An einem heißen Sommertag besuchte ich die Kiesgrube der Firma Lauter in Bobingen bei Augsburg. Schon von weitem hört man es rumpeln, Kies wird gebaggert, aufgeladen, aufgeschüttet und fortgefahren. Doch da war noch ein anderer Klang in der Luft. Je näher man der Kiesgrube kommt, umso deutlicher war er zu hören, ein lebendiges Sirren, und dann sah man auch bald hier und da Trupps von Schwalben, die über die monotonen Felder der umliegenden Agrarwüste sausten, auf der Jagd nach Futter für ihre Jungen. Es sind Uferschwalben (Riparia riparia), eine sehr kleine und seltene Schwalbenart. Sie nisten gern an Steilhängen und graben dort Bruthöhlen; nur gibt es solche Steilhänge kaum mehr. Wohin sich die Uferschwalben auch wenden in unseren intensiv genutzten Landschaften, geeignete Brutplätze finden sie nirgends.

In der Kiesgrube sind sie willkommen, man hat eigens für sie eine Wand in einem unbefahrenen Bereich frisch angebaggert. Denn wenn die Schwalben, immer um Ostern herum, aus ihren südlichen Winterquartieren herbeikommen, dann benötigen sie eine frisch angebrochene Lösswand. In die graben sie ihre Nester. Der Kiesgrubenbesitzer, Benjamin Lauter, sagt dazu: „Wenn so eine Wand auch nur ein Jahr in der Sonne steht, wird sie steinhart, und dann kann die Schwalbe mit ihren kleinen Krallen ihre Bruthöhle nicht mehr graben. Deswegen bieten wir ihnen jedes Jahr eine neue Wand an.“

Nicht immer nehmen die Schwalben die ihnen von dem Kiesgrubenbesitzer zugedachte Wand an. Gelegentlich siedeln sie sich auch an Stellen an, wo sie den Ablauf empfindlich stören. „Ja dann müssen wir natürlich umdisponieren, denn wenn die einmal angefangen haben zu graben, können wir natürlich nicht mehr baggern.“ Doch für den Kiesgrubenbesitzer gehören die Vögel zur Kiesgrube dazu: „Sie kommen nun schon seit über 30 Jahren!“ Und wenn die Vögel einmal ausblieben, was ein-, zweimal der Fall war, „dann fehlt uns was“, so Benjamin Lauter.

Steht man in der Kiesgrube in der Nähe der Wand, in der die Kolonie brütet – ganz nah heran darf man nicht, da die Vögel sonst gestört werden könnten –, ist man überwältigt von dem Leben, das die Kolonie ausstrahlt. Laut rufende Vögel fliegen um einen herum, in der Ferne sieht man, wie sie in den Höhlen verschwinden und dann wieder herauskommen. Denn die Uferschwalben brüten nicht einzeln, sondern in großen Gruppen, die Kolonie in Bobingen zählt rund 150 Schwalben. Auch eine andere seltene Vogelart gräbt ihre Nisthöhle an den Wänden der Grube: die Bienenfresser (Merops apiaster). Die Kiesgrube könnte natürlich auch so betrieben werden, das den Schwalben und den Bienenfressern der Besuch verleidet wird. Doch der Kiesgrubenbesitzer Lauter möchte die Gäste bei sich haben: „Es ist ein Erlebnis.“

Benjamin Lauter macht nicht viele Worte, das würde auch nicht zu seinem Job passen, sein Betrieb gehört zur Baubranche. Umso schöner ist diese mit schwerem Gerät betriebene und doch sensible Gastfreundschaft, die er den kleinen Tieren zugutekommen lässt. Das Sausen und muntere Fliegen, dieses intensive Leben in der Kiesgrube, ausgerechnet dort, zwischen riesenhaften Kies- und Sandhaufen, kontrastiert aufs Schönste mit der traurigen Stille der ausgeräumten Agrarlandschaft, die sich um die Kiesgrube herum auf der ausgedehnten Lössebene im Süden von Augsburg erstreckt.

Früher hatten die Vorfahren dieser Uferschwalben an den Ufern der Wildflüsse Lech und Wertach gebrütet, die bei Augsburg zusammenfließen. Doch Lech und Wertach sind im letzten Jahrhundert lückenlos zu Wasserkraftwerken ausgebaut worden, sie sind eingedämmt und haben praktisch keine eigene Dynamik mehr, denn was sie an frischer Energie mitbringen, das liefern sie in den Wasserkraftwerken ab (vgl. Krauss et al. 2014). Da brechen an ihren Ufern keine Hangkanten mehr ab. Da treibt der Fluss kein Geschiebe mehr vor sich her, das hier und da, an immer anderen Orten, Inseln bildet. Daher sind Ersatz-Lebensräume für das Überleben der Schwalben und vieler anderer Vögel (und weiterer Lebewesen), die in und an Wildflüssen siedeln, unerlässlich.

Im Folgenden möchte ich, ausgehend von dem Kiesgrubenbeispiel, einen bestimmten Typ ökologischen Handelns beschreiben, den ich als ökologische Gastfreundschaft bezeichne. Dabei werde ich zu zeigen versuchen, dass ein bestimmter Handlungstyp, der im Bereich der Menschenwelt wohlbekannt und auch theoretisch eingehend analysiert wurde, in den letzten zwei Jahrhunderten nicht mehr nur ausnahmsweise, sondern dauerhaft auf den nichtmenschlichen Bereich übertragen wurde. Ausgangspunkt des vorliegenden Essays sind Alltagserfahrungen und deren genaue Beschreibung. Diese Praxis wird theoretisch ausgeweitet und reflektiert, indem der Essay den theologisch-philosophischen Diskurs über Gastfreundschaft mit Überlegungen aus Ökologie und Ethik zu verknüpfen sucht.

1 Zur Geschichte des Vogelschutzes

Was in der Kiesgrube geschieht, das bewusste Schaffen von Asyl für heimatlos gewordene Vögel, ist eine der wichtigsten Tätigkeiten des gesamten Vogelschutzes. Wenn man ein beliebiges Heft der Mitgliederzeitschrift des Bayerischen Landesbundes für Vogelschutz aufschlägt, findet man stets Berichte und Anregungen, die mit dem Schaffen von Lebensräumen, von Ersatzwohnungen usw. zu tun haben. Längst ist dies eine Praxis, die weit über die Community der Vogelschützer hinauswirkt.

Nisthilfen in Gestalt von Nistkästen sind bei uns so alltäglich geworden, dass wir kaum mehr wahrnehmen, dass sie eine kulturelle Errungenschaft sind. Sie sind eine der Erfindungen, mit denen die Vogelschutzbewegung versuchte, den gesteigerten Vernichtungsdruck, dem die Vögel seit dem 19. Jahrhundert in Mitteleuropa ausgesetzt waren, zu mindern und den Tieren das Überleben zu sichern. Nistkästen in ihrer heutigen Form wurden von Hans Freiherr von Berlepsch entwickelt. Von Berlepsch verfasste vor 100 Jahren ein Werk mit dem Titel Der gesamte Vogelschutz (Berlepsch 1929), das für die Vogelfreunde jahrzehntelang eine Art Bibel war, nicht nur in Deutschland.

In diesem Buch erzählt er auch seinen „Ornithologischen Lebenslauf“, in dem er seine persönliche Verbundenheit mit den Vögeln darstellt. Sie reicht bei ihm weit in die Familiengeschichte zurück, denn das Wappen der Freiherren von Berlepsch zieren drei Sittiche. Diese Tiere sollen, wie von Berlepsch erzählt, auf Weisung des Kaisers Friedrich Barbarossa in das Familienwappen geraten sein, denn der habe einst einen Vorfahren von Berlepschs besucht, um auf dessen Schloss zu übernachten, wie es damals üblich war, und habe anderen Tags den Ritter dabei beobachtet, wie er sich mit bunten Vögeln beschäftigte. Als er ihn daraufhin tadelte, rechtfertigte sich der Ritter, indem er sagte, er habe zu gegebener Zeit stets seiner Pflicht gehorcht und habe den Kaiser auch auf seinem Kreuzzug begleitet. Von diesem Kreuzzug habe er jene Sittiche mitgebracht. Da sprach der Kaiser: „So sollst Du zum Andenken an Deine Kreuzfahrt und die heutige Begebenheit von jetzt an diese Vögel im Wappen führen.“ (Ebd., 23, Fn. 2).

Von Berlepsch selbst war bekennender Soldat: „Der so viel geschmähte Militarismus ist und war von jeher mein Ideal.“ (Ebd., 29). Dadurch war er immer wieder „im Feld“ unterwegs, was er für seine ornithologischen Beobachtungen nutzte. Von Kind an befasste er sich mit wild lebenden Tieren, nahm sie auf, zog sie, beobachtete insbesondere Vögel. Später wurde er zum Pionier des Vogelschutzes, dessen Grundlagen er als erster klar auf den Begriff brachte. Der Vogelschutz habe die Aufgabe, „die Natur, die Vögel in ihrer Gesamtheit zu erhalten und zu vermehren, unbekümmert, ob solche, durch die menschliche Brille betrachtet, als nützlich oder schädlich angesprochen werden.“ (Ebd., 87). Gegen den Einwand, dass es unnatürlich sei, in die Natur einzugreifen, um Vögel zu retten, sagt er: „[D]urch unsere Kultur ist die Erdoberfläche derartig verändert und verdorben worden, dass die Vögel vielfach keine Lebensbedingungen, besonders keine Wohnstätten mehr finden. […] Wir müssen deshalb Maßnahmen ergreifen, ihnen die Erde wieder zusagend zu gestalten.“ (Ebd., 88). Und er ergänzt: „Das Feld unserer Tätigkeit, einen erfolgreichen Vogelschutz durchzuführen, zerfällt in zwei ganz getrennte Teile, in die lediglich praktischen Maßnahmen – Schaffung von Lebensbedingungen für die Vögel – und in die Vogelschutzgesetze – Schutz der Vögel gegen direkte Vernichtung durch Menschenhand.“ (Ebd., 92). An derselben Stelle spricht von Berlepsch davon, dass die Vögel nicht nur durch direkte Verfolgung, sondern auch indirekt, durch die Vernichtung ihrer Lebensräume „durch die Kultur“, also durch menschliche Landnutzung und Landschaftsveränderung, verdrängt werden: es „bestürmt sie ein doppelter Vernichtungskrieg, und das ist zu viel“ (ebd.).

Auf seiner Burg Seebach erprobte er zahlreiche Maßnahmen; heute gilt die dortige Staatliche Vogelschutzwarte als älteste Vogelschutzeinrichtung Deutschlands. Insbesondere entwickelte von Berlepsch Nistkästen. Ähnliche Gebilde hatte es zwar schon früher gegeben, doch waren sie wenig durchdacht und dienten im Übrigen vor allem dem Vogelfang, nicht dem Vogelschutz. Solche Nistkästen sind heute Teil unserer ökologischen Kultur, sie werden in Schulen gebastelt und hängen in vielen Gärten. Sie werden ergänzt durch speziellere Architekturen, die z. B. Turmfalken oder auch Fledermäusen Unterschlupf gewähren. Hinzu kommen weitere Maßnahmen, etwa Vogelschutzgebiete, die Anlage von Vogelschutzgehölzen, Fütterungen und vieles mehr.

Wie kann man die Handlungen, die den modernen Vogelschutz ausmachen, analysieren? Zunächst möchte ich ihre Besonderheit dadurch herausarbeiten, dass ich sie handlungstheoretisch etwas näher bestimme. Dann schlage ich vor, diese Handlungen als Varianten dessen zu betrachten, was in der europäischen Tradition als hospitalitas, Gastfreundschaft, bezeichnet wird. Der Vogelschutz dient dabei durchgehend als Beispiel, die Argumentation lässt sich leicht auch auf andere wildlebende (oder auch auf ausgesetzte und hilfsbedürftige) Tiere erweitern und könnte sogar auf Pflanzen übertragen werden. Denn zwar können Pflanzen nicht in demselben Sinn wie Tiere vertrieben werden, aber auch ihnen können ihre Wohnorte genommen werden. Umgekehrt kann man auch Pflanzen neue behelfsmäßige Heimaten schaffen; ein solches ökologisches Gärtnern ist ein wesentliches Element des modernen Natur- und Landschaftsschutzes, kann aber auch von Einzelnen ausgeübt werden, die versuchen, in ihrem Garten Pflanzen, die anderswo keinen Platz mehr haben, auszusäen.

2 Vollendbare und unvollendbare Handlungen

Untersucht man Handlungen, die ökologisch motiviert sind, die also das Ziel haben, Verbesserungen im Bereich der ökologischen NaturFootnote 1 zu erreichen, dann stellt sich heraus, dass viele von ihnen nur sehr indirekt und vermittelt mit dem angestrebten Ziel zusammenhängen. So versuchen etwa Aktivistinnen, durch das Übergießen berühmter Gemälde mit Tomatensauce oder Kartoffelbrei dem Ziel, die globale Erwärmung zu stoppen, näher zu kommen. Dieses Näherkommen erweist sich aber als äußerst indirekt und vermittelt, da der Sinn der Aktion zunächst nur darin besteht, Aufmerksamkeit für ein Problem zu erzeugen. Diese Aufmerksamkeit soll dann, so der Gedanke, in entschlossene politische Willensbildung übertragen werden, welche allerdings nicht nur in Deutschland, sondern global, in sämtlichen Staaten, auch in autoritär geführten Regimen wie etwa der Volksrepublik China oder in Russland, erfolgen müsste, damit die Aktion am Ende ihr erklärtes Ziel erreicht, „den Klimawandel zu stoppen“.

Auch ethisch motivierte Unterlassungen haben häufig keinen unmittelbaren Bezug zu dem mit ihnen verbundenen Ziel: Wer auf eine Flugreise verzichtet, um das Klima zu schützen, verhindert nicht, dass das Flugzeug abhebt, sondern trägt nur dazu bei, dass die Nachfrage nach Flugreisen insgesamt, und sei es nur ein klein wenig, sinkt, wodurch dann, wenn das Beispiel Schule macht und wenn nicht andere Effekte einen Strich durch die Rechnung machen, erreicht wird, dass eines Tages tatsächlich weniger Flugzeuge unterwegs sein - könnten.

Sehr viele unserer ökologischen Handlungen sind nur als gemeinschaftliche HandlungenFootnote 2 sinnvoll, d. h. als solche Handlungen, die ihr Ziel nicht hier und jetzt, sondern nur in einer entfernten Zukunft erreichen, und zwar nur dann, wenn nicht nur eine Handvoll Menschen in meinem unmittelbaren Umfeld, sondern auch viele unbekannte andere, womöglich alle Menschen, auch Angehörige künftiger Generationen, sich daran beteiligen. Es reicht auch nicht die einmalige Ausübung der Handlung, sie muss wieder und wieder durchgeführt werden. Schon Norbert Elias hat darauf hingewiesen, dass ausgedehnte Handlungsketten für funktional differenzierte Gesellschaften typisch sind (1997, Bd. 2, 332). Allerdings waren die Handlungsketten, an die Elias dachte, immer noch kurz und wenig verzweigt verglichen mit jenen, die zum Erreichen etwa des ‚1,5-Grad-Zieles‘ oder zum Erreichen und Aufrechterhalten einer ‚klimaneutralen Gesellschaft‘ erforderlich wären. Hier ist daher in erhöhtem Maße erforderlich, was Elias generell als Voraussetzung langer Handlungsketten identifizierte, nämlich eine hohe individuelle Frustrationstoleranz und Affektkontrolle (ebd., 342).

Der angestrebte Erfolg der Handlung ist nicht unmittelbar ersichtlich. Wer sich heute entschließt, ab sofort ‚klimaneutral‘ zu leben, kann nicht damit rechnen, dass er oder sie damit das Abschmelzen der noch verbliebenen Gletscherreste in den deutschen Alpen beendet und eine Trendumkehr der globalen Erwärmung einleitet. Wir leisten vielmehr den berühmten ‚kleinen Beitrag‘, der sich aber, so sagt man, summiert, der sich vielleicht sogar multipliziert, indem unser Handeln zum Vorbild für andere wird, und der unter weiteren Voraussetzungen nach vielen Jahren zum Erfolg führen kann. Man könnte daher auch von unvollständigen, ja schärfer von unvollendbaren Handlungen sprechen, weil Handlung und Effekt prinzipiell nur sehr indirekt zusammenhängen. So hängt bei nicht wenigen Handlungen, die man aus einer umweltethischen Motivation heraus tätigt, das angestrebte Ziel so entfernt und so indirekt mit der Handlung zusammen, dass man sich oft auf Aussagen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verlassen muss, die einem mitteilen, dass der Beitrag gleichwohl tatsächlich ein solcher ist und dass er, wenn er auch keinen unmittelbaren Effekt hat, immerhin modellierbar ist.

Neben diesen gemeinschaftlichen ökologischen Handlungen gibt es jedoch auch solche, die sich auf ein abgrenzbares ökologisches Problem beziehen und dieses auch mit den Mitteln des Einzelnen, oder mit den Mitteln einer kleinen, überschaubaren Gruppe hier und jetzt lösen. Diese Handlungen haben eine Absicht, und diese Absicht lässt sich auch mit einfachen Mitteln umsetzen. Ihr Erfolg (oder Misserfolg) ist unmittelbar oder doch innerhalb kurzer Zeit ersichtlich, er muss weder modelliert noch in komplexen Messverfahren durch Experten ermittelt werden. Die Absicht kann vollbracht werden. Insofern kann hier von vollendbaren Handlungen gesprochen werden.

Das Angraben einer bestimmten, geschützt gelegenen Wand in der Kiesgrube im März ist eine solche Handlung – sie hat einen wenig später sichtbaren, sogar atmosphärisch spürbaren Erfolg: die heimkehrenden Uferschwalben nehmen den Lebensraum an und beginnen munter und lebhaft, ihre Nisthöhlen zu graben. In die zuvor nur von Maschinengeräusch erfüllte Kiesgrube kommt mit dem Sirren und Sausen der Schwalben Leben. Wenig später brüten die gefiederten Gäste. Sie ziehen ihre Jungen auf und dann, im späten Sommer, ziehen sie fort in ihre südlichen Winterquartiere in Afrika. Im nächsten Jahr wird wieder eine frisch angegrabene Wand für sie bereitstehen.

Es gibt viele andere Beispiele: Eine junge Frau sieht, dass nicht weit vom Hauptweg eines vielbesuchten Parks ein offenbar benommener Falke regungslos hockt, vermutlich, weil er gegen ein Fenster geflogen ist, und ruft, statt schulterzuckend weiterzugehen, die Feuerwehr an, wartet schützend bei dem Falken, bis diese eintrifft. Die Feuerwehr fängt das Tier mit einem Netz, bringt es zu einem Tierarzt, der es untersucht, wieder aufpäppelt und dann freilässt. Oder auch: eine Familie hängt einen Nistkasten auf und freut sich über die Meisenfamilie, die dort wenig später einzieht.

Auch solche Handlungen helfen einzelnen Naturwesen. Sie helfen ihnen aus einer Notsituation oder zumindest aus einer Schwierigkeit, retten ihnen bisweilen das Leben. Es braucht keine besondere Ausbildung für solche Handlungen, gerade auch Kinder können sie vollziehen.Footnote 3 In der ethischen Theorie, die sich auf übergreifendere Themen wie etwa die Klimaethik oder auf die Nachhaltigkeit konzentriert, finden solche Handlungen wenig Beachtung. Sie machen wenig her, und beanspruchen nicht, ‚die Welt zu retten‘. Trotz oder wegen ihrer situativen Beschränktheit lohnt sich eine Analyse. Mir geht es darum, an diesen Handlungen, die zumindest in Mitteleuropa heute alltäglich sind, ein bislang kaum beachtetes Leitbild für ökologisches Handeln abzulesen, das ich in einen größeren kulturellen Kontext stellen möchte. Dabei werde ich an die alte und in Europa (natürlich nicht nur dort) immer noch lebendige Kultur der Gastfreundschaft anknüpfen.

3 Philoxenie

Die Gastfreundschaft (vgl. Scott 1982), philoxenia bzw. hospitalitas, wird zwar in den überlieferten ethischen Schriften des Aristoteles nicht explizit diskutiert (dazu schon Ayerschöttel 1682), war aber in den ethischen Kompendien der frühen Neuzeit durchgehend präsent. Im Barock scheint die hospitalitas auch ein beliebtes Thema bei Doktordisputationen gewesen zu sein (Schneider/Jaenichen 1710). Ihr Gegenteil ist die axenia (bzw. inhospitalitas), die Ungastlichkeit. Im Rahmen seiner an der aristotelischen Mesotes-Lehre orientierten Tugendlehre hat der Altdorfer Philosoph und Dichter Daniel Magnus Omeis sie eingehend behandelt und behauptet, dass es neben der Untugend der Ungastlichkeit auch noch die Untugend der allzu eifrigen Gastfreundschaft, die Allzugastlichkeit, die polyxenia gebe, die dann vorliege, wenn man wahllos Gäste aufnimmt und sich zu sehr um sie kümmert (1710, 150–153).

Der Gast, der xenos, war in der griechischen Gesellschaft ein Fremder, der zu keinem oikos, zu keinem Haushalt vor Ort gehörte, aber dennoch Aufnahme fand. Dabei wurde nicht explizit zwischen solchen Fremden unterschieden, die, vielleicht als Kaufleute, nur auf Reisen waren, und solchen, die aufgrund von Schicksalsschlägen ohne festen Wohnsitz waren. So oder so stand der Fremde unter dem Schutz des Zeus Xenios, den daher auch Odysseus, der mit seinen Gefährten in die Gewalt des Zyklopen Polyphem gerät, anruft (Odyssee 9 (jota), 269 ff.). Oft war die Gastfreundschaft ein wechselseitiges Institut, der Gast nahm auch gern seinerseits seinen Gastgeber auf, wenn dieser fern seiner Heimatstadt zu ihm kam. Bisweilen erkannten sich Gast und Gastgeber an zerbrochenen Scherben, deren Stücke je einem gehörten und an deren Zusammenpassen dann das Zusammengehören auch der Menschen bewiesen wurde. Dies war dann das sogenannte symbolon (von symballein: zusammenlegen), die tessera hospitalis. Sie konnte innerhalb eines Haushaltes auch z. B. vom Vater an den Sohn weitergegeben werden, so dass die Gastfreundschaft eine Beziehung war, die entfernte Familien über mehrere Generationen verband.

Universalisiert und radikalisiert wurde die Gastfreundschaft, die vermutlich überall, wo Menschen leben, geübt wird, bekanntlich in der jüdischen und christlichen Religion. Gemeint ist die in der jüdischen und christlichen Religion zentrale Forderung, bedürftigen, schutz- und mittellosen Fremden helfend, wenn nicht gar rettend unter die Arme zu greifen. Diese alte jüdisch-christliche Tradition ist es auch, aus der sich die Diskussionen des Themas des Fremden und der Gastfreundschaft in der modernen Philosophie speist. Als diejenigen Philosophen, an die in neueren Darstellungen angeknüpft wird, seien die französischen Denker Emanuel Levinas, Jacques Derrida sowie Paul Ricoeur genannt.Footnote 4 Sie haben wesentliche Beiträge zur Theorie des Fremden und der Gastfreundschaft vorgelegt.

Wenn ich hier gleichwohl nicht näher auf sie eingehe, sondern vorschlage, an den Denker Hermann Cohen anzuknüpfen, ist damit in keiner Weise eine Geringschätzung oder Abwertung ihrer Leistung für ein philosophisches Verständnis der Gastfreundschaft verbunden. Mein Verweis auf Cohen hat vielmehr den sachlichen Grund, dass dieser die Thematik des „Fremdlings“ als Erster in einen philosophischen Kontext gestellt hat.Footnote 5

Cohen hatte in seiner Ethik ausschließlich Menschen im Blick, aber immerhin gerade auch Menschen, die nicht zu einer irgendwo ansässigen, etablierten Gemeinschaft gehören, sondern dieser fremd sind – Menschen also, die angewiesen sind auf Hilfe, die jedoch kein durch Verwandtschaft oder ethnische Zugehörigkeit erworbenes Recht auf eine solche Hilfe haben. Sie sind es, denen in der Tradition, die Cohen neu denkt und neu belebt, tätiges Mitgefühl in Gestalt von Gastfreundschaft zuteil wird. In Cohens Ethik des reinen Willens, die 1904 publiziert wurde, findet sich zum allerersten Male die Thematik des „Fremdlings“, wie er schreibt, also des Anderen, der bedürftig ist, auf eine grundsätzliche Weise bedacht. Für ihn ist die Achtung des hilfsbedürftigen Fremdlings von systematischer Bedeutung, weil dessen ethische Gleichstellung mit den Ansässigen von einer Ethik, die sich nur auf die Mitglieder der eigenen Gruppe bezieht, hin zu einer universellen Ethik, die „die Menschheit“ umfasst, führt.

Cohen gibt dem Fremdling zudem eine nicht nur ethische, sondern metaphysische Bedeutung, denn er stellt die These auf, dass das Selbstbewusstsein wesentlich bedingt ist durch das Bewusstsein des anderen (1904, 204). Das hatte bekanntlich schon Ludwig Feuerbach behauptet, doch Feuerbach ging von einem vertrauten, womöglich sogar liebevollen „Du“ aus, das für das „Ich“ konstitutiv sei.Footnote 6 Bei Cohen kommt auch an dieser Stelle ein neues und spannendes Element herein, denn der Andere kann eben auch der Fremdling sein;Footnote 7 ja, gerade der Fremdling erregt durch sein andersartiges Aussehen und Gebaren Neugier und stellt das Ich in Frage. Die Reaktion muss nicht ablehnende Aggressivität sein; möglich ist auch, dass gerade die Auseinandersetzung mit dem Fremdling dem Einzelnen ermöglicht, zu enge Horizonte und Selbstbilder zu überschreiten. Erst wo der Fremdling wie ein Eingeborener aufgenommen wird, kann überhaupt, so Cohen, die Idee des ‚Menschen‘ entstehen, kann die Ethik universell werden.

Es liegt auf der Hand, dass Cohen diese Philosophie des Fremdlings nicht auf der Grundlage abstrakter Erwägungen formuliert, sondern auf der Grundlage eigener, oftmals leidvoller Erfahrungen als Jude in Deutschland, wie er auch in seinen Schriften immer wieder durchblicken lässt. Vielleicht speist sich aus solchen Erfahrungen sein radikales Neudenken des Fremdlings. Cohen geht so weit, den bekannten Spruch aus dem Alten Testament: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (3 Mose 19,18; gleichlautend mehrere Parallelstellen im Neuen Testament) neu zu übersetzen mit „Liebe den Fremdling wie dich selbst.“Footnote 8 In diesem Spruch werden, wenn man ihn so wie Cohen versteht, die Forderungen der antiken philoxenía überboten. Zugleich macht Cohen deutlich, dass der Fremdling, dem man Gutes tut, indem man ihn pflegt, ihm ein Dach über dem Kopf gewährt, ihn speist, seine Wunden versorgt usw., nicht nur Empfänger von Wohltaten und Gaben ist, sondern auch den Horizont des Gastgebers erweitert. Bei diesem Fremdling denken Cohen wie auch die untergründig von ihm beeinflussten Denker Levinas, Derrida sowie Ricoeur, auf die sich die moderne Diskussion der Gastfreundschaft in der Regel bezieht, stets nur an Menschen – nicht an nicht-menschliche Wesen. Das ist auch naheliegend. Und es ist ungebrochen aktuell: In der Lage des hilfsbedürftigen Fremden, zum Beispiel in der Lage des staatenlosen Geflüchteten, befinden sich heute immer noch ungezählte Menschen. In der Situation des Fremdlings ohne oikos befinden sich heute aber auch sehr viele nichtmenschliche Wesen.

4 Tiere ohne oikos

Durch gezielte Verfolgung, aber auch indirekt durch die von Menschen vorgenommenen Landschaftsveränderungen sind viele Tiere dort, wo sie jahrtausendelang zuhause waren, wohnsitzlos geworden. Sie sind nicht in erster Linie deshalb fremd, weil sie etwa aus eigenem Entschluss wandern, sondern weil sie vertrieben wurden, weil ihnen ihre oíkoi genommen wurden. Zwar fliegen noch genügend Insekten herum, von denen die Tiere sich nähren können. Zwar gibt es die bekannten Hügel und Flüsse immer noch, wie seit Jahrhunderten. Diese sind aber so drastisch begradigt und transformiert, dass die Tiere keine Orte mehr finden, an denen sie ihr Nest bauen und ihre Jungen aufziehen können. Damit ist aber ihre Existenz massiv in Frage gestellt. Sie sind Ausquartierte, Unbehauste im eigenen Land. Finden sie keine Orte mehr, an denen sie nisten und ihre Jungen großziehen können, dann werden sie aus jenen Landschaften, in die sie seit vielen Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden immer wieder von ihren Zügen zurückkehrten, verschwinden. Und daher kann das philosophische Denken des „Fremdlings“ und seiner Aufnahme heute auch auf nichtmenschliche Wesen übertragen werden.

Diese Übertragung der Thematik des Fremdlings und der Gastfreundschaft auf den nichtmenschlichen Bereich findet ihre Rechtfertigung also darin, dass in der heutigen Welt Tiere und Pflanzen durch menschliche Aktivitäten vielerorts ihre angestammte Heimat verlieren und auf Hilfe angewiesen sind, wenn sie nicht untergehen sollen. Die Zahlen und Fakten sind so bekannt, dass sie nur kurz angesprochen werden sollen. Im Living Planet Report 2022 des WWF wird festgehalten, dass zwischen 1970 und 2012 die Bestände wildlebender Wirbeltiere sich mehr als halbiert haben: die Populationen sind um insgesamt 69 Prozent geschrumpft.Footnote 9 An Land gibt es heute mehr Nutztiere als Wildtiere, und auch das von Menschen gezogene und gehaltene Geflügel übertrifft, gemessen am Gewicht, alle wildlebenden Vögel bei weitem (Bar-On et al. 2018). Überall, auch in Deutschland, verschwinden die wildlebenden Vögel, nur wenige besonders anpassungsfähige Arten haben stabile oder sogar wachsende Populationen. Zwischen 1992 und 2018, so besagen Hochrechnungen, hat Deutschland rund 14 Millionen Brutvögel verloren. Bei einigen Arten sind die Bestandseinbrüche dramatisch, wie etwa beim Rebhuhn (Gerlach et al. 2019, 2). Auch Tiere, die in den Zwischenräumen zwischen Land und Wasser, in Uferzonen, Schilfzonen oder Auwäldern leben, die allesamt durch Trockenlegungen und Begradigungen verschwinden, sind in besonderem Maße bedroht. Der sich entfaltende Klimawandel, der dazu führt, dass sich vom Äquator ausgehend die Klimazonen zu den Polen hin verschieben, übt einen zusätzlichen Druck auf Tiere und Pflanzen aus.Footnote 10 Die gesamte Natur gerät in Bewegung, denn die Lebewesen folgen den Klimazonen. Wer in einer fast überall von Menschen dominierten Welt nicht schnell genug neue Habitate findet, wer nicht anpassungsfähig genug ist, geht unter. Selbst das eigentlich recht mobile und anpassungsfähige Volk der Vögel findet in unserer bis zum Letzten ausgenutzten Landschaft kaum mehr Platz.

Die Forderungen, die von Berlepsch vor über einhundert Jahren erhob, sind daher heute weitaus dringlicher als zu seiner Zeit. Viele Lebewesen, darunter eben auch viele Vogelarten, sind heute auf menschliche Hilfe angewiesen. Und diese Hilfe äußert sich zum einen im Schutz dieser Lebewesen vor Verfolgung, zum anderen aber auch in tätiger Gastfreundschaft, die den Tieren das gibt, was sie brauchen, aber in unserer Landschaft kaum mehr finden: Ersatzlebensräume, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind. Was Vogelschützer und mutatis mutandis viele andere Naturfreunde tun, das kann daher, so mein Vorschlag, als eine ökologische Form der Gastfreundschaft angesehen werden. Denn für jene, die ihren oikos verloren haben oder die jedenfalls keinem oikos zugeordnet werden können, wird, und sei es nur zeitweise, ein Ersatz-oikos, eine paroikía, geschaffen oder doch angeboten: eine Brutstätte zumindest für einen Sommer, eine Pflegestätte oder auch gleich ein ganzer, neugeschaffener Ersatz-Lebensraum.

Daher liegt es nahe, die alten Leitbilder und die mit ihnen verbundenen Diskurse und kulturellen Traditionen, die unter den Überschriften hospitalitas bzw. philoxenía überliefert sind, zu übertragen auf den unmittelbar unterstützenden Umgang mit wild lebenden Tieren und Pflanzen, die durch die zunehmende Aneignung und Überformung von Biotopen durch menschliche Aktivitäten sowie durch den Klimawandel in Bedrängnis geraten. Zwar ist die Unterstützung etwa von Hunger leidenden Singvögeln im Winter oder der Bau von Ersatznistgelegenheiten, also von künstlichen Heimaten für Singvögel, Fledermäuse, Greifvögel oder Insekten, nicht identisch mit der Aufnahme verfolgter Menschen. Menschen, die zum Beispiel aufgrund eines Erdbebens ihre Wohnung oder ihr Haus verloren haben, wenden sich an andere Menschen, ziehen z. B. übergangsweise zu Verwandten. Unter Tieren ist ein solches Einander-Helfen zwar ebenfalls bekannt,Footnote 11 aber doch weniger allgemein und weniger differenziert. Gleichwohl ist die Nothilfe für verfolgte und vertriebene nichtmenschliche Lebewesen in vielen wichtigen Hinsichten der Nothilfe für verfolgte und vertriebene Menschen ähnlich. Auch die zugrunde liegende ethische Intuition liegt nicht sehr weit auseinander. Der Gast kann eben auch eine Uferschwalbe sein oder ein Grünfink, den ich im Winter mit geeignetem Futter in meinem Futterhäuschen im Garten versorge. Es kann die Blaumeise sein, die in dem von mir aufgehängten Nistkästen ein Zuhause findet, nachdem in der natürlichen Umwelt der Meise, in den Wäldern, kaum noch alte Bäume mit morschen Holzzonen, in denen sich Nisthöhlen bauen ließen, zu finden sind. Der in Not geratene Fremdling kann auch jener Falke sein, der auf einem Wiesenstück in einem öffentlichen Park, in unmittelbarer Nähe der vorbeigehenden Menschen und Hunde, ohne sich weiter zu regen auf dem Gras sitzt, und der offenbar Hilfe braucht, wenn er nicht bald von einem beißlustigen Hund, der ohne Leine herumstromert, zur Strecke gebracht werden soll.

5 Drei Dimensionen ökologischer Gastfreundschaft

Ökologische Gastfreundschaft ist eine Gestaltung von Koexistenz. Ich möchte ihr Profil etwas präziser herausarbeiten, indem ich drei Dimensionen hervorhebe: die pragmatisch, die hermeneutische und die politische.

5.1 Die pragmatische Dimension

Im Bereich der theologischen Diskussion um die Ethik der Gastfreundschaft ist bewundernswert klar herausgearbeitet worden, dass die Gastfreundschaft sich historisch entwickelt hat (Gärtner 2012, 100–115). Das bedeutet, dass immer neue institutionalisierte Formen der Gastfreundschaft geschaffen wurden. Diesen produktiven Prozess kann man bis heute beobachten. Es werden immer wieder neue Formen der Gastfreundschaft erfunden und etabliert; man denke etwa an die Hospizbewegung. Die Gastfreundschaft ist keine nur kontemplative, individuelle Angelegenheit, sie ist ganz im Gegenteil organisierbar und sogar institutionalisierbar. Durch Organisation wird sie wirksamer. Dies sieht man bereits in der menschlichen Welt, wenn etwa diejenigen Kirchengemeinden (ebd., 112–114), die die alte Institution des Kirchenasyls in der Gegenwart wiederbeleben, sich zusammenschließen, um über gemeinsame Erfahrungen und erprobte Lösungen zu diskutieren. Man sieht es aber insbesondere auch im ökologischen Bereich, denn erst der organisierte Zusammenschluss einzelner Vogelfreunde zum Bund für Vogelschutz ermöglichte es, die Hilfen flächendeckend anzubieten und das Anliegen auch politisch wirksam zu vertreten.

Zur pragmatischen Dimension zählt, dass die Gastfreundschaft eine kreative Praxis ist. Sie erfordert technische Kompetenz, Erfindungsgabe und oft auch Improvisationsvermögen, denn um das Ziel zu erreichen, einem fremden Wesen zu helfen, das auf der Suche nach einem oikos ist – einem Rastplatz, einem Nistplatz, einem passenden Biotop –, muss der ökologische Gastfreund, die ökologische Gastfreundin improvisieren, vorhandene Gebilde umfunktionieren (zum Umfunktionieren vgl. de Certeau 1988, 55–76 u. passim) oder auch ganz neue schaffen. Im Bereich der menschlichen Gastfreundschaft ist dies alltäglich; kommen angemeldete oder unangemeldete Gäste, müssen neue Betten improvisiert werden. Im Bereich der christlichen Religion und Kultur ist die Krippe, in die Maria nach Lukas 2,7 ihren auf der Reise geborenen Erstgeborenen Jesus hineinlegt, das wohl bekannteste Beispiel (auch) für dieses Improvisieren, denn eine Futterkrippe (phatne bzw. praesepio) ist ein Korb oder Trog, der eigentlich dazu dient, Tiere zu füttern. Maria, die mit ihrem Verlobten Joseph in der Herberge bekanntlich keinen Platz fand, nutzt diese Einrichtung um und macht nach ihrer offenbar unerwartet frühen Niederkunft ein Kinderbettchen daraus, das für die wenigen Stunden oder Tage, da sich die kleine Familie in Bethlehem aufhielt, auch ausreichte. Diese umfunktionierte Krippe wurde im christlichen Kulturraum und weit darüber hinaus zu einem vielsagenden und wegweisenden Symbol nicht nur für religiöse Andacht, sondern auch für den spontanen Empfang Hilfsbedürftiger. Der französische Ausdruck crèche bezeichnete ab dem 18. Jahrhundert Heime für Findelkinder und seit dem 19. Jahrhundert und bis heute auch Einrichtungen für die Aufnahme von Kleinkindern arbeitender Eltern; auch in Deutschland spricht man, dem französischen Vorbild folgend, von Kinderkrippen (vgl. Zentralinstitut für Sprachwissenschaft 1993, 735).

Der von Maria umfunktionierte Futtertrog: vielleicht das schönste, sicher aber das bekannteste und wirkmächtigste Symbol für den improvisierten Empfang. Ohne Improvisieren kein Empfang, keine Gastfreundschaft. Auch im Bereich der Gastfreundschaft für nichtmenschliche Wesen gilt: Erfindungsgeist ist unerlässlich. Hierfür steht exemplarisch der Nistkasten. Er ist selbstverständlich nicht das einzige und letzte Beispiel ökologischer Gastfreundschaft und wird sicherlich durch weitere kreative Einrichtungen ergänzt und vielleicht übertroffen werden. Längst gibt es Insektenhotels, Amphibiendurchgänge (auch Krötentunnel genannt), Wildtierbrücken, Fischpässe, die allesamt dazu dienen, menschgemachte Strukturen auch für wildlebende Tiere (wieder-)bewohnbar oder zumindest weniger gefährlich zu machen. Im Bereich der Architektur ist unter dem Stichwort der Cohabitation zumindest eine Diskussion in Gang gekommen.Footnote 12 Was sich als Notlösung in der Praxis bewährt, kann erneut zum Einsatz kommen und verbessert werden, schließlich lassen sich viele einzelne Maßnahmen zusammenführen und organisieren; so entstehen dann z. B. Greifvogel-Auffangstationen (oder auch Meeresschildkröten-Auffangstationen). Dabei verändern die Techniken und Dinge ihren Zweck. Als Beispiel kann man erneut den Nistkasten erwähnen, denn er entwickelte sich aus Fallen, die ursprünglich zum Fang von Vögeln genutzt wurden (vgl. Föhr 2005). Auch Zoologische Gärten und Aquarien sind heute nicht mehr Tiergefängnisse, die gegen eine Eintrittsgebühr die gefahrlose Betrachtung von in Behältern gehaltenen exotischen Tieren ermöglichen, sondern werden umfunktioniert und uminterpretiert in Refugien und Aufzuchtstation für gefährdete Tierarten.Footnote 13

5.2 Die hermeneutische Dimension

Die Gastfreundschaft ist nicht nur ein „Machen“, sondern setzt auch geistige Anstrengungen voraus, so wichtig das improvisierende Umfunktionieren, das tätige Zimmern und Zurechtmachen von Ersatz-Behausungen oder Ersatz-Lebensräumen auch ist. Es geht immer auch um einen Zugang zu der Innenperspektive des Fremdlings oder der Fremdlinge. Dieser Zugang ist zunächst wohl stets emotional, er beruht auf Mitleid oder genauer Mitgefühl mit dem hilfsbedürftigen Wesen. Doch diese affektive Grundlage ist weder besonders stabil, noch trägt sie sehr weit. In der Praxis erweist sich als entscheidend das erfolgreiche Verstehen jener anderen, die in Not geraten sind und denen geholfen werden soll. Man muss wissen, was in ihnen vorgeht, wie sie fühlen, was sie wollen, wessen sie bedürfen.

Bei der menschlichen Gastfreundlichkeit ist dies meist schon rein sprachlich der springende Punkt, denn wer wirklich helfen will, kann dies nur, wenn er oder sie, sei es mithilfe eigener Sprachkompetenz oder mithilfe von Übersetzern oder sonst mit ‚Händen und Füßen‘ erfragt, wo der Schuh drückt und was eigentlich gebraucht wird. Aber auch, wo es um Hilfen für Vögel und andere in Not geratene wild lebende Tiere und Pflanzen geht, kommt alles darauf an zu verstehen, was diese Wesen eigentlich sind und was sie brauchen. Es hilft nichts, hungrige Meisen mit Süßspeisen füttern zu wollen. Wie es beim Umgang mit menschlichen Fremden wichtig ist, sie nicht aus den Selbstverständlichkeiten der eigenen Kultur heraus verstehen zu wollen, sondern gerade auf ihre andersartigen Bedürfnisse und Gewohnheiten zu achten, so kommt es auch bei diesen nichtmenschlichen Gästen darauf an, sie nicht wie die eigene Spezies, wie Menschen also, zu behandeln, sondern auf ihre Differenz aufmerksam zu werden und an dieser das Handeln auszurichten. Hier geht es um ein die Menschenwelt übersteigendes Verstehen, das jedoch keineswegs beliebig oder rein intuitiv, sondern rational begründbar ist, wissenschaftlich fundiert sein kann und sich im erfolgreichen Helfen objektiviert.Footnote 14 Dieses Verstehen geht im bloßen Gefühl nicht auf, sondern übersetzt sich in eine Praxis, die durch Lernen, durch Annäherung und Distanz gekennzeichnet ist. Man macht Erfahrungen mit den Gästen, versteht sie mit der Zeit besser. Fehler, die man anfangs in der Interaktion machte, vermeidet man. Der Gastgeber muss den Eigenraum und die Eigenzeiten des Gastes anerkennen, wenn dieses Verhältnis glücken soll. Doch das Verstehen bleibt nie ganz einseitig: auch der Gast erwirbt ein gewisses Verständnis für den Gastgeber. Wo beides gelingt, entsteht eine neuartige Beziehung. Die ökologische Gastfreundschaft ist dann eine positive Form der Gestaltung von Koexistenz.

5.3 Die politische Dimension

Der Gastfreundschaft ist ein transzendierendes Moment inhärent, und das macht sie philosophisch interessant und politisch brisant. Schon Cohen hatte auf diesen wichtigen Aspekt im Rahmen seiner Philosophie des „Fremdlings“ deutlich hingewiesen. Die Gastfreundschaft überschreitet bereits in den auf Menschen bezogenen ethischen Traditionen die Grenzen der durch Verwandtschaft oder Glauben oder Nationalität usw. gebundenen Gruppen. Sie überschreitet hier, bei der ökologischen Gastfreundschaft, sogar die Grenzen der Menschenwelt als solcher. Damit komme ich zum letzten Punkt, den ich hervorheben möchte, zur politischen Dimension der Gastfreundschaft. Indem jemand einem Tier einen neuen oikos gibt, es (wieder-)einbürgert in einen Raum, aus dem es zuvor ausquartiert worden war, fordert er oder sie natürlich auch die eigenen Nachbarn heraus. Hier wird die Konfliktträchtigkeit, die zu allen Zeiten die Gastfreundschaft begleitet hat, sichtbar. Wo Fremde aufgenommen werden, werden nicht alle begeistert sein. Nicht ohne Grund ist die Xenophobie – Fremdenfurcht – viel bekannter als die Xenophilie, die Fremdenfreundlichkeit. Auch im ökologischen Bereich ist Streit eher die Regel als die Ausnahme. Im Fall der Uferschwalben mag es so sein, dass nahezu alle deren Dasein erfreut oder sich jedenfalls niemand an ihrer Anwesenheit stört. Doch ganz anders sieht es bei den sogenannten „Raubtieren“ bzw. „Raubvögeln“, den von Naturschützern heute in der Regel als „Beutegreifer“ bezeichneten Geschöpfen, aus. Die Rückkehr der Fischadler (Pandion haliaetus) wird von Jägern und Anglern keineswegs überall gern gesehen. Die Wiedereinbürgerung des Luchses (Lynx lynx) erfolgte nicht ohne Widerstand (vgl. Malkmus 2020, 83–110). Vollends entbricht der Streit bei angstbesetzten Tieren wie dem Wolf (Canis lupus).Footnote 15 „Gehört“ der Wolf nach Deutschland? Diese Frage ist ein Politikum, denn nach Ansicht nicht weniger Menschen geht vom Wolf eine erhebliche Gefährdung nicht nur für Nutztiere, sondern auch für die Menschen aus. Bestimmte Lebewesen touchieren nicht nur die Interessen der Eingesessenen, sondern stellen auch deren Selbstverständnis als politisches Kollektiv in Frage.

Schon die Wiedereinbürgerung des Bibers (fast stets: Castor fiber), so sehr sie von Naturfreunden gefeiert wurde, rief heftige Kritik hervor. Das Verständnis, das der einzelne Gastgeber für seine bepelzten oder auch gefiederten Freunde zunächst selbst erwerben muss, muss auch anderen nahegebracht werden, es muss geradezu gegen Widerstände durchgesetzt werden. Und es ist nicht unbegrenzt; denn die bestehende Gemeinschaft, der bestehende oikos hat durchaus ebenfalls Anspruch darauf, dass seine Rechte respektiert werden.

Der Wolf, der Biber oder auch der nun wieder in den Alpen eingebürgerte Bartgeier (Gypaetus barbatus): sie alle waren einmal in Mitteleuropa heimisch und kehren nun wieder zurück. Diesen Rückkehrern stehen heute auch viele Neuankömmlinge gegenüber, Tier- und Pflanzenarten, die sich bei uns ausbreiten, die aber ursprünglich aus weit entfernten Weltgegenden stammen. Hier muss man also (mindestens) zwischen Typen von Fremden unterscheiden. Da gibt es die liebgewonnenen und vertrauten Lebewesen, wie die Meisen oder die Schwalben, die aber in der nahezu vollständig funktionalisierten Landschaft Mitteleuropas wohnungslos geworden sind. Ihnen zu helfen, damit sie weiter bei uns leben können und uns erfreuen, war immer schon das erste Anliegen des Vogelschutzes. Neben ihnen gibt es aber auch die umstrittenen Fremden, diejenigen, die zeitweise sogar durch gewaltsame Verfolgung, durch Nachstellungen aller Art aus ihren alten Wohngebieten ausgebürgert wurden, wie z. B. der Bartgeier, der Steinadler oder auch der Wolf oder der Luchs. Sie werden wiedereingebürgert, was nicht allen gefällt. Und schließlich gibt es noch den Typus des Einwanderers, der im Zuge der ökologischen Globalisierung zu uns kommt. Vielfach kann man auch hier von Bereicherungen sprechen, etwa bei den Asiatischen Halsbandsittichen (Alexandrinus mallinensis, auch bekannt als Psittacula krameri mallinensis), die seit den 1960er-Jahren in Köln und anderen Großstätten leben und sich fortpflanzen. Sie erfreuen sicher nicht alle, weil sie die Angewohnheit haben, sich nachts auf zentralen Schlafbäumen zu versammeln, wo sie nicht nur miteinander lautstark kommunizieren, sondern auch reichlich Kot fallen lassen. Auch andere eingewanderte Vogelarten, wie die Nandus (Rhea americana) in Schleswig-Holstein, gelten manchen als problematisch. Und die eindrucksvollen, in Nordrhein-Westfalen brütenden Chileflamingos (Phoenicopterus chilensis) haben leidenschaftliche Freunde und Gegner. Hier gilt es abzuwägen, zu beobachten und kreative Lösungen zu finden, um ein dauerhaftes Miteinander zu ermöglichen. Die Beseitigung, die sogenannte Vergrämung oder Bejagung sollte immer nur die letzte Möglichkeit sein. Bei Vögeln ist der Problemdruck, der durch Neuankömmlinge erzeugt wird, ohnehin relativ gering, verglichen mit z. B. Gewässerorganismen wie der Chinesischen Wollhandkrabbe (Eriocheir sinensis), die nachweislich massiven Schaden anrichtet. Von diesen Neubürgern gilt: nicht alle sind eine erfreuliche Bereicherung.

Eine wahllose und unbegrenzte Gastfreundschaft untergräbt die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit und wird daher zwar in der Theorie bisweilen gefordert, hat aber in der Praxis keine Relevanz.Footnote 16 Und dies nicht nur, weil bestimmte aufgenommene Wesen sich als schädlich für die Menschen erweisen, sie möglicherweise sogar attackieren, sondern auch, weil heimische Arten durch sie geschädigt oder verdrängt werden können. Die Debatte um die sogenannten invasiven Arten kann hier zwar nur angesprochen werden, der Streit um diese Arten zeigt aber, dass auch im ökologischen Bereich eine unbegrenzte Gastfreundschaft nicht einfach dogmatisch postuliert werden kann. Zwar setzt alle Gastfreundschaft zunächst eine vorbehaltlose Offenheit voraus, aber diese muss sich in der Praxis bewähren. Gastfreundschaft ist eine Gestaltung von Koexistenz; damit diese gelingen kann, sind nicht nur die Bedürfnisse und Ansprüche der Hinzukommenden zu beachten, sondern auch die Bedürfnisse und Ansprüche der angestammten Anwohner, sowohl der Menschen als auch der hier lebenden Tier- und Pflanzenarten.

Und noch eine weitere politische Fragestellung knüpft sich an die ökologische Gastfreundschaft. Man kann an sie ebenso wie an ihre Pendants im rein menschlichen Bereich die Frage stellen, ob es sich bei dem gastfreundlichen Handeln nicht um ein bloßes Kurieren am Symptom handelt und damit um eine Aktivität, die im Ganzen eher schadet als nutzt. Denn, so könnte man argumentieren, dieses eifrige Tun lenkt den Blick von den eigentlichen Ursachen ab, der Naturzerstörung, durch die so viele zuvor wild lebende Geschöpfe nunmehr auf die Hilfe der Menschen angewiesen sind. Bekämpfung der Ursachen hieße demgegenüber, die weitere Inbesitznahme von Lebensräumen zu beenden und rückgängig zu machen. Die Weltnaturschutzkonferenz in Montréal 2022 hatte sich dieses Ziel gesetzt; man einigte sich schließlich immerhin auf die Absichtserklärung, bis 2030 30 Prozent der Landflächen und der Meere unter Schutz zu stellen.Footnote 17 Denn wo die Lebensräume von Arten erhalten oder wiederhergestellt werden, müssen keine Ersatzlebensräume und Notbehelfe geschaffen werden. Wenn man die aktuelle Situation betrachtet, dann wird allerdings klar, dass die Alternative zwischen Ursachenbekämpfung und freiwilliger Aufnahme falsch ist. Das eine ist heute ohne das andere nicht möglich. Die Naturzerstörung ist soweit fortgeschritten, dass auch die verbliebenen Populationen oftmals nur noch dann eine Überlebenschance haben, wenn der Schutz ihrer Gebiete ergänzt wird durch weitere Hilfen in Gestalt von Zucht- und Auffangstationen usw.

Nicht wenige Menschen entwickeln durch die Erfahrung der Freude unmittelbarer ökologischer Gastfreundschaft, durch den erlebten, beglückenden Kontakt mit wildlebenden Tieren überhaupt erst ein ökologisches Interesse und engagieren sich dann auch politisch. Und so gehen auch die großen Verbände, etwa der Landesbund für Vogelschutz, stets beide Wege, indem versucht wird, nicht nur zum Schutz und Verständnis einzelner Tierarten beizutragen, sondern von dort zum Schutz ihrer ursprünglichen Biotope und insgesamt zum Schutz der Natur zu gelangen.Footnote 18

6 Die Gastfreundschaft: Pflicht oder Tugend?

Bislang wurde die ökologische Gastfreundschaft als ein Handeln bezeichnet, als eine Gestaltung von Koexistenz; auch das Wort Praxis, das Wort Leitbild oder das Wort Tradition habe ich verwendet. Diese mehrstimmige Begrifflichkeit hat das Ziel, die Vielschichtigkeit des Phänomens bewusst zu halten. Aus der Perspektive des ethischen Diskurses ist aber eine Einordnung in die gewohnten Begriffe wünschenswert. Ist die Gastfreundschaft eine Pflicht oder eine Tugend?

Als Tugend bezeichnen wir eine durch Übung und/oder Erziehung erworbene, vorbildliche Haltung; unter einer Pflicht verstehen wir eine verbindliche moralische oder rechtliche Norm. Oder kurz: eine Pflicht ist eine Verhaltenserwartung, eine Tugend eine Verhaltensbereitschaft. Diese Formulierung ist zwar nicht ganz genau, verdeutlicht aber, dass sich Pflicht und Tugend in der Perspektive unterscheiden: im einen Fall wird von außen auf das Verhalten geblickt, im anderen eher von innen her. Pflichten werden auferlegt, Tugenden entwickelt man.

Eine Pflicht zur Gastfreundschaft gibt es nicht, daher scheint sie eher eine Tugend zu sein, eine freiwillig entwickelte Verhaltensbereitschaft (Das bedeutet jedoch nicht, dass es nicht auch Pflichten gäbe, die die Tugend der ökologischen Gastfreundschaft ergänzen. So gebietet das Bundesnaturschutzgesetz in seinen §§ 14 und 15, dass überall dort, wo durch Baumaßnahmen ökologische Lebensräume beeinträchtigt oder zerstört werden, Ersatzlebensräume für die betroffenen Arten zu schaffen sind.Footnote 19 Wie Untersuchungen von Naturschutzverbänden zeigen, wird diesen Verordnungen oft allenfalls halbherzig nachgekommen. Immerhin aber existiert diese rechtliche Pflicht heute. In Zukunft dürften noch weitere rechtliche Pflichten hinzukommen, um wildlebenden Tieren das Überleben in menschlich geprägten Strukturen zu erleichtern.).

Die ökologische Gastfreundschaft ist also am ehesten als Tugend anzusehen, und daher kann man sie mit anderen, derzeit viel diskutierten ökologischen Tugenden vergleichen, etwa mit der Dankbarkeit, Demut, Ehrfurcht, Maßhaltung, Gelassenheit oder Hingabe.Footnote 20 Anders als diese oft genannten, eher kontemplativen ökologischen Tugenden ist die Gastfreundschaft vor allem tätig. Sie entwickelt sich aus der und in der Praxis, erfordert Kreativität und Flexibilität und transformiert sich ständig. Wo sie in allzu feste Formen erstarrt, verliert sie an Wirksamkeit.

Was hat der Gastgebende selbst davon, wenn er anderen hilft? Zum einen gewährt die ökologische Gastfreundschaft, wo sie gelingt, eine ganz eigentümliche Befriedigung und Freude. Man hat etwas getan, etwas vollbracht, und zwar etwas Positives: einem Wesen, das sonst untergegangen wäre, das wohnungslos in der Welt umherirrte, konnte geholfen werden. Eine Familie, und sei es eine Familie von Blaumeisen, hat einen Sommer lang einen Unterschlupf gefunden. All dies lässt sich sehen. Es lässt sich hören, wenn man unter dem Nistkasten steht und dem leisen oder auch mal lauten Leben darin zuhört. Es lässt sich fühlen. Wer je ein notleidendes, hungriges, verletztes Tier erfolgreich gepflegt hat, etwa einen Igel gut über den Winter brachte, höhlenbrütenden Vögeln Unterschlupf gewährte oder auch nur Singvögeln einige Körner hinstreute, wird dieses Gefühl tiefer Befriedigung kennen.

Zum anderen erweitert die Gastfreundschaft, weil sie eine lernende, sich transformierende Tugend ist, den eigenen Horizont. Was Hermann Cohen für den menschlichen „Fremdling“ aufzeigte, der das Selbstbild seines Helfers erweitert, das gilt auch für die nichtmenschlichen Schutzsuchenden. Wer sich für Vögel begeistert, lernt immer mehr, die Welt auch aus der Perspektive seiner Lieblinge zu sehen. Man sieht dann zum Beispiel, welche Gefahren in den üblichen Stadtlandschaften und Universitätsneubauten mit ihren tückischen, großen Fenstern für Vögel lauern. Man lernt, sich selbst und die menschengeschaffene Welt mit den Augen der Vögel zu sehen. Man achtet nun auf den Vogelzug, bemerkt, wann die Tiere erstmals auftauchen und wann sie wieder verschwinden. Man tritt in ein gelingendes Verhältnis zu ihnen, indem man ihre Eigenräume und Eigenzeiten respektiert. Um es erneut mit den Worten des Bauunternehmers Benjamin Lauter zu sagen: „Es ist ein Erlebnis!“.