1 Einleitung

Durch unsere Sexualität erfahren wir uns selbst. Verlangen, Lust, Freude, Intimität, Neugierde aber auch Angst, Überforderung, Enttäuschung, Furcht, Nervosität oder Leid sind nur einige Gefühle und Regungen, die sie in uns hervorbringt. Wir können durch sie ein besseres Bild von uns selbst gewinnen: wen oder was wir begehren, wie wir begehren, was sich für uns gut anfühlt, was unsere Grenzen sind. Durch Diskurse über und das gemeinsame Erleben von Sexualität erhalten wir aber auch einen Einblick in die Welt der anderen. Was begehren sie? Welche Bedeutung hat Sex, Verlangen, Lust für sie? Wie gestalten sie ihre Beziehungen?

Verstehen wir Sexualität als Erfahrungsraum, dann ist sie ein Zugangspunkt zu uns selbst. Die Regungen, die wir als Menschen haben und die Erfahrungen, die wir mit unserer Sexualität machen, formen und geben uns ein besseres Verständnis davon, wer wir selbst sind. Die Frage nach der Identität ist daher eng mit der Frage nach der eigenen Sexualität verbunden.

Der vorliegende Artikel untersucht die Verknüpfung von Sexualität und Identität und problematisiert sie. Dabei verfolge ich die These, dass es keine notwendige Verbindung von Sexualität und Identität gibt. Um diese These zu plausibilisieren, steht eine nähere Untersuchung von Macht, Sexualität und Identität im Fokus. Hierzu greife ich auf die Ausführungen von Michel Foucault zurück, um den theoretischen Rahmen dieser ProblematisierungFootnote 1 abzustecken mit dem Ziel, die Frage nach der eigenen Identität als einen Imperativ der Macht zu verstehen. Ich greife hierbei vor allem auf Foucaults Ausführungen zur Macht in Überwachen und Strafen, Der Wille zum Wissen und auf Aufsätze aus seinem Spätwerk, aktuelle Forschung im Anschluss an Foucault und Überlegungen aus queerer und feministischer Theorie zurück. Im ersten Kapitel beginne ich mit der Darstellung der Macht als eine Beziehung zwischen Subjekten. Dieser Ausgangspunkt ermöglicht es von einer Pluralität von Machtbeziehungen auszugehen, die einen Ort des Widerstands neben dominanter Machtformen erlaubt. Im zweiten Kapitel werden drei Techniken der Disziplinarmacht herausgearbeitet: die Verknüpfung von Wissen und Macht, die Produktivität der Macht und Selbstdisziplinierung und Singularisierung der Subjekte. Hierbei steht zunächst eine nähere Auseinandersetzung mit Überwachen und Strafen im Fokus. In einem zweiten Schritt wird erläutert, dass sich diese Techniken etablieren und in moderne Machtformen einschreiben. Ausgehend von diesem theoretischen Rahmen werde ich im dritten Kapitel das Verhältnis von Sexualität und Identität problematisieren und herausarbeiten, dass ein Imperativ der Identität sowohl auf einer Ebene der Macht als auch des Wissens wirkt. Im letzten Kapitel werden zwei mögliche subversive Strategien entlang der im dritten Kapitel erarbeiteten Ebenen gegen diesen Imperativ der Identität herausgestellt. Freiheit als notwendige Voraussetzung von Macht und die im ersten Kapitel herausgearbeitete Pluralität der Macht eröffnen hier den Raum, um Widerstand zu denken.

2 Ein Netz der Macht

In diesem und im folgenden Kapitel wird der theoretische Rahmen abgesteckt, auf dessen Grundlage sich die weitere Argumentation entfaltet. Ich gehe zunächst allgemein auf Macht ein und beleuchte einige zentrale Merkmale. Die folgenden Ausführungen schließen dabei explizit an die Arbeiten Foucaults an.Footnote 2

Mit Foucault Macht zu denken, bedeutet mit einem herkömmlichen Verständnis des Begriffes zu brechen. In Abgrenzung zu anderen Konzeptionen, die Macht als Besitz, Fähigkeit oder Ressource einer Person verstehen, ist Macht im foucaultschen Sinne eine Beziehung, die sich zwischen einem oder mehreren Subjekten entfaltet. Macht ist in diesem Verständnis die Abkürzung für Machtbeziehung. „Ich gebrauche das Wort Macht kaum, und wenn ich es zuweilen tue, dann um den Ausdruck abzukürzen, den ich stets gebrauche: die Machtbeziehungen“ (Foucault 2005b, 889).

Machtbeziehungen sind in erster Linie Beziehungen zwischen Subjekten. Neben Beziehungen zwischen zwei oder mehr Subjekten ist auch eine selbstbezügliche Machtbeziehung möglich. Dieses Verständnis der Macht lässt sich konkreter fassen, wenn es als ein Netz aus Beziehungen vorgestellt wird. Jedes Subjekt ist dann ein Knotenpunkt innerhalb dieses Netzes. Dabei ist es in verschiedene Machtbeziehungen eingebettet und mit jeweils anderen Subjekten verknüpft. Die Anzahl der Machtbeziehungen, in die es eingebunden ist, ist dabei variabel und so sind manche Subjekte stärker in dieses Netzwerk verstrickt als andere. Gleichzeitig ist dieses Netz aus Beziehungen dynamisch. Sie können sich verändern, andere Beziehungen können auf sie einwirken, sie verstärken oder auflösen. Das Netz ist im steten Wandel.

Unter Macht, scheint mir, ist zunächst zu verstehen: die Vielfältigkeit von KräfteverhältnissenFootnote 3, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kräfteverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; die Stützen, die diese Kräfteverhältnisse aneinander finden, indem sie sich zu Systemen verketten (Foucault 2020a, S. 93).

Machtbeziehungen zwischen Subjekten sind dynamisch und bedingen einander. Veränderung in der einen haben Auswirkung auf nebenstehende Beziehungen. Macht lässt sich als komplexes Netzwerk mit Subjekten als Knotenpunkten und Machtbeziehungen als Verbindungslinien zwischen diesen Punkten vorstellen. Machtbeziehungen, die viele Subjekte umfassen oder sich mit anderen Beziehungen verbinden, können komplexe Strukturen bilden. Doch auf welche Weise wirkt die Macht?

Sie [die Macht] ist ein Ensemble aus Handlungen, die sich auf mögliches Handeln richten, und operiert in einem Feld von Möglichkeiten für das Verhalten handelnder Subjekte. Sie bietet Anreize, verleitet, verführt, erleichtert oder erschwert, sie erweitert Handlungsmöglichkeiten oder schränkt sie ein, sie erhöht oder senkt die Wahrscheinlichkeit von Handlungen, und im Grenzfall erzwingt oder verhindert sie Handlungen, aber stets richtet sie sich auf handelnde Subjekte, insofern sie handeln oder handeln können. Sie ist auf Handeln gerichtetes Handeln (Foucault 2005d, 286).

Macht wirkt auf das Handeln eines Subjekts ein. Damit ist sowohl das Einwirken auf andere als auch auf sich selbst gemeint. Es ist ein strategisches Spiel. Macht kann offensichtlich und spektakulär zu Tage treten oder subtil wirken. Gleichzeitig ist der Ausgang dieses Spiels offen. Das Einwirken auf das Handeln eines Subjekts kann erfolgreich sein, scheitern oder nicht-intendierte Folgen haben. Machtbeziehungen sind stetig in Bewegung und offen in ihrer Ausformung. Macht mit Foucault zu denken bedeutet somit, dass jede Beziehung von Subjekten, in denen auf das Handeln eingewirkt wird, eine Machtbeziehung ist. Damit eröffnet sich das Feld für eine Vielzahl von Beziehungen, bspw. zwischen Freund*innen, Liebenden, Kolleg*innen, Eltern und ihren Kindern, Politiker*innen und Bürger*innen. All diese Beziehungen sind Formen der Macht.Footnote 4 Macht stellt sich als dynamisches Netzwerk dar, in dem jedes Subjekt einen Knotenpunkt für verschiedene Machtbeziehungen bildet. Das Wirken der Macht vollzieht sich durch Handlungen, die das Handeln von Subjekten beeinflussen.

Aus Gründen der Übersichtlichkeit wurden Machtbeziehungen bis hierhin in ihrer einfachsten Form in den unmittelbaren Beziehungen zwischen Subjekten gedacht. Aus diesen grundlegenden Überlegungen formen sich komplexere Strukturen der Macht, die im Mittelpunkt von Foucaults Genealogien der Macht ab Mitte der 1970er Jahre stehen, beispielsweise die Genealogien der Disziplinarmacht in Überwachen und Strafen, der Biomacht und Pastoralmacht in Der Wille zum Wissen und in den Vorlesungen zur Gouvernementalität am Collège de France. Zusätzlich wurden diese von Foucault angestoßenen Genealogien seit den 1980ern von verschiedenen Denker*innen weitergedacht und bestimmte Aspekte (kritisch) für die eigene Theoriebildung genutzt (vgl. Agamben 2012, 127-128; Butler 2003; Deleuze 2020c; Garcia 2023, 140; Mbembe 2019, 66-67; Preciado 2022, 77-83).

Während diese Genealogien dominante Formen der Macht beschreiben, sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass sich innerhalb von Foucaults Verständnis multiple Formen der Macht zeitgleich realisieren. Foucault betont dies an unterschiedlichen Stellen, indem er das Zusammenspiel verschiedener Machtformen (vgl. Foucault 2020a, 135-137) und das Nachhallen früherer Machtformen aufzeigt (vgl. Foucault 2014, 331-346). Neben diesen dominanten weist Foucault auf weitere und zumeist subversivere Formen der Macht hin, die sich vor allem in der Beziehung zwischen Subjekten entfalten (vgl. Foucault 2005d, 291).

Dieses Verständnis der Macht als Beziehung zwischen Subjekten ermöglicht es, von einer Pluralität von Machtformen auszugehen. Innerhalb dieses heterogenen Machtgefüges kann das Subjekt mit oder gegen die jeweiligen Machtbeziehungen wirken. Dieser „Agonismus“ (Foucault 2005d, 287-288) innerhalb der Machtbeziehungen erlaubt es zugleich eine Formung durch und einen Widerstand gegen die Macht zu denken. Meines Erachtens liegt hierin ein unausgeschöpftes Potenzial, das durch eine Analyse, die primär dominante Machtformen in den Blick nimmt, überschattet wird. Dieser Fokus findet sich sowohl bei Foucault selbst als auch in der Rezeption, so beispielsweise bei Preciado, Deleuze oder Mbembe. Neben diesen dominanten Machtformen – so meine These – existieren zugleich Formen der Macht, die auf die jeweiligen Subjekte Einfluss nehmen und eröffnen in ihrer Diskrepanz zu dominanten Machtformen einen Ort des Widerstands.

Ausgehend von diesen allgemeinen Ausführungen zur Macht wird im folgenden Kapitel der Fokus der Untersuchung verengt werden, um einige Elemente einer spezifischen Machtform, der Disziplinarmacht, zu beleuchten. Diese sind emblematisch für moderne Machtformen und ermöglichen, die Bedeutung der Sexualität innerhalb dieser theoretischen Überlegungen zu verorten und im dritten Kapitel den Imperativ der Identität herauszuarbeiten. Die folgenden Ausführungen bilden somit den zweiten Teil des theoretischen Rahmens, in dem sich die weitere Argumentation zum Imperativ der Identität im dritten und zum Widerstand im vierten Kapitel entfaltet.

3 Drei Techniken moderner Macht

Es wurde gezeigt, dass Macht eine Beziehung zwischen einem oder mehreren Subjekten ist. Macht wirkt, indem sie das Handeln eines Subjekts beeinflusst. Neben einfachen Beziehungen zwischen Subjekten können sich auch komplexe Strukturen innerhalb eines Machtnetzes ausbilden, indem sich verschiedene Beziehungen miteinander verbinden. Eine der einflussreichsten und umfassendsten Machtstrukturen beschreibt Foucault in seinem Werk Überwachen und Strafen, in dem die Genealogie der Disziplinarmacht und ihre Ausweitung zu einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen beschrieben wird.

In diesem Kapitel sollen zunächst Überlegungen zur Disziplinarmacht aus Überwachen und Strafen im Fokus stehen. Diese sind zentral, um moderne Machtformen zu verstehen. Ich werde hierbei auf die folgenden drei Aspekte aus Überwachen und Strafen eingehen. Erstens auf die Verbindung von Wissen und Macht, zweitens ihre Produktivität und drittens die Selbstdisziplinierung. Diese Aspekte sind keine Alleinstellungsmerkmale der Disziplinarmacht. Sie finden ihren Ursprung in früheren Formen der Macht, welche Foucault in Überwachen und Strafen, in der Reihe Sexualität und Wahrheit und den Vorlesungen ab den 1980er Jahren am Collège de France nachzeichnet. Diese drei Überlegungen – Verknüpfung von Wissen und Macht, Produktivität der durch Wissen informierten Macht und Selbstdisziplinierung – sind eng miteinander verbunden und bedingen einander. Ihre Thematisierung erlaubt mir im dritten Kapitel für einen Imperativ der Identität, der sich in moderne Formen der Macht eingeschrieben hat, zu argumentieren.

Wenden wir uns zunächst der Verknüpfung von Wissen und Macht zu. Im Werk Überwachen und Strafen zeichnet Foucault die Entwicklung der Disziplinarmacht nach. Wesentlich für die Wirkmacht und die gesamtgesellschaftliche Ausbreitung dieser Machtform ist ihr Rückgriff auf Wissen. Mit Wissen beschreibt Foucault sowohl die Diskurse, welche Macht informieren, aber auch das Wissen, das über die Subjekte gesammelt wird. Dabei spielt beispielsweise die individuelle Entwicklungsgeschichte innerhalb der Macht eine Rolle, aber auch die Beziehung zwischen verschiedenen Subjekten, ihre Vergleichbarkeit mit- und untereinander, ob sie einer Norm entsprechen oder von dieser abweichen. Diese Informationen über die Subjekte steigern die Effizienz der Macht, Strategien passen sich an diese Informationen und Diskurse an und äußern sich in maßgeschneiderten Formen der Disziplinierung auf subjektiver Ebene. Obwohl die Disziplinarmacht eine so rasante Ausbreitung im 19. Jahrhundert erfahren hat, liegt ihre Effizienz gerade darin, dass sie mit individualisierten Techniken und Strategien auf das Subjekt wirkt. Macht und Wissen stehen hierbei in einem komplexen Verhältnis zueinander. Wissen ist nicht auf Macht reduzierbar und vice versa. Macht generiert Wissen und das Wissen kann wiederum effizient und produktiv von der Macht eingesetzt werden, um ihre Wirksamkeit zu erhöhen oder ihren Wirkungsbereich zu vergrößern (vgl. Foucault 2020a, S. 98).

Zweitens ist diese von Wissen informierte Macht produktiv „und sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion“ (Foucault 2016, 249-250). Ich möchte an dieser Stelle den Blick auf ein zentrales Moment dieser Produktivität der Macht lenken, der Formalisierung der Individuen. Hierfür ist ein Blick in das Kapitel zur PrüfungFootnote 5 aus Überwachen und Strafen hilfreich, in dem Foucault drei Aspekte näher beleuchtet.

Erstens: die Sichtbarkeit der Macht wird mithilfe der Prüfung umgekehrt. Die Disziplinarmacht „setzt sich durch, indem sie sich unsichtbar macht, während sie den von ihr Unterworfenen die Sichtbarkeit aufzwingt. In der Disziplin sind es die Untertanen, die gesehen werden müssen, die im Scheinwerferlicht stehen, damit der Zugriff der Macht gesichert bleibt“ (Foucault 2016, 241). Zweitens: Die Prüfung macht die Individualität dokumentierbar. Mithilfe der Prüfung stellt die Disziplinarmacht „die Individuen in ein Feld der Überwachung und steckt sie gleichzeitig in ein Netz des Schreibens und der Schrift; sie überhäuft sie und erfaßt sie und fixiert sie mit einer Unmasse von Dokumenten“ (Foucault 2016, 243). Dies führt zum einen dazu, dass Wissen über die einzelnen Subjekte gesammelt wird, zum anderen informieren diese Subjekte die inhaltlichen Diskurse. So „konstituiert sich das Individuum als beschreibbarer und analysierbarer Gegenstand […] [und] andererseits baut sich ein Vergleichssystem auf“ (Foucault 2016, 245). Drittens: Die Prüfung formalisiert das Individuum und macht es zu einem Fall. „[D]er Fall ist das Individuum, wie man es beschreiben, abschätzen, messen, mit anderen vergleichen kann […]; der Fall ist aber auch das Individuum, das man zu dressieren oder zu korrigieren, zu klassifizieren, zu normalisieren, auszuschließen hat usw.“ (Foucault 2016, 246). Wichtig bei dieser Formalisierung ist, dass nicht alle individuellen Merkmale, Beziehungen, Erfahrungen oder Interessen beachtet werden. Es geht lediglich um die Merkmale, welche in ein schon gegebenes Raster passen. Dieses Raster und die Methoden zur Formalisierung der Individualität stiftet das Wissen.

Die Macht setzt ihre Techniken ein, um zu prüfen, ob die Individuen diesem Raster entsprechen und „korrigiert“, „normalisiert“ und „schließt“ gegebenenfalls „aus“. Die Formalisierung betrifft jedes Subjekt innerhalb dieser Form der Macht. Das Wissen wird dokumentiert, analysiert und verschiedene Informationen werden verglichen. Doch es sind nicht alle gleichermaßen von dieser Form der Macht betroffen, denn „[i]n einem Disziplinarsystem wird das Kind mehr individualisiert als der Erwachsene, der Kranke mehr als der Gesunde, der Wahnsinnige und der Delinquent mehr als der Normale“ (Foucault 2016, 248).

Moderne Machtformen sind im besonderen Maße effizient und produktiv, weil sie diesen drei Aspekten entsprechen: Umkehrung der Sichtbarkeit von der Macht hin zum Individuum, Dokumentation der Subjekte innerhalb eines umfassenden Wissensapparats, Formalisierung und Disziplinierung der/des Einzelnen. Der Zusammenschluss aus Macht und Wissen produziert Wissen über die Subjekte, indem er diese formalisiert, vergleicht und durch Disziplinierung anpasst.

Vor allem bei diesem letzten Punkt zeigt sich die normalisierende Kraft der Disziplinarmacht. Die Formalisierung des Subjekts, die Dokumentation dieser Informationen und das Einpflegen in bestehende Diskurse sowie die Etablierung eines Rasters zur Disziplinierung der/des Einzelnen dienen dazu, das Subjekt an eine bestehende Norm anzupassen.

»Normativ« – in diesem Sinn – ist die gesellschaftliche Ordnung hier nicht, weil sie auf bestimmte explizite oder verhandelte Maßstäbe Bezug nehmen müsste, sondern weil sie Verbindlichkeit schafft und einrichtet, die – für die Subjekte – Härte und Orientierungskraft hat. Die Normen geben vor, wie man zu sein hat, will man in die Zone der Normalitätserwartung und Anerkennbarkeit als »gutes« Subjekt fallen. […] Normativ werden hier Verhalten […] und Selbstverständnisse auf jeder Stufe und in jedem Segment, aber nicht von selbst, sondern im Verbindlich-gemacht-Sein im gesellschaftlichen Zusammenhang einer Macht (Saar 2021, 149-150).

Norm wird in diesem Sinne als ein Produkt der Macht betrachtet. Sie setzt Erwartungen an und dient als Orientierung für das Subjekt. In modernen Machtformen realisiert sie sich zunehmend auf eine bestimmte Weise. Es wurde eben darauf hingewiesen, dass moderne Machtformen die Sichtbarkeit umkehren und das Subjekt in den Fokus nehmen. Mit der Genese der Disziplinarmacht zeichnet sich eine Strategie ab, die zunehmend an Dominanz gewinnt: Anstatt dass Macht von außen auf Subjekte wirkt, sie diszipliniert, zurichtet und sanktioniert, schreibt sich nun die Macht mithilfe von Normen in diese ein. Die Subjekte beginnen sich selbst zu disziplinieren und dies ist neben der Verknüpfung von Wissen und Macht und der Produktivität der Macht das dritte Thema, das ich beleuchten möchte: die Selbstdisziplinierung.

Neben der grausamen Beschreibung der Hinrichtung von Robert François Damiens, welche zu Beginn des Werkes steht, gibt es eine weitere bekannte bildhafte Beschreibung in Überwachen und Strafe: das Panopticon.

[A]n der Peripherie ein ringförmiges Gebäude; in der Mitte ein Turm der von breiten Fenstern durchbrochen ist, welche sich nach der Innenseite des Ringes öffnen; das Ringgebäude ist in Zellen unterteilt […]. Es genügt demnach, einen Aufseher im Turm aufzustellen und in jeder Zelle einen Irren, einen Kranken, einen Sträfling, einen Arbeiter oder einen Schüler unterzubringen. […] Jeder Käfig ist ein kleines Theater, in dem jeder Akteur allein ist, vollkommen individualisiert und ständig sichtbar. Die panoptische Anlage schafft Raumeinheiten, die es ermöglichen, ohne Unterlaß zu sehen und zugleich zu erkennen (Foucault 2016, 257).

Das Panopticon erlaubt es auf effiziente Weise eine Vielzahl von Subjekten zu überwachen und zu disziplinieren. Die Effizienz liegt in der Asymmetrie der Sichtbarkeit. Während die disziplinierten Subjekte aufgrund ihrer räumlichen Anordnung zu jeder Zeit in ihrem „Käfig“ sichtbar sind, bleibt der (Blick des) Aufsehers im zentralen Turm verborgen. Die Subjekte sind zu jeder Zeit sichtbar, wissen aber nicht, ob sie gesehen werden. „Daraus ergibt sich die Hauptwirkung des Panopticon: die Schaffung eines bewußten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen, der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt“ (Foucault 2016, S. 258).

Dieses Bauwerk hat selten eine reale Entsprechung gefunden. Dieses „Traumgebäude“ dient Foucault vielmehr dazu, einen „auf seine ideale Form reduzierten Machtmechanismus zu beschreiben. […] Wann immer man es mit einer Vielfalt von Individuen zu tun hat, denen eine Aufgabe oder ein Verhalten aufzuzwingen ist, kann das panoptische Schema Verwendung finden“ (Foucault 2016, 264). Die strategische Anordnung von Personen, das Etablieren von Sichtbarkeitsasymmetrien, Singularisierung von Individuen und gleichzeitig das Verschwinden eines Machtzentrums führen dazu, dass das Subjekt selbst in die Rolle des Überwachenden tritt. Die Disziplinarmacht schreibt sich so in die Subjekte ein. Es ist nicht mehr die offensichtliche Macht, welche von außen auf den Einzelnen einwirkt, sondern das individuelle Anpassen und die Korrektur des eigenen Verhaltens an eine Norm. Anstatt von außen auf das Subjekt zu wirken, beginnt das Subjekt sich selbst zu disziplinieren.

Zusammengefasst wurden mithilfe der Disziplinarmacht drei wichtige Elemente herausgestellt. Erstens die Verknüpfung von Wissen und Macht. Wissen informiert Macht und Macht generiert Wissen. Zweitens ist Macht produktiv, indem die Sichtbarkeit umgekehrt wird und das Subjekt nun im Zentrum steht. Das Wissen, welches über das Subjekt gesammelt wird, dient der Vergleichbarkeit mit anderen Subjekten und dafür, es gemäß einer Norm zu disziplinieren. Und letztlich dient die strategische Anordnung und Singularisierung der Subjekte dazu, dass die Macht sich in die Subjekte einschreibt und diese sich selbst disziplinieren.

Diese drei Elemente der Disziplinarmacht schreiben sich als produktive Techniken in moderne Machtformen ein. Foucault zeigt in Der Wille zum Wissen, wie sich Techniken im Zusammenspiel aus Disziplinar- und Biomacht fortschreiben. Deleuze nimmt diese mit Blick auf Subjektivierung, Kontrolle und unmittelbare Kommunikation in der Kontrollgesellschaft wieder auf (vgl. Deleuze 2020b, 250-252) und trotz produktiver Kritik an Foucaults Disziplinarmacht finden sich in Preciados Ausführungen zur pharmapornographischen Gesellschaft, die ähnlich wie bei Deleuze als ein Weiterdenken Foucaults verstanden werden können, die skizzierten Techniken wieder (vgl. Preciado 2022, 211). Auch Butlers Ausführungen zur Subjektivierung greifen unmittelbar auf Foucault zurück und nehmen die in diesem Kapitel dargestellten Techniken der Disziplinarmacht wieder auf. Das Zusammenspiel aus Wissen und Macht, die Produktivität der Macht und die Singularisierung der Subjekte durch Selbstdisziplinierung sind produktive Techniken, die das Subjekt zum einen bilden und formen und zum anderen kontrollieren und disziplinieren (vgl. Butler 2003; Butler 2023, 72-76).

4 Sexualität und Imperativ der Identität

Ausgehend von dieser theoretischen Rahmung durch die Betrachtung der Macht in den ersten beiden Kapiteln eröffnet sich nun ein Zugang zur Problematisierung der Sexualität. Sexualität ist ein komplexes Phänomen, das verschiedene innerliche und äußerliche Regungen umfasst und sich in vielfältiger Weise äußert, beispielsweise in Verlangen, Lust, Freude, Neugierde, aber auch in Scham, Ekel oder Wut. Unsere Beziehung zu uns selbst und zu anderen wird durch sie geprägt. Sexualität ist jedoch auch Gegenstand unterschiedlicher Diskurse. Seit dem 19. Jahrhundert wird Sexualität vor allem in medizinischen und psychologischen Diskursen verhandelt (vgl. Foucault 2020a, 71). In Der Wille zum Wissen zieht Foucault in Hinblick auf diese Diskurse einen bemerkenswerten Schluss:

Eine bestimmte Falllinie hat uns im Laufe einiger Jahrhunderte dazu gebracht, die Frage nach dem, was wir sind, an den Sex zu richten. Und zwar nicht so sehr an den Natur-Sex (als Element des Lebendigen, Gegenstand einer Biologie), sondern an den Geschichts-Sex, den Bedeutungs-Sex, den Diskurs-Sex (Foucault 2020a, S. 79).

Foucault problematisiert und historisiert hier eine Verknüpfung, die in den modernen Diskursen vorausgesetzt wird: die Verbindung von Sexualität und Identität. Aber warum befragt der Mensch die eigene Sexualität, um seine wahre Identität aufzudecken? Und warum ist diese Selbstbefragung in Hinblick auf die erwähnten Diskurse problematisch? Die Befragung der eigenen Sexualität scheint einem Interesse zur Selbsterkenntnis zu folgen, indem ein Subjekt versucht, mehr über sich selbst, seine Beziehung zu anderen, Vorlieben, Grenzen usw. zu bestimmen.

Es zeichnen sich hier zwei problematische Ebenen ab. Zum einen spielen die oben erwähnten Diskurse eine Rolle. Subjekte befragen ihre eigene Sexualität innerhalb der Grenzen der jeweiligen Diskurse. Und im Hinblick auf die geltenden Diskurse finden sie ihre Antworten. Diese Diskurse selbst sind von den oben skizzierten Normen, entstehend aus Macht und Wissen, geprägt. „Ein »passiver« Mann, eine »virile« Frau, gleichgeschlechtliche Liebe — man ist zwar bereit, darin keinen gravierenden Verstoß gegen die herrschende Ordnung zu erblicken, aber man ist doch auch bereit, sie gleichsam für einen »Irrtum« zu halten“ (Foucault 2005a, 145). Diese impliziten Normen, die mit den Diskursen verbunden sind, prägen die Sicht auf die eigene wahrgenommene und gelebte Sexualität. „[N]orms function as a reference point for one’s own experience of one’s behaviour: the norms shape and structure one’s embodied social experiences. Norms can play this role for one even if one adopts a critical stance towards them“ (Jenkins 2023, 159). Die Selbsterkenntnis erfolgt innerhalb des vom Diskurs abgesteckten Rahmens. Zugleich legt dieser Diskurs fest, was überhaupt im Rahmen des Sagbaren liegt. Sexualität kann hierbei lediglich als konform mit oder in Abweichung von einer Norm beurteilt werden. Hier zeichnet sich ein Problem ab, das Butler treffend formuliert:

Wir missverstehen das sexuelle Feld, wenn wir annehmen, dass das Legitime und das Illegitime dessen immanente Möglichkeiten erschöpfen. Es gibt außerhalb des Kampfes zwischen dem Legitimen und dem Illegitimen – ein Kampf, der die Umwandlung des Illegitimen in das Legitime zum Ziel hat – ein Feld, das schwer vorstellbar und aus der Perspektive seiner endgültigen Umwandlung in das Legitime nicht zu erfassen ist. Das ist ein Feld außerhalb der Trennung in Illegitimes und Legitimes, eines, das noch nicht als Domäne, Sphäre oder Feld gedacht ist, etwas, das noch nicht legitim oder illegitim ist, das im expliziten Diskurs der Legitimität noch nicht durchdacht worden ist (Butler 2023, 173-174).

Neben dieser diskursiven Ebene und ihren Grenzen zeichnet sich noch eine weitere Ebene der Macht ab. Die Selbstbefragung erfolgt nicht nur aus bloßer Neugierde an der Erkenntnis. Das Aufdecken des wahren Ichs – der eigenen Identität – durch die Sexualität ist zugleich mit einem Mechanismus der Macht verbunden. Aber, „[w]eshalb verlangt die Macht (und das in unseren Gesellschaften seit Jahrtausenden) von den Individuen nicht nur zu sagen »hier bin ich, hier bin ich, der gehorcht«, sondern verlangt von ihnen außerdem zu sagen, »das bin ich, ich, der gehorcht, das bin ich, das habe ich gesehen, das habe ich getan«?“ (Foucault 2020b, 120). In anderen Worten: Die Macht fragt nicht nur nach dem, was das Subjekt denkt, fühlt oder macht, sondern vor allem nach dem, was das Subjekt ist. Für Foucault findet hier ein Überschuss statt, welcher über den bloßen Erkenntnisgewinn hinausgeht. Es ist nicht nur das Aufdecken der Wahrheit, sondern eine Pflicht zur Wahrheit, die hier wirksam wird.

Wenn man sagt, dass das, was bei der Wahrheit verpflichtet, das Wahre ist, und dass allein das Wahre das ist, was verpflichtet, läuft man, wie mir scheint, in der Tat Gefahr, eine Unterscheidung zu verpassen, die ich für wichtig halte. […] Die Wahrheit ist nicht Schöpferin und Besitzerin der Rechte, die sie in Bezug auf die Menschen ausübt, der Pflichten, die jene ihr gegenüber haben, und der Effekte, die sie sich von diesen Pflichten versprechen, wenn und insofern sie erfüllt werden. Die Wahrheit verwaltet ihr eigenes Reich gewissermaßen nicht; nicht sie richtet und sanktioniert diejenigen, die ihr gehorchen, und diejenigen, die sich ihr widersetzen. Es stimmt nicht, dass die Wahrheit nur durch das Wahre zwingend ist (Foucault 2020b, 137).

Foucault unterscheidet hier zwischen dem Aufdecken der Wahrheit und der Pflicht zur WahrheitFootnote 6. Während ersteres Erkenntnisse produziert und auf der diskursiven Ebene Wissen und Informationen produziert, wirkt auf letzteres eine Ebene der Macht. Innerhalb dieser wird das Subjekt gerichtet und sanktioniert, gehorcht und kann sich widersetzen.

Setzen wir diese beiden Ebenen in Bezug zueinander. Die erste Ebene des Diskurses beeinflusst, wie die eigene Sexualität wahrgenommen wird und wie sie mithilfe eines geltenden Diskurses überhaupt in Worte gefasst werden kann. Dabei wird sie in Verhältnis zur Norm des geltenden Diskurses gebracht. Der „passive Mann“ und die „virile Frau“ aus dem erwähnten Zitat sind hierfür Beispiele. Weitere normierende Faktoren sind beispielsweise der Ort, die Frequenz, die Zeit, Anzahl der Personen, sexuelle Orientierung, Ablauf, das Alter oder Gender. Die erste Ebene dient als epistemischer Prüfstein für das Subjekt. Mit der zweiten Ebene der Macht wird diese Erkenntnis über die eigene Identität wirksam, indem sich das Subjekt an die Wahrheiten bindet und sich mit ihnen identifiziert. Durch diese Identifikation können die Mechanismen der Macht in Form der Disziplinierung greifen.

Ich begreife dieses Zusammenspiel der beiden Ebenen als einen Imperativ der Identität. Einen Imperativ, der nicht aus der Autonomie des Subjekts erfolgt, sondern aus Wissen und Macht. Es ist die Aufforderung an das Subjekt sich selbst zur Norm zu positionieren und sich gemäß dieser Verortung zu verhalten. (Selbst‑) Disziplinierung dient als Korrektiv und passt das Subjekt an. Dieser Imperativ der Identität ist ein Mechanismus, der in meinen Augen nicht nur bei der Sexualität, sondern auch als regulierendes Prinzip in anderen Bereichen wirksam ist, in denen die Frage nach der (sozialen) Identität ein diskutierter und umkämpfter Begriff ist. Doch vor allem die Sexualität ist als vielschichtiges Phänomen interessant, da sie in unterschiedlichsten Beziehungen zwischen Subjekten auftritt und auf sie wirken kann.

Vielmehr erscheint sie [die Sexualität] als ein besonders dichter Durchgangspunkt für die Machtbeziehungen: zwischen Männern und Frauen, zwischen Jungen und Alten, zwischen Eltern und Nachkommenschaft, zwischen Erziehern und Zöglingen, zwischen Priestern und Laien, zwischen Verwaltungen und Bevölkerungen. Innerhalb der Machtbeziehungen gehört die Sexualität nicht zu den unscheinbarsten, sondern zu den am vielseitigsten einsetzbaren Elementen: verwendbar für die meisten Manöver, Stützpunkt und Verbindungsstelle für die unterschiedlichsten Strategien (Foucault 2020a, 103).

Das Sprechen über die eigene Sexualität, die sexuelle Orientierung, Lust und Verlangen, die gelebte Sexualität mit uns selbst und anderen formt zahlreiche Beziehungen zwischen Subjekten, die über die bloße sexuelle Handlung hinaus geht. In diesen Beziehungen werden die Normen und mit ihnen der Imperativ der Identität wirksam. Diejenigen, die dieser Norm entsprechen können und wollen, werden den Einfluss der Macht in einem geringfügigeren Maß erfahren als diejenigen, die von dieser Norm aus unterschiedlichsten Gründen abweichen. Das Perfide am Imperativ der Identität ist, dass die Konfliktlinien durch die Selbstdisziplinierung in das Subjekt hineingetragen werden. Als eine Technik der Macht wirkt sie im und durch das Subjekt.

5 Dem Imperativ der Identität widerstehen?

Bevor ich auf zwei Strategien des Widerstands eingehe, möchte ich zunächst die Perspektive weiten. Im ersten Kapitel wurde in groben Zügen Macht in einem foucaultschen Sinne nachgezeichnet, die ich hier in aller Kürze nachfahren möchte. Macht ist eine Beziehung zwischen Subjekten. Subjekte sind zugleich in unterschiedliche Machtbeziehungen eingebunden und bilden Knotenpunkte innerhalb eines komplexen Netzwerkes. Machtbeziehungen sind dynamische Beziehungen und unterliegen Transformationen. Sie wirken und beeinflussen das Handeln der Subjekte. Im zweiten Kapitel wurden einige zentrale Elemente der Disziplinarmacht beleuchtet, die sich in moderne Machtformen eingeschrieben haben. Dabei wurde gezeigt, dass die Macht eng mit dem Wissen verknüpft ist, dass Macht produktiv ist und Subjekte hervorbringt und dass die Disziplinierung zu einer Aufgabe des Subjekts wird. Im dritten Kapitel wurde der Imperativ der Identität herausgearbeitet, der sowohl auf einer Ebene des Diskurses als auch der Macht operiert. Auf einer diskursiven Ebene reguliert er die Grenzen des Sagbaren, indem er die Möglichkeiten mit Hinblick auf geltende Normen beschränkt. Auf der Ebene der Macht wirkt die Befragung der Sexualität nach der eigenen Identität als ein Mechanismus der Macht und dient der Regulierung und Anpassung an die geltende Norm.

Ausgehend von diesen Darstellungen möchte ich in aller Kürze auf das Verhältnis von Freiheit und Macht als ein notwendiges Scharnier eingehen, um Formen des Widerstands innerhalb dieses theoretischen Rahmens gegen den Imperativ der Identität zu verstehen. Wenn Foucault von einer Pluralität von Machtbeziehungen ausgeht und Macht als ein komplexes Netzwerk verstanden wird, in denen die Subjekte Knotenpunkte für unterschiedliche Relationen sind und die Subjekte von dieser Macht gebildet werden, dann stellt sich die Frage nach der Freiheit. Wie ist Freiheit möglich, wenn das Handeln eines Subjekts auf eine vielfältige Weise von Machtbeziehungen beeinflusst wird? „Schließt er sich nicht in den Machtverhältnissen ein, steckt er nicht in einer Sackgasse“ (Deleuze 2020a, 157)? In meinen Augen ist dies eine berechtigte Herausforderung, die ausführlich in der Rezeption Foucaults thematisiert und diskutiert wurdeFootnote 7. An dieser Stelle beschränke ich mich darauf, diese Herausforderung zu markieren, damit ich sie nicht stillschweigend übergehe. Für die weitere Argumentation werde ich die Freiheit als Bedingung der Macht voraussetzen. In meinen Augen genügt dies, um den theoretischen Rahmen zu setzen und die weitere Argumentation zu entfalten. Die erwähnte Herausforderung bleibt jedoch bestehen.

Für Foucault sind Machtbeziehungen nur dann möglich, wenn die jeweiligen Subjekte frei sind. Die Dynamik der Machtbeziehung und die Ungewissheit, ob eine Beeinflussung des Handelns Erfolg hat, weisen bereits auf die Möglichkeit von Freiheit hin. In Subjekt und Macht expliziert Foucault das Verhältnis von Freiheit und Macht:

„Damit eine Machtbeziehung bestehen kann, bedarf es also auf beiden Seiten einer bestimmten Form von Freiheit. […] Das heißt, dass es in Machtbeziehungen notwendigerweise Möglichkeiten des Widerstands gibt, denn wenn es keine Möglichkeit des Widerstands — gewaltsamer Widerstand, Flucht, List, Strategien, die die Situation umkehren — gäbe, dann gäbe es überhaupt keine Machtbeziehungen. Vor diesem allgemeinen Hintergrund weigere ich mich, die Frage zu beantworten, die man mir manchmal stellt: »Aber wenn die Macht überall ist, dann gibt es keinen Widerstand.« Ich antworte: Wenn es Machtbeziehungen gibt, die das gesamte soziale Feld durchziehen, dann deshalb, weil es überall Freiheit gibt“ (Foucault 2005b, 890).

Freiheit lässt sich nur innerhalb von Machtbeziehungen denken. Das Subjekt kann mit Widerstand, Flucht oder List auf die Beeinflussung antworten, eigene Strategien der Einwirkung auf die Beziehung entwickeln, um diese zu verändern oder auch sich frei dafür entscheiden dem Einfluss zu folgen und ihm zu entsprechen. Die Freiheit des Subjekts besteht innerhalb von Beziehungen der Macht. Es ist diese Freiheit, die Raum für Widerstand eröffnet und damit eine kritische Perspektive auf dem Imperativ der Identität erst ermöglicht.

Im vorherigen Kapitel wurden zwei Ebenen des Imperativs der Identität voneinander unterschieden. Eine erste diskursive Ebene, welche den epistemischen Rahmen mithilfe von diskursiven Normen absteckt und so die Erkenntnis des Subjekts limitiert. Zweitens eine Ebene der Macht, durch die sich das Subjekt an die entdeckten Wahrheiten über sich bindet und durch die Selbstdisziplinierung an die Norm anpasst. Ich möchte nun zwei mögliche Strategien eröffnen, welche es ermöglichen dem Imperativ der Identität innerhalb der Grenzen der Macht zu begegnen. Die erste Strategie zielt darauf, das Zusammenspiel aus Äußern der und Binden an die Wahrheit zu transformieren und ein anderes Sprechen über sich zu ermöglichen. Die zweite Strategie versucht einen Effekt des Imperativs der Identität und allgemeiner der Disziplinarmacht, zu unterbrechen: die Singularisierung des Subjekts. Mit der Sexualität als gelebte Praxis kann auf diese Singularisierung durch das Formen von Beziehungen und Verbindungen zwischen Subjekten geantwortet werden.Footnote 8

Zunächst liegt der Fokus auf der ersten Strategie. Der Imperativ der Identität entfaltet seine Wirkmacht in dem engen Zusammenspiel aus Wissen und Macht. Die Selbsterkenntnis findet im Rahmen von geltenden Diskursen und ihren implizierten Normen statt. Wissen limitiert, was ein Subjekt über sich sagen kann. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich, da die Diskurse selbst Grenzen des Sagbaren besitzen. Bereits bei der Betrachtung der drei Elemente moderner Machtformen wurde darauf hingewiesen, dass die Informationen über die Subjekte selektiv sind. Bestimmte Informationen lassen und können sich nicht in die herrschenden Diskurse einschreiben. Dies liegt daran, dass „in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen“ (Foucault 1996, 11).

Die Antwort des Subjekts auf den Imperativ der Identität ist in einer zweifachen Weise gehemmt. Erstens stehen ihm nur die Ressourcen des geltenden Diskurses zur Verfügung. Bestimmte Informationen können nur unzureichend in Worte gefasst werden oder müssen sich darauf beschränken, diese in einer verzerrten Weise an die Regularien des Diskurses anzupassen. Zweitens grenzt der Diskurs die hermeneutischen Ressourcen des Subjekts ein, da bestimmte Erfahrung mit der eigenen Sexualität außerhalb seiner Grenzen fallen.Footnote 9 Positive oder negative sexuelle Erfahrungen, Begierden und Gefühle lassen sich so erst gar nicht im Diskurs abbilden. Nun bildet sich in diesem beschränkten Diskurs die Norm, die für die Selbstdisziplinierung handlungsanweisend ist, für ein Subjekt, das diesem Diskurs erst gar nicht oder zumindest teilweise nicht entsprechen kann.Footnote 10

Die Frage nach dem Wissen und der Diskurse nimmt einen wichtigen Dreh- und Angelpunkt für den Imperativ der Identität ein und wird mit Blick auf den Widerstand zu dem „worum und womit man kämpft; er ist die Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht“ (Foucault 1996, 11). Widerstand entsteht somit dann, wenn effektiv auf die Grenzen des Diskurses eingewirkt wird und die Grenzen des Sagbaren verschoben werden. Sexuelle Erfahrungen und Begierden werden dabei auf ihre Komplexität befragt, um der verzerrenden Wirkung des Diskurses vorzubeugen oder sich in den Diskurs einzuschreiben. Die Antwort auf den Imperativ der Identität ist eine transformierte Weise über sich selbst und seine eigene Sexualität sprechen zu können. „Resistance now meant to ‘differ’ from oneself, to craft the self outside the hermeneutics of the self and the blemishes of modern, scientific inquiry“ (Dean & Zamora 2021, 121). Der Kampf um den Diskurs ist auch ein Kampf gegen die ihr eingeschriebene Norm. Es ist ein Aufbegehren gegen die Grenzen der Identifikation, welche für die Selbstdisziplinierung eine tragende Rolle spielen. Es ist ein Aufbegehren innerhalb des Diskurses, um einen Raum für das Nicht-Intelligible zu schaffen. Es ist der Versuch, aus dem binären Spiel der Identifikation und Nicht-Identifikation auszubrechen. Ein Vorgehen, welches José Esteban Muñoz treffend mit dem Begriff der Desidentifikation als „eine Strategie [beschreibt], die danach strebt, eine kulturelle Logik von innen heraus zu transformieren, die sich stets daran abarbeitet, dauerhaften strukturellen Wandel zu evozieren, während sie gleichzeitig die Bedeutung lokaler und tagtäglicher Widerstandskämpfe zu schätzen weiß“ (Muñoz 2023, 211).

Die zweite Strategie des Widerstands adressiert einen Effekt des Imperativs der Macht: die Singularisierung der Subjekte. Mit dem Imperativ der Macht befragt das Subjekt die eigene Sexualität. Selbstidentifikation und Selbstdisziplinierung sind vor allem Prozesse, die vom jeweiligen Subjekt ausgehen. Es sind individuelle und isolierte Prozesse, obwohl Sexualität als vielschichtiges Phänomen in einer Vielzahl von Beziehungen zwischen Subjekten gelebt wird.

Hierauf lässt sich erwidern, dass der Imperativ der Identität auch einen Zugang zum anderen eröffnet. Die Identität des anderen offenbart sich mir durch seine Sexualität. Dies führt aber zum seltsamen Paradox, welches Illouz treffend zusammengefasst hat:

So gesehen können wir sagen, dass die Sexualisierung von Beziehungen ein Paradox mit sich bringt: Der Körper und die Sexualität werden zu einem Quell der Gewissheit (und ermöglichen es uns, das verborgene Selbst unseres potentiellen oder realen Partners zu erkennen), der allgemeine Rahmen einer Beziehung jedoch ist ungewiss (Illouz 2021, 143-144).

Das hier beschriebene Paradox fußt meines Erachtens auf dem Imperativ der Identität, der einen isolierten Zugang zur Identität über die jeweilige subjektive Sexualität erlaubt, der aber keine Wahrheit über die Beziehung zwischen zwei Subjekten eröffnet.Footnote 11 Diese isolierende Wirkung des Imperativs der Macht gehört zur Strategie der Disziplinar- und allgemeiner modernen Machtformen: „Gruppenverteilungen sollen vermieden, kollektive Einnistungen sollen zerstreut, massive und unübersichtliche Vielheiten sollen zersetzt werden“ (Foucault 2016, 183). Moderne Machtformen und der Imperativ der Identität isolieren und disziplinieren das Subjekt. Eine widerständige Strategie antwortet nicht mehr auf die Frage nach der Identität, sondern beginnt über die eigene Sexualität neue Beziehungen zu anderen zu knüpfen.Footnote 12 So schreibt Foucault in einem Interview über die Homosexualität:

Außerdem sollte man sich davor hüten, das Problem der Homosexualität auf die Frage zu reduzieren: »Wer bin ich? Und worin liegt das Geheimnis meines Begehrens?« Vielleicht sollte man lieber fragen: »Welche Beziehungen lassen sich über die Homosexualität herstellen, erfinden, vermehren, gestalten?« Es geht nicht darum, in sich selbst die Wahrheit des eigenen Geschlechts zu entdecken, sondern die eigene Sexualität zu nutzen, um vielfältige Beziehungen herzustellen. […] [Denn] [d]ie Gesetze der Institutionen können diese Beziehungen mit ihren vielfältigen Intensitäten, ihren veränderlichen Formen, ihren unabsehbaren Entwicklungen und ihren ständig wechselnden Formen nicht gutheißen. Diese Beziehungen, die für einen Kurzschluss sorgen und Liebe einführen, wo eigentlich Gesetz, Regel und Gewohnheit herrschen sollten (Foucault 2005c, 200-202).

Beide Strategien befruchten sich gegenseitig. Durch das Formen neuer Beziehungen eröffnen sich Möglichkeiten des Austausches, um die erlebten Erfahrungen mit der Sexualität sagbar und die Stimmen im Diskurs geltend zu machen. Dieses Einschreiben in den Diskurs ermöglicht es wiederum anderen, diese Stimmen zu hören, Erfahrungen zu reflektieren, neue Handlungsspielräume zu eröffnen und neue Beziehungen zu gestalten oder alte zu transformieren. Das Ziel der Strategien befreit dabei nicht die Subjekte von Machtbeziehungen oder Wissen. Das sind die Fallstricke des im ersten und zweiten Kapitel dargelegten theoretischen Rahmens. Die Analyse und Problematisierung von Phänomenen erschaffen jedoch Spielräume der Freiheit, um auf Macht und Wissen einzuwirken und die Grenzen der Identifikation und Intelligibilität zu verschieben.

Die vorliegende Untersuchung verfolgte ein solches Ziel, indem sie das Verhältnis von Sexualität und Identität auf den Prüfstein stellte und problematisierte. Mithilfe des theoretischen Rahmens, der vor allem aus einer Auseinandersetzung mit Foucaults Überlegungen zur Macht erfolgte, enthüllte sich der Imperativ der Identität, der dem Verhältnis von Sexualität und Identität zugrunde liegt. In einem letzten Schritt wurden zwei widerständige Strategien gegen diesen Imperativ der Identität herausgearbeitet. Die erste Strategie offenbart die Grenzen, Verzerrungen und Lücken des Diskurses, um sie als Ausgangspunkt des Widerstands zu nehmen, um den Diskurs zu verändern und sich in diesen einzuschreiben. Die zweite Strategie deckt die singularisierende Wirkung des Imperativs auf und eröffnet die Möglichkeit (neue) Beziehungen zwischen Subjekten zu knüpfen. Beide Strategien knüpfen damit an gegenwärtige emanzipatorische Theorien an, die seit langem die Frage nach der Identität und Sexualität auch mit Blick auf Foucaults Macht thematisieren. Der Imperativ der Identität benennt einen zentralen Mechanismus der Macht, um diese modernen Machtformen klarer zu verstehen und einen Raum für Widerstand zu eröffnen.