1 Verzeihen und Rache – moralische Gegensätze?

Verzeihen und Rache werden nicht nur begrifflich unterschieden. Wir verbinden mit diesen Begriffen gewöhnlich auch unterschiedliche reale Handlungen, die wir moralisch gegensätzlich bewerten. Während das Wort Rache in uns Phantasien blutiger Gewalttaten à la Kill Bill auslöst, denken wir bei dem Wort Verzeihen vor allem an Gesten der Liebe und der Versöhnung. Verzeihen gilt als Königsweg zum Frieden, die Rache als Ursache ewigen Unfriedens. Und während das Verzeihen als tugendhaft, vernünftig und zivilisiert gepriesen wird, steht der Begriff Rache für Grausamkeit, Maßlosigkeit, Irrationalität und Primitivität: ein Inbegriff der negativen Seite des Menschen. Das prägt auch die derzeit eher spärliche philosophische Auseinandersetzung mit der Rache, die mit wenigen Ausnahmen wie einer empfehlenswerten Studie von Fabian Bernhardt (2021), die auch die kulturelle Bedeutung der Rache beleuchtet und dabei die Kulturanthropologie einbezieht, ein finsteres Bild der Rache zeichnet. So zeigt die Philosophin Trudy Govier in Forgiveness and Revenge (2002) – einem der wenigen philosophischen Bücher, die sich überhaupt dem Thema Rache zuwenden – gleich auf der ersten Seite, was für sie ein paradigmatischer Fall von Rache ist: der Fall des Pakistani Javed Iqbal, der über 100 Jungen ermordete, ihre Leichen zerstückelte und in Säure auflöste. Ihr exemplarisches Beispiel für Rache ist also die Tat eines sadistischen Serienmörders, der seine Morde wahlweise als „Rache“ an der Polizei, an allen Müttern und an der Welt überhaupt ausgab – der Inbegriff eines in seiner Persönlichkeit gestörten vindiktiven Charakters. Von der hochgefährlichen Persönlichkeitsstörung eines sadistischen Serienmörders geht Govier zu einer Praxis grausamer Vergeltung über: Die schockierte Leserin erfährt, dass der pakistanische Richter Iqbal nicht nur zu Tode verurteilte, sondern auch anordnete, dass er vor den Augen der Eltern seiner Opfer erwürgt, sein Körper in 100 Teile zerschnitten und in Säure aufgelöst werden sollte. Damit trieb er „die Idee der Vergeltung, dass die Strafe dem Verbrechen entsprechen sollte, auf die Spitze“, denn so nahm der Staat „an der gleichen Barbarei Teil wie der Verbrecher selbst.“ (Govier 2002, 2)Footnote 1

Goviers Beispiel ist typisch für das, was Fabian Bernhardt (2021) das „moderne Inkognito der Rache“ genannt hat: die Neigung der Gleichsetzung von Rache mit ihren extremsten und destruktivsten Erscheinungsformen. „Mit der einhelligen Verurteilung der Rache geht Stück für Stück auch eine theoretische Verdunkelung einher. Zu ihren Effekten gehört, dass sich in der Moderne der Blick auf eine bestimmte Form der Rache verengt: die wilde und willkürliche Rache, die Rache als zügelloser Ausbruch einer maßlosen, potenziell infiniten Gewalt, die man in der Folge für ihre allgemeine und einzige Form hält. Diese Verwechslung führt dazu, dass andere Formen der Rache, die subtiler und weniger aufsehenerregend sind, Formen, die sich nicht notwendig im Medium der Gewalt oder der Zone der Illegalität bewegen, überhaupt nicht mehr als Racheakte wahrgenommen oder so bezeichnet werden.“ (Bernhardt 2021, 8) Im Folgenden möchte ich einen Beitrag zur Aufhebung dieses Inkognitos und zu einer differenzierteren Sicht der Rache leisten, und dabei auch den möglichen Nutzen kleiner Formen der Rache für moralische Wiederherstellungsprozesse berücksichtigen. Zu diesem Zweck möchte ich zunächst gängige Vorstellungen von Rache und Vergebung hinterfragen, um schließlich die Frage aufzuwerfen, inwieweit moderate und dosierte Formen der Rache dem Vergeben sogar dienlich sein können.

In Goviers Horrorgeschichte der Rache finden sich viele der typischen Elemente des modernen Verständnisses von Rache als eines abschreckenden Gegenbilds zum Rechts- und Moralverständnis der westlichen Zivilisation. Demnach entspringt der Rachedurst erstens nicht einer objektiven realistischen Einschätzung eines Unrechts, sondern einer subjektiven und verzerrten Wahrnehmung, die durch die Gefühle des Zorns oder Hasses bedingt ist. Zweitens wird der Rache als Folge aggressiver Affekte eine Neigung zur Maßlosigkeit zugeschrieben (Seneca o.J., 97-102). Das hat im Englischen zu einer eigenen Redewendung geführt: „with a vengeance“ bedeutet im extremen oder exzessiven Ausmaß. Aus diesen strukturellen Gründen kann die Rache drittens, auch wenn sie auf gerechte Vergeltung des Unrechts zielt, nicht für Gerechtigkeit sorgen, sondern wird das Unrecht in einer unendlichen Fehde vervielfachen (Hegel 2015, § 102, 95). Viertens gilt die Rache als irrational bzw. als ein Fall von „magischem Denken“ (Nussbaum 2016, 42), weil man annimmt, dass der Rächer mit ihr ein Ziel verfolgt – die Wiederherstellung einer früheren Situation –, das gar nicht erreicht werden kann. Schließlich macht es „die Toten nicht wieder lebendig, wenn auch ihr Mörder getötet wird“ (Nussbaum 2016, 43). Fünftens neigt man in einem modernen Kontext dazu, das Motiv zur Rache – oft eine gefühlte Demütigung oder Ehrverletzung – auf eine lasterhafte Überempfindlichkeit mit Blick auf die eigene Ehre zurückzuführen oder – in der heutigen therapeutischen Terminologie – auf eine untugendhafte narzisstische Selbstbezogenheit (Nussbaum 2016, 44, 47). Sechstens verbindet man mit der Rache die Vorstellung, dem Rächer ginge es darum, sich am Leid anderer zu erfreuen. Da sie also einen anderen Menschen zum Mittel der eigenen Lustbefriedigung zu machen scheint, verstößt sie gegen den kategorischen Imperativ und ist somit unmoralisch (Govier 2002, 11-12). Insofern sie darauf abzielt, dem Leid des Opfers neues Leid hinzuzufügen und damit das Leid in der Welt insgesamt zu vergrößern, erscheint sie siebtens aber auch aus utilitaristischer Sicht unmoralisch. Achtens scheint sich die rachsüchtige Person durch Einschränkung ihres Handlungsspielraums selbst zu schädigen, denn „anstatt mit ihrem eigenen Leben und ihren Projekten fortzufahren, konzentriert sie ihre Energie auf vergangene Kränkungen“ (Govier 2002, 10). Neuntens zeigen Klassiker der Literaturgeschichte wie Medea, die Troerinnen und Kohlhaas eindrucksvoll, dass die Rache oft einen moralischen Verfall des Rächers mit sich bringt: sie kann gewöhnliche Menschen in Monster verwandeln, die unschuldige Kinder töten. Zehntens erscheint die Rache aus der Perspektive einer modernen Gesellschaft, in der der Staat das Gewaltmonopol und Strafmonopol hat, als eine primitive Sitte, die nur in „barbarischen“ Gesellschaften geduldet wird.

Elftens wäre hinzuzufügen, dass die Rache vielen als Inbegriff eines unfreien, rein reaktiven Verhaltens gilt, wie es Hannah Arendt an einer berühmten Stelle ihres Hauptwerks Vita Activa ausführt: „Was die Verfehlungen und somit das vergangene Gehandelte betrifft, so ist der natürliche Gegensatz der Verzeihung die Rache, welche in der Form der Re-aktion handelt und daher an die ursprüngliche, verfehlende Handlung gebunden bleibt, um im Verlauf des eigenen reagierenden Tuns die Kettenreaktion, die ohnehin jedem Handeln potentiell innewohnt, ausdrücklich virulent zu machen und in eine Zukunft zu treiben, in der alle Beteiligten, gleichsam an die Kette einer einzigen Tat gelegt, nur noch re-agieren, aber nicht mehr agieren können“ (Arendt 2002, 235). Demgegenüber versteht Arendt das Verzeihen als „Heilmittel gegen Unwiderruflichkeit – dagegen, daß man Getanes nicht rückgängig machen kann“ (Arendt 2002 231). Zwar kann es nicht die Tatsache historischen Unrechts aus dem Bereich der Geschichte oder aus dem Gedächtnis der Menschheit löschen (Pettigrove 2006). Was ein Akt des Verzeihens jedoch tun kann, so Arendt, ist, die Menschen von der geistigen Versklavung durch vergangene Ungerechtigkeiten zu befreien:

„Nur durch dieses dauernde gegenseitige Sich-Entlasten und Entbinden können Menschen, die mit der Mitgift der Freiheit auf die Welt kommen, auch in der Welt frei bleiben, und nur in dem Maße, in dem sie gewillt sind, ihren Sinn zu ändern und neu anzufangen, werden sie instand gesetzt, ein so ungeheueres und ungeheuer gefährliches Vermögen wie das der Freiheit und des Beginnens einigermaßen zu handhaben.“ (Arendt 2002, 235)

Im Folgenden möchte ich mich nicht von dieser mit dem Verzeihen verbundenen Hoffnung verabschieden, sondern von einer zu wörtlichen Interpretation des Arendtschen Gedankens: ein Verzeihen im eigentliche Sinne dürfe nicht der menschlichen Ökonomie von Gabe und Gegengabe folgen, der auch die Vergeltungslogik der Rache entspringt, sondern müsse uns von dieser Ökonomie befreien. Derrida hat diesen Gedanken präzisiert, als er die Vergebung im eigentlichen Sinne als ein freies Geschenk ohne Gegengabe und Vorbedingung beschrieb: ein bedingungsloses Verzeihen (Derrida 2001). Während Derrida davon ausging, dass ein solches Verzeihen in der sozialen Realität nie möglich ist, sondern dort immer an Bedingungen geknüpft ist, scheinen andere wie Martha Nussbaum (2016) ein unbedingtes Verzeihen auch in der sozialen Wirklichkeit für moralisch angemessen zu halten. Im Gegensatz zu diesem phantastischen Ideal des bedingungslosen Verzeihens als einer Art Zauberstab, mit dem sich die tugendhafte Person jederzeit allein und ohne die Mitwirkung der anderen Betroffenen von den menschlichen Schuldverstrickungen der Vergangenheit lösen kann, lässt das Bild der quasi-mechanischen Abfolge von Rache und Gegenrache gar keinen Raum für die menschliche Freiheit. Nur durch einen ganz freien Akt des Verzeihens, so die Vorstellung, kann man aus einer ganz unfreien Reaktionskette der Rache ausbrechen und wieder Handlungsoptionen gewinnen.

Die folgenden Überlegungen folgen nicht dieser in meinen Augen irreführenden Dichotomie von Verzeihen und Rache, sondern knüpfen an ein anderes Element von Arendts Handlungstheorie an, nämlich an ihre Betonung der Abhängigkeit unseres Handelns von der nie ganz vorhersehbaren Mitwirkung anderer. Wie Glen Pettigrove darlegt, ist „Arendts Handlungstheorie […] unter anderem deshalb interessant, weil sie anerkennt, dass die eigene Identität und die eigene Handlungsfähigkeit (1) eng miteinander verwoben sind und (2) nicht vollständig in der Hand des Einzelnen liegen. Die eigene Identität ist weder etwas, über das man die alleinige Kontrolle hat, noch etwas, über das man vollständiges Wissen besitzt. Folglich ist die Fähigkeit nach einem Fehlverhalten etwas Neues zu beginnen, begrenzt von der Bereitschaft anderer, es auch als Neues zu betrachten. Ich kann mich zum Beispiel nicht mit einem anderen versöhnen, wenn er meine Reue als ein weiteres unehrliches Manöver ansieht, mit dem ich meine eigenen Interessen verfolge.“ (Pettigrove 2006, 383) Wenn wir aber Verzeihen als etwas verstehen, das nicht vollständig in unserer Macht steht, dann stellt sich erstens die Frage, inwieweit das Verhalten derer, denen zu verzeihen ist, und die Art und Weise, wie die verzeihende Person dieses Verhalten versteht, Verzeihen überhaupt erst möglich machen. Und daran knüpft zweitens die normative Frage an, inwieweit es von diesem Verhalten abhängt, ob es überhaupt angemessen ist zu verzeihen. Wenn wir aber diese Fragen stellen, dann scheinen wir das Verzeihen, anders als es zunächst bei Arendt anklingt, doch nicht als etwas ganz anderes als einen Austausch von Gaben zu verstehen, sondern zumindest teilweise auch als Gegengabe, z. B. für als ehrlich empfundene Reue, für eine ausgiebige Erklärung, die den Anlass in anderem Licht erscheinen lässt, für eine Entschuldigung und die Bereitschaft zur Wiedergutmachung. Wenn wir das Verzeihen aber nicht als ein unbedingtes Geschenk begreifen, sondern als angemessene Reaktion auf die moralischen Reaktionen und Angebote der anderen Seite, scheint sich der Gegensatz zur Rache stark zu verringern, die ja direkt als Reaktion – Payback – auf das Verhalten anderer bzw. die damit verbundene symbolische Botschaft verstanden wird.

Bevor ich mich der Frage nach den Überschneidungen und Verbindungen von Verzeihen und Rache zuwende, möchte ich kurz auf die Beziehung meiner Fragestellung zu der philosophischen Diskussion des Verzeihens und dem kulturwissenschaftlichen Forschungstand über die Rache eingehen. Wie viele dichte moralische Begriffe hat sich auch der philosophische Begriff des Verzeihens weit vom alltäglichen entfernt. Während sich der philosophische Begriff auf ein Unrecht bezieht (Boshammer 2020, 26), für das keine Entschuldigungsgründe geltend gemacht werden können, stellt sich im Alltag die Frage des Verzeihens auch bei vielen anderen Gelegenheiten, bei denen Beziehungen aufgrund subjektiver Verletzungen gestört wurden – etwa auch dann, wenn der Person, die sich verletzt oder gedemütigt fühlt, weder ein Unrecht zugefügt wurde, noch klar ist, ob der Täterin überhaupt ein Vorwurf gemacht werden kann; ich werde im letzten Teil genauer auf ein Beispiel eingehen. Und während es in der Philosophie nach wie vor eine starke Neigung gibt, nach so etwas wie der einen substanziellen Form des Verzeihens zu suchen, die man vom Entschuldigen und anderen Reaktionen auf Unrecht durch bestimmte Wesensmerkmale unterscheiden kann, haben sich in einer feministischen Richtung der Philosophie in den letzten Jahrzehnten Zweifel an dieser Methode geregt. Margaret Walker hat die Vorstellung kritisiert, es müsse so etwas wie ein kontextunabhängiges Schlüsselmerkmal oder eine wesentliche Eigenschaft des Verzeihens geben, die zum Paradigma genommen werden könne, um tatsächliche oder wahre Formen des Verzeihens von schwächeren oder nicht authentischen Formen zu unterscheiden (Walker 2006, 152). Sie geht davon aus, dass letztlich alle vermeintlich wesentlichen Merkmale des Verzeihens nur auf bestimmte Arten von menschlichen Situationen zutreffen und weder notwendig noch hinreichend für die gesamte Menge von verschiedenartigen Prozessen sind, die wir aus gutem Grund als Verzeihen bezeichnen können. So wie Alice MacLachlan (2009) und, daran anschließend, Myisha Cherry (2023, 23), stütze auch ich mich im Folgenden auf Walkers Überlegung, dass „Verzeihen ein variabler menschlicher Prozess und eine Praxis mit kulturell unterschiedlichen Ausprägungen ist“ (Walker 2006, 152). Nur so kann man sich der konkreten menschlichen Realität nähern.

Wenn ein Opfer eine öffentliche Erklärung abgegeben hat zu verzeihen (etwa dem Mörder der eigenen Tochter), könnte das also vieles bedeuten. Zwar bietet sich als gemeinsamer Nenner der Vorgänge, auf die wir die (heute fast synonym gebrauchten) Begriffe Vergeben und Verzeihen anwenden, das Ziel der moralischen Wiederherstellung an. Damit ist aber noch nicht festgelegt, was genau wiederherstellt werden soll: Selbstachtung, Selbstvertrauen, Würde oder der Seelenfrieden der verzeihenden Person? Oder die Selbstachtung, Selbstvertrauen, Würde oder der Seelenfrieden der Person, der verziehen wird? Geht es um die Wiederherstellung einer zerbrochenen Beziehung, einer unbelasteten Atmosphäre unter Kollegen oder des Vertrauens, in der sozialen Welt sicher zu sein und respektiert zu werden? Zwar ließe sich für das Mittel zu diesen moralischen Reparaturmaßnahmen durchaus eine allgemeine Formel finden: etwa der Verzicht auf negative Reaktionen auf ein Verhalten, das in irgendeiner Weise Irritationen ausgelöst hat, wobei der Anlass von subjektiver Überempfindlichkeit bis zu schwerem Unrecht reichen kann. Auch diese vage Formel kann jedoch keine reale Gleichförmigkeit des Verzeihens belegen, denn die negativen Reaktionen, die durch das Verzeihen beendet oder verhindert werden, können sehr verschiedener Art sein: psychologischer, kognitiver oder auch sozialer Art. Wenn darüber gesprochen wird, dass jemand einer anderen Person verziehen hat, kann das dieses oder jenes bedeuten: Beispielsweise, dass die Opferseite in Gegenwart anderer bekundet, die Sache verziehen zu haben (Sprachhandlung mit implizitem Versprechen), dass sie beschließt, Rachepläne nicht weiter zu verfolgen (innerer Entschluss); dass sie eine Strafanzeige zurückzieht (rechtliche Handlung); dass sie keinen Zivilprozess anstrengt (rechtliche Unterlassung); dass sie sich bemüht, keine Gefühle des Zorns oder Hasses gegen den Täter aufkommen zu lassen (innerer emotionaler Kampf), soweit es in ihrer Macht steht; oder dass sie das Ganze als tragisches Unglück betrachten möchte (motiviertes Denken). Bei Familienkonflikten kann es auch einfach darum gehen, dass die verletzte Partei aufhört, der Übeltäterin in Gegenwart anderer Vorwürfe zu machen (soziale Unterlassung), dass sie die Übeltäterin anders wahrnimmt als vorher (kognitive Veränderung), dass sie sich vornimmt, das Fehlverhalten gegenüber der Täterin gar nicht mehr anzusprechen oder es möglichst ganz zu vergessen (innere Absicht), dass sich ihr Groll legt oder sie gar wieder liebevolle Gefühle für die Täterin entwickelt (emotionaler Prozess), dass sie zu einer Versöhnung bereit ist (soziale Absicht), und vieles andere mehr. Die Frage, ob ein bedingungsloses Verzeihen möglich ist oder ob dafür bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein müssen, lässt sich daher auch nicht allgemein beantworten. Die Antwort hängt davon ab, was genau und in welcher Form verziehen werden soll; ob das Verzeihen mit zukünftigen Plänen der Zusammenarbeit, des gemeinsamen Lebens verbunden ist oder ob man die Beziehung beenden möchte. Versteht man unter dem Verzeihen z. B. den Abbau von Groll und Ressentiments oder gar die Entwicklung positiver Gefühle, so müssen für diese emotionalen Veränderungen entsprechende Voraussetzungen geschaffen werden.

Arendt hat zudem zwischen einem Bereich verzeihbarer menschlicher Fehlbarkeit und einem Bereich des Unverzeihlichen unterschieden. Sie weist darauf hin, dass das wirklich Böse – ein Vernichtungswille, wie er sich exemplarisch in dem Versuch Hitlers äußerte, die gesamte jüdische Bevölkerung Europas zu vernichten – nicht vergeben werden kann, weil es die Dimension dessen sprengt, was wir als tragische Fehlbarkeit empfinden und als Bestandteil der Welt noch irgendwie aushalten können. Aus ihrer Sicht ist Verzeihen nur aus einem (altgriechischen) Verständnis der allgemeinen menschlichen Fehlbarkeit heraus angemessen, die wir mit allen Menschen teilen.

Damit ist allerdings die Frage noch nicht hinreichend beantwortet, in welchen Fällen es angemessen ist zu verzeihen, und was Verzeihen hier konkret bedeutet. Auch bei gewöhnlichen menschlichen Verbrechen und Rücksichtslosigkeiten kann es je nach Situation viele Gründe geben, nicht bedingungslos zu verzeihen. So kann es Situationen geben, in denen eine bestimmte Form des Verzeihens – etwa der Verzicht auf öffentliche moralische Kritik – von einer Duldung des Unrechts nicht unterscheidbar wäre. Dann könnte es sogar moralisch falsch sein zu verzeihen, auch wenn der Verzicht zur Heilung der verzeihenden Person beitragen kann. Darüber hinaus können manche Formen des Verzeihens auch auf Kosten der Selbstachtung gehen und die eigene Heilung eher erschweren als ermöglichen; etwa, wenn eine öffentliche Geste des Verzeihens erzwungen wird oder nur aufgrund von sozialen Erwartungen vollzogen wird, denen sich die verzeihende Person nicht entziehen kann. Man stelle sich etwa eine Situation wie die der Söhne von Jamal Khashoggi in Saudi-Arabien vor, die den (angeblichen oder wirklichen) Mördern ihres Vaters öffentlich verziehen und sie so vor der Todesstrafe durch ein saudisches Gericht bewahrt haben. Aber auch wenn ein Opfer oder seine Verwandten nicht unter Lebensgefahr zum Verzeihen gezwungen werden, könnten sie sich aufgrund anderer kultureller Einflüsse und Normen zur Vergebung gedrängt fühlen; in einem solchen Fall könnten wir zu dem Schluss kommen, dass der Akt des Verzeihens ungerecht war, denn es kann durchaus sein, dass eine bestimmte kulturelle Praxis der Vergebung, wie etabliert sie auch sein mag, ungerecht ist oder auf dysfunktionale Weise praktiziert wird. Jeffrie Murphy hat gegen eine pauschale Befürwortung des Verzeihens eingewandt, dass auch in Fällen, in denen Vergebung einen Konflikt beenden kann, die Wiederherstellung sozialer Beziehungen „um jeden Preis – sogar um den Preis der eigenen Menschenwürde – kaum eine Tugend sein kann“ (Murphy und Hampton 1988, 17). Murphy (Murphy 2003) und Thomas Brudholm (Brudholm 2008) haben zudem die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass rachsüchtige Emotionen wie Groll und Zorn nicht nur sozial nützlich sein können (worauf schon Joseph Butler in seiner bekannten Predigt über Forgiveness hinweist), sondern unter Umständen auch der Abwehr von Angriffen auf die eigene Selbstachtung dienen.

Kathryn Norlock (2008, 2018), Alice MacLachlan (2009) und Myisha Cherry (2023) haben darüber hinaus die Aufmerksamkeit auf die Problematik des Verzeihens „in Kontexten ungleicher und oft ungerechter Machtdynamik“Footnote 2 gelenkt (MacLachlan 2009, 186), und sie insbesondere aus einer feministischen Perspektive – Cherry auch mit Blick auf Rassismus – untersucht. In solchen Kontexten kann gerade die Idealisierung des Verzeihens oder die Vorstellung, man sei moralisch verpflichtet zu verzeihen, der Aufrechterhaltung von Machtverhältnissen oder sozialen Unterschieden dienen, wenn die Verhaltenserwartung sich an Geschlechterstereotypen oder anderen Stereotypen orientiert. MacLachlan erörtert Fälle, in denen von Frauen erwartet wird, das Fehlverhalten ihrer Ehemänner zu verzeihen, aber nicht umgekehrt. Cherry analysiert Situationen, in denen Angehörige von Opfern rassistisch motivierter Morde fast unmittelbar nach dem Todesfall gefragt werden, ob sie bereit sind, den Mördern zu vergeben (Cherry 2023). Diese Untersuchungen geben weiteren Anlass, eine allzu naive und schematische Idealisierung des Verzeihens in Frage zu stellen. Stattdessen wäre zu fragen, was die Ziele sind, die jeweils mit dem Verzeihen verbunden werden, aber auch, welche Folgen und Nebenwirkungen im Kontext von gegebenen Machtungleichgewichtungen zu erwarten sind – insbesondere auch mit Blick auf die Frage, ob ein Akt des Verzeihens sich eignet, Beziehungen des Respekts unter Gleichen (wieder-)herzustellen oder diesem Zweck zuwiderlaufen kann.

Diese Einwände richten sich nicht nur gegen die moralische Idealisierung des Verzeihens in Frage. Ich möchte auch die Frage aufwerfen, ob ein reales Verzeihen in Kontexten ungleicher oder aus dem Lot geratener Machtverhältnisse nicht mitunter Racheelemente einschließen muss, um dem Opfer einen Abschluss des Konflikts zu erlauben, der weder die Selbstachtung beeinträchtigt, noch ein Gefühl der Ohnmacht hinterlässt (MacLachlan 2023 wirft eine ähnliche Frage mit Blick auf Gerechtigkeit auf.). Denn Rache ist nicht nur eine Reaktion auf empfundenes Unrecht, sondern vor allem auch eine Reaktion auf empfundene Demütigungen und dient dazu, letztere wieder auszugleichen. Der Psychologe Nico Frijda beschreibt diese psychologische Dimension so: „Wer einen anderen vorsätzlich schädigt, hat offensichtlich die Macht, dies zu tun, und der andere hat nicht die Macht, dies zu verhindern oder das Gleiche zu tun. Es besteht ein Machtgefälle. […] Der Täter konnte mit Dir machen, was er wollte, mit Dir umgehen, über Dich hinweggehen, Dich für seine Zwecke benutzen. Er ist der Akteur, Du bist das Objekt; er war der Herr, Du warst der Sklave. […] Die Ungleichheit der Macht wird durch die Rache effektiv vermindert oder annulliert. Man ist nicht mehr der Unterlegene, derjenige, dem etwas angetan werden kann. […] Durch Rache wird man selbst zur Macht.“ (Frijda 1994, 275) Diese Überlegung beschreibt nicht nur die psychologische und soziale Dynamik von Fällen extremer Erniedrigung, sondern lässt sich auch auf die kleinen Erfahrungen von Machtmissbrauch oder gefühlten Diskrepanzen zwischen den vorgeblich egalitären Normen und den symbolischen Ausdrücken von Macht im Alltagsleben anwenden. Um der Frage nachgehen zu können, ob Rache bzw. eine gewisse Dosierung von Racheelementen in Fällen von Machtungleichgewichten hilfreich oder gar erforderlich für das Verzeihen sein könnten – die Alltagspraxis und ihre Spiegelung in Literatur und Film geben dafür reichlich Beispiele –, müssen wir uns allerdings von dem oben beschriebenen Schreckensbild der Rache verabschieden, das ebenso schematisch ist wie die Idealisierung des Verzeihens.

2 Rache als Ausgleich von Demütigungen im Kontext von Machtungleichgewichten

Das eingangs beschriebene Schreckensbild der Rache entstammt der neuzeitlichen Staatsphilosophie und Ethik, die auf die Rechtfertigung des staatlichen Gewaltmonopols ausgerichtet ist, wie Fabian Bernhardt beschreibt: „Unter dem Zeichen des modernen Rechtsstaates wird die Rache mit einem negativen Index versehen, der keine Ausnahme und keine weiteren Differenzierungen mehr zulässt. Die Rache ist dasjenige, was nicht sein soll, da sie das staatliche Monopol der Gewaltausübung und Bestrafung in Frage stellt und zu unterwandern droht. Der Legitimationsdiskurs der Moderne schließt die Delegitimierung der Rache ein.“ (Bernhardt 2021, 8) Wenn wir einen Blick auf die Begriffsgeschichte werfen, kommt hingegen eine andere, positivere Beschreibung und Bewertung der Rache zum Vorschein. Der deutsche Begriff geht auf einen alten germanischen Rechtsbegriff für die Vergeltung von Unrecht zurück, der speziell „die Austreibung aus dem Lande in folge angriffs auf den landfrieden“ bezeichnet (Grimm und Grimm 1994, 14). Auch im antiken Griechenland bestand ein enger Zusammenhang zwischen Rache und Gerechtigkeit. Die Wörter für „Rache“ und „sich rächen“ konnten dieselben sein wie die für „Strafe“ und „bestrafen“ (τιμωρία, τιμωρέομαι) (Gehrke 1987, 129). Im Alten Testament stand der entsprechende Begriff für eine Maßnahme moralischer Wiederherstellung. Er bedeutete ursprünglich „Wiederherstellung der Ganzheit oder des Heils einer Gemeinschaft“ (Probst und Sprenger 1992, 1). Wenn wir unter Rache wertneutral die Bestrafung von vermeintem Unrecht und Demütigungen durch das Opfer oder dessen Angehörige verstehen, ist sie in nahezu allen Gesellschaften fester Bestandteil der sozialen Praxis. Diese strafenden Reaktionen umfassen eine große Vielfalt von Phänomenen, die von der Blutrache bis zur spöttischen Gegenrede oder unterkühlten sozialen Reaktion reichen, und sie unterscheiden sich stark hinsichtlich ihres rechtlichen und moralischen Status.

Betrachtet man Rachepraktiken in anderen Kulturen, insbesondere in segmentären Gesellschaften, dann erhält man ebenfalls ein anderes Bild von der Beziehung zwischen Rache und Verzeihen als die moderne Vorstellung, sie stellten auch in der Praxis moralisch entgegengesetzte Handlungstypen dar. In Kontexten ohne staatliches Recht oder mit schwachen Rechtsinstanzen steht das Verzeihen nicht im Gegensatz zur Rache, sondern gehört zusammen mit der Rache zu den Elementen der Konfliktlösung (Turner 2021). Die Rachedrohung hat hier vor allem die Funktion, die für ein Unrecht, eine Demütigung oder einen Schaden verantwortliche Partei zu motivieren, über Wiedergutmachung zu verhandeln, sodass schließlich verziehen werden kann. Umgekehrt wird von den Betroffenen erwartet zu verzeihen, wenn die Gegenseite unter dem Druck der Rachedrohung eine angemessene Wiedergutmachung geleistet und damit die verletzte Partei nicht nur entschädigt, sondern auch symbolisch wieder als sozial gleichwertig anerkannt hat. Ein bedingungsloser Verzicht auf Strafe und Vergeltung würde hingegen mit dem Bedürfnis nach Gerechtigkeit und nach der Aufrechterhaltung der gemeinsamen Normen kollidieren. In der sozialen Praxis halten Menschen – in westlichen Gesellschaften wie in den meisten anderen kulturellen Kontexten – Verzeihen gewöhnlich nur dann für angebracht, wenn gewisse Voraussetzungen auf der anderen Seite erfüllt sind. Dazu gehört beispielsweise ehrliche Reue, eine Bitte um Verzeihung, die Bereitschaft zu ernsthafter Kompensation für die Verletzungen und Schäden usf. Diese Gegenleistungen dienen dazu, die vom Opfer erlittene Missachtung symbolisch zurückzunehmen und zeigen an, dass die Täterin den ernsthaften Willen hat, die Beziehungen des Respekts zum Opfer wiederherzustellen und sich in Zukunft anders zu verhalten. Jemandem zu verzeihen, der sich gar nicht zu einem Fehlverhalten bekennt, würde auch aus Gründen als problematisch angesehen, die abhängig von den Machtverhältnissen sind. Eine symbolische Geste des Verzeihens aus einer ohnmächtigen Situation heraus würde als eine verkappte Hinnahme des Unrechts und der damit verbundenen persönlichen Missachtung erscheinen. Aus einer Situation der Macht heraus würde sie hingegen Geringschätzung ausdrücken. Die verzeihende Person oder Gruppe würde damit zu verstehen geben, dass die Täterseite viel zu unwichtig und wertlos ist, um eine moralische Reaktion zu verdienen. Umgekehrt würde ein bedingungsloses Verzeihen auch von der anderen Seite nicht als Ausdruck von Großmut und Liebe, sondern als Demütigung und Beleidigung empfunden werden, weil es signalisieren würde, dass man nicht als sozial gleich wahrgenommen wird: Nur wer den anderen als gleichwertig wahrnimmt (und nicht etwa als einen sozialen Outcast oder als unzurechnungsfähig), nimmt seine Kränkungen ernst.Footnote 3

Verzeihung wird daher in der Praxis solcher Gesellschaften nie bedingungslos gewährt. Sie wird im normativen Verständnis auch nicht als Ausdruck einer anderen, der Rache ethisch überlegenen Denk- und Handlungslogik angesehen wie Derridas Begriff des unbedingten Verzeihens. Vielmehr wird das Verzeihen ebenso wie die Rache als Teil der sozial erwarteten Reaktionen auf von Menschen verursachte Übel und Gewalttaten wahrgenommen. Sie erscheinen hier nicht als sich ausschließende Gegensätze, sondern bedingen einander. Die Rachedrohung der Opferseite macht im optimalen Fall die Racheausführung überflüssig, weil die Täterseite so einen guten Grund hat, von sich aus Wiedergutmachung anzubieten. Der Schritt von der Androhung zum Vollzug der Rache kann aber dort notwendig werden, wo eine sich als übermächtig verstehende Täterseite kein Interesse daran hat, die gewaltsam gestörten sozialen Beziehungen wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Die Bereitschaft zur Vergeltung gilt in solchen Gesellschaften ebenso wie die Bereitschaft zur Vergebung als unverzichtbar für die Wiederherstellung verletzter sozialer Beziehungen und verletzter Ehre.

Wenn wir nun an diejenigen Fälle des Verzeihens denken, in denen es um die Wiederherstellung von Beziehungen unter Gleichen durch die Bewältigung von emotionalen und sozialen Störungen geht, die aus Unrecht und Demütigungen herrühren, dann treten Verzeihen und Rache nicht mehr als exklusive Gegensätze in Erscheinung. Denn auch die Rache zielt ja darauf, ein vergangenes Unrecht und Demütigungen auszugleichen und so damit abschließen zu können. So betrachtet, erscheint die Rache nicht mehr als das schlechthin andere des Verzeihens. In verträglichen Formen und Dosierungen kann sie sogar als ein (mehr oder weniger taugliches) Mittel zum Verzeihen betrachtet werden, mit dem die sozialen und psychologischen Voraussetzungen geschafft werden sollen, einen Konflikt zu begraben.

Gegen diese Überlegung erhebt sich der von Hegel (2015, § 102, 95), Girard (1994, 28-29) und vielen anderen artikulierte Einwand, dass die Rache per se aufgrund ihrer subjektiven Einschätzung des Unrechts kein Mittel der Konfliktlösung sein kann, weil sie neues Unrecht schafft und so den Konflikt ins Unendliche verlängert. Wenn wir uns auf extremere Fälle von Rache konzentrieren und diese rein bewusstseinstheoretisch denken, erscheint dieses Bild der Rache auch zunächst einleuchtend. Es wird jedoch durch die empirische Kulturanthropologie nicht bestätigt: Rache führt in den meisten Fällen nicht zum ständigen Kriegszustand. Dies gilt sogar für die klassischen Fehden zwischen Clans oder Lineages in segmentären Gesellschaften, die oft als Beleg für die Girardsche These angeführt werden. Denn auch hier lässt sich wie bei einem Kippbild eine ganz entgegengesetzte Auffassung vertreten, für die letztlich mehr spricht. Richtet man den Blick nämlich auf die normalerweise viel längeren Perioden friedlicher Beziehungen zwischen den Gruppen, in denen die Blutrache noch aussteht, ergibt sich ein ganz anderes Bild ihrer Beziehungen als das einer irrationalen selbstzerstörerischen RasereiFootnote 4: Wie Ethnologen gezeigt haben, überwiegen auch in den „Rache-Gesellschaften“ in der Regel lange Phasen friedlicher und gewaltfreier Interaktion, die in großen Abständen von gewalttätigen Auseinandersetzungen unterbrochen werden (Turner 2017, 17). Das Schreckensbild der heftigen Fehde, die zur Auslöschung ganzer Gesellschaften führt, trifft auf die Gesellschaften, in denen die Blutrache Teil der sozialen Praxis ist, nur in Ausnahmefällen zu. In den meisten Fällen werden nach Übergriffen Alternativen zur gewalttätigen Reaktion gewählt, um das Ziel der Wiederherstellung des gestörten Machtgleichgewichts zwischen den Gruppen zu erreichen, wie z. B. Wiedergutmachungszahlungen, Heiraten etc.. So stellt der Rechtsethnologe Bertram Turner fest: „Im Bereich alltäglicher Streitigkeiten, die sich in Zeit und Raum abspielen, hat Vergeltung nicht zu mehr Gewalt geführt, sondern eher zu ihrer Eindämmung beigetragen. Dies gilt sogar für soziale Situationen, in denen Vergeltung mit Gewalt gleichgesetzt wird.“ (Turner 2017, 15)

Wenden wir uns der normativen Form der Rachekritik zu. Viele lehnen Rache allein deswegen moralisch ab, weil sie Leid verursacht. Das gilt aber auch für die (staatliche) Strafe. Während aber die Bestrafung von Verbrechen von den meisten akzeptiert wird, insofern sie als gerechte Reaktion auf ein Unrecht verstanden und zudem als notwendiges Mittel zur Abschreckung vor weiterem Unrecht legitimiert wird, wird das Ziel vieler Formen der Rache, eine persönliche Demütigung auszugleichen, von vielen nicht mehr als legitimes und für die eigene Selbstachtung bedeutsames Ziel akzeptiert. So vertritt Martha Nussbaum die Auffassung, dass ein Gefühl der Demütigung, das einen zornigen Wunsch nach Rache auslöst, letztlich auf den Wunsch nach einem möglichst hohen sozialen Status zurückgeht, der zu Statuskonkurrenzen und zu einer vorschnellen und übertriebenen Bereitschaft führt, sich gedemütigt und gekränkt zu fühlen (Nussbaum 2016, 37). Sie beschreibt dies als ein „narzisstisch-statusfokussiertes“ Denken, das man überwinden sollte (Nussbaum 2016, 44). Nussbaum empfiehlt ihrerseits, eine Verletzung der eigenen Interessen nicht als persönliche Demütigung, sondern als Fall allgemeiner Ungerechtigkeit zu betrachten. Auch aus ihrer Sicht kann es richtig sein, einen Übeltäter bestrafen zu wollen, aber nur zu dem Zweck zu verhindern, dass anderen in Zukunft ähnliches Unrecht widerfährt.

Aber hätten die Menschen überhaupt je einen Sinn für Gerechtigkeit entwickelt, wenn sie nicht persönlich verletzlich wären durch die Übergriffe anderer? Die Tatsache, dass wir Dinge zuerst persönlich nehmen, könnte „der Samen sein, aus dem die ganze Pflanze der Gerechtigkeit wächst“, wie es Robert Solomon formuliert hat (Solomon 1994, 304.) Gegen Nussbaums Pathologisierung und Abwertung der menschlichen Neigung, Missachtungen persönlich zu nehmen, möchte ich darüber hinaus zwei Einwände erheben, einen anthropologischen und einen ethischen: Erstens ist die menschliche Verletzlichkeit durch Missachtung ein universell zu beobachtendes Faktum, das weder mit den speziellen Idealen bestimmter Ehrenkulturen noch mit der pathologischen Fixierung mancher Menschen auf das eigene Ego zu verwechseln ist. Und zweitens können Situationen eintreten, in denen es auch aus moralischen Gründen falsch sein kann, sich Demütigungen gefallen zu lassen, und wo eine maßvolle Form von Rache erforderlich sein kann – nicht nur um zu verhindern, dass anderen zukünftig ähnliches Unrecht widerfährt, sondern auch um die eigenen Interessen, die Selbstachtung und das Selbstwertgefühl zu schützen.

Anders als Nussbaum gehe ich davon aus, dass Menschen Demütigungen weder unter allen Umständen ignorieren, noch sie – anders als Engel oder reine Vernunftwesen – allein aus einer rein unpersönlichen Perspektive wahrnehmen können. Damit soll nicht bestritten werden, dass es Situationen gibt, in denen eine solche Haltung angebracht wäre, noch, dass es mitunter leicht ist – etwa in den Fällen, in denen sich das Opfer eines Übergriffs selbst in einer mächtigeren Position befindet als der Täter – Demütigungen zu ignorieren. Für die meisten Menschen dürfte jedoch gelten, dass sie ihr eigenes Leben nur in Ausnahmesituationen wie ein Richter betrachten können, der von einem neutralen Standpunkt aus lächelnd und ungerührt über das Fehlverhalten anderer urteilt – jedenfalls wenn man ‚können‘ mit wirklichem psychischen Können und nicht mit dem verwechselt, was unter bestimmten Gesichtspunkten vernünftig erscheinen kann. Ohne die Neigung, die Art und Weise, wie wir von anderen behandelt werden, persönlich zu nehmen, sähe unser emotionales und soziales Leben ganz anders aus, wie schon Peter Strawson in seinem berühmten Essay Freedom and Ressentiment argumentiert hat (Strawson 1982). Das bedeutet nicht, dass wir uns stets rächen müssten. Wo die Täterseite jedoch nicht bereit ist, dem gedemütigten Opfer beispielsweise durch eine überzeugend vorgebrachte Entschuldigung entgegenzukommen, kann eine Form von kleiner Rache mitunter ein probates Mittel sein, das „zuvor gestörte psychische Gleichgewicht“ (Grobbink et al. 2015, 892) oder auch das soziale Gleichgewicht wiederherzustellen. Denn darum geht es primär in der Rache – nicht um die Lust am Leiden des anderen.

3 Zur ambivalenten Rolle der Rache in Prozessen moralischer Reparatur

Der Rache zuzugestehen, dass sie gelegentlich der seelischen Heilung nach Demütigungen dienen und dazu beitragen kann, „das beschädigte eigene Ich zu restituieren, von einer erlittenen Demütigung zu heilen, seine Selbstachtung wiederherzustellen“ (Merkel 2023, 151) bedeutet nicht, ihre problematischen Seiten zu leugnen. Um ihre Bedeutung für Prozesse moralischer Heilung, aber auch ihre Risiken zu verstehen, wäre es notwendig, ähnlich wie beim Verzeihen, Motive, Gründe, Zwecke, Arten und Formen der Rache zu unterscheiden und u. a. zu untersuchen, welche zu Prozessen moralischer Heilung beitragen und damit die Voraussetzungen für ein Verzeihen schaffen können. Im Folgenden möchte ich anhand von drei Beispielen skizzieren, wie Formen der „kleinen“ Rache gerade in Kontexten ungleicher Machtverhältnisse und ungerechter Machtdynamiken eine restaurative und edukative Funktion übernehmen, aufgrund der Machtdynamiken freilich auch dysfunktionale Züge annehmen können.

Betrachten wir zunächst einen Alltagskonflikt. In seiner Studie über Entschuldigungen beschreibt Aaron Lazare, damals Leiter der Psychiatrie an der Universität von Massachusetts, einen banalen alltäglichen Prozess des Verzeihens. Das Beispiel verdeutlicht zum einen, dass Verzeihen in der sozialen Wirklichkeit, anders als in der Philosophie, keineswegs immer ein unentschuldbares Fehlverhalten voraussetzt, sondern gerade auch dann notwendig werden kann, wenn gar nicht klar ist (und auch nicht eindeutig geklärt werden kann), ob überhaupt ein Fehlverhalten vorlag. Viel entscheidender ist mitunter, dass ein Verhalten im Kontext ungleicher Machtverhältnisse als mögliche Missachtung interpretiert werden kann, denn der Frieden zwischen den Beteiligten hängt davon ab, wie sie glauben von den anderen wahrgenommen zu werden, und ob die vorgeblich geteilten Normen – etwa einer egalitären Beziehung unter Gleichen – auch wirklich gelten. Auf der anderen Seite zeigt der Fall, dass ein Verzeihen mitunter erst möglich wird, wenn die Partei, die sich einer gefühlten Missachtung schuldig gemacht hat, diese Missachtung „abzahlt“, indem sie sich bereit zeigt, sich unbequemen und vielleicht sogar quälenden sozialen Prozeduren zu unterziehen. Insofern hier mit (kleinem) Leid abgezahlt wird, und der Leidfaktor auch nicht ersetzt werden kann, handelt es sich zweifellos um eine Form der Rache; dabei geht es allerdings nicht um Leidzufügung als Selbstzweck, sondern darum, die symbolische Botschaft der Missachtung zu widerlegen und eine Botschaft der Anerkennung zu senden. Lazare berichtet:

„Als ich am Ende des Arbeitstages aufbrechen wollte, teilte mir meine Assistentin mit, dass wir bei Routinetätigkeiten wie der Entscheidung zwischen Terminkonflikten und der Beantwortung verschiedener Anfragen weit im Rückstand waren. Gemeinsam mit der Administratorin kamen wir überein, am nächsten Tag früher zur Arbeit zu kommen, damit wir den Rückstand vor Beginn des offiziellen Arbeitstages aufholen konnten. Ich vergaß jedoch unser Treffen am frühen Morgen und kam 40 Minuten nach der vereinbarten Zeit zur Arbeit. Während ich die beiden fröhlich begrüßte, fiel mir auf, dass sie mir den Rücken zuwandten und ein eisiges ‚Guten Morgen‘ murmelten. Schon bald erinnerten sie mich an unsere Verabredung. Zutiefst beschämt über mein Versäumnis, entschuldigte ich mich vielmals. […] Ich hoffte, dass meine verbale Entschuldigung zusammen mit meiner nonverbalen Zurschaustellung von Scham und Reue ausreichen würde, um mir zu verzeihen, aber das erwies sich als unrealistisch. […] Als erstes teilten sie mir mit, was sie alles geopfert hatten, um früher zu kommen. Meine Administratorin berichtete zum Beispiel, dass sie auf ihre morgendliche Yogastunde verzichtet hatte, um unseren Termin wahrzunehmen. Trotz all meiner Bemühungen, mit Empathie auf ihre Schilderungen einzugehen, dauerten die Spannungen an. Meine Administratorin wollte sichergehen, dass ich den Termin nicht wissentlich ignoriert hatte. Ich wiederum fand es verletzend, dass sie eine solche Möglichkeit überhaupt in Erwägung ziehen konnte, und fragte mich, ob sie mir wehtun wollte. […] Dann bot ich den beiden an, sie zum Mittagessen einzuladen, um mein Versäumnis wiedergutzumachen. Das lehnten sie mit der Begründung ab, der administrative Rückstand, den unser morgendliches Treffen eigentlich hätte auflösen sollen, würde so nur noch verschlimmert werden. (Bislang waren alle meine Bemühungen um eine Verhandlung gescheitert – mündliche Entschuldigung, Ausdruck der Scham, empathisches Zuhören, um die Auswirkungen der Kränkung zu verstehen, Angebot der Wiedergutmachung, Versicherung, dass keine Respektlosigkeit beabsichtigt war). Als ich schließlich ein paar Stunden später an ihren Schreibtischen vorbeikam, sagte die Administratorin grinsend zu der Assistentin: ‚Ich glaube, jetzt hat er genug gelitten.‘ […] Für den Rest des Tages konnten wir über den Vorfall scherzen. […] Die Gegenseite sagte: Das Wichtigste an unserem Gespräch war für mich, dass Sie anerkannt haben, dass unsere persönliche Zeit genauso wertvoll ist wie Ihre – und dass Sie den Termin nicht absichtlich versäumt haben. Wäre es absichtlich gewesen, hätte unsere von gegenseitigem Respekt getragene Beziehung Schaden genommen.‘“ (Lazare 2004, 206-208)

Warum konnten die Mitarbeiterinnen ihrem Chef nicht sofort nach seiner verbalen Entschuldigung und seiner demonstrativen Scham und Reue verzeihen? Dies hätte zweifellos ausgereicht, wäre es ihnen nur darum gegangen, das Gesicht zu wahren und den Anschein einer gleichberechtigten Beziehung aufrechtzuerhalten. Denn mit seiner Entschuldigung erkannte Lazare ja offiziell an, dass er sich ebenso wie sie an gemeinsame Absprachen gebunden fühlte. In diesem Fall waren die Mitarbeiterinnen aber offenkundig davon ausgegangen, dass die egalitären Umgangsformen nicht nur dazu dienten, eine ungleiche Beziehung äußerlich zu kaschieren, sondern dass es dem Chef ebenso wichtig war, von seinen Mitarbeiterinnen akzeptiert zu werden wie umgekehrt, und dass ihm gleiche Regeln für alle wirklich ein Herzensanliegen waren. Sie mussten wissen, ob sie ihm hier weiterhin vertrauen konnten. Nicht obwohl, sondern gerade weil es sich um eine von ihnen besonders wertgeschätzte Arbeitsbeziehung handelte, mussten sie ihm seine Rücksichtslosigkeit durch Liebesentzug „heimzahlen“; und hätte er unter ihren eisigen Reaktionen nicht sichtbar gelitten, hätten sie ihm wohl auch nicht so leicht verzeihen können. Die Tatsache, dass Lazare seine Begnadigung mit einem (kleinen und kurzen) Leiden bezahlen musste, belegt daher nicht, dass es sich bei seinen Mitarbeiterinnen um verkappte Sadistinnen handelte; wäre Lazare nicht ihr Chef, sondern eine Mitarbeiterin in einer ebenso abhängigen Position wie sie selbst gewesen, wäre ihnen ein dramatischer Ausdruck der Beschämung, eine Entschuldigung mitsamt einer Einladung zum Essen als Wiedergutmachung vermutlich ganz ausreichend erschienen. Aufgrund der ungleichen Machtverhältnisse und vor dem Hintergrund einer noch nicht überall ausgestorbenen Tradition geschlechtsstereotyper Rollenerwartungen zwischen männlichen Chefs und weiblichen Mitarbeitern (klassische Sekretärinnenrolle) konnte sein Versäumnis aber auch so interpretiert werden, dass er sich weniger an gemeinsame Absprachen gebunden fühlte als sie und es eigentlich als selbstverständlich ansah, dass sie im Gegensatz zu ihm auch ihre Freizeit opferten, um Liegengebliebenes aufzuarbeiten. Mit ihrer Rache durch den subtil dosierten temporären Entzug sozialer Anerkennung sendeten sie mehrere Botschaften: Zum einen die für ihr Selbstwertgefühl wichtige Botschaft an sich selbst, dass sie sich von ihrem Chef nicht alles gefallen ließen. Zum anderen mehrere Botschaften an ihn: Mit ihrer demonstrativen Enttäuschung gaben sie ihm zu verstehen, dass die von ihm beanspruchte Gleichberechtigung eine Selbsttäuschung sein könnte, und forderten ihn auf, darüber nachzudenken. Mit ihrer kalten Wut und der deutlich spürbaren Bereitschaft, ihm weh zu tun, machten sie ihm aber auch deutlich, dass sie sich durch seine Vergesslichkeit persönlich verletzt fühlten, was zugleich die positive Botschaft enthielt, dass ihnen ein von gegenseitiger Wertschätzung geprägtes Arbeitsklima unter Gleichen besonders wichtig war. Ihr Verhalten zeigt, dass „kleine“ Rachepraktiken bei Alltagskonflikten auch eine erzieherische Dimension haben können. Sie erscheinen in diesem Fall auch keineswegs unkontrollierbarer als positiv bewertete Gefühlsausdrücke von Liebe und Mitgefühl. Vermutlich haben die meisten von uns gelernt, den Ausdruck von Wut und Rachebedürfnissen in sozialen Situationen mehr oder weniger bewusst zu dosieren.

Ein so mühsam ausgehandeltes Verzeihen, das kleine – um nicht zu sagen: kleinliche – Racheelemente enthält, wird oft als unschön empfunden. Und in der Tat ist diese Art des Verzeihens eher unschön, weil es diesen sozialen Interaktionen an Unbeschwertheit mangelt. Es fehlt auch der ästhetische Glanz, den das Ideal der unbedingten Vergebung oder die aristotelische Tugend der Großzügigkeit ausstrahlen. Martha Nussbaum lehnt das von Elementen der „Aggressivität, Kontrolle und Freudlosigkeit“ durchzogene oder gegen Reuebekundungen der Täterseite ausgehandelte Verzeihen daher grundsätzlich ab (Nussbaum 2016, 24, 88 f.).

Wenn ich demgegenüber ein Verständnis von Verzeihen verteidige, das auch unschöne Racheelemente einschließen kann, beziehe ich mich nicht auf Gefühle und Praktiken, die in einer idealen Gesellschaft von idealen Wesen (etwa den reinen Vernunftwesen Kants) rational wären, in der jede Person selbstlos danach strebt, den anderen bei der Verwirklichung ihrer legitimen Interessen zu helfen. Ich gehe von einen nichtidealen Gesellschaften von Menschen aus, so wie wir sie kennen: Menschen, die unvermeidbar immer wieder in Machtkämpfe und Anerkennungskonflikte verstrickt sind; die in ihrer kognitiven Reichweise zu beschränkt – und auch zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind -, um die Auswirkungen ihres Tuns und Lassens auf andere ausreichend zu berücksichtigen; und die ihre Interessen und Ambitionen auch mehr oder weniger bewusst auf Kosten anderer verfolgen. Entsprechend entwickeln sie neben Gefühlsregungen wie Großzügigkeit, Sympathie und Liebe auch solche wie Neid, Zorn und Hass. Diese Gefühle können richtigen oder falschen Einschätzungen der Situation entspringen, und sie können mit Blick auf den Anlass angemessen oder unangemessen sein. In einer solchen sozialen Welt, zumal wenn sie einerseits vom normativen Ideal der gleichen Würde aller, andererseits von ungleichen Machtverhältnissen bestimmt ist, kann jedoch das Verzeihen von Ungerechtigkeiten und Rücksichtslosigkeiten in vielen Fällen nicht als einseitiger Akt der Großzügigkeit erfolgen, wenn damit das Ziel verfolgt wird, die Beziehung wiederherzustellen. Im Kontrast zu Nussbaum war sich Hannah Arendt der Herausforderungen bewusst, die ein Vorgang des Verzeihens zu bewältigen hat, der unter solchen Bedingungen auf die Wiederherstellung von Beziehungen des Vertrauens und des wechselseitigen Respekts zielt. In ihrem Denktagebuch argumentierte sie, dass (bedingungslose) Vergebung nur bedeuten könne, die Beziehung zu verlassen: „Vergebung zwischen Menschen kann nur bedeuten: Verzicht auf Rache, Schweigen und Vergehen, und das heißt: der grundsätzliche Abschied – während die Rache dem anderen immer nahe bleibt und die Beziehung nicht abbricht.“ (Arendt 2016, 3) Auch im Falle Lazares kann man sich ein solches Verzeihen als Weggehen vorstellen – etwa eine Kündigung – während eine Annahme der Entschuldigung ohne Payback vermutlich den Verdacht nicht ausgeräumt hätte, dass der Chef mit zweierlei Maß misst und ein Heuchler ist. In beiden Fällen wäre jedoch das Vertrauen in die Egalität der Beziehung nicht wiederhergestellt worden.

Das zweite Beispiel stammt aus dem Roman Die Brüder Karamasoff. In einem Gespräch fragt Aljoscha seinen älteren Bruder Mitja, ob er seine Freundin Gruschenka um Verzeihung gebeten habe, nachdem er sie aus Eifersucht beleidigt hatte. Mitja bekundet Reue, erklärt aber, dass er sie auf keinen Fall um Verzeihung bitten werde:

„Gott behüte dich davor, du lieber Knabe, daß du jemals wegen einer Schuld das geliebte Weib um Verzeihung bittest! Besonders gilt das vom geliebten Weibe, gerade vom geliebten Weibe, wie groß deine Schuld auch vor ihr sein mag! Denn das Weib – das ist, Bruder – weiß der Teufel, was das ist, aber ich kenne sie doch gründlich, das weiß Gott! Versuche einmal, deine Schuld einzugestehen, soundso, es war schlecht von mir, verzeih, vergib – dann hagelt es Vorwürfe! Unter keiner Bedingung wird sie einfach und sofort verzeihen, sie wird dich zum Lappen erniedrigen, wird dir alles vorzählen, selbst das, was gar nicht gewesen ist, alles wird sie wieder herauskratzen, nichts wird sie vergessen, wird noch vieles von sich hinzufügen, und dann erst wird sie verzeihen. Und das ist noch die Beste, die Beste von allen! Das Letzte wird sie dir noch abschaben und dann alles über dein armes Haupt schütten – so eine, sage ich, so eine Lust am Menschenschinden steckt in ihnen, in allen ohne Ausnahme, in diesen Engeln, ohne die zu leben uns unmöglich ist.! […]“ (Dostojewski 1952, 965)

Wie sind diese auf den ersten Blick äußerst frauenfeindlichen Äußerungen zu verstehen? Wer um Verzeihung bittet, gesteht eine Schuld ein und macht sich dadurch angreifbar. Wer sich dazu durchringt, sich bei der Person, die er verletzt oder gedemütigt hat, zu entschuldigen, geht damit das Risiko ein, dass die andere Seite das Schuldeingeständnis nutzt, um durch die moralische Schwächung der anderen Seite die eigene Machtposition zu stärken. Dieses Risiko, so macht Mitja hier deutlich, kann man bei einer Frau im Unterschied zu einem Mann nicht eingehen, und schon gar nicht bei einer geliebten Frau. Er geht also davon aus, dass speziell Liebesbeziehungen zwischen Mann und Frau mit einer geradezu teuflischen Neigung auf der Seite der Frau verbunden sind, ihn zur Schnecke zu machen, bevor sie ihm verzeiht. Warum? Was Mitja hier der unerklärlichen weiblichen Natur zuschreibt, die er aus eigener Erfahrung genau zu kennen, aber nicht zu verstehen glaubt, erklärt sich auch hier aus einem Machtungleichgewicht, das in der Gesellschaft, von der der Roman handelt, generell die Beziehungen zwischen Mann und Frau betrifft, hier aber auch noch durch Klassendifferenzen verstärkt wird: Mitja ist der Sohn eines Großgrundbesitzers, Gruschenka eine Frau aus dem Kleinbürgertum, die das stereotype Schicksal der verführten und verlassenen Frau erlitten und als Geliebte eines geizigen alten Kaufmanns überlebt hat. Ihre Erfahrungen mit Männern als Liebespartner sind also katastrophal, weshalb davon auszugehen ist, dass ihr Liebesbedürfnis von Ambivalenzen und starken Rachewünschen durchzogen ist. Darüber hinaus ist anzunehmen, dass sie ein Bedürfnis nach Kontrolle und somit auch nach Schwächung des männlichen Gegenübers entwickelt haben könnte – jedenfalls läge das in ihrem Eigeninteresse. Die Vermutung, dass ihr Rachebedürfnis das für Mitja erträgliche Maß an kleinem Leid im Aushandeln der Beziehung ausgerechnet in einer Situation überschreiten könnte, in der er sich durch die Bitte um Vergebung als von ihr abhängig, verletzlich und damit eigentlich vertrauenswürdig zeigt, ist vor diesem Hintergrund alles andere als abwegig. Wer sich in einer abhängigen und relativ machtlosen Situation in Beziehung zu einer Person befindet, die er oder sie nicht verlieren möchte, neigt dazu, seine negativen Gefühle zu unterdrücken, um den anderen nicht zu vertreiben; sobald diese Gefahr aber gebannt scheint, weil die betreffende Person sich selbst als verletzlich und abhängig zeigt, können diese Gefühle umso leichter hervorbrechen. Wer zudem – wie Gruschenka – gelernt hat, jede Gelegenheit ergreifen zu müssen, um ihre ohnmächtige Situation in eine einigermaßen stabile, von ihr selbst kontrollierte Lage zu verwandeln, wird auch auf diese Gelegenheit nicht verzichten wollen, das Machtungleichgewicht in der Beziehung zu ihren Gunsten zu verändern. Wer sich dagegen in einer unabhängigen Situation befindet, wie die Männer, mit denen Mitja zu tun hat, kann sich Großzügigkeit „leisten“. Allerdings gilt auch in diesem Fall, was oben für das Alltagsbeispiel gesagt wurde: Die Rache (durch schmerzhafte Vorwürfe), die Mitja bei seiner Freundin antizipiert, dient aus ihrer Sicht durchaus dem Zweck, Verzeihen zu ermöglichen. Im Unterschied zu Lazares Interpretation der kleinen Verletzungen, die ihm seine Mitarbeiterinnen zufügten, geht Mitja jedoch davon aus, nicht nur mit berechtigten, sondern auch mit unfairen und maßlosen Vorwürfen überhäuft zu werden, was wiederum die Gefahr birgt, dass die Rache das, was sie ermöglichen soll – den Konflikt durch eine Ausgleichung der Machtverhältnisse und eine wechselseitige Anerkennung als gleich zu beenden – nicht erreicht, sondern neues Ressentiment erzeugt.

Kommen wir zum dritten Beispiel, der Screwballkomödie The Lady Eve von Preston Sturges, in der die edukative Dimension der Verbindung von Liebe, Rache und Verzeihen vielleicht am konsequentesten entwickelt wird. Der Film handelt von der Rache einer Frau namens Jean (Barbara Stanwyk) an ihrem Geliebten Charles (genannt Hopfie, gespielt von dem jungen Henry Fonda): einem reichen und zu Beginn naiv-dünkelhaften Erben einer Brauereidynastie, den sie auf einem Ozeandampfer kennenlernt, indem sie ihren Fuß ausstreckt und ihn gezielt zu Fall bringt. Es folgt eine schnelle Annäherung beider, während der sie ihn vor den Tricks ihrer Gaunerkumpane (Vater und väterlicher Freund) rettet, und eine demütigende Trennung, nachdem sie von seiner Umgebung als Mitglied der Halbwelt und nicht der bürgerlichen Gesellschaft entlarvt worden war. Die anschließende Szene, in der Jean Rache schwört, veranschaulicht exemplarisch Hannah Arendts Einschätzung, dass es die Rache und nicht etwa das großzügige bedingungslose Verzeihen ist, „das dem anderen immer nahe bleibt und die Beziehung nicht abbricht“ (Arendt 2016, 3). Es sind keineswegs liebevolle Gefühle, sondern der zornige Wunsch, es ihm heimzuzahlen, der es Jean unmöglich macht, den Kontakt zu ihrem Ex aufzugeben – und der sich schließlich nach gelungener Rache auch wieder in Mitgefühl und Liebe verwandeln kann. Wie der Regisseur und Drehbuchautor Preston Sturges offenkundig wusste, sind es oft die negativen Gefühle, die Paare besonders aneinanderbinden. Im Fall von Jean sind Rache und Liebe jedenfalls nicht voneinander trennbar. Da der Grund der Trennung darin lag, dass Hopfie den Gegenstand seiner Liebe idealisierte und der realen Frau, sobald sie sich als Falschspielerin herausstellte, nicht mehr vertrauen konnte, rächt sie sich, indem sie eine Doppelexistenz annimmt und in die Rolle einer nach den Maßstäben seiner Gesellschaft idealen Frau schlüpft: der Lady Eve, einer Dame aus der allerbesten englischen aristokratischen Gesellschaft. In dieser Rolle heiratet sie ihn, um dem entsetzten Hopfie in der Hochzeitsnacht, die sie im Zug verbringen, eine unendlich lange Liste von früheren Liebhabern zu gestehen, bis er schließlich verzweifelt den Zug anhält, im strömenden Regen abspringt und einen schmutzigen Abhang hinunterrutscht. Mit dieser Rache ist aber nicht nur eine Leidzufügung, sondern auch eine Education Sentimentale (auf seiner Seite) verbunden: erst durch den emotionalen Schock kommt Hopfie dazu zu begreifen, was sie ihm schon zu Beginn ihrer Bekanntschaft zu erklären versucht hat: „Du hast ja keine Ahnung von Frauen. Die besten sind nicht so gut, wie du glaubst, und die schlechten sind nicht so schlecht – nicht annähernd so schlecht.“ Jeans Rache ist ganz darauf ausgerichtet, dass er diese Botschaft versteht. Dass die Botschaft in der Tat angekommen ist, obgleich er nicht realisiert, dass es sich um dieselbe Frau handelt, und seine schreckliche Erfahrung daher auch nicht als Rache verstehen kann, zeigt sich in der letzten Szene, mit der zugleich deutlich wird, dass auch sie ihm verziehen hat: sie begibt sich wieder in Gesellschaft ihres Falschspieler-Vaters und ihres gemeinsamen Komplizen auf einen Ozeandampfer, auf dem Hopfie in Richtung Amazonas flieht, wo sie ihm erneut ein Bein stellt, um ihn zu Fall zu bringen; woraufhin er er augenblicklich in Begeisterung gerät, sie umarmt, sobald er wieder auf seinen Füßen steht, Unmengen von Champagner für ihren betrügerischen Vater bestellt, und sie entschieden aus dem Raum zu seiner Kabine führt.

Diese Beispiele verdeutlichen, dass wir - entgegen der traditionellen Opposition von Rache und Vergebung - in unserer Alltagspraxis und in der literarischen Fiktion der Rache durchaus eine produktive Funktion für die Ermöglichung des Verzeihens zuschreiben. Daran könnten sich viele Fragen anschließen, die hier nicht beantwortet werden können - etwa die Frage, inwieweit Sinn und Berechtigung von Rache an ihre kommunikative Funktion in solchen Prozessen gebunden sind und wie sich die Botschaft der Rache von der Botschaft der Strafe unterscheidet. Wichtig wäre auch die Frage nach den Grenzen einer prima facie legitimen Rache. Denn eine Kultur, in der einerseits Rache geleugnet wird, andererseits aber gerade deshalb Rachepraktiken - etwa mit den Mitteln der sozialen Medien - exzessive und destruktive Formen annehmen können, ist keine gute Rachekultur.