1 Einleitung

Man kann Phänomenologie in theoretischer oder in performativer Grundeinstellung betreiben. Die Philosophie Husserls ist das unüberbietbare Paradigma der „reinen“ theoretischen Phänomenologie, deren kategorialer und methodischer Apparat tief in die neukantische Erkenntnistheorie hinabreicht (Adorno 1938, Surau-Ott 2022). Für seine transzendental-logische Reinheit und Strenge bezahlte Husserl allerdings einen hohen Preis. Das performative Betreiben von Phänomenologie kam kaum über drei rote Punkte auf der Kaffeekanne, Christbaumkugeln und das frische Grün des Rasens hinaus. Husserl sah sich selbst außerstande, bis zu einer Ästhetik, einer Sprachphilosophie, einer politischen Philosophie und einer Ethik vorzudringen.Footnote 1 Der folgende Beitrag möchte Naurphänomenologie performativ betreiben beziehungsweise von den entsprechenden Versuchen sprachlich Rechenschaft geben.

Von Husserl stammt aus dem (immensen) Nachlass eine Bemerkung, in der er den Leib mit der Perspektive der ersten Person verbindet. „(…) ich selbst muß leiblich als Nullpunkt oder Nullglied der Welt, irgendwelcher Dinge schon für mich dasein, um einen offenen Horizont von unwahrgenommenen und an sich für mich daseienden Dingen haben zu können“ (1920, zitiert aus MS D 3 bei Bernet, Kern und Marbach 1996, S. 128). Bernet et al. interpretieren Husserl wie folgt: „Der als ‚Nullpunkt der Orientierung‘ gefaßte Leib ist ein ‚Organismus‘ wahrnehmungsmäßiger Vermöglichkeit, der sich aus verschiedenen Wahrnehmungsorganen bzw. verschiedenen kinästhetischen Systemen aufbaut“ (ebd.).Footnote 2 Entscheidend ist, was sich bei diesen organischen Wahrnehmungen phänomenal wie ereignet. Auch die Fremdwahrnehmung erstreckt sich in der Konzeption der Einfühlung auf die leibliche Dimension. „Der der Einfühlung zugrundeliegende Akt ist die Wahrnehmung eines anderen Körpers, der aufgrund der Ähnlichkeit zu meinem eigenen Leib ebenfalls als Leib aufgefasst werden kann“ (Surau-Ott 2022, S. 24). Husserl führt den Gedanken der Einfühlung bis zur Vergemeinschaftung weiter, sodass Einfühlung Grundlage von Intersubjektivität wird. Die Einfühlung in die Erlebniswelt des Anderen sollte also bis zur Vergemeinschaftung führen und so eine Sozialphänomenologie ermöglichen. Husserl hat dies nicht ausgeführt.

Der Schlüsselbegriff, der die theoretische mit der performativen Seite der Phänomenologie verbindet, ist der Begriff der Erfahrung. Erfahrungen sind, subjektphilosophisch gesprochen, markante und distinkte Einheiten innerhalb eines kontinuierlichen Bewusstseins- bzw. Erlebnisstroms, die es aus bestimmten Gründen wert erscheinen könnten, anderen mitgeteilt zu werden. In Erfahrungen zeigt sich etwas als für uns Gegebenes, eben als „phainomenon“. Erfahrung „an sich“ gibt es nicht; alle Erfahrungen sind besondere Erfahrungen von Etwas, seien es leibliche, ästhetische, moralische oder politische Erfahrungen.

Adornos Idee einer unzensierten Erfahrung verbindet Kritische Theorie und Phänomenologie. Im Grunde war Adorno näher an der Phänomenologie als seine Metakritik an Husserl (1938) bei oberflächlicher Betrachtung erwarten ließ. Adorno will ja Husserls Phänomenologie im „Geist von Dialektik (…) erörtern“ (1938, S. 12). Schon die „Minima Moralia“ (1951) enthalten Darlegungen von Erfahrungen aus dem beschädigten Leben im Exil. In der „Philosophischen Terminologie“ (1973) legt Adorno sein Konzept unzensierter Erfahrung dar, das in der „Negativen Dialektik“ (1966) und zuletzt in der „Ästhetischen Theorie“ (1970) verfeinert wurde, wo Adorno auf das Naturschöne als Paradigma des Nicht-Identischen reflektiert. Adorno: „Es gibt keine Erfahrung, in der nicht ein Erfahrenes wäre. (…) Den Weg der Philosophie, die nicht bloß Betrieb und Broterwerb ist, könnte man die Objektivierung jener ursprünglichen Erfahrungen nennen“ (1973, S. 85). Entscheidend ist Adornos Kritik an der Unmittelbarkeit: „Der Fortgang der Erkenntnis (zeigt) das, was ich das Vermitteltsein der ursprünglichen Erfahrung genannt habe“ (1973, S. 86). Das „Nullglied des Leibes“ (Husserl) wäre somit ebenfalls immer schon ein höchst Vermitteltes. Bei Adorno will Erfahrung, oder besser: will das Erfahrene selbst seinen eigenen Ausdruck finden und tendiert daher zur Kunst. Die Affinität der Philosophie zur Kunst gründet für Adorno im Streben von unzensierter Erfahrung zum (authentischen) Ausdruck. Dies erklärt die eigentümliche Affinität der Phänomenologie, die wirkliche Erfahrungen sprachlich präsentiert, zur Literatur.

Der Erfahrungsbegriff spielt schon bei Hegel eine gewichtige Rolle; die „Phänomenologie des Geistes“ handelt ja von der Erfahrung des Bewusstseins mit sich selbst, d. h. des Selbstbewusstseins.Footnote 3 So schreibt Hegel in der „Enzyklopädie“: „Das System des inneren Empfindens in seiner sich verleiblichenden Besonderung wäre würdig, in einer eigentümlichen Wissenschaft, - einer psychischen Physiologie, ausgeführt zu werden“ (Enzyklopädie, zitiert bei Rappe S. 23). Für Hegel zählen die Eingeweide und Organe nicht einfach dem Körper zu, sondern sie „bilden zugleich ein System der Verleiblichung des Geistigen und erhalten hierdurch noch eine ganz andere Deutung“ (ebd.). Man kann bei Hegel sogar die Unterscheidung Plessners zwischen „Körper haben“ und „Leib sein“ der Sache nach angelegt finden, die sich dann explizit bei Husserl findet und über Plessner zum intellektuellen Gemeingut wird. Diese Unterscheidung wird im Folgenden beibehalten, wobei der Schwerpunkt auf der Seite des Leibes liegt. Die von Hegel avisierte, aber nicht ausgeführte psychische Physiologie greift Schmitz als „Topographie des Leibes“ auf. Festzuhalten ist, dass in der Phänomenologie sinnlich-leibliche Erfahrungen mit dialektischen Bewegungen des Geistes vermittelt werden können – und sollen. Das „Erfahrene“ wäre dabei immer vermittelt.

Die Phänomenologie Husserls wurde zur Leib- (Schmitz) und zur Naturphänomenologie (Böhme) weiterentwickelt. Die Leibphänomenologie von Hermann Schmitz aktualisiert beide Dimensionen von Phänomenologie, nämlich die theoretische und die performative, wie am Phänomen des „halb-dinglich“ Atmosphärischen dargelegt werden kann. Die Frage nach dem ontologischen Status von Atmosphären zählt zur theoretischen, das Berichten darüber, wie bestimmte Atmosphären in Beschlag nehmen, zählt zur performativen Dimension einer schmitzschen Leibphänomenologie. Das „Alphabet der Leiblichkeit“ (Schmitz) liefert den kategorialen Apparat, mit dessen Hilfe leibliche Phänomene erfasst und mitgeteilt werden können.Footnote 4Leiblich ist, was jemand in der Gegend (keineswegs, wie z. B. am Blick deutlich wird, immer in den Grenzen) seines materiellen Körpers von sich selbst (als zu sich selber, der hier und jetzt ist, gehörig) spüren kann, ohne sich der fünf Sinne (Sehen, Tasten, Hören, Riechen, Schmecken) und des aus ihrem Zeugnis abgeleiteten perzeptiven Körperschemas (der habituellen Vorstellung vom eigenen Körper) zu bedienen. Als Leib kann dann das Ganze der leiblichen Regungen mit seiner (…) räumlichen und dynamischen Beschaffenheit verstanden werden“ (Schmitz, 2011, Der Leib, S. 5).

Der Leib ist dann für Schmitz „der Inbegriff der leiblichen, d. h. am eigenen Leib spürbaren Gegenstände“ (Schmitz 1968, S. 5). Der Leib ist Spür-Sinn; salopp gesagt: der Spürhund des Geistes. Im Grunde haben wir es also mit einer dreistelligen Relation aus Körper, Leib und Geist zu tun, wobei die Reflexion des Geistes auf Körperliches zu Leibbewusstsein führt.

Gernot Böhme hat Schmitz’ Ansatz zu einer Naturphänomenologie (NP) spezifiziert (Böhme 1989, 2016).Footnote 5 1989 formuliert Böhme dies so: „Phänomenologie des Leibes wäre also genau nur dann zugleich Phänomenologie der Natur, wenn sie in einer Situation partieller Distanzierung vom Leib (…) betrieben wird, d. h. sie müßte, in Schmitzscher Terminologie gesprochen, eine Phänomenologie des körperlichen Leibes sein“ (1989, S. 13). 2016 heißt es knapp: „Der Leib (…) ist das ausgedehnt leibliche Spüren selbst“ (2016, S. 103). Die Bestimmung von 1989 ist vorzuziehen, da sie impliziert, dass der Leib als Natur gerade dann erfahren wird, wenn er „uns zugleich dinglich und in gewisser Weise fremd gegenübertritt“ (1989, S. 36). „Phänomenologie der eigenen Natur wird zur Phänomenologie des körperlichen Leibes“ (ebd.).

Das leibliche Spüren von Natürlichem außer uns ist jedenfalls der methodische Leitfaden der NP. Der Leib ist dabei keine reine Natur, sondern, wie es auch die gender-Theorien sehen, kulturell vermittelt. Die Dialektik von Körper und Leib durchkreuzt die Versuche, Leib einfach als Natur zu verstehen. Der Prozess der Zivilisation (Norbert Elias 1980) zivilisiert auch das Körper/Leib-Verhältnis. Und das „Sich-Spüren“ setzt ein „Mich“ der Erfahrung voraus. „Erstens muß die Leibphänomenologie zu einer Phänomenologie des körperlichen Leibes erweitert werden, und zweitens muß die Natur, die wir nicht selbst sind, insofern thematisiert werden, als sie leiblich spürbar wird“ (Böhme 1989, S. 37). Diese Erweiterungen gegenüber Husserl und Schmitz eröffnen konzeptionell viele Möglichkeiten, NP zu betreiben. Deshalb ist NP notwendig „unrein“ und hat es methodisch mit Mischverhältnissen zu tun, die in unterschiedliche Richtungen ausschlagen können. Daher darf in der Artikulation auch von Körperlichem und von Naturwesen die Rede sein (und nicht nur von deren Gegebenheitsweisen).

Die Leibphänomenologie macht unter dieser Voraussetzung sensitiv für leibliche Phänomene und sie schult die sprachliche Präzision, diese zu beschreiben, d. h. über leibliches Verspüren zu berichten, sei es Durst, Schmerz, Schwitzen, sexuelle Erregung, Erschöpfung, Sättigung, Rausch, Harndrang, Erröten, Zittern usw. Diese Berichte sind Schilderungen in der Geltungsdimension der Aufrichtigkeit.Footnote 6

Dabei ist der bei Böhme investierte Naturbegriff nicht derjenige der Wildnis; auch in kulturell überformten Landschaften und selbst in urbanen Räumen lässt sich Naturphänomenologie betreiben. So kann man beispielsweise Gartengerüche phänomenal zu erfassen suchen (Ott 2023a). Die NP setzt, wie die Leibphänomenologie, die Sinnlichkeit des Menschen voraus, ohne dabei ein Primat des Sehens anzunehmen, wie es die griechische Philosophie vertrat (etwa Aristoteles). Hegel hielt den Gehörsinn für ideeller als das Sehen. Das Gehör ist „noch ideeller (…) als das Gesicht“.Footnote 7 Die Hierarchie „Sehen-Hören-Schmecken-Fühlen-Riechen“ gilt in der NP jedenfalls nicht. Die fünf-fältige Sinnlichkeit ist nicht passiv, sondern sie lässt sich üben und schulen. Ihr kommt eine eigentümliche Aufmerksamkeit und Neugier zu. Als sinnliche Wesen sind wir zeitlebens irritierbar. Der Leib ist, um es zu wiederholen, kein Stück unmittelbarer Natur, sondern kulturell geformt, codiert und in die dreistellige Relation eingespannt, was an Kindheitsgerüchen, Schmerzschwellen, Ekelschranken, Süchten und Begierden gezeigt werden könnte. Leibliche Erfahrung ist vermittelte Unmittelbarkeit, die ipso facto zum sprachlichen Ausdruck drängt. Jemand betreibt Naturphänomenologie, indem er/sie sich auf sinnlich-leibliche Erfahrungen einlässt, um „Erfahrenes“ darlegen zu können.

NP ist axiologisch niemals neutral; der Indifferenzpunkt der Gleichgültigkeit ist erfahrungsarm. Sinnliche Erfahrung, so sie leiblich erfahren und sprachlich artikuliert wird, ist somit ipso facto axiologisch gehaltvoll, aber deontisch-normativ zunächst unbestimmt. Leibliche Erfahrungen können lustvoll und angenehm, aber auch schmerzhaft und abstoßend sein. Dies gilt in unterschiedlichen Graden von Intensität.Footnote 8 Es könnte durchaus sein, dass es für NP einer basalen Wertschätzung des eigenen Leibes bedarf. Man muss seinen eigenen Körper-Leib als „künstlich und fein“ (NeanderFootnote 9) wahrnehmen und ihn wertschätzen auch in seiner Endlichkeit und Unvollkommenheit.Footnote 10

Wir können anderen mitteilen, dass und wie wir etwas am eigenen Leib erfahren und verspürt haben. Aber wir müssen es nicht. In vielen Kulturen gelten Standards und Konventionen, die Gespräche über Körperliches und Leibliches verpönen. Das Sprechen über Leibliches ist ungewohnt und peinlich. Mitteilung von leiblicher Erfahrung ist scheinbar etwas Kontingentes und Nachträgliches gegenüber dem Eigentlichen der Erfahrung selbst. Im Prinzip können wir Erfahrungen für uns behalten. Dieses „Für-sich-behalten“ wäre eine „privatio“ der Erfahrung. Damit aber fasst man Erfahrung nach dem possessiven Modell eines Besitztums. Erfahrung und Erfahrenes werden zum Privatbesitz. Genau dadurch verfehlt man ihren performativen Sinn des „für andere mitgegeben sein“. Damit setzt sich aber das Grundproblem des methodischen Solipsismus Husserls gegen dessen Hoffnung auf Vergemeinschaftung fort. Im Rahmen einer Theorie kommunikativen Handelns (Habermas 1981) sind Erfahrung, Erfahrenes, Ausdruck und Artikulation ineinander vermittelt.Footnote 11 In diesem Rahmen wird Phänomenologie in Gegenrichtung zur „privatio“ betrieben, nämlich als Mitteilung an Andere. Der Erfahrungsschatz soll unser aller sein. Am Ende läuft alles Theoretisieren auf die Kunst hinaus, NP zu betreiben und ihr Was und Wie, d. h. Erfahrenes zu artikulieren.

Naturphänomenologie (NP) soll in diesem Beitrag innerhalb dieses Rahmens anhand von vier Paradigmata (Modellen) theoretisch und performativ durchgeführt werden: Biophilie (2. Abschnitt), Gesundheit (3. Abschnitt), deontische Erfahrungen (4. Abschnitt) und Klimaerfahrungen (5. Abschnitt). Diese Erfahrungen sind heterogen und stehen zunächst je für sich. Zu beachten ist, wie NP aus der Geltungsdimension der Aufrichtigkeit heraus die der Richtigkeit berührt, wie dies paradigmatisch in deontischen Erfahrungen geschieht.

2 Biophilie

Der Ausdruck „Biophilie“ stammt von Erich Fromm (1974). Biophilie ist der Nekrophilie entgegengesetzt, die sich nicht nur in der sexuellen Aberration, sondern auch im Umgang mit Waffen, Gift, Grabmälern, Maschinen usw. zeigt. Nekrophilie ist das Bestreben, Lebendiges in Totes zu verwandeln. Paradigma der Biophilie ist die leibliche Liebe, Paradigma der Nekrophilie die Hinrichtung. Die Biophilie weiß um die Nekrophilie als ihr feindliches Gegenüber.Footnote 12 Nichts trachtet die Nekrophilie eher zu vernichten als gelebte Biophilie.

Die biophile Neigungsstruktur manifestiert sich in Arten und Weise einer sinnlichen und tätigen Zuwendung zur (mehr oder minder überformten) Natur. Das Wort „philein“ steht für Formen des „etwas gerne mögen“, also für das, was Ökonomen Präferenzen nennen. Allerdings erlaubt uns die Phänomenologie eine qualitativ präzisere Erschließung des „gerne mögen“ als die Ökonomik (Ott & Reinmuth 2021). NP will biophile Naturerfahrungen detailgetreu artikulieren. Biophilie bedeutet, den Werthinsichten von Natur aufmerksam zugewandt zu sein. Wir verfügen hier auch über eine Fülle kulturgeschichtlichen Materials.Footnote 13 Es geht darum, die sinnlich-leiblich-körperliche Aufmerksamkeit der Natur zuzuwenden, also Natur in das Zentrum des Aufmerksamkeitshorizonts zu rücken.

Von dieser biophilen Neigungsstruktur entfremden sich Wilson (1984) zufolge die meisten Menschen in den letzten zwei Jahrhunderten mehr und mehr, obwohl Wilson glaubt, sie in den Tierwünschen der Kinder und selbst noch in Schwundformen wie Balkonpflanzen und Aquarien identifizieren zu können. „The destruction of the natural world in which the brain was assembled over millions of years is a risky step“ (Wilson 1984, S. 121). Die modernen Menschen haben sich von Natur absentiert und distanziert. Auch viele Umweltintellektuelle leben in urbanen, artifiziellen und zunehmend digitalen Milieus. Naturbeherrschung und Distanzierung bzw. Absonderung von Natur sind zwei Seiten einer Medaille. Abgesondert von Natur lässt es sich im Normalbetrieb der Zivilisation häufig angenehm leben.Footnote 14

Es geht in der NP dagegen nicht um Absonderung von, sondern um leibliche Zuwendung zur Natur, d. h. um das Wahrnehmen von Körperlich- und Leiblichkeit in der Interaktion mit Natur. Dies verleiht ihr das Moment des rebellisch Anti-Zivilisatorischen. Die menschlichen Sinne sind, wie gesagt, keine passiven Einfallstore für Außen-Reize, die als Stimuli wirken, sondern es sind Organe, deren Leistungen zwar im Alter abnehmen, die sich aber auch schulen lassen. Hierbei können Menschen der Moderne viel von indigenen Völkern lernen. Die basale menschliche Praxis ist „foraging“; und diese Praxis ist von vielfältigen Naturkontakten begleitet. Das „etwas in den Mund nehmen und schmecken“ ist primordial. Etwas mit der Hand zum Mund zu führen, verbindet Begreifen und Versuchen. Thoreau (1854) hat auf seinen Streifzügen durch die Wälder nahe Concords vielerlei in den Mund genommen, sogar Morast. Menschen erfahren nicht nur Sättigung, sondern auch Wohlgeschmack und Berauschung. Seit fast 10.000 Jahren produzieren Menschen alkoholische Getränke (Hockings & Dunbar 2020). Wohl noch länger konsumieren sie Pflanzen und Pilze mit psychoaktiven Eigenschaften. NP kann also nüchtern oder berauscht betrieben werden.

Menschen haben seit je den Gesang der Vögel und das Rauschen des Windes und der Wellen gehört; sie haben Felle und Federn betastet und an Blüten gerochen. Ansätze der „cognitive archaeology“, die paläolithische Jagdtechnologien rekonstruieren (Wadley 2019, Lombard 2019), zeigen auf, wie viel Menschen über das Verhalten von Großherbivoren wussten.Footnote 15 Die frühesten Kunstwerke zeigen Jagdszenen und Sexuelles. Wahrscheinlich haben Menschen und Wölfe im Paläolithikum gemeinsam gejagt. Die spätere Domestikation von Tieren führt zu engem Zusammenleben von Menschen mit Hunden, Ziegen, Kamelen, Schafen, Hühnern und anderen Arten (Cassidy & Mullin 2007). Manche Tiere wie das Pferd werden zu militärischen und sportlichen Zwecken gezüchtet. Reiten ist eine leibliche und kommunikative Form der Interaktion mit einem Naturwesen. Seit immerhin 5000 Jahren leben Menschen auch in Gärten, die von Nutz- und Zierpflanzen dominiert werden. Dort betreiben sie mit allen Sinnen Hortikultur, die immer „schöner“ war als der Ackerbau, der freilich größere Ernten einbrachte. Der Gartenbau wurde im Klimaoptimum der römischen Antike zur hohen Kunst gebracht (Tietz 2015). Die vormoderne Lebensweise der meisten europäischen Menschen vollzog sich in den sogenannten Thünenschen Kreisen aus Haus und Hof, Garten, Streuobstwiese, Weide, Acker und Wald, wo sich „Fuchs und Hase gute Nacht sagen“.

Stephen Kellert (1997) hat die Biophilie-Hypothese (Wilson 1984) zu einem Komplex von Dispositionen entfaltet, Natur wertzuschätzen. Allerdings rechnet Kellert auch „dominionistic“ und „negativistic values“ zur Biophilie, wodurch die Biophilie-Hypothese gegen ihre Widerlegung immunisiert zu werden scheint. Man könnte nun die Freude darüber, ein widerspenstiges Tier zu zähmen, als dominionistisch-biophil interpretieren. Ähnlich schildern Stierkämpfer den Moment, wo sie dem Stier Auge in Auge gegenüberstehen. Fortes (2022): „Der Stierkampf ist etwas sehr Großes, denn er erfordert viel physische Stärke, künstlerische Ausdruckskraft und spirituelle Ausgeglichenheit“. Der Matador muss dem Stier frontal gegenübertreten „und im Augenblick des Tötens ist er selbst im höchsten Maße gefährdet“ (ebd.). Diese Grenzerfahrungen, in denen sich Biophilie und Nekrophilie mischen, sind für heutige Tierethiker*innen kaum noch nachvollziehbar, da sie nur die Seite der Grausamkeit sehen. Die Biophilie-Hypothese kann auch archaische Dispositionen freilegen, nicht nur nettes „greenery“. Der Versuch, der absoluten Negativität bzw. dem schieren Grauen noch etwas Positives abzuringen, findet sich bei Val Plumwood. In „Being Prey“ (1995) berichtet Plumwood, wie sie ins Maul eines Krokodils geriet und mit knapper Not entkam. Plumwood erklärt uns auch, warum sie selbst nach diesem Widerfahrnis Naturschützerin blieb.

Negativ sind Erfahrungen der schlechthinnigen Gleichgültigkeit und Amoralität der Natur, die sich atmosphärisch zeigt. Man erfährt im Hochgebirge, in der Wüste und auf hoher See die eigene Zwergenhaftigkeit am eigenen Leibe. Und die schmerzhafte Gleichgültigkeit der Natur. Man lese etwa die Beschreibung einer Übernachtung in der Kälte des Ben Hope bei Macfarlane (2015): „Dieser Ort war mir nicht feindlich gesinnt, das nicht. Aber ich war ihm gleichgültig, vollkommen und uneingeschränkt gleichgültig. (…) Die Nachhallzeit jener schwarzsilbernen Nacht auf dem Ben Hope würde für mich unendlich sein.“ Die Erfahrung der Indifferenz der Natur gegen all das, was für uns wertvoll ist, kann befreiend, aber auch erschreckend sein. Die „Furcht“ vor der Majestät der Natur ist sowohl Angst als auch Ehrerbietung. Scheu kann Abscheu oder Ehrfurcht sein. Es gibt viele ambivalente Grenzerfahrungen mit Natur, deren Ambivalenzen immer auch eine biophile Seite hätten. Diese negative Seite ist also nicht einfach nur die Immunisierung einer Hypothese gegen ihre Widerlegung, sondern hat im „fascinosum sive tremendum“ einen sachhaltigen Grund. Wir dürfen insofern den Menschen in seiner Leiblichkeit naturphänomenologisch nicht gleichsam zähmen wollen, wozu die Moral neigt.

Da die Biophilie-Hypothese wissenschaftlich zu sein beansprucht, muss sie sich freilich experimentell bestätigen lassen. Eine direkte Bestätigung wäre der Nachweis, Biophilie sei im biologischen Sine adaptiv. Hierzu liegen meines Wissens keine Studien vor. Es existieren allerdings Studien, die die Biophilie-Hypothese indirekt bestätigen, d. h. plausibilisieren (Kuo et al. 1998, Korpela et al. 2001). So neigen Menschen dazu, einen bestimmten savannen-ähnlichen Landschaftstyp ästhetisch positiv zu bewerten. Verweildauer in Kliniken unterscheidet sich je nach Ambiente der Klinik. Der Blick „ins Grüne“ wirkt positiv auf Genesung. Grünanlagen in der näheren Umgebung tragen zum Wohlbefinden bei und Stressabbau gelingt besser in ländlichen als in urbanen Milieus (Wells & Evans 2003). Die Wahl der Ziele für Erholungsurlaube kann ebenfalls als indirekte Bestätigung gedeutet werden. Levy (2003) hat gezeigt, dass die empirisch am besten gesicherten Aspekte der Biophilie-Hypothese dafür sprechen „that humans benefit from contact with a non-human world in ways that are reasonably called ‚aesthetic‘ and ‚spiritual‘“ (2003, S. 246). Der evolutionäre Ansatz Wilsons führt somit dazu, dass auch spirituelle Zugangsweisen gewürdigt werden.

Aus der biophilen Neigungsstruktur lässt sich zwar nicht der Schutz der gesamten Biodiversität ableiten, wie Wilson glaubt, aber doch eine Naturschutzperspektive eröffnen. Menschen sind aufgrund dieser Inklination zur Biophilie, als Naturwesen betrachtet, nicht nur die brutalen Unterwerfer und Bezwinger der Natur, sondern ihre Leiblichkeit konstituiert nicht-instrumentelle Zugangsweisen zur Natur. Biophilie wäre eine Neigungsstruktur, die uns leiblich zugleich mitgegeben und aufgegeben wäre. Sie wäre somit am eigenen Körper-Leib zu kultivieren, d. h. eine naturgeschichtliche Mitgift und ein ethischer Auftrag. Das volle Potential der Biophilie-Hypothese erschließt sich wohl erst dann, wenn die Hypothese nicht nur wissenschaftlich plausibilisiert, sondern darüber hinaus auch performativ von möglichst vielen Menschen gelebt wird. Wie biophil „wir“ Menschen „wirklich“ sein mögen, lässt sich szientifisch-objektiv nicht endgültig sagen. Auch in dieser Hinsicht sind Menschen nicht „festgestellt“ (Nietzsche).

3 Eudaimonistische Erfahrungen: Gesundheit

Um herauszufinden, was ChatGPT vermag, ließ ich im Februar 2023 das Programm eine Bachelor-Klausur im Fach „Umweltethik“ schreiben. Das Programm hätte die Klausur mit „schwach befriedigend“ bestanden. Eine Klausurfrage bezog sich auf die Bedeutungen, die eine Studentin aus eigener Erfahrung eudaimonistischen Argumenten beilegen könnte. ChatGTP antwortet, als künstliche Intelligenz habe es keine eigenen Erfahrungen und Vorlieben, sei aber gerne bereit, die eudaimonistische Argumente darzulegen. Was ChatGTP also nicht kann, ist, NP zu betreiben. ChatGTP ist erfahrungs-los.Footnote 16 Eudaimonistische Naturerfahrungen sind vielfältig und intensiv. Ihr Wert erschließt sich nur leiblichen und sinnlichen Wesen. NP ist die methodische Grundlage der umweltethischen Axiologie (Ott 2010). Dies betrifft vor allem die Werte, die in der Kategorie der eudaimonistischen Naturwerte versammelt sind (Ott 2016), wie Gesundheit, Ästhetik,Footnote 17 Heimat, Transformation u. a. Es verbietet sich, diese Werte im Stenogrammstil abzuhandeln. Ich fokussiere den Wert der Gesundheit.

Gesundheitsbezogene Umweltpolitik umfasst zwei Bereiche: a) Reduktion von Schadstoffen und b) Naturkontakte als Gesundheitsressource. Hinzukommen zwei Perspektiven auf Gesundheit 1) als objektive Messungen anhand von Bio-Markern und 2) als das leibliche Wohlbefinden. Daraus ergeben sich insgesamt vier Zugangsweisen. Richtig ist, dass in der Vergangenheit der Fokus bei 1a lag. Dieser Zugang ist der wissenschaftliche: Es wird Umweltmedizin betrieben. Eickmann (2016) verbindet diese vier Perspektiven.

Gesundheit ist das, was (Umwelt‑)Medizin voraussetzen muss, aber nur schwer bestimmen kann. Häufig scheint das psychosomatische Gesundheitsverständnis von Weizsäcker und von Uexküll vorausgesetzt zu werden. Ich würde auch die Salutogenese stärker betonen: Gesund ist, wer genesen kann. Gesundheit hat etwas mit Resilienz zu tun. Dies war ja auch die Intuition in Nietzsches Rede von „großer“ Gesundheit.Footnote 18 Hilfreich könnten Konzepte von „Individualisierter Medizin“ (IM) sein, die den Präventionsgedanken und auch die individuelle Verantwortung der Menschen für ihre Gesundheit betont (Fischer et al. 2015). Biophilie, Psychosomatik, Salutogenese, „cura sui“ (Foucault) und eine Prise Nietzsche sind meine eklektizistische Grundlage (Ott & Fischer 2015). Dieser Eklektizismus ist für einen naturphänomenologischen Zugang zum Phänomen des gesundheitlichen Wohlbefindens, der Erholung und der Genesung methodisch von Vorteil, da theoretische Perspektiven, geschichtliche Traditionen und dichte Beschreibungen ineinandergreifen können.

Gesundheits- und Wohlbefindens-Argumente haben eine mehrhundertjährige Tradition:

  • Schon in der Antike wurde die gesundheitsförderliche Wirkung reiner Luft betont.

  • Heilquellen als Pilgerorte sind seit dem Mittelalter bekannt, Kuren in Bädern finden sich im 17. und 18. Jahrhundert (wie etwa in Kenz bei Barth in Vorpommern). Der Status eines Ortes als „Bad“: Bad Homburg, Bad Kissingen usw.

  • Wandervogel („aus grauer Städte Mauern“, „im Frühtau zu Berge“), Lebensreformbewegung, „Ganzheitslehren“ der 1920er Jahre („Reformhäuser“), Kneipp-Kuren, NudismusFootnote 19.

  • Ärzte empfehlen um 1920 einen wöchentlichen Sonntagsausflug und einen (halb)jährlichen „Luftwechsel“ durch Ferienreisen.

  • Dem US-Naturschützer John Muir zufolge grassiert Ende des 19. Jahrhunderts in den Städten der USA die Nervenkrankheit „neurasthenia“. Von dieser Krankheit könne der längere Aufenthalte in der Wildnis heilen (Muir 1901). „Wander here a whole summer, if you can“ (1901, S. 730).

  • Nicht unterschlagen werden darf die Organisation „Kraft durch Freude“,Footnote 20 die die Gesundheit des arischen Volkskörpers befördern wollte, etwa in Prora auf Rügen. Im NS-Staat war es eine politische Pflicht, sich gesund zu erhalten (Proctor 2002). Hierzu gehörte auch die Abhärtung des Körpers als Teil der Wehrkraft: „zäh, flink, hart“.

  • Die soziale Errungenschaft des bezahlten Erholungsurlaubs führte zur Demokratisierung des Tourismus und zur Ausweisung von Naturparken, d. h. zu Gegenden, die für Erholungsurlaube geeignet bleiben sollten.

  • In unserer alternden Gesellschaft vermehren sich Kurkliniken, „Bäderkuren“, Sanatorien, Reha-Kliniken, Wellness-Oasen. Die Grenzen zwischen Kliniken und Hotels verschwimmen teilweise.

Die alten Intuitionen von den „Heilkräften der Natur“, die in diesen Traditionen enthalten sind, sind keineswegs verfehlt (SRU 2023). Es gibt wissenschaftliche Literatur über nachweisliche Heilwirkungen von sog. „therapeutic landscapes“ (Marcus & Sachs 2013), die auf einem „evidence based approach“ beruhen. Zu nennen sind Küsten, Parke, Gärten, Berge u. a.Footnote 21

Die der leiblichen Gesundheit förderlichen (oder auch abträglichen) Wirkungen von Natur können körperlich und leiblich verspürt und artikuliert werden. Was empfinden wir als wohltuend, zuträglich, bekömmlich, erholsam, angenehm, was dagegen als abstoßend, ekelhaft und widerwärtig? Unser leibliches Wissen unterstellt, dass bestimmte Tätigkeiten die Gesundheit stärken und fördern, andere sie wiederum schwächen oder, wie man früher sagte, „zerrütten“. Es geht um Förderlichkeit und Abträglichkeit, die einmal aus der Perspektive des je eigenen leiblichen Befindens verspürt werden, zum anderen aus einer messenden medizinischen Perspektive konstatiert werden können. Wir spüren leiblich, wie Aufenthalte in der Natur lindernd, reinigend, erfrischend, kräftigend und erholsam auf uns wirken können. Der Leib spürt sich selbst als salutogenetisches Phänomen. Es gilt, diese salutogenetische Dimension von Naturerfahrungen als „Erfahrenes“ mitzuteilen. Dies könnte sogar gesundheitspolitische Fragen berühren, da diese Dimension von den Berechnungen der Kosten im Gesundheitssystem, das ca. 12,9 % des BIP ausmacht, nicht erfasst wird.Footnote 22

4 Deontische Erfahrungen

Die „klassische“ Umweltethik war auf das Inklusionsproblem fokussiert (Ott 2008). Zu den methodischen „devices“, mit deren Hilfe sich dieses Problem sollte lösen lassen, zählen (neben dem Gedankenexperiment der „last person“) auch sog. deontische Erfahrungen. Deontische Erfahrungen sind moralische Erfahrungen im Kontext der Umweltethik. Thomas Birch (1993) hat das Konzept der deontischen Erfahrung ins Spiel gebracht. Aber Birch äußert sich widersprüchlich: Einmal behauptet er „deontic experience“ als „the original source of ethical obligation“. Andererseits meint er, dass eine Erfahrung dieser Art, und sei sie noch so intensiv erlebt worden, für eine definitive moralische Verpflichtung allein nicht hinreicht. Eine deontische Erfahrung referiert auf etwas Erfahrenes, das sich phänomenal von moralischer Bewandtnis erweist und aufdrängt. In der Naturethik gibt es mehrere berühmte deontische Erfahrungen, denen ich in diesem Abschnitt nachgehen will. In deontischen Erfahrnissen vermittelt sich die Geltungsdimension der Aufrichtigkeit mit der der Richtigkeit. Es geht um eine präzise Darstellung und um die Frage, was solche Erfahrungen geltend machen und wie diese Geltungsansprüche begründungstheoretisch eingelöst werden könnten.

4.1 Albert Schweitzer

Albert Schweitzer berichtet, wie er 1915 mit einem Schiff mehrere Tage lang den Ogowefluss flussaufwärts fuhr und dabei über die Grundprinzipien der Ethik nachsann (Schweitzer 1971). Wir müssen uns das Boot eher als Kahn vorstellen und der Fluss war nicht reguliert. Es ging also langsam zwischen Sandbänken voran. Die schrägen Strahlen der Abendsonne beschienen eine Herde von Flusspferden. Es waren vier Flusspferde (Schweitzer: Nilpferde) mit ihren Jungen, die in dieselbe Richtung gingen, in die das Schiff fuhr. Ich gehe davon aus, dass es sich um Großflusspferde (Hippopotamus amphibius) handelte, die als adulte Tiere ca. 3 Tonnen schwer und 1.3 Meter hoch sind. Also phänomenal imposant. Dies war eine Begegnung, die dem Kahn durchaus hätte gefährlich werden können, aber friedlich blieb. Schweitzer sagt, dass in seiner Müdigkeit und Verzagtheit „urplötzlich“ das Wort „Ehrfurcht vor dem Leben“ auftauchte bzw. vor ihm stand.Footnote 23

Diese deontische Erfahrung war keineswegs unmittelbar; denn Schweitzer befand sich im Nachdenken über die Grundlagen der Ethik. Wie könnte, so lautete seine Frage, ein denknotwendiges Moralprinzip lauten?Footnote 24 Das Sehen der Flusspferde ist eine deontische Erfahrung, die in Lebensgefühlen gründet und bei Schweitzer letztlich, wie häufig gesagt wurde, eine mystische Dimension hat (Günzler 2016). Wir dürfen die Atmosphäre nicht vergessen. Es war afrikanischer Abend. Schweitzer döste in einer Art von Halbschlaf. Die Atmosphäre könnte schläfrig-verträumt und ethisch gestimmt gewesen sein. Flusspferde sind überwiegend nachtaktive Tiere und dürften bei der Begegnung noch müde vom Schlaf gewesen sein. Sie verbringen den Tag im Wasser, begeben sich des Abends an Land und grasen nachts an Land. Damit ist in der Situation der Unterschied der Lebensräume von Wasser und Land mit im Spiel. So, gleichsam als amphibische Säugetier-Kolosse, könnten sie vor Schweitzers (europäischen) Augen aus dem Wasser gestiegen sein. Das „phainomenon“ war, in der Atmosphäre des Abends und der Stimmung des Halbschlafes eine urweltartige Wasser-Land-Szene von großer Eindringlichkeit, die sich so in der Kulturlandschaft Europas nicht hätte erleben lassen.

4.2 Aldo Leopold

Aldo Leopold hatte als junger U.S. Ranger die Überzeugung, dass Wölfe und Pumas mit dem Ziel ihrer Ausrottung bejagt werden müssten, damit die Bestände des jagdbaren Wildes für menschliche Jäger hoch sein sollten. Eines Tages erschoss Leopold eine Wölfin. Er berichtet, dass einen Wolf sehen sofort die Reaktion auslöste, das Feuer auf ihn zu eröffnen. Nur ein toter Wolf ist in dieser habitualisierten Ranger-Ideologie ein guter Wolf. Als Leopold sich der sterbenden Wölfin näherte, glaubte er einen Widerspruch zu seiner Überzeugung in ihrem Auge zu sehen. „We reached the old wolf in time to watch a fierce green fire dying in her eyes. I realized then (…) that there was something new to me in those eyes – something known only to her and to the mountain“ (Leopold, „Thinking like a mountain“, in Leopold 1949). Das, was Leopold realisierte, war ein tiefer Dissens zwischen der Maxime seiner Handlung und der Lebenswirklichkeit von Natur. Es handelt sich um eine Einsicht, die Leopold eine „belief revision“ abnötigte.

Bei Leopold geht es um mehr als nur um den Unwillen der Wölfin, erschossen zu werden (was trivial wäre). Die Wölfin teilt mit dem Gebirge ein Einverständnis, dem Leopold beim Anblick ins Auge innewird. Zumeist überlesen wird der folgende Satz: „A mountain lives in mortal fear of its deer“, denn ohne Wölfe als Prädatoren würden sich Hirsche stark vermehren, die Berghänge kahlfressen und letztendlich auf erodierten Flächen verhungern. Natürlich ist diese deontische Erfahrung eine anthropomorphe Projektion; denn Berge leben nicht in Furcht vor etwas. Der Top-Karnivore Wolf hat aber eine Regulationsfunktion in der Biozönose des Bergwaldes. Diese biozönotische Funktion erscheint im Auge der Wölfin, so als ob der Bergwald sie selbst ausspräche. Daraus ergeben sich für Leopold ökologische Lehren, die ihn zu einer „Landethik“ führen, die im Sinne starker Nachhaltigkeit interpretiert werden kann.

4.3 Arne Naess

Arne Naess berichtet in dem Schlüsseltext „Self-Realization“(1995), wie er unter einem Mikroskop mitansehen musste, wie ein Floh allmählich in einer Chemikalie unterging und dabei starb. Naess wollte nur eine chemische Reaktion beobachten, als ein Floh in diese Chemikalien hineinsprang und sich nicht mehr befreien konnte. Naess konnte ihn nicht retten. Der Todeskampf dauerte viele Minuten und für Naess waren die Bewegungen von eindrücklicher Expressivität. Der Floh gab durch seine Bewegungen performativ zu erkennen, dass er dem Tod entrinnen wollte. Naess empfand Mitleid. Dem Mitleid und der Empathie schien etwas anderes vorzugehen: „rather it was a process of identification, that: ‚I saw myself in the flea‘“. Husserl hätte hier wohl von „Fremdeinfühlung“ gesprochen. Sich selbst im Anderen sehen, bedeutet nun, das kleine Ego, in dem man immer nur sich selbst sieht, zu einem großen „Selbst“ zu erweitern. Darin liegt der Kern von „Ecosophy T“ (Ott 2023b). Diese einfühlende Selbst-Erweiterung geht über die Spezies-Grenze hinaus. Ein Floh ist ein Invertebrat, dem man kein Bewusstsein attestieren kann, aber doch ein spürendes Gewahren, dass etwas Schlimmes mit ihm vor sich geht. Dies würde für einen Zoozentrismus sprechen (Ott 2010, 2008), der so weit reicht wie Gewahrungen („Prähensionen“) vorhanden sein dürften (Bienen, Libellen, Fliegen, Käfer). Ein expressives organisches Sich-Sträuben kann als Nein-Stellungnahme interpretiert werden, auch wenn ein Floh keine Leiberfahrung kennen dürfte.

Man stelle sich gleichwohl analog vor, man sei als Mensch dabei im Moor zu versinken. Wir wissen, dass dies eine Todesart ist, die Menschen zustoßen kann. Vor vielen Jahren lief ich in einer abgelegenen schwedischen Gegend im Sommer den Markierungen einer Langlaufpiste entlang, die ein Rundkurs war, der zum See zurückführte. Ich war völlig allein und außer Rufweite von Menschen. Nachdem ich den größten Teil der Strecke gelaufen war, kam ich an eine morastige Stelle und an einen Punkt, an dem ich mich entscheiden musste: den ganzen Weg zurücklaufen (drei Stunden) oder ins Nasse springen. Ich sprang und hatte Mühe, mich aus dem Morast heraus auf den Weg zu wühlen. Nein, es war nicht wirklich gefährlich, aber mir kamen Nachgedanken, was hätte schiefgehen können. Als Mensch im Moor zu versinken, muss grässlicher sein denn als Floh in Chemikalien zu ertrinken, aber es bleibt hier die Möglichkeit einer Art von Einfühlung: „auch du bist nicht gefeit“. Im Moor versinken, von der Strömung abgetrieben werden, von Lawinen verschüttet werden, verbrennen, vom Tsunami mitgerissen werden – all das kann uns widerfahren. Das Grauen vor solchen Erfahrungen, etwa leiblich spüren, wie der Körper im Moor oder im Schnee versinkt, überträgt Naess auf den versinkenden Floh.Footnote 25 Husserl hätte von Fremdeinfühlung sprechen können.

4.4 Konrad Ott

Es sei mir erlaubt, über eine eigene deontische Erfahrung zu berichten. Allein im Wald hörte ich ein merkwürdiges Geräusch und entdeckte einen Rehbock, der sich in einem Zaun verfangen hatte und sich nicht selbst befreien konnte. Sein linker Hinterlauf war eingeklemmt. Die Intuition war eindeutig: „Du musst ihm helfen!“ Diese Verpflichtung galt auch dann, wenn es mit einem Risiko verbunden ist, ihr nachzukommen: denn es war nicht einfach, den Rehbock zu befreien, ohne einen Tritt mit dem Huf zu riskieren, denn der Rehbock war in Panik geraten, als er mich bemerkte. Ich redete ihm ruhig zu und es gelang mir, den Zaun so zu bewegen, dass der Rehbock plötzlich freisprang und, offensichtlich unverletzt, im Gehölz verschwand.

Dies war keine spektakuläre Rettungstat, aber das momentane moralische Gefühl war entscheidend. Die Artgrenze spielte in diesem Moment des Anblicks „Rehbock im Zaun verfangen“ keine Rolle. Es ging nur darum: Da ist ein leidendes Wesen, das sich nicht mehr zu helfen vermag – und ich bin zu helfen da. Es war einer dieser Momente, aufgrund derer ein metaethischer Intuitionismus vertreten wurde: „Du siehst und du weißt, was zu tun ist“. Das Erfahrene lautet: „zu helfen da sein“. Ich war nicht am Ort, um zu helfen, aber weil ich zufällig am Ort war, hatte ich zu helfen.

Man vergleiche dieses Erlebnis mit einem Sommertag am Strand, an den Hunderte von Quallen gespült werden. Fühlt man hier eine Verpflichtung, sie zurück ins Meer zu werfen, auf dass, vielleicht, einige von ihnen überleben? Ich fühle mich nicht moralisch verpflichtet, diesen Tieren zu helfen. Also ist die Differenz zwischen Rehbock und Qualle moralisch relevant. Dies spricht für den Sentientismus und auch für eine Grenze im Zoozentrismus, die dort verläuft, wo Lebewesen, die im biologischen Sinne Tiere sind, nicht mehr registrieren können, dass etwas mit ihnen vorgeht.

4.5 Jürgen Habermas

Ich kenne nur eine Beschreibung einer deontischen Erfahrung, die nicht auf Tiere eingeschränkt ist. Sie stammt von Habermas. Habermas schreibt: „In einigen Hinsichten haben ästhetische Gründe sogar noch ein stärkeres Gewicht als ethische. Denn in der ästhetischen Erfahrung der Natur ziehen sich die Dinge gleichsam in eine unnahbare Autonomie und Unberührbarkeit zurück; sie kehren dann ihre versehrbare Integrität so deutlich hervor, dass sie uns um ihrer selbst willen - und nicht bloß als erwünschter Bestandteil einer präferierten Lebensform - unantastbar erscheinen.“ (Jürgen Habermas 1991, S. 226). Mit diesem Satz enden die „Erläuterungen zur Diskursethik“ abrupt. Habermas spricht von ästhetischen Naturerfahrungen, in denen sich die Natur als etwa von moralischer Bewandtnis zeigt. Dieses „in“ der ästhetischen Erfahrung zeigt zuerst einen Rückzug „in“ etwas Zweifaches: unnahbare Autonomie und Unberührbarkeit. Der Ausdruck „Autonomie“ ist hier m. E. fehl am Platz, da er einen Sinn nur in der Moralphilosophie hat; so bleibt „unnahbar“ und „unberührbar“ zurück, die ein „don’t touch, don’t come close“ bezeichnen, das quasi-sprachlich vom Gegenstand der ästhetischen Erfahrung auszugehen scheint. „Komm mir nicht zu nahe!“ Dies besagt eine Abweisung aller Auf- und Zudringlichkeit. Das „dann“ ist kein „später“, sondern im „in“ gegeben. Sie erweisen sich als „versehrbar“. Versehrungen sind bei Menschen schwere Verletzungen, die nicht reversibel sind; in diesem Sinne sprechen wir von „Kriegsversehrten“. Wir sprechen auch gute Wünsche: „Bleib unversehrt!“. Bei Paul Gerhardt sollen die Engel in höchster Gefahr singen: „Dies Kind soll unverletzet sein!“ Die Versehrbarkeit sticht deutlich heraus und „Integrität“ steht für das, was unversehrt bleiben soll, was immer es bei Naturwesen genau sein mag. Daraus geht scheinbar von den Gegenständen ästhetischer Erfahrung ein Appell an alle Menschen, die zu solchen Erfahrungen (und ihrer Deutung) fähig sind: „Taste nicht an!“. Unnahbar, unberührbar, unantastbar: eigentlich ist es eine „dichte“ transästhetische deontische Erfahrung. Aber Habermas lässt den ethischen Punkt im letzten Wort in der Schwebe: „erscheinen“. So ist nicht auszuschließen, dass wir es hier mit einer Art von moralischem Schein zu tun haben. Warum nicht sagen: „Schade um den schönen Baum, aber er muss der Straße Platz machen und einen Eigenwert haben Pflanzen nun mal nicht“? Habermas müsste eine Übersetzung dieser transästhetisch-deontischen Erfahrung in einen moralischen Geltungsanspruch für möglich halten, der argumentativ eingelöst werden könnte. Aber wie sollte das gelingen? Mir scheint, dass transästhetische Erfahrungen von deontischen Erfahrungen getrennt werden sollten.

4.6 Fazit

Deontische Erfahrungen sind situativ und scheinen selbst-evident. Die Simultaneität von „Sehen“ und „Wissen“ steht quer zu einer Diskurstheorie praktischer Vernunft. Dies verweist auf die Erforderlichkeit der Artikulation und des Dialogs über solche Erfahrungen. Deontische Erfahrungen sind immer gedanklich gerahmt. Bei Schweitzer war es die Ethik, bei Leopold die Ökologie, bei Naess die geistigen Hintergründe in Spinoza und vedischer Weisheit, wobei das „tat twam asi“ in den Upanischaden selbst keine ethische Bedeutung hat. Inhaltlich betrachtet, sind es fast immer Erfahrungen mit Tieren. Deontische Erfahrungen mit Pflanzen, Flechten oder Pilzen sind mir nicht bekannt. Das spricht für Sentientismus oder Zoozentrismus (Ott 2008). Erfahrungen und Kriterien sind bei beiden Lösungen des Inklusionsproblems im reflexiven Überlegungsgleichgewicht. Die deontischen Erfahrungen zeigen immer besondere Tiere: Flusspferde, Wölfe, Flöhe, Rehböcke als solche. Daher implizieren sie, vielleicht mit Ausnahme von Naess, keinen Egalitarismus. Der Egalitarismus entspringt also nicht der Erfahrung selbst, sondern wird, etwa als Kritik am sog. Speziesismus, moralisch an die Erfahrung herangetragen. Wenn man transästhetische Erfahrungen und deontische Erfahrungen trennt, sprechen diese für einen gradualistischen Zoozentrismus, dessen Vertreter*innen ohne Grund keiner Fliege etwas zu leide tun, aber Gründe kennen, die es erlauben, Tiere zu nutzen und sie sogar zu bejagen.

5 Klimaerfahrungen

5.1 Klimawandel

Wir nehmen kognitiv zur Kenntnis, was laut wissenschaftlichen Modellen und Prognosen der Klimawandel mit sich bringen wird. Die zentralen Aussagen des IPCC lassen an Deutlichkeit und Dringlichkeit nichts zu wünschen übrig. Wir reagieren auf die Befunde einer sich rasant erwärmenden Welt zunächst mit moralischen Forderungen, von denen sich allerdings die globalen Emissionen nicht beeindrucken lassen. Die Klimaethik hat ihre Begründungspflichten meistenteils erfüllt (Ott 2021). Wir verschärfen die globalen Ziele (auf 1.5°C GMT gegenüber vorindustriellen Temperaturen), reduzieren womöglich tapfer die eigenen (marginalen) Emissionen, machen uns Sorgen um die Emissionsentwicklung der nächsten Jahrzehnte und fühlen uns hilflos. Wir können berechnen, dass fast die Hälfte aller seit 1780 getätigten CO2-Emissionen nach 1990, also nach dem ersten Bericht des IPCC getätigt wurden. Die globalen Emissionen sind auf knapp 37 Milliarden Tonnen jährlich gestiegen. Wir lesen in der Zeitung, dass Russland seine Energielieferungen nach China steigert und russisches Rohöl von China mit großen Rabatten erworben wird. Putin erklärt sich bereit, die „ununterbrochenen Öllieferungen für die Bedürfnisse der chinesischen Wirtschaft auszuweiten“ (zitiert in FAZ vom 22. März 2023, S. 1). Am 29. März meldet Rosneft, dass Russland die Öllieferungen nach Indien erheblich ausweiten werde. Die Einnahmen gehen in die russische Kriegsproduktion. Das Gefühl ist das einer hilflosen Wut, denn was helfen Vorreiterrollen, wenn alle unsere Einsparungen von neuen „carbon coalitions“ überkompensiert werden. Diese Gefühlslagen nehmen in der jüngeren Generation eine existentielle Schärfe an. Wir erleben verzweifelten politischen Aktionismus in einem Land, das immerhin 40 % seiner Treibhausgas-Emissionen (gegenüber 1990) eingespart hat und, so meine Einschätzung, auf einem guten Weg zu langsam ist.

Der Deutsche Wetterdienst informiert in seinem Klimastatusbericht über das Jahr 2022. Es war so heiß wie 2018, dem wärmsten Jahr. Die warmen Jahre ballen sich seit 2003. Die Jahresdurchschnittstemperatur (JDT) lag bei 10.4°C, was noch „kühl“ klingt. Vor 2014 gab es allerdings keine JDT über 10°C. In den vergangenen neun Jahren lag JDT viermal über 10°C. 2022 war das Jahr mit den meisten Sonnenstunden: 2024 Sonnenstunden. Der erste Sommertag war der 12. April, der letzte der 31. Oktober. Also sieben Monate mit insgesamt 59 Sommertagen. Deren Zahl hat sich gegenüber der Referenzperiode 1961-1990 verdoppelt. Die Hitzewelle Ende Juli trieb die Temperaturen zur 40°C-Marke. Es ist nicht abzusehen, dass sich dieser Trend abschwächt oder umkehrt. Wir können diese Daten mit eigenen Erfahrungen abgleichen. Es ist ähnlich wie bei der Doppelperspektive von Gesundheit (Abschnitt 3).Footnote 26

Hier bestätigt sich Adornos Kritik an Husserl: Erfahrung ist nie unmittelbar, sondern immer vermittelt mit Weltwissen, Gefühlen, moralischen Beurteilungen und kulturellen Werten. Kann unser Organismus überhaupt Klimawandel wahrnehmen? Primär erfahren wir Menschen den Wechsel von Wetter und Jahreszeiten, nicht Klima oder Klimawandel. Individuen leben eigentlich nicht lang genug, um Klimawandel am eigenen Leib verspüren zu können. Wir und die kommenden Generationen könnten die Ausnahme von dieser Regel sein. Nach meiner statistischen Lebenserwartung werde ich noch ca. 15 Jahre erleben. Ich könnte also noch erleben, was ein Anstieg um 1.5°C leiblich über das Jahr hinweg bedeuten. Die Leiblichkeit tastet sich an den Klimawandel heran als an etwas, das ihr erfahrungsmäßig nicht geläufig ist, aber bevorsteht.Footnote 27 Dieses Herantasten ist ein „auf etwas gespannt sein“. Es ist nicht die Angst vor Schmerzen. Es ist eher ein unruhiges Sich-Einlassen auf Ambivalenzen. Leibliche Irritabilität könnte der Aufschlüsselung von Erfahrungen dienlich sein.

Reiseerfahrungen in andere Klimazonen sind ein Paradigma leiblicher Erfahrung mit Klimawandel. Plötzlich sind wir leiblich bspw. in tropischer Hitze und müssen uns akklimatisieren, um gesundheitliche Probleme zu vermeiden. Wir spüren die Ambivalenz klimatisierter Innenräume in ihrer Differenz zur Außentemperatur. Bei hoher Luftverschmutzung und Luftfeuchtigkeit in den Slums einer Agglomeration (nicht „Stadt“) des Globalen Südens spürt sich ein Leben an, das, wie wir wissen, vielen Menschen beschieden sein wird und dem wir Glücklichen noch entrinnen können. Ich erinnere mich an einen Vorort von Kathmandu im Spätsommer 2010, an dem ich die Zukunft der Menschheit im Anthropozän in plötzlicher Erfahrung „sah“: „So wie hier wird es an vielen Orten aussehen und zugehen!“ Ich entsinne mich an die Tage vor dem Rückflug von einer Forschungsexpedition nach Westchina (Ott et al. 2016), als Beijing unerträglich wurde: stickig, staubig, schmierig, übelriechend. Der Hals kratzt, die Augen tränen, man fühlt sich ganztätig „filthy“. Wie wird der Klimawandel im „planet of slums“ (Davies 2007) den Gestank der Metropolen intensivieren? Wie leibt es sich unter einem Tschador im Sommer in Teheran? Der Gedanke, in Agglomerationen wie Kathmandu, Beijing, Teheran usw. sein Leben verbringen zu müssen, hat etwas dantesk Unheimliches.

Die heimatliche Landschaft ist die, an die der Leib sich über lange Jahre akklimatisiert hat. Der Wechsel der heimatlichen Jahreszeiten und des Wetters ist leiblich spürbar. So kann eine alte vernarbte Wunde mitteilen, dass das Wetter umschlägt. Die Saisonalität des Lebens ist, obgleich nicht abschaffbar, in urbanen Milieus schwächer ausgeprägt. Überdachungen, Klimaanlagen, globalisierte Lebensmittel, Indoor-Aktivitäten führen zu Angleichungen. Ändern könnte sich dies, wenn die Sommer immer heißer würden; dann wird man den Städten zu entfliehen suchen. Leiberfahrungen könnten etwa Schlafstörungen in warmen Nächten sein. Die leibliche Erfahrung, dass das Lüften nichts mehr bringt, weil die Luft draußen warm und stickig ist. Man geht vielleicht selbst durch die Abendkühle des Gartens, wohl wissend, dass diese Erquickung vielen nicht vergönnt ist. Regt sich ein schlechtes Gewissen dabei?

5.2 Herbst

Nicht alle Klimaerfahrungen müssen negativ sein. Ende Oktober 2022, nachdem die Covid-19-Lockdowns gelockert wurden, konnte ich (endlich) wieder in die städtische Sauna. Im Freiluftbereich stehen Kastanien, deren Blätter schon herbstlich bunt eingefärbt waren. Es sah nach „Goldenem Oktober“ aus und fühlte sich wie Sommer an. Die Sonne schien so warm, dass man unbekleidet unter herbstlich bunten Kastanienbäumen wandeln konnte. Die Farbwahrnehmung „Herbst“ verband sich mit der Hauterfahrung „Sommer“. Alle genossen dies. Nach allem, was man aus Wetterdaten weiß, wäre diese spätsommerliche Situation vor wenigen Jahrzehnten Ende Oktober undenkbar gewesen. Ende Oktober kamen kalte Winde und erste Nachtfröste. Nun war diese Klimaerfahrung leiblich angenehm. Die negative Seite trat erst in der Reflexion hervor: der Klimawandel wird spürbar. Wir können unseren Leibern nicht moralisch verbieten, angenehme Erfahrungen im Klimawandel zu machen.

5.3 Winter

Früher herrschte wochenlang Dauerfrost. Aber wer mochte die Winterkälte wirklich? Haben wir als Kinder nicht gesungen: „Unter grünen Linden, da leuchten weiße Kleid. Hei ja, nun hat uns Kinden ein End’ all Wintersleid“. Im Lied ist von Wintersleid die Rede. In der antiken Symbolwelt ist der Frühling ein Jüngling, der Winter ein Greis. Die Leiberfahrungen von strengen Wintern sind nicht angenehm; „eisiger“ Wind, „schneidende“ Kälte, „bitterer“ Frost sind umgangssprachliche Äußerungen, die dies belegen. Zähneklappern vor Kälte kenne ich noch als Kind. Wenn die Füße wieder warm wurden, kribbelten sie. Flüsse und Seen froren zu; noch nach der Jahrtausendwende zog ich zwei unserer Kinder mit dem Schlitten über den zugefrorenen Greifswalder Bodden. Seither kam dies nicht mehr vor. Als die alten Langlaufskier kaputtgingen, entschied ich mich gegen einen Neukauf. Die Intuition sagte: „Das lohnt nicht mehr“. Früher war die Weihnachtszeit dunkel und eher mild, das neue Jahr hingegen hell, klar und kalt. Kälte gab scharfe Konturen. Starke Ostwinde Anfang März waren ohne Mütze unerträglich. Milde Winter fühlen sich schmuddelig, trübe, langatmig und eintönig an. Das Feuer im Kamin prasselt nicht, sondern flackert, wenn der diffus versprühte Nebel auf dem Dach liegt.

Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine motivierte uns im Winter 2022/3, Erdgas strikt zu sparen. Zwei Zimmer konnten wir per Kamin mit Holz heizen. Die leibliche Erfahrung dieses Heizverhaltens war vor dem Zeitalter der Zentralheizungen, die alle Räume heizen, weit verbreitet: Ein kaltes Haus mit wenigen beheizten Zimmern, zumeist Küche und, ganz früher, die Kemenate. Temperaturdifferenz im Haus ist historisch nichts Ungewöhnliches, aber nun geriet man, trotz Pullover, an leibliche Grenzen.Footnote 28 Wann geht Frösteln in Frieren über, wann wird die Bewegungsarmut des Sitzens vom Leib mit Kalt-Werden assoziiert: „Beweg dich!“ Eine Bettmütze?! Warme Suppe war leiblich wärmend; ich erinnerte die Suppen Chinas in der Morgenkälte der Gobi. Die Verschiebung der Diät zu wärmenden Suppen als Mittagessen war ein lehrreiches kulinarisch-leibliches Experiment. Ich spürte, dass man mit Suppe im Magen auch 15-16°C Raumtemperatur (leidlich) ertragen kann. Wärme aus dem Leibesinnern trotz der Kälte, die von draußen über die Haut eindringt. Trotz kam dazu, als man hörte, dass die russische Artillerie im Winter ukrainische Infrastruktur zerstörte: Strom, Heizung, Wasser. Eine Mischung aus Suppe und Trotz, die sich seltsam anfühlte. Und dann war es sogar gut zu wissen, dass der Winter wieder milde sein, bis er vorübergehen würde.

5.4 Frühling

Gegenwärtig machen Franzosen und Italiener Erfahrung mit dem Auftreten von Winter- und Frühjahrsdürren. Die trockenen Frühjahre scheinen zur Regel zu werden. Der Po ist ein Rinnsal. Ein französisches Sprichwort sagt, ein Mensch erlebe nur dreimal im Leben einen heißen April. Diese Zahl wird sich in Zukunft erhöhen. Seit Jahren mehren sich die Hinweise, dass es in Mitteleuropa trockener wird. Die Waldbrandgefahr steigt schon im Mai. Waldbrandstufe 4 im April war früher undenkbar. Wir müssen über den Wasserhaushalt nachdenken.Footnote 29

Am 18. und 19. März 2023 strömt warme Luft aus Südwest nach Vorpommern ein. Ich spüre Zufuhr warmer Luft. Innerhalb weniger Stunden wird es warm. Die erste Biene labt sich an Schneeglöckchen. Barfuß im März. Für März, sagt der Wetterbericht, „ungewöhnlich warm“. Eben nicht mehr „ungewöhnlich“. Wir rechnen mit regelmäßiger Frühlingswärme. Und jedes Jahr kommt im Garten „alles viel zu früh“. Gleichwohl gibt es im März noch kühles Schauerwetter und nach ergiebigem Regen im April ist zumindest die Oberfläche gut gefeuchtet. Es sprosst und knospt und keimt: windiger Geruch feuchter „viriditas“. Kraniche und Lerchen in der Luft. Brutzeit.

5.5 Sommer

Als Kind und junger Erwachsener liebte ich den Hochsommer. Temperaturen über 30°C waren selten und auf den August beschränkt. „Nichts Schöneres unter der Sonne, als unter der Sonne zu sein“ (Ingeborg Bachmann). Ganz besonders waren die letzten Tage des letzten großen „Hochs“, in die sich schon die Winde mischten. Wehmut, wenn der Hochsommer in die Knie geht. In den Jahren 2003, 2018 und 2022 begann ich das Ende des Sommers herbeizusehnen. „Herr, es ist Zeit, der Sommer war zu groß“. Der Wunsch, der Hochsommer möge sich dem Ende zuneigen, war mir neu und vom Gefühl her unangenehm. Ich war den Hochsommer plötzlich leid und zugleich traurig darüber, dass ich den Sommer nicht mehr leiden mochte. Dieser Wunsch war konsistent mit der Prognose, die John Lovelock schon vor Jahrzehnten abgab: „Der Winter wird zum Frühling, der Frühling wird zum Sommer und der Sommer wird fürchterlich.“ Das „Hurra“ des Sommers wird zum „beware“. Das schmerzt emotional-leiblich.

Im Sommer lebt man „outdoor“. Die Bekleidung wird lockerer, luftiger, fließender. Mag sein, dass wir zukünftig im Sommer wieder dichte weiße Bekleidung brauchen; der Burnus oder die Toga als Vorbild. Hüte nicht für den Winter, sondern für den Sommer nach dem Vorbild des Sombreros. Man spielt mit dem Gedanken, mit einem Sonnenschirm spazieren zu gehen. Vielleicht wird weiße Haut als schön und gesund gelten, so wie sie früher als vornehm galt.

In der Hitze sucht man Schatten. Was spendet Schatten vor der „prallen“ und „sengenden“ Sonne? Warum fühlt sich der Schatten eines Baumes anders an als der einer Markise? Wir nennen bei Hitze Orte „schön schattig“. Die Mittagszeit ändert sich; der „hohe Mittag“ (Nietzsche) tut der Haut nicht gut. Über Mittag bleibt man besser im Haus oder im Schatten. Der Einfallswinkel der Strahlen ist für das Hautkrebsrisiko maßgeblich. Warten (müssen), bis die Schatten länger werden. Dunkelheit nimmt zu, wenn man Fensterläden schließt. Nach dem Dunkel des langen Winters nun die Abgedunkeltheit der Siesta. Vielleicht kommt ja eine neue Romantik lauer Sommernächte, aber ohne Lagerfeuer, da Funkenflug zu riskant ist.

An heißen windstillen Augusttagen ist das Baden im Bodden nicht mehr erfrischend und man muss Blaualgen und, vor allem, Vibrionen fürchten. Vor Ostseequallen braucht man sich nicht zu fürchten, aber es fühlt sich glibberig an, wenn die See voller Quallen ist. Das Meer als Gallerte. Das Badevergnügen ist getrübt, wenn jeder Schwimmzug Quallenkontakt mit sich bringt. Die besten Badezeiten sind jetzt im Juni und September.

Man kann in sommerlichen Dürrezeiten Ackerboden in die Hände nehmen. Die Böden fühlen sich staubig, teilweise sandig an. Die großen Felder in den „ausgeräumten“ Landschaften werden anfällig für Erosion und Sandstürme. Kleine „dust bowls“ in Mittelgebirgen. Man sieht, dass manche Pflanzen mit ihren Wurzeln nicht mehr bis an das gesunkene Grundwasser gelangen; Trockenschäden an Bäumen mehren sich. Der Sommerwald schien am Ersticken zu sein, die Luft stand, als stockte dem Wald der Atem.

Seit 2016 erleben wir eine Abfolge von Trockenjahren. Sehnsucht nach Regenwolken, wie man dies aus First-Nation-Romanen kennt, die im trockenen Südwesten der USA spielen (Silko 1977). Ein Wüstenindianer, der einmal die Regenwolken verfluchte, fürchtet, dadurch Unheil über das Land gebracht zu haben. Wir sammeln Regenwasser in Tonnen und gießen mit Küchenwasser. Freude über Regentage war früher schon rational; denn „ist der Mai schön kühl und naß, füllt’s dem Bauern Scheun‘ und Faß“. Niederschläge, Fruchtbarkeit, Ernteerträge: Wir fürchten, dass sich selbst auf den Gunststandorten dieser Konnex abschwächt. Wir wissen, wieviel Niederschläge Weizen braucht. Die Gärtner*innen informieren sich über thermophile Pflanzen, die als „Trockenkünstler“ angepriesen werden. Wie erfährt man die zunehmende Trockenheit des Landes am eigenen Leib? Ich kannte Nordfriesen, die im Sommer trockengegerbt waren. Sich leiblich gerben (lassen), sich leiblich „dörren“ (lassen), ist eine Möglichkeit, ein neues korresponsives Gleichgewicht herzustellen zwischen dem Leib und der Landschaft.

Erleben wollen, was man früher vermeiden wollte. Sich in den ersten Regen seit längerer Zeit stellen: körperlich und leiblich spüren, wie es ist, sich bis auf die Haut nass regnen zu lassen. Der Körper sträubt sich und der Leib spürt Freude. Regentänze nicht als magische Beschwörung der Regenwolken, sondern als performative leibliche Reaktion auf seltener werdende Regenfälle. Wein trinken, wenn es in warmen Tropfen regnet und Regenwasser mit Wein mischen.

6 Fazit

Wir können NP auf einer breiten theoretischen Grundlage betreiben, die bis auf Husserl und Hegel zurückreicht. Wir entfernen uns dabei vom strikt diskursiven Philosophieren, da wir in dichten, vielfältig vermittelten Beschreibungen leibliche Erfahrungen artikulieren. Dabei sind wir auf den Reichtum der Umgangssprache angewiesen. Diese Artikulation ist keine Argumentation im strengen Sinne, sondern vielmehr schildernde Mitteilung in der Geltungsdimension der Aufrichtigkeit. NP bedeutet, sich nicht selbst in die Tasche zu lügen; ihre Gefahren sind „false memories“ und rhetorische Stilisierung.

Biophilie ist, wie wir in Abschnitt 2 gesehen haben, eine anthropologische Hypothese und eine leibliche Möglichkeit für Menschen; es geht also um mögliche Freilegungen im Lebensvollzug selbst. Biophilie ist Mitgift und Auftrag. Sie kann Brücken schlagen zwischen dem Archaikum und der Jetztzeit.

Der eudaimonistische Wert der Gesundheit kann (Abschnitt 3) mit einer salutogenetischen Leibkultur vermittelt werden. Eine solche Leibkultur leugnet die Endlichkeit des Daseins nicht, sondern lässt sich auf sie ein. Sie nimmt die Endlichkeit an, indem sie ihrer spottet. Hier könnte und sollte gerade eine alternde Gesellschaft NP als fröhliche Wissenschaft betreiben lernen. Hier ergeben sich Verbindungen zu einer Diätetik.

Deontische Erfahrungen (Abschnitt 4) müssen gedeutet werden, führen in der Interpretation aber durchaus zu umweltethisch weiterführenden Überlegungen. Eine sentientisische oder zoozentrische Lösung des Inklusionsproblems ist im reflexiven Überlegungsgleichgewicht mit den meisten deontischen Erfahrungen.

Die Phänomenologie von Klimaerfahrungen (Abschnitt 5) steckt noch in ihren Anfängen. Es wäre falsch, alle Wettererfahrungen zu Klimaerfahrungen zu stilisieren. Wir Europäer*innen müssen lernen, was es mit sich bringt, in einer kommenden Warmzeit zu leben. Wir können für unsere Anpassungsstrategien von vergangenen Warmzeiten lernen, also bspw. die Warmzeit des 12. und 13. Jahrhunderts umwelthistorisch erforschen. Klimaerfahrungen sind kein Grund, klimaethisch gut begründete Forderungen zu relativieren. Im Gegenteil. Aber sie sind ein Korrektiv gegen Furcht, Zittern und Panik. Es lohnt sich, um jedes Zehntelgrad zwischen 1.5°C und „well below 2°C“ klimapolitisch zu kämpfen, aber für diesen Kampf braucht es Tugenden, die nicht rein geistig, sondern leiblich vermittelt sind. Biophilie ist auch im Klimawandel lebbar. Ein biophiles Dasein außerhalb des Temperaturfensters des Holozäns, aber immer noch im Lauf der Jahreszeiten erfordert Mut, Ausdauer, Gesundheit und Stärke. Wir können Naturschutz, Praxisphilosophie, Klimaethik und Landnutzung vermitteln, etwa in sog. „natural climate solutions“, und diese Vermittlungen leiblich an uns selbst erfahren und verspüren. Diese Art von NP kann sich mit sinnvollen Praktiken der Landnutzung verbinden, in denen Kohlenstoffsenken angelegt, der Humusgehalt der Böden verbessert, der Wasserhaushalt in Richtung „Schwammlandschaft“ verändert, Nahrung aus ursprünglich mediterranen und subtropischen Gegenden erzeugt und Gehölzstrukturen angelegt werden. NP im Klimawandel ist wie „unter dem Schwert tanzen“. Aber es gibt keinen moralischen Grund, sich solche Tänze zu versagen.