåg und Lervåg 2014). Auch im deutschen Sprachbereich wurde mehrfach ein Zusammenhang zwischen Wortschatz und Lesen, der sich zum Nachteil der bilingualen Kinder auswirkt, nachgewiesen (Gold et al. 2010; Limbird und Stanat 2006; Limbird et al. 2014).

Das Messen von Wortschatzkompetenzen ist alles andere als trivial. So vermutete Verhoeven (2000) in seiner Studie einen Deckeneffekt bei den monolingualen Kindern, während Limbird et al. (2014) zeigten, dass sich die Wortschatzkenntnisse der DaZ-Kinder analog zu denen der monolingualen entwickeln, nur auf einem deutlich tieferen Niveau. Dabei spielt das Messverfahren eine entscheidende Rolle: Während Verhoeven (2000) einen klassischen Wortschatzumfang-Test mit vier Bildern, denen das passende Wort zugeordnet werden musste, präsentierte, verwendeten Limbird et al. (2014; Limbird und Stanat 2006) einen auf bilinguale Kinder zugeschnittenen Wortschatztest. Damit wurde nicht nur der Wortschatzumfang, sondern auch die Kenntnis von Syno- und Antonymen geprüft. In der Studie von Lervåg und Aukrust (2010) konnten die Unterschiede in der Lesekompetenz der mono- und bilingualen Kinder vollständig durch die Unterschiede in der Wortschatzleistung erklärt werden. Lervåg und Aukrust (2010) verwendeten neben dem Peabody Picture Vocabulary Test (Dunn und Dunn 1997) für die Messung des Wortschatzumfangs Wortdefinitionen für das semantische Wissen.

4 Die vorliegende Studie

In der hier beschriebenen Studie werden die Leseleistungen von DaZ-Kindern im Vergleich zu monolingualen deutschsprachigen Kindern untersucht. Dabei werden die Vorläuferfertigkeiten phonologische Bewusstheit und RAN und mit besonderem Augenmerk der Wortschatz berücksichtigt. Letzterer wurde gemäß der Einteilung in Umfang, semantisches und relationales Wortwissen (Juska-Bacher und Jakob 2014) untersucht. Ziel ist es, erste Erkenntnisse über den Beitrag insbesondere der relationalen und semantischen Wortschatzkenntnisse zum Lesen der DaZ-Kinder im Vergleich zu erstsprachigen Kindern zu gewinnen. Dies, um eine Grundlage für gezielte Fördermaßnahmen und die Unterrichtsgestaltung im DaZ-Bereich zu schaffen.

Den Ausgangspunkt für die im Folgenden beschriebenen Analysen bilden drei Hypothesen:

  1. 1.

    Zweitklässler mit Deutsch als Zweitsprache lesen im Deutschen schlechter als Gleichaltrige mit Deutsch als Erstsprache.

  2. 2.

    Die Vorläuferfertigkeiten sind bei beiden Gruppen etwa gleich entwickelt.

  3. 3.

    Entscheidender Faktor für die Unterschiede in der Leseleistung sind Unterschiede im Wortschatz.

5 Methoden

5.1 Stichprobe und Design

Die Stichprobe umfasste 358 Kinder der zweiten Grundschulstufe, davon wurden 7 wegen unvollständiger Datensätze ausgeschlossen. Es resultierte eine gültige Stichprobe von 351 Kindern (191 Mädchen, 160 Jungen, Altersdurchschnitt 8 Jahre, 5 Monate, SD = 4,6 Monate, Spannbreite = 7 Jahre, 0 Monate – 9 Jahre, 11 Monate) mit Deutsch als Erstsprache, deren Daten im Rahmen des oben beschriebenen SNF-Projektes erhoben wurden. Zusätzlich wurden die Daten von 58 weiteren Kindern mit Deutsch als Zweitsprache gesammelt. Vier (3 Mädchen, 1 Junge, Altersdurchschnitt 8 Jahre, 7 Monate) dieser 58 Kinder wurden aufgrund ihres hauptsächlich deutschen Sprachhintergrunds der deutschsprachigen Gruppe zugeordnet, so dass sich eine Stichprobe von 54 Kindern (32 Mädchen, 22 Jungen; Alter M = 8 Jahre, 8 Monate, SD = 6,2 Monate, Spannweite 7 Jahre, 6 Monate – 9 Jahre, 11 Monate) ergab.

Das sprachliche Umfeld der Kinder aus der DaZ-Gruppe wurde mit dem Einschätzungsbogen aus „Sprachgewandt“ (Bayer et al. 2013) im Gespräch mit den Kindern erhoben. Ein Teil sprach zu Hause auch Deutsch (N = 3 nur DeutschFootnote 3, N = 27 eine andere Erstsprache und Deutsch, N = 24 kein Deutsch), alle sprachen Deutsch in ihrer Freizeit. Eine univariate Varianzanalyse mit dem Faktorwert Lesen als abhängige Variable und der Familiensprache (Deutsch/gemischt oder andere Erstsprache) als Zwischensubjekts-Faktor zeigte, dass sich die Leseleistung der bilingualen Kinder der DaZ-Gruppe nicht von derjenigen der Kinder, die zu Hause kein Deutsch sprachen, unterschied, p = 0,347. Von den 54 Kindern wurden 47 im deutschsprachigen Raum geboren. Alle anderen Kinder hielten sich zum Zeitpunkt der Erhebung seit mehreren Jahren in diesem Sprachraum auf (M = 4,4 Jahre, SD = 1, Spannbreite 3 Jahre – 6 Jahre). Die Kinder hatten unterschiedliche Erstsprachen (N = 11 Slawisch, N = 11 Romanisch, N = 10 Albanisch, N = 7 Iranisch, N = 7 Äthiosemitisch, N = 4 Türkisch, N = 4 diverse). Ein Teil der Kinder besuchte den Förderunterricht für DaZ-Kinder (N = 30), die übrigen hatten zum Zeitpunkt der Erhebung keinen zusätzlichen Sprachunterricht (mehr).

Die Kinder der DaZ-Gruppe wurden über Kontakte zu den Lehrpersonen rekrutiert und gehörten Klassen aus der Projektstichprobe an, wurden also im Regelunterricht mit den gleichen Methoden und Materialien unterrichtet. In den betreffenden Klassen wurden alle Kinder getestet. Die Auswahl dieser Klassen wurde geleitet vom Interesse und der Bereitschaft der Lehrpersonen und Eltern, die Kinder am Projekt teilnehmen zu lassen. Alle Kinder stammten aus Kleinstädten oder der Agglomeration Bern. Die Datenerhebungen fanden in den Schulhäusern statt, wobei der Leseverständnistest als Gruppen-, die übrigen Tests als Einzeltests durchgeführt wurden. Letztere wurden in zwei Blöcke zu jeweils ca. 20 min Dauer aufgeteilt, zwischen den Blöcken gab es Unterbrechungen von mindestens 20 min. Erhoben wurden die Lesekompetenz, der Wortschatz sowie die Vorläuferfertigkeiten.

5.2 Erhebungsinstrumente

Lesen

Die Lesekompetenz wurde mit dem ELFE II (Lenhard et al. 2018) erhoben, der das Leseverständnis von Einzelwörtern, Sätzen und kurzen Texten prüft. Der Test wurde gemäß Instruktion durchgeführt.

Zur Erhebung der Leseflüssigkeit wurde die Pseudowortliste des SLRT-II (Moll und Landerl 2014) eingesetzt. Im SLRT müssen während einer Minute möglichst viele wortähnliche Pseudowörter korrekt vorgelesen werden.

Wortschatz

Für die Messung des Wortschatzumfangs wurde der PPVT‑4 (Lenhard et al. 2015) verwendet. In diesem Test muss einem auditiv dargebotenen Zielwort jeweils eins von vier Bildern zugeordnet werden. Der Test wurde gemäß Manual durchgeführt, aber aus zeitlichen Gründen halbiert (nur die ungeraden Items).

Das relationale Wortwissen wurde mit der Kurzfassung des WWT 6–10 expressiv (Glück 2011) bestimmt. Vorgelegt wurden die Items T16 bis 55 für die Zielgruppe von 7 bis 9 Jahren. Im WWT wird u. a. die Kenntnis semantischer Relationen mit Hilfe von Bildern bestimmt. Neben der aktiven Benennung von Objekten und Handlungen sollen explizit und ohne Abrufhilfe Antonyme und Hyperonyme genannt werden. Als Maße für das relationale Wortwissen wurden die Gesamtpunktzahl sowie die richtig genannten Hyperonyme und Antonyme als eigenständige Messgrößen herangezogen.

Das semantische Wortwissen wurde mit dem Untertest Wortaufgaben aus dem Wortschatztest des HAWIK-IV (Petermann und Petermann 2007) erfasst. Auch dieser Test wurde halbiert, indem nur die 15 ungeraden Items präsentiert wurden. Bei dieser Aufgabe wird dem Kind mündlich ein Wort vorgegeben, das es definieren soll. Dabei werden Wörter unterschiedlicher Wortarten und mit verschiedenen Abstraktionsgraden verwendet, wie „Regenschirm“, „mutig“ oder „zwingen“. Da das Bewertungssystem des HAWIK nicht auf eine Messung des semantischen Wortwissens angelegt ist, wurden nach einer semantischen Analyse eigene Bewertungskriterien mit 0 bis 3 Punkten erarbeitet. Die Antworten wurden von zwei unabhängigen Raterinnen beurteilt. Mit Cohen’s Kappa κ = 0,79, SD = 0,1, Spannweite 0,6–1 war die Inter-Rater-Reliabilität zufriedenstellend. Bei Abweichungen in der Bewertung wurden sie von einer dritten Raterin unabhängig beurteilt.

Kontextvariablen

Als Kontextvariablen wurden die phonologische Bewusstheit und die Benennungsgeschwindigkeit (RAN) erhoben. Für die Messung der phonologischen Bewusstheit (PHB) kamen aus dem BAKO 1–4 (Stock et al. 2017) die drei Teiltests zur Phonemmanipulation, nämlich die Vokalersetzung (alle „a“ im Wort werden durch „i“ ersetzt), die Restwortbestimmung (der erste Laut des Wortes wird ausgelassen und nur der Rest gesprochen) und die Phonemvertauschung (der erste und der zweite Laut des vorgesprochenen Wortes werden miteinander vertauscht, so wird aus „Löwe“ „ölwe“) zum Einsatz. Gemessen wurde die Anzahl korrekter Antworten. Die Benennungsgeschwindigkeit wurde mit dem TEPHOBE (Mayer 2016), Teiltests Farben, Buchstaben und Zahlen, erhoben. Als Richtwert wurde die Anzahl korrekt benannter Items pro Sekunde verwendet. Für eine detaillierte Beschreibung der Testinstrumente siehe Juska-Bacher et al. (im Druck).

6 Resultate

6.1 Einzeltests

Alle Analysen wurden mit R (R Core Team 2014) und IBM® SPSS® Statistics 25.0 durchgeführt.

Tab. 1 enthält Mittelwerte und Standardabweichungen sowie die Kennzahlen der t‑Tests, mit denen die Gruppenunterschiede (Deutsch als Erst- oder Zweitsprache) überprüft und die Effektstärken berechnet wurden. Die Gruppenunterschiede waren in den Tests, in denen dekodierendes Lesen und Wortschatz geprüft wurden, signifikant und die Effektstärken mittel bis groß.

Tab. 1 Deskriptive Statistik pro Gruppe (Deutsch als Erst- oder Zweitsprache) und Signifikanzwerte der Unterschiede zwischen den Gruppen

6.2 Datenüberprüfung

Die Daten wurden vor der Analyse mit dem Shapiro-Wilk-Test auf ihre Verteilung überprüft. Die Kontextvariablen der phonologischen Bewusstheit und der Leseleistung der Kinder mit Deutsch als Erstsprache wiesen keine Normalverteilung auf. Der nicht vollständigen Normalverteilung wurde durch den Einsatz einer Varianzanalyse Rechnung getragen, die relativ robust gegen Verletzungen der Normalität ist (z. B. Blanca Mena et al. 2017).

6.3 Faktorenanalyse

Um die hypothetische Struktur der Konstrukte Lesen und Wortschatz sowie die Einflüsse von Wortschatz und Kontextvariablen auf das Konstrukt Lesen zu untersuchen, wurden Faktorenanalysen verwendet. Vorbereitend wurde eine explorative Faktorenanalyse (EFA) durchgeführt, um die Variablen auf ihre Eignung für eine Hauptkomponentenanalyse zu prüfen. Das Kaiser-Meyer-Olkin Kriterium war mit 0,84 weit über dem empfohlenen Wert von 0,6, und der Bartlett Sphärizitätstest war signifikant, χ2(105) = 3548,4, p < 0,001. Die Diagonalen der Anti-Image Korrelationsmatrix waren zufriedenstellend, alle MSA < 0,6, ebenso wie die Kommunalitäten, alle h2 < 0,6.

Auf der Grundlage der EFA wurden einerseits die Lesevariablen und andererseits die Wortschatz- und Kontextvariablen jeweils einer Hauptkomponentenanalyse (PCA) unterzogen. Die PCA für die Lesevariablen resultierte mit allen MSA < 0,7 erwartungsgemäß in einem Faktor Lesen. Die Eigenwerte für die Variable Wortlesen erklärten 79 %, für das Satzlesen 11 %, für das Textlesen 7 % und für das Pseudowortlesen 3 % der Varianz.

Um die Wortschatz- und Kontextfaktoren zu identifizieren, wurde eine weitere PCA durchgeführt. Die initialen Eigenwerte zeigten, dass die Faktoren 1 bis 3 insgesamt 68 % der Varianz erklärten. Dabei entfielen 36 % auf den Faktor Wortschatz, 19 % auf die Benennungsgeschwindigkeit, und 13 % auf die phonologische Bewusstheit. Zu den Ladungen der Variablen auf die Faktoren s. Tab. 2.

Tab. 2 Faktorladungen der Wortschatz- und Kontextvariablen auf die drei resultierenden Komponenten

6.4 Varianzanalysen

Der Einfluss der Gruppenzugehörigkeit unter Kontrolle der Wortschatz- und Kontextvariablen auf die Lesefähigkeit wurde mit Varianzanalysen geprüft. Als Variablen wurden die regressierten Faktorwerte aus der PCA verwendet. Abhängige Variable war die Lesefähigkeit, die Gruppenzugehörigkeit (DaZ ja/nein) wurde als Zwischensubjekts-Variable definiert. In einer Voranalyse zeigten weder die Variable Geschlecht noch die Variable Alter (mittelwert-zentriert) Haupteffekte oder Interaktionen (alle F < 3, alle p > 0,1). Deshalb wurden sie nicht in weitere Berechnungen einbezogen. Eine Einweg-Varianzanalyse zeigte, dass die Gruppenzugehörigkeit signifikant war, F(1, 403) = 13,00, p < 0,001, η2 = 0,03. Der Post-hoc-Test mit Bonferroni-Korrektur zeigte einen signifikanten Vorteil für die Kinder mit Deutsch als Erstsprache, (0,52, 95 %-CI[0,24, 0,8]).

In einem ersten Schritt wurden die Effekte der Kovariablen Benennungsgeschwindigkeit und phonologische Bewusstheit analysiert. Sowohl die Benennungsgeschwindigkeit, F(1, 401) = 67,94, p < 0,001, η2 = 0,15, als auch die phonologische Bewusstheit, F(1, 401) = 81,02, p < 0,001, η2 = 0,17 beeinflussten die Lesefähigkeit signifikant. Der Einfluss der Gruppenzugehörigkeit blieb auch unter der Kontrolle der Kontextfaktoren signifikant, F(1, 401) = 10,32, p = 0,001, η2 = 0,03 (s. Abb. 1a), wiederum mit einem Vorteil für die monolingualen, deutschsprachigen Kinder, (0,39, 95 %-CI[0,15, 0,63]).

Abb. 1
figure 1

Gruppenunterschied zwischen Kindern mit Deutsch als Erst- oder Zweitsprache ohne Kontrolle des Wortschatzes (a): ** p = 0,001; Gruppenunterschied mit Wortschatzkontrolle (b): p = 0,516; Werte der Kovariablen: RAN = 0,003, phonologische Bewusstheit = −0,004, Wortschatz = 0,005. Fehlerbalken: ±1 SE. Korrektur: Bonferroni

Im zweiten Schritt wurde zusätzlich der Faktor Wortschatz als Kovariable eingeführt. Der Zusammenhang des Faktors Wortschatz mit der Lesefähigkeit war signifikant, F(1, 400) = 33,34, p < 0,001, η2 = 0,08. Die Benennungsgeschwindigkeit, F(1, 400) = 67,42, p < 0,001, η2 = 0,14 und die phonologische Bewusstheit, F(1, 400) = 54,17, p < 0,001, η2 = 0,12, blieben ebenfalls signifikant. Überaus aufschlussreich ist, dass wenn der Wortschatz kontrolliert wurde, die Gruppenzugehörigkeit keine Signifikanz mehr zeigte, F(1, 400) = 0,42, p = 0,516, η2 = 0,001 (s. Abb. 1b). Der Post-hoc-Test zeigte, dass die mittlere Differenz minim war (−0,09, 95 %-CI[−0,38, 0,19]).

Um den Effekt des Wortschatzes und der Kontextvariablen auf das Lesen innerhalb der Gruppen zu prüfen, wurden für beide Gruppen multiple, schrittweise Regressionen mit dem Faktor Lesen als abhängige Variable und den Faktoren phonologische Bewusstheit, RAN und dem Wortschatz als Prädiktoren durchgeführt. In der Gruppe mit Deutsch als Erstsprache erwies sich das Modell mit den drei Prädiktoren Wortschatz, RAN und phonologische Bewusstheit als signifikant, F(3, 347) = 65,42, p < 0,001, bei den DaZ-Kindern war das Modell mit phonologischer Bewusstheit und Wortschatz, F(2, 51) = 18,49, p < 0,001, gültig. Die Koeffizienten sind in Tab. 3 zusammengefasst.

Tab. 3 Resultate der stufenweisen Regressionen pro Gruppe (Deutsch als Erst- oder Zweitsprache) der Faktoren Wortschatz und Vorläuferfertigkeiten auf das Lesen

7 Diskussion

Die Datenanalysen belegen einen ausgeprägten Zusammenhang zwischen Leseleistung und Wortschatz bei Zweitklässlern mit Deutsch als Erst- und Zweitsprache, auch bei Einbezug der Vorläuferfertigkeiten. Im Folgenden wird die Rolle des Wortschatzes und seiner Komponenten genauer beleuchtet.

Die univariate Varianzanalyse zeigt einen deutlichen Effekt der Gruppenzugehörigkeit (Deutsch als Erstsprache vs. Deutsch als Zweitsprache) auf die Lesekompetenz der untersuchten Zweitklässler. Hypothese 1 (Kinder mit DaZ lesen schlechter) wird vollumfänglich bestätigt. Dieses Ergebnis reiht sich in die Befunde anderer Studien aus dem deutschen Sprachraum ein, die den Zusammenhang zwischen Deutsch als Erst- oder Zweitsprache und Leseleistung untersuchten (Gold et al. 2010; Limbird und Stanat 2006; Limbird et al. 2014). Insbesondere werden die Ergebnisse aus der Schweizer PISA-Studie 2018 (Petrucci et al. 2019) erhärtet, dass die Erstsprache einen deutlichen Leistungsunterschied zugunsten der deutschsprachigen Kinder bewirkt. Dies ist offensichtlich auch bereits zu Beginn der Schulzeit der Fall.

Im Hinblick auf Hypothese 2 (vergleichbare Vorläuferfertigkeiten beider Gruppen) zeigt die Varianzanalyse der Einzeltests für die phonologische Bewusstheit, dass sich die beiden Gruppen signifikant voneinander unterscheiden, mit einem Vorteil für die Kinder mit Deutsch als Erstsprache. Dieses Resultat steht im Widerspruch zu den Resultaten anderer Studien, die keine Unterschiede zwischen den Gruppen (Duzy et al. 2013; Jongejan et al. 2007) oder einen Vorteil für die DaZ-Kinder (Limbird und Stanat 2006; Limbird et al. 2014) zeigten. Die Unterschiede traten nur in der Vokalersetzung und in geringerem Ausmaß in der Phonemvertauschung auf, nicht aber in der Restwortbestimmung. Möglicherweise spielte ein mangelndes Verständnis der komplexen Aufgaben und der zugehörigen Instruktionen eine Rolle.

Der Effekt der phonologischen Bewusstheit auf die Leseleistung war bei den DaZ-Kindern stärker, was anderen Befunden (z. B. Limbird et al. 2014) nicht entspricht. Die Unterschiede in der Rolle, die die phonologische Bewusstheit beim verstehenden Lesen zwischen erst- und zweitsprachigen Kindern spielt, müssen weiter hinterfragt werden.

Bei der Benennungsgeschwindigkeit zeigten sich hingegen in keinem der drei Teiltests (Farben, Buchstaben und Zahlen) signifikante Unterschiede in den Leistungen zwischen den beiden Gruppen. Dieses Ergebnis entspricht demjenigen der Studie von Duzy et al. (2013), steht aber im Gegensatz zu Lesaux und Siegel (2003) und Jongejan et al. (2007), in der die bilingualen Kinder den englischsprachigen monolingualen überlegen waren. Diese Differenz dürfte darauf zurückzuführen sein, dass die beiden letzteren Studien aus Kanada stammen, wo Kinder mit Migrationshintergrund in allen Bereichen des Lesens wesentlich besser abschnitten als jene aus dem deutschsprachigen Raum (Petrucci et al. 2019).

Die stufenweisen Regressionen pro Gruppe legen darüber hinaus einen unterschiedlichen Anteil des RAN an der Varianzaufklärung zwischen den Gruppen offen: Während der RAN als Prädiktor für das Lesen bei den Kindern mit deutscher Erstsprache signifikant war, war er bei den DaZ-Kindern klar nicht signifikant, was sich mit den Resultaten der Studie von Jongejan et al. (2007) deckt.

Bis auf den Teiltest Vokalersetzung und in geringerem Umfang im Teiltest Phonemvertauschung waren die Resultate der DaZ-Kinder in der phonologischen Bewusstheit und Benennungsgeschwindigkeit vergleichbar mit denen der monolingual deutschsprachigen. Damit rücken der Faktor Wortschatz und seine zentrale Rolle für die großen Unterschiede in der Leseleistung der Gruppen dieser Stichprobe in den Fokus (Hypothese 3).

Während die Kovarianz-Analyse ohne Wortschatzeinbezug einen signifikanten Unterschied in der Leseleistung zwischen den Gruppen auswies, resultierte die gleiche Analyse unter Einbezug des Faktors Wortschatz in einem p-Wert deutlich unter der Signifikanzgrenze. Abb. 1 veranschaulicht diesen Effekt. Es wird deutlich, dass sich die Leseleistung der beiden Gruppen bei Kontrolle des Wortschatzes nicht mehr unterscheidet. Dieses Resultat spiegelt den Beitrag an Varianzaufklärung des Wortschatzes auf das Lesen wider, wie sie in anderen Studien gefunden wurde (Limbird und Stanat 2006; Limbird et al. 2014; Verhoeven 2007) und deckt sich mit den Befunden der Studie von Lervåg und Aukrust (2010), die alle Unterschiede in der Lesekompetenz zwischen mono- und bilingualen norwegischen Kindern auf den Wortschatz zurückführen konnten.

In den deskriptiven Statistiken fällt auf, dass die Effektstärke des Unterschieds im relationalen Wortwissen zwischen den beiden Gruppen (Deutsch als Erst- oder Zweitsprache) stärker ausgeprägt ist als beim Wortschatzumfang und semantischem Wortwissen. Eine differenzierte Betrachtung der Teilkompetenzen des Konstrukts Wortschatz wie von Quinn et al. (2015) postuliert, macht gemäß den Resultaten der vorliegenden Studie also Sinn und kann wertvolle Impulse für allfällige Fördermaßnahmen im DaZ-Unterricht liefern. Konkret bedeutet dies, dass bei der Wortschatzarbeit nicht nur der Umfang, sondern auch die Vernetzung der Einträge im mentalen Lexikon (relationales Wortwissen) sowie das Bedeutungswissen zu den Einträgen (semantisches Wortwissen) ausgebaut werden sollte. Eine intensive Erforschung der verschiedenen Wortschatzbereiche und ihrer Zusammenhänge mit dem Lesen hilft uns, individuellen und gruppenspezifischen Unterschieden zwischen den Lesenden auf den Grund zu gehen und gezielte Förderstrategien zu entwickeln, für zweit- wie für erstsprachige Lernende. Und dies ist nicht zuletzt angesichts der Resultate der IGLU- und PISA-Studien ganz offensichtlich notwendig.