Wozu bin ich moralisch verpflichtet und was kann nun wirklich keiner von mir verlangen? Ist es besonders lobenswert, wenn ich mehr leiste? Und bin ich immer zur Dankbarkeit verpflichtet, wenn mir jemand etwas Gutes tut, oder hat das seine Grenzen? Außergewöhnliche Situationen, die mit besonderem Einsatz oder Risiko verbunden sind, werfen diese Fragen genauso auf wie freundliche Gesten oder auch familiäre Beziehungen. Aber wo beginnt die Mehrleistung, und ist die Schwelle für alle gleich?

In unserer moralischen Urteilspraxis werden manche Handlungen als eine solche Mehrleistung (also als in hohem Maße moralisch wertvoll, aber dennoch nicht geboten) betrachtet. Die Moralphilosophie bezeichnet sie als ‚supererogatorisch‘, abgeleitet von lat. super für ‚oberhalb‘, ‚über‘ und erogare ‚verteilen‘, ‚spenden‘. Nachdem die scholastische Kategorie der opera supererogationis mit der Reformation in Vergessenheit geraten war, findet eine breite philosophische Auseinandersetzung mit dem Konzept der ‚Supererogation‘ erst wieder ab Mitte des 20. Jahrhunderts statt. Angestoßen wurde diese Debatte durch die Kritik J.O. Urmsons. In seinem Aufsatz „Saints and Heroes“ (1958) weist er darauf hin, dass die moderne Moralphilosophie sich nur auf das Erlaubte, das Gebotene und das Verbotene konzentriert. Mit dieser Dreiteilung würden jedoch die außergewöhnlichen Taten von ‚moralischen Heiligen und Helden‘ nicht angemessen erfasst (vgl. ebd., 206 ff.). Entsprechend seien sämtliche moderne Moraltheorien zurückzuweisen, so sie sich nicht um eine weitere Handlungskategorie ergänzen ließen: ‚supererogatory acts’. Obgleich der Begriff nur ein einziges Mal in diesem Aufsatz fällt, hat er sich innerhalb der Moralphilosophie für all jene Handlungen eingebürgert, die als moralisch gut, jedoch nicht als moralisch geboten gelten.

Auch inhaltlich ist die Supererogationsdebatte bis heute durch zentrale Anliegen Urmsons geprägt: Strittig sind beispielsweise die Definition der Kategorie der Supererogation, ihre theoretische Begründung und die Kritik an der modernen Moralphilosophie. Darüber hinaus wird die Frage diskutiert, inwiefern Supererogateur:innen als moralische Vorbilder fungieren können bzw. sollten. Auch in Debatten der Angewandten Ethik hat die Kategorie Eingang gefunden. Hierbei wird sie nicht zuletzt genutzt, um sich von allzu anspruchsvollen Forderungen im Namen der Moral abzugrenzen.

Was als Pflichterfüllung, freiwillige Mehrleistung oder gar als heilig oder heroisch verstanden wird, ist in unserer Urteilspraxis jedoch auch durch Geschlechterrollen und die daran geknüpften Handlungserwartungen geprägt. Es ist daher fraglich, ob die vermeintlich neutrale Schwelle wirklich für alle gleich ist. In diesem Sinne hat etwa J.J. Thomson dafür argumentiert, dass ein Abtreibungsverbot Frauen abverlangen würde, eine gute Samariterin zu sein. Dies sei aber ungerechtfertigt, weil das moralisch nicht gefordert werden darf und weil es sich um eine Erwartung handele, die man in anderen Fällen nicht habe (Thomson 1971). Aber obwohl unsere Vorstellung davon, wer zu was verpflichtet ist, zweifellos stark von Rollenbildern geprägt und keineswegs ‚genderneutral‘ ist (vgl. Baron 1987; Calhoun 1989; Held 1998; Holroyd 2021), hat die Moralphilosophie diesen Aspekt bislang mit Blick auf Supererogation weitgehend ausgespart: Eine systematische Auseinandersetzung mit dem Konzept der ‚Supererogation‘ aus feministischer Perspektive stellt bislang ein Forschungsdesiderat dar (vgl. Naumann et al. 2023) – und das, obwohl die Probleme hier besonders deutlich zutage treten. In diesem Themenschwerpunkt werden daher unter Rekurs auf theoretische und methodische Ressourcen der feministischen Philosophie einige Herausforderungen und Potentiale skizziert, die sich aus diesem Befund für die Supererogationsforschung ergeben.

Hinsichtlich der näheren Bestimmung der Kategorie der ‚Supererogation‘ besteht weitgehend Einigkeit, dass zwei Kriterien erfüllt sein müssen: Die Handlung muss optional und moralisch wertvoll sein. Darüber hinaus wird häufig davon ausgegangen, dass sie mit der Aufopferung eigener Interessen zum Wohle anderer einhergehen müsse. Vor diesem Hintergrund fanden daher Supererogationstheorien bereits früh Beachtung in Diskursen über eine ‚spezifisch weibliche Moral‘, insbesondere mit Blick auf Fürsorgebeziehungen. Diese Tradition der Auseinandersetzung mit Supererogation schlägt sich auch in den Beiträgen zu diesem Themenschwerpunkt nieder. Aus feministischer Perspektive stellt sich dabei insbesondere die Frage, welche Rollenerwartungen bereits in die Argumentationsstrukturen eingeschrieben sind und wann dabei (häufig) positive konnotierte altruistische Fürsorgemotive in überfordernde (problematische) Aufopferung umschlagen.

Im Anschluss an Urmson gelten ‚heroische und heilige Taten‘ als paradigmatische Fälle von Supererogation. Dabei ist schon bei Urmson auffällig, welche Beispiele gewählt werden, um diese Taten zu illustrieren. Es ist einerseits von einem Soldaten die Rede, der sich für seine Kameraden opfert, und andererseits von einer unverheirateten Tochter, die sich entscheidet, ihren kranken Vater zu pflegen: ‚Heldentum‘ und ‚Heiligkeit‘ werden hier offensichtlich in geschlechtstypisierenden Bildern gezeichnet. Auch in der Praxis ist festzustellen, dass Geschlechterrollen die Zuschreibungen von Heldenhaftigkeit und Heiligkeit beeinflussen. Umgekehrt haben deren Figurationen Rückwirkungen auf Geschlechterverständnisse, weil die entsprechenden Narrative diese Rollen (mit)verhandeln (vgl. Bröckling 2020, 36-40). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es überhaupt ein genderneutrales Verständnis von ‚Supererogation‘ geben kann und was aus der Antwort auf diese Frage folgt.

FormalPara Marie-Luise Raters

greift in ihrem Beitrag „Von der Tochter, die ihren Vater pflegt. Das Argument der Supererogation für eine feministische Ethik“ Urmsons Beispiel der unverheirateten Tochter auf und überträgt dieses auf heutige Verhältnisse. Denn auch heute, so die Ausgangsthese, wird häusliche Pflege oftmals noch als Frauenpflicht betrachtet. Demgegenüber zeigt sie erstens, dass es für eine solche geschlechtsspezifische Forderung keine guten Gründe gibt. Zweitens sei, trotz des moralischen Werts häuslicher Pflege, fraglich, ob es überhaupt eine grundsätzliche Pflicht dazu gibt. Demgegenüber argumentiert sie dafür, dass es einerseits Fälle gibt, in denen häusliche Pflege vernünftigerweise keine Pflicht darstelle, sondern als Supererogation zu betrachten sei und daher aufrichtige Anerkennung verdiene. Andererseits folge aus der Annahme, dass wir es nicht mit einer Pflicht zu tun haben, jedoch nicht, dass diese schon per se als verdienstvolle Supererogation zu gelten habe: Dies sei nämlich gerade dann nicht der Fall, wenn diese Aufgabe nicht freiwillig aus Motiven der Liebe und Zuneigung, sondern aus falschen Motiven wie mangelnder Selbstachtung oder sozialem Druck übernommen wird.

FormalPara Karoline Reinhardt

unterzieht in ihrem Beitrag „Die Grenzen der Pflicht und die Grenzen der Supererogation“ im Ausgang von Urmsons paradigmatischen Fällen der Heiligkeit und Heldenhaftigkeit die in der Supererogationsdebatte verwendeten Beispiele einer feministischen Analyse. Sie argumentiert, dass diese Beispiele oft mit (impliziten) Annahmen darüber verwoben sind, wer die Akteur:innen sind, die diese Handlungen ausführen, und dass diese Annahmen in hohem Maße an konventionelle und stereotype Geschlechterrollen gebunden sind. Weiterhin zeigt sie, dass in dieser Debatte die Leistungen von Frauen* im Besonderen oft naturalisiert und marginalisiert werden. Schließlich werde bei einer genauen Betrachtung der Beispiele deutlich, dass die Kategorie der Supererogation bis heute häufig mit normierenden Vorstellungen darüber verbunden ist, was von jemandem erwartet werden kann und was nicht. Die Analyse der Beispiele hat dabei Implikationen für die Kategorie der Supererogation selbst, welche sie in ihrem Beitrag herausarbeitet.

FormalPara Tatjana Tömmel

wendet sich in ihrem Beitrag „Pflicht, Supererogation oder Pflicht zur Supererogation? Zum ethischen Status elterlicher Fürsorge“ einem innerhalb der Superogationsdebatte bislang eher unterrepräsentierten Thema zu: Obwohl supererogatorische Akte eine große Affinität zu der selbstlosen Fürsorge haben, die nach weit verbreiteter Auffassung die Haltung von Eltern auszeichnet, wurde der Status der Elternschaft innerhalb der Supererogationstheorie kaum diskutiert oder sogar explizit ausgeklammert. Tömmel möchte diese Lücke schließen und diskutiert in ihrem Beitrag den normativen Status der elterlichen Fürsorgearbeit. Dabei steht für sie die Frage im Mittelpunkt, ob die elterliche Fürsorgearbeit in die Kategorie des Supererogatorischen oder des Obligatorischen fällt – oder sich im Zwischenbereich bewegt. Sie argumentiert dabei für vier Thesen: Kinder zu bekommen sei supererogatorisch. Außerdem seien mit der Übernahme der Elternrolle weitreichende spezifische Verpflichtungen zur Wohltätigkeit verbunden, die außerhalb der Eltern-Kind-Beziehung als supererogatorisch gelten würden. Weiterhin können bestimmte elterliche Handlungen und Haltungen (quasi-)supererogatorisch sein. Schließlich seien Eltern paradoxerweise zu supererogatorischen Handlungen verpflichtet bzw. gezwungen.

Die Diskussion wird eingeleitet von Hilge Landweers Beitrag „Aufopferung als Gabe ohne Maß?“. In diesem schlägt sie vor, häusliche Pflegesituationen und -beziehungen mithilfe der philosophischen Gabetheorie zu betrachten mit dem Ziel, aus dieser Perspektive bestimmte Besonderheiten und Probleme dieser Beziehung besser herausarbeiten zu können. Im Mittelpunkt stehen dabei Erwartungshaltungen, Ungleichgewichte und insbesondere die zwischenmenschlichen Dimensionen von Pflege, die sich nicht ökonomisch berechnen lassen. Landweer schlägt vor, dass eine bewunderungswürdige Pflegebeziehung neben gegenseitigem Einvernehmen auch dadurch charakterisiert ist, dass die pflegende Person ihre eigenen Grenzen kenne und einhalte. Dieser Debattenbeitrag wird von Clarissa Melzer, Johanna Sinn, Marion Seiche und Marie-Luise Raters in Kurzkommentaren eingeordnet und kontrovers diskutiert. In einer Replik geht Hilge Landweer auf die formulierten Einwände ein.

In den Debatten um Supererogation wird neben ‚heroischen und heiligen Taten‘ auch diskutiert, ob Handlungsweisen wie Wohltätigkeit, Verzeihen und Dankbarkeit supererogatorisch seien. Doch auch hier lassen sich Normalisierungs- und Naturalisierungstendenzen feststellen: Die normativen Erwartungen und moralischen Beurteilungen solcher und ähnlicher Handlungsweisen unterscheiden sich stark, je nachdem welcher sozialen Gruppe die betreffende Person angehört. Über die in diesem Themenschwerpunkt versammelten Beiträge hinaus wäre es daher interessant zu untersuchen, welche systematischen Implikationen dieser Befund hat. Aus feministischer Perspektive drängt sich der Eindruck auf, dass Mitgliedern marginalisierter Gruppen tendenziell mehr Wohltätigkeit abverlangt wird als anderen; dass von ihnen eher erwartet wird, dass sie ihnen zugefügtes Unrecht verzeihen; und dass sie sich als besonders dankbar erweisen sollten, wenn jemand ihnen gegenüber bestimmte Pflichten erfüllt, weil sie in diesem Fall gesellschaftlich als über das geschuldete hinausgehend verstanden werden (vgl. Calhoun 1989, 403 f.). Dieser Befund gibt Anlass zu der Frage, inwiefern die Anwendung der Kategorie der ‚Supererogation‘ nicht nur genuin moralische, sondern auch affektive und epistemische Ungerechtigkeiten fortschreibt. Was aus solchen Analysen für die Tragfähigkeit und die Bestimmung der Kategorie folgt, gilt es weiter zu diskutieren (vgl. Naumann et al. 2022).

Außerdem wäre es lohnenswert, einige Stränge der feministischen Erkenntnistheorie mit Hinblick auf Themen der Supererogationsdebatte weiterzuverfolgen: Dort wird oftmals die These vertreten, dass sich Mitglieder unterdrückter Gruppen in einer privilegierten epistemischen Situation befinden, insofern sie die Mechanismen ihres Unterdrücktseins besser durchschauen als andere. Umstritten ist, ob sich hieraus spezielle moralische Pflichten ergeben und worin diese gegebenenfalls begründet sind. Handelt es sich um Hilfspflichten gegen andere (Vasanthakumar 2018) oder um Pflichten gegen sich selbst (Hay 2011)? Das zieht weitere Fragen nach sich, etwa zum Zusammenhang von (Nicht-)Wissen und moralischer Verantwortung oder auch danach, ob Handlungen supererogatorisch sein können, selbst wenn sie im Eigeninteresse liegen (vgl. Kawall 2003). Zu diskutieren wäre außerdem, ob sich aus der unterschiedlichen epistemischen Situierung auch spezielle epistemische Pflichten ergeben, oder auch, ob es ‚epistemische Held:innen‘ gibt. Folgt man José Medina, so handelt es sich hierbei um Personen, die trotz epistemischer Unterdrückung epistemische Tugenden entwickeln und so zu gesellschaftlichen Transformationen beitragen (Medina 2013, 186 ff.). Diesbezüglich wäre sowohl zu prüfen, ob sich Überlegungen aus der Supererogationsdebatte für eine Auseinandersetzung mit diesem Held:innentypus fruchtbar machen lassen, als auch, ob sich diesem in Bezug auf die Supererogationsdebatte systematisch etwas abgewinnen lässt (vgl. Naumann et al. 2023, 285 ff.).

Der Themenschwerpunkt „Supererogation: Feministische Perspektiven“ ist aus dem gleichnamigen Satellitenworkshop der GAP.11 am 16. und 17. September 2022 hervorgegangen. Wir danken allen Teilnehmer:innen für Ihre wertvollen Diskussionsbeiträge und freuen uns, dass aus diesem Workshop vielfältige Kooperationen an den Schnittstellen von Supererogationsforschung und feministischer Philosophie entstanden sind. Der Workshop wurde gefördert von der Gesellschaft für Analytische Philosophie, der Society for Women in Philosophy, dem Büro für Gleichstellungsfragen der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg und dem Koordinationsbüro für Chancengleichheit der Universität Potsdam. Wir möchten uns für die großzügige Unterstützung der Veranstaltung bedanken.