1 Einleitung

Im 34. CantoFootnote 1 der Divina Commedia erreicht Dante mit seinem Führer Vergil den tiefsten Punkt des Infernos, den Ort der Hoffnungslosigkeit. Dort treffen die beiden Wanderer auf Luzifer, den gefallenen Engel, der mit drei Mäulern an den Verrätern Brutus, Cassius und Judas frisst, die im Eis der untersten Höllenringe stecken. In diesen werden die schlimmsten Vergehen bestraft: Verschiedene Formen von Betrug mit Vertrauensbruch. Und im Sinne der contrapassio, der Bestrafung in Rücksicht auf das Verbrechen, sind die Strafen mit der Eiseskälte des Ortes verbunden. Dante Alighieri gibt seinen Leserinnen und Lesern durch den Aufbau der Höllenkreise eine Ordnung der Verbrechen und Sünden an die Hand. Während im siebten Höllenkreis die Gewalttätigen bestraft werden, leiden im achten Höllenkreis die Betrüger, die kein Vertrauen verletzt haben. Die schlimmsten Taten jedoch betreffen den Betrug mit Vertrauensbruch, den Verrat. Hier durchlaufen die beiden lebendigen Seelen die Orte, in denen der Verrat an Verwandten,Footnote 2 der politische Verrat, der Verrat an Gästen und schließlich, und am übelsten, der Verrat an Wohltätern steht.

Dass in Dantes Augen der Bruch des Vertrauens die schlimmsten Taten charakterisiert, mag erstaunen, fallen einem leicht Gräueltaten ein, die uns ebenso erschüttern. Die Kälte des Eises, welche die Vertrauenslosigkeit als Strafe symbolisiert, mag jedoch auf die fundamentale ethische Dimension, d. h. auf die Bedeutung des Vertrauens für das Zusammenleben, hindeuten. Ohne Zweifel ist Vertrauen als Ressource für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zentral. Bereits Dante weist darauf hin, dass der Vertrauensbruch im Grunde nicht nur die metaphysische, sondern auch die profane Ordnung empfindlich stört, ja zerstört.

Dass Vertrauen eine fundamentale Stellung in unserem Leben einnimmt, wird allseits anerkannt:Footnote 3 Sowohl für unsere soziale Praxis als auch für den individuellen Lebensvollzug ist Vertrauen nicht nur eine Ressource, durch die sich die eine oder andere Möglichkeit eröffnet, sondern scheint so fundamental, dass man geneigt wäre, Vertrauen als ein Existential im Sinne Heideggers, als eine Bedingung der menschlichen Existenz überhaupt zu verstehen.

Auch wenn Vertrauen fundamental für unser Leben ist, so ist der Begriff in der Geschichte der Philosophie selten thematisiert worden. Um ein beliebiges Beispiel herauszugreifen: Etwa findet sich in M. Schelers Untersuchung der Sympathie und Liebe in Wesen und Form der Sympathie keine tiefgreifende Analyse dessen, was Vertrauensakte auszeichnet (vgl. Scheler 1973). Eine der historischen Besonderheiten stellt da schon Th. Hobbes’ kurze Erläuterung der Rolle von Vertrauen in der Überzeugungsbildung dar. Doch auch in dieser Thematisierung von Vertrauen konzentriert sich Hobbes erstens auf die Funktion von Vertrauen, nicht auf den Charakter des Vertrauensaktes selbst (Hobbes 1996, 1., VII, 54 f.). Und zweitens unterscheidet er den Gebrauch von Vertrauen in epistemischen Kontexten von denen in religiösen Kontexten, etwa im credo. Tatsächlich ist Vertrauen in der religiösen Sprache häufig thematisch. Jedoch wird es dabei als explanans herangezogen, etwa in der Erläuterung des Glaubensbegriffes als „bedingungsloses Vertrauen“ (Schockenhoff 2014, 235) oder als Erläuterung von theologischer Hoffnung als „Vertrauen auf die noch verborgene Wirklichkeit des Reiches Gottes“ (Schockenhoff 2014, 264).

Als explanandum wird Vertrauen jedoch sowohl in theologischen als auch philosophischen Kontexten selten behandelt. Ein Grund mag darin liegen, dass der Begriff eine Komplikation für unser Verantwortungsverständnis aufwirft. Denn wenn im Vertrauen gehandelt oder gewusst wird, so scheinen gerade die rechtfertigenden Gründe zu fehlen. Im Vertrauen auf die Zeitungsberichte gebe ich Teile meiner epistemischen Pflichten ab und gehe ohne vollständige Rechtfertigung – denn sonst müsste ich ja nicht vertrauen – davon aus, dass die epistemischen Pflichten von der Verfasserin erfüllt wurden. Und analog sind Handlungen, die auf Vertrauen basieren, nicht vollständig durch das eigene Wissen rechtfertigbar (Castelfranchi und Falcone 2020, 217). Oder anders gesagt, Wissen und Handeln im Vertrauen auf andere stellt unsere epistemische und praktische Autonomie in Frage, insofern wir die Kontrolle aufgeben und uns für andere öffnen müssen. Damit macht Vertrauen auch vulnerabel, etwa indem Vertrauen enttäuscht oder im schlimmsten Fall missbraucht wird. Gerade der Vertrauensbruch ist besonders schmerzhaft und kann zu tiefgreifenden und langwierigen psychischen Veränderungen führen. Daher warnen Theoretikerinnen wie O. O’Neill (2020) davor, Vertrauen zu schenken, ohne die Bilanz der Vor- und Nachtteile zu beachten. Im Grunde, so O’Neills Grundgedanke, müsse man darauf achten, klug zu vertrauen. Was aber ist Vertrauen und welche Rolle nimmt Vertrauen wirklich für das menschliche Leben ein?

Wie bei vielen existentiellen Verhältnissen und psychologischen Begriffen steht uns die Bedeutung des Vertrauensbegriffs zwar deutlich vor Augen. So macht es uns keine Schwierigkeiten die Frage zu beantworten, ob wir jemandem vertrauen oder nicht.Footnote 4 Zugleich ist aber oft nicht klar, was Vertrauen eigentlich genau ist. Erschwerend ist etwa, dass das Wort „Vertrauen“ in zahlreichen Kontexten und in Hinsicht auf zahlreiche Sachverhalte verwendet wird. Wir können uns etwa fragen, ob wir einer alten Treppe in einem baufälligen Haus vertrauen können, ob das Pferd, das wir reiten, Vertrauen verdient, ob wir unserem Partner oder Freund vertrauen oder einer Firma oder Institution. Das heißt, dass wir ‚Vertrauen‘ in Hinsicht auf natürliche Entitäten, Artefakte, menschliche Subjekte und soziale Gebilde und Situationen verwenden. Diese Bandbreite der Verwendungen macht es schwer, einen einheitlichen Sinn des Vertrauensbegriffs auszumachen, weshalb ihm ein einheitlicher Sinn z. T. einfach abgesprochen und er als umbrella-term bezeichnet wurde (Simpson 2012).Footnote 5

Verschiedene Arbeiten aus der philosophischen Forschung erhellen dabei wichtige Aspekte des Vertrauensbegriffs, etwa diejenigen von A. Baier (1986), R. Holton (1994), Κ. Jones (1996), Β. Lahno (2020) oder Faulkner (2015). Zwei unterschiedliche Verständnisse sind dabei hervorhebenswert:

  1. A.

    Theorien über Vertrauen werden regelmäßig im Ausgang vom Begriff der Verlässlichkeit konzipiert (Goldberg 2020, 97). Vertrauen wird so als eine Art Verlässlichkeitserwartung verstanden, zu der ein spezifisches Kriterium hinzutritt.

  2. B.

    Anders hingegen wird Vertrauen als eine personale Einstellung charakterisiert, die von einer nüchternen Verlässlichkeitsabschätzung insofern unterschieden ist, als dass ihr eine zweitpersonale Bezugnahme zukommt und ein Involvement der vertrauenden Person stattfindet (Holton 1994; Lahno 2020).

Interessant ist, dass beide Ansätze das Objekt des Vertrauens eigentümlich unbestimmt lassen. Nun ist Vertrauen zweifelsfrei ein Akt des Menschen, der Vertrauen schenkt. Insofern Vertrauen aber ein intentionaler Akt ist, erscheint es sinnvoll, Vertrauen als die Relation zwischen Subjekt und Objekt zu konzipieren.

Im Folgenden möchte ich daher zunächst zu den bestehenden Ansätzen, die den Vertrauensbegriff erläutern, einen Vorschlag machen, welches Charakteristikum das breite Spektrum der Verwendung des Vertrauensbegriffs zusammenhält. Die These, die mich dabei leitet, ist, dass die Wahrnehmung von Zwecken und gattungsspezifischen Zielen für den Vertrauensbegriff eine essentielle Stellung einnimmt. Daher nenne ich den vorliegenden Theorievorschlag auch das Zielverständnis von Vertrauen (= ZvV) in Bezug auf den Vertrauensbegriff. Das ZvV soll zunächst als affektive Haltung erläutert werden, die eine Rolle in der Überzeugungsbildung einnimmt (Abschnitt 2). Dabei baut diese Haltung auf einem (quasi) aristotelischen Verständnis von Entitäten in der Alltagswahrnehmung auf, insbesondere von Lebewesen, wie im Anschluss an Hans Jonas diskutiert werden soll (Abschnitt 3). Insofern diese Wahrnehmung für den Vertrauensbegriff konstitutiv ist, lebt in unseren Vertrauensverhältnissen die Annahme einer aristotelischen Ontologie weiter. Daran anschließend soll die Fähigkeit zur Wahrnehmung von Zielen im Anschluss an Tomasello ontogenetisch erläutert und als Grundlage für den Vertrauensbegriff verdeutlicht werden (Abschnitt 4). Dass Vertrauen in der Wahrnehmung fungiert, wird daran anschließend in Abgrenzung von Affordanz-Theorien der Wahrnehmung verdeutlicht (Abschnitt 5). Anschließend wird das ZvV in der Auseinandersetzung mit anderen Vertrauenskonzeptionen aus der Literatur profiliert (Abschnitt 6). Hier soll gezeigt werden, dass das ZvV die Vorteile anderer Konzeptionen integrieren, aber deren Schwierigkeiten vermeiden kann. Abschließend soll die existentielle Relevanz von Vertrauensbeziehungen in der Auseinandersetzung mit „therapeutischem“ und „transformativem“ Vertrauen illustriert und vertieft werden (Abschnitt 7).

2 Vertrauen als affektive und teilnehmende Haltung

Es ist wichtig, Vertrauen von Verlässlichkeitserwartungen zu unterscheiden. Im Folgenden möchte ich argumentieren, dass Vertrauen eine Haltung gegenüber Personen oder Gegenständen des Vertrauens ist, die mit einer Wahrnehmung von geteilten Zielen verbunden ist.Footnote 6 Diese Haltung ist keine Überzeugung neben anderen, sondern wirkt sich auf die Überzeugungsbildung aus. Verlässlichkeit ist hingegen eine Überzeugung, die mit einer nüchternen, kalkulierenden Einstellung kompatibel ist. Kurz gesagt ist Vertrauen dadurch konstituiert, dass eine teleologische Sichtweise und eine affektiv geprägte, teilnehmende Haltung eingenommen wird, die mit normativen Erwartungen einhergeht (vgl. Castelfranchi und Falcone 2020, 214 f.). Im Sich-Verlassen ist dagegen eine objektivierende, kalkulierende Einstellung dominant.Footnote 7

Dass Vertrauen besser als affektive Haltung denn als Überzeugung verstanden wird,Footnote 8 ist in etwa von R. Holton (1994), K. Jones (1996) und B. Lahno (2020) betont worden. Im Folgenden werde ich auf der Konzeption von Lahno aufbauend das ZvV charakterisieren. Gegen Vertrauenskonzeptionen, die Vertrauen als eine Überzeugung neben anderen konzeptualisieren, hat Lahno argumentiert, dass Vertrauen eine Form von Interaktion ist. Die Überzeugungen über eine Person behandeln diese aber wie einen beliebigen Gegenstand, über den man verfügen könne (151). Dagegen sei entscheidend, dass wir im Vertrauen einen „participant stance“ (Holton 1994, 66 f.; vgl. auch Lahno 2020, 152) gegenüber denjenigen einnehmen, denen wir unser Vertrauen schenken. Diese Haltung bildet eine Disposition, die die Reaktionsweise auf das Gegenüber bestimmt. Im Fall von Vertrauen ist diese Disposition affektiv geprägt, so Lahno, denn in ihr tritt eine Empfindung der Verbundenheit des Vertrauten und Vertrauenden ein. Diese Verbundenheit soll uns dabei erklären, warum Vertrauen zugleich eine normative Haltung ist: Diejenige, der Vertrauen geschenkt wird, soll (aus der Perspektive des Vertrauenden) das Vertrauen nicht enttäuschen. Diese Verbundenheit beruht nun selbst auf der Wahrnehmung von gemeinsamen Zielen. So schreibt Lahno, dass Verbundenheit heißt, dass

when trusting, the trustor perceives the trusted person as somebody whose actions in the given context are guided by common interests, by shared aims or by values and norms which the trustor himself takes to be authoritative. (Lahno 2020, 152)

Vertrauen teilt dabei, wie Lahno meint, essentielle Eigenschaften von Emotionen (153). Das Verständnis von Emotionen übernimmt er dafür von K. Jones (1996), die Vertrauen ebenfalls als affektive Haltung fasst. Jones beschreibt Emotionen oder Affekte als „distinctive ways of seeing a situation“ (11), also Tendenzen oder Foki in der Wahrnehmung. Dadurch erhalten Emotionen einen Status, der in die Überzeugungsbildung durch die Wahrnehmung eingebunden ist. Emotionen haben dabei die Effekte, unsere Wahrnehmung zu färben und unsere Kognitionen und Urteile (mit-) zu bestimmen, indem sie evaluativ wirken (vgl. Damasio 2005; 2021). Vertrauen ist demzufolge keine Überzeugung, sondern vielmehr ein Mittel für die Überzeugungsbildung.Footnote 9

Lahnos Bestimmung von Vertrauen als Wahrnehmung einer anderen Person, geleitet durch geteilte Interessen, Ziele oder Werte, bildet die Grundlage für das ZvV. Dabei sollte jedoch einem Missverständnis entgegengewirkt werden: Geteilte Interessen werden in der Literatur oft als eine Einstellung gegenüber der vertrauenden Person aufgefasst. So schreibt etwa Jones (1996), dass im Vertrauen dem trustee ein guter Wille gegenüber der eigenen Person zugeschrieben wird.Footnote 10 Und strukturell analog konzipiert Hawley (2014; 2019) Vertrauen, wenn sie meint, im Vertrauensakt meine man, es bestehe einem gegenüber ein commitment zu den gleichen Zielen. Diese Formen von geteilten Zielen sind jedoch zu stark, was ein Beispiel zeigen soll. Angenommen ich muss aus Deutschland flüchten und dabei unbedingt unentdeckt bleiben. Dabei lande ich am Hamburger Hafen und habe drei Schiffe zur Auswahl, auf die ich mich einschleichen kann, nennen wir sie Blau, Gelb und Grün. Am Abend vor der Abreise folge ich den drei Kapitäninnen in eine Kneipe und höre die folgenden Selbstaussagen: Kapitänin Blau sagt: „Seit einem Jahr leide ich an diesen Schwindelanfällen. Die hätten mich schon fast den Job gekostet. Sie kommen aus dem Nichts und setzen mich völlig matt.“ Kapitänin Gelb lässt dagegen verlauten: „Leute, ich kann auf See einfach nicht nüchtern bleiben. Jeden Tag trinke ich und mein Eindruck ist, in den letzten Monaten mehr als je zuvor.“ Kapitänin Grün macht dagegen deutlich: „Ich habe nun schon seit 15 Jahren Berufserfahrung. Im letzten Monat habe ich zudem eine erneute Überprüfung meiner Fähigkeiten gehabt. Alles ist wunderbar in Ordnung.“ Mein Entschluss ist leicht gefasst: Anstatt Lose zu ziehen, habe ich nun gute Gründe, mich auf das Schiff Grün einzuschleichen. Denn der gute Grund ist, dass ich Kapitänin Grün am meisten vertrauen kann.

Das Gegenbeispiel ist nun nicht prinzipiell gegen die Rolle von affektiver Wahrnehmung von Zielen im Vertrauen gerichtet. Denn mit Kapitänin Grün habe ich wesentliche Ziele gemein: Deutschland verlassen und gesund und munter an der Destination ankommen. Was aber nicht notwendig ist, ist das Vorliegen eines geteilten Zieles.Footnote 11 Und ein solches ist auch nicht hinreichend, denn wenn ich mich im Zug nach Berlin befinde und höre, dass eine Reisegruppe in Partylaune ebenfalls als Ziel Berlin ausgibt, so ist das kein Grund für mich, Vertrauen zu entwickeln. Vertrauen bedeutet vielmehr, dass ich wahrnehme, dass das Erreichen meiner Ziele von dem zielgerichteten Verhalten des Gegenübers abhängt. Insofern setzt der Vertrauende seine Ziele in ein Verhältnis zu den Zielen derer, denen er Vertrauen schenkt.Footnote 12 Das Wahrnehmen des eigenen Interesses ist nun eine notwendige Bedingung für Vertrauen. Insofern ist das Vertrauen selbstzentriert. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass Vertrauen zugleich bedeutet, sich für das Gegenüber zu öffnen. Denn im Vertrauensakt macht sich der Vertrauende abhängig vom autonomen, zielgerichteten Verhalten des Vertrauten – und insofern schließt der Akt des Vertrauens eine Vulnerabilität der vertrauenden Person ein. Daher beruht Vertrauen auf der Wahrnehmung und Anerkennung der autonomen Intentionen anderer Personen. Und da die Autonomie des jeweiligen Gegenübers nicht vollständig transparent ist, beruht das Vertrauen zudem auf einem Nicht-Wissen. Denn, wie oben gesagt, ist Vertrauen unnötig, wenn Wissen darüber besteht, was jemand tun wird.Footnote 13 Erzwungene Handlungen schließen folglich Vertrauen aus. Vertrauen bedeutet somit, die Realisierung der eigenen Ziele von der Autonomie einer anderen Person abhängig zu machen und insofern die eigene Vulnerabilität zu akzeptieren.

3 Vertrauen und die Zielgerichtetheit von Lebewesen

Paradigmatisch wird zielgerichtetes Verhalten anhand von animalischen Lebewesen wahrgenommen. Daher richtet sich Vertrauen auch typischerweise auf Tiere und Menschen.Footnote 14 Dass wir mit animalischen Lebewesen eine besondere, zielgerichtete Bewegungsform verbinden, lässt sich erfahren, wenn man den Moment beobachten darf, in dem sich aus einem Steinensamble ein Oktopus löst. Auch eine Zeitrafferaufnahme des Wachstums einer Pflanze ist phänomenologisch bemerkenswert, weil das Wachstum einer auffälligen Ordnung und Ausrichtung folgt. Animalische Bewegung ist jedoch aufgrund der Lokomotion und des größeren Bewegungsspektrums in qualitativ anderem Maße mit der Ausrichtung auf Ziele verbunden. Das macht schon die körperliche Gestalt vieler Tiere aus, die für uns unmittelbar mit einer Bewegungsform verbunden ist, die von den jeweiligen Tieren selbst ausgeht.

Worin besteht die Bewegungsform von tierischen Lebewesen, so dass Vertrauen auf der Wahrnehmung von Zielen aufbauen kann? Hans Jonas hat drei Merkmale festgehalten, die tierisches von pflanzlichem Leben unterscheiden: „Bewegungsfähigkeit, Wahrnehmung, Gefühl.“ (Jonas 1997, 184) Diese Merkmale hängen, so Jonas, auf interessante Weise zusammen. Bereits eine Pflanze vollzieht die selbsterhaltende Aktivität, die von H. R. Maturana, F. Varela und E. Thompson später als Autopoiesis beschrieben wurde (vgl. etwa Vgl. etwa Thompson 2007, 91–127). Autopoiesis bedeutet dabei, dass Pflanzen eine semipermeable Grenze ausbilden, mit der sie zwischen internen Prozessen und ihrer eigenen Umwelt unterscheiden. Semipermeabel ist die Grenze dabei notwendigerweise, weil sich Lebewesen nur dadurch erhalten können, indem sie Stoffe mit der Umwelt austauschen. Insofern muss die Grenze für den kontrollierten Stoffaustausch offen sein und zugleich so geschlossen, dass der Stoffaustausch für den Organismus kontrollierbar ist. Mit der Autopoiesis ist also verbunden, dass der Organismus sich von der Umwelt abgrenzt und die internen Prozesse und Reaktionen sich wechselseitig konstituieren oder voneinander abhängen, so dass sie als Selbstregulation oder Selbstproduktion verstanden werden können. Die Abgrenzung von der Umwelt sorgt also dafür, dass wir dem Lebewesen eigene Tätigkeiten zusprechen können, nämlich sich selbst aktiv zu erhalten. Thompson hat im Anschluss an Varela hervorgehoben, dass mit dem autopoietischen Charakter und der Konstitution und Kontrolle der eigenen Grenze zur Umwelt einhergeht, dass dem Organismus Sollwerte inhärieren, nach denen die eigene Konstitution reproduziert und der Austausch mit der Umwelt gestaltet wird. Insofern lässt sich das Verhalten des Organismus als zielgerichtet verstehen (vgl. Thompson 2007, 140–149).

Diese Form des Metabolismus und der Teleologie finden wir bereits in pflanzlichen Lebensformen. Jonas argumentiert nun, dass tierischen Lebensformen neue Handlungsmöglichkeiten und Freiheitsgrade gegeben sind, die eigenen Ziele zu erreichen. Den Grund dafür erblickt er in der Kombination aus Bewegungsfähigkeit, Wahrnehmung und Gefühl. Denn während Pflanzen an die Umwelt ihres Standortes gebunden sind, können Tiere den Ort wechseln, um ihren Bedürfnissen nachzugehen. Diese Fähigkeit impliziert aber, dass sich zwischen dem Bedürfnis und seiner Befriedigung eine zeitliche und räumliche Spanne auftut. Zeitlich ist das Bedürfnis nicht unmittelbar mit einer Austauschreaktion mit der Umwelt verbunden. Vielmehr ist für das Tier das Bedürfnis der Startpunkt für eine suchende Bewegung. Und aufgrund seiner Fähigkeiten kann das Tier nun räumlich nach einem Objekt für die Befriedigung des Bedürfnisses suchen. Wie Jonas schreibt:

Das große Geheimnis des tierischen Lebens liegt genau in der Lücke, die es zwischen unmittelbarem Anliegen und mittelbarer Befriedigung offenzuhalten vermag. D. h. in dem Verlust an Unmittelbarkeit, dem der Gewinn an Spielraum entspricht. (Jonas 1997, 187)

Drei Aspekte dieser Lücke hebt Jonas hervor. Erstens befinden sich die relevanten Objekte für das Tier in einem räumlichen Abstand, so dass sich die Umwelt des Tieres und der eigene Aktionsradius vergrößern. Hier tritt die Wahrnehmung als entscheidendes Moment der Organisation des tierischen Organismus auf. Denn mit der Wahrnehmung kann die Suche nach den räumlich entfernten Objekten gezielt verlaufen und die suchende Bewegung koordiniert werden. Zweitens bedeutet der zeitliche Abstand zwischen Bedürfnis und Befriedigung, dass das Tier das Bedürfnis über die Zeit hinweg empfinden muss, bzw. dass das wahrgenommene Objekt und das Bedürfnis über die zeitliche Spanne der Bewegung hinweg präsent bleiben müssen. Hier liegt, so Jonas, eine Funktion von Emotionen begründet, die diese zeitliche Spanne füllen können. Drittens folgt aus diesen „Lücken in Raum und Zeit […] die Ablösung des Handelns von seinem Zweck, oder das Phänomen mittelbarer Tätigkeit, bei den Tieren“ (Jonas 1997, 190). Das bedeutet, dass mit dem Handeln des Tieres der Zweck nicht unmittelbar erfüllt wird. Das hat weitere Konsequenzen für die Organisation des tierischen Organismus und verändert den Metabolismus. Im Kontext des Vertrauensbegriffs ist es nun aber wichtig, dass aus der Position der Beobachterin bei Tieren ein Handeln über eine Zeitspanne deutlich wird, das sich mitsamt seiner Zielgerichtetheit verstehen lässt. Das Verhalten von Tieren erscheint also zielgerichtet. Das zielgerichtete Verhalten ist dabei allerdings nicht vollständig transparent: Es kommen fast immer mehrere Handlungsbeschreibungen in Frage und auch das Ziel der Handlungen kann für die Beobachtung unzugänglich sein (vgl. Davidson 1973; 2001; Hösle 2018, 196–202).

Auf die Wahrnehmung von zielgerichteten Wesen können nun Vertrauensakte aufbauen. Zwar sind die konkreten Handlungsabsichten und Ziele für die Beobachterin nicht vollständig transparent. Aber durch das zielgerichtete Verhalten des Lebewesens kann sich mir die Frage stellen, ob das Verhalten mit meinen Zielen kompatibel ist, oder sogar für meine eigenen Absichten zuträglich. Wenn nun die affektiv getragene Haltung eingenommen wird, dass die eigenen Absichten durch die Handlungen der anderen unterstützt werden, ohne allerdings wissen zu können, ob die Handlungen des Gegenübers tatsächlich hilfreich sind, um die eigenen Ziele zu erreichen, liegt ein Akt des Vertrauens vor.

Das ZvV sieht im zielgerichteten Verhalten, dessen Ziele für die Beobachtung aber nicht transparent sind, die Grundlage für Vertrauen. Sind aber damit nicht Verwendungsweisen ausgeschlossen, in denen wir Vertrauen auf nicht lebendige Gegenstände anwenden? Hier liegen zwei Antwortmöglichkeiten für den vorliegenden Ansatz nahe. Zum einen ist für den Fall von Artefakten festzuhalten, dass sie telelogisch ausgerichtet sind. Insofern kann ich mich fragen, ob ich der im obigen Beispiel erwähnten Leiter vertrauen kann, insofern dieser ein bestimmter Zweck innewohnt. Dennoch kann ich mir unsicher sein, ob die Leiter, etwa aufgrund ihrer materialen Beschaffenheit, noch in der Lage ist, den Zweck zu erfüllen. Dann stellt sich mir die Frage, ob die Leiter noch vertrauenswürdig ist. Zum anderen kann argumentiert werden, dass Menschen lebensweltlich dazu neigen, Zweckausrichtung nicht nur bei Lebewesen wahrzunehmen, sondern als grundlegendes Merkmal allen Sachverhalten zuzusprechen (vgl. auch Heidegger 2001, § 15). In gewisser Weise folgen Menschen lebensweltlich also dem Aristotelismus, der die Konzeption von Form- und Zielursachen ja ebenfalls paradigmatisch an Lebewesen entfaltet, diese aber als Hylemorphismus ontologisch verallgemeinert (vgl. Jaworski 2018; Oderberg 2007, 177–200; 2008). Insofern kann sich ein Vertrauensakt zum Beispiel auch auf eine Steinkonstellation beziehen, von der ich möchte, dass sie mir hilft, über einen Fluss zu gelangen.Footnote 15

4 Die Fähigkeiten, Ziele wahrzunehmen

Die Wahrnehmung von Zielen anderer Wesen ist nun eine spezifische Eigenheit des Menschen. So schreibt M. Tomasello:

Nichtmenschliche Primaten haben zweifellos ein Verständnis aller möglichen komplexen physischen und sozialen Ereignisse, sie besitzen und verwenden Begriffe und kognitive Repräsentationen, sie unterscheiden deutlich zwischen belebten und unbelebten Gegenständen, und sie setzen komplexe und einsichtsvolle Problemlösestrategien bei ihrer Interaktion mit ihrer Umwelt ein. Nur betrachten sie die Welt nicht in Begriffen mittelbarer und oftmals verborgener „Kräfte“, zugrundeliegender Ursachen und intentionaler bzw. geistiger Zustände, die für das menschliche Denken so wichtig sind. (Tomasello 2002, 29)

Um Vertrauen zu verstehen, ist es nun irrelevant, Tomasellos These zu verteidigen, dass nichtmenschliche Primaten nicht die einem Handeln zugrundeliegenden Absichten und Intentionen wahrnehmen. Wichtig ist, dass diese Wahrnehmungsfähigkeit sich bei menschlichen Primaten manifestiert. Ontogenetisch entwickelt sie sich in der Phase, die Tomasello als die „Neunmonatsrevolution“ bezeichnet. Im Alter zwischen neun bis zwölf Monaten entwickeln Kleinkinder eine Reihe an Fähigkeiten, die für die sozialen Kognitionen entscheidend sind und die als joint attention zusammengefasst werden. So lernen Kinder etwa dem Blick anderer zu folgen und die Aufmerksamkeit anderer gezielt auf Gegenstände zu lenken, etwa durch deiktische Gesten. Damit verbunden sind die gemeinsame Beschäftigung des Kindes mit einer anderen Person und einem Gegenstand, die Wahrnehmung von Erwachsenen als soziale Bezugspunkte und Imitationslernen (Tomasello 2002, 78).Footnote 16 In all diesen Fähigkeiten zeigen Kinder ein besonderes Interesse am zielgerichteten Verhalten und den Intentionen anderer Menschen. Dieser entscheidende Entwicklungsschritt für soziale Kognitionen, so Tomasello, hängt mit der Selbsterfahrung des Kleinkindes zusammen, das sich selbst in der Entwicklungsphase ab ungefähr acht Monaten als intentionale Akteurin erfährt (vgl. Tomasello 2002, 89–94). Diese Erfahrung wird dann auf andere Personen übertragen, so dass diese ebenfalls als „Lebewesen mit Zielen, die eine aktive Wahl zwischen Verhaltensmitteln treffen,“ (Tomasello 2002, 85) verstanden werden. Für die Fähigkeit zu vertrauen ist dieser Entwicklungsschritt dem hier vorgeschlagenen Ansatz nach zentral. Denn die Wahrnehmung der eigenen Intentionen und Ziele sowie die Interpretation der umgebenden Personen, ebenfalls nach Zielen zu handeln, ist eine Voraussetzung für die Ausbildung von Vertrauen.

Vertrauen ist mit der Fähigkeit verbunden, andere Personen als zielorientierte Wesen zu sehen.Footnote 17 Die Fähigkeiten, die es ermöglichen andere Personen als intentionale und emotionale Wesen wahrzunehmen, werden in der Phänomenologie als Empathie oder Einfühlungsvermögen bezeichnet.Footnote 18 Dabei werden verschiedene Komplexitätsformen dieser Vermögen unterschieden, die für das Verständnis anderer Personen als intentionale Wesen verantwortlich sind. So argumentiert Th. Fuchs beispielsweise, dass Empathie zum einen in einer basalen Form auftritt, die als „primary, intercorporeal empathy“ bezeichnet werden kann. Diese Form der Empathie entwickelt sich im ersten Lebensjahr und zeichnet sich durch die Fähigkeiten aus, Emotionsausdrücke an Gesichtern, Gesten oder vokaler Intonation zu unterscheiden und affektiv auf diese zu antworten. So findet eine Art affektiver Abstimmung („affect attunement“) zwischen dem Kleinkind und den jeweiligen Personen statt, die ganz in einer personalen Zugewandtheit und zwischenleiblichen Sphäre stattfindet. Davon unterschieden ist die höherstufige Form von Empathie, die Fuchs als „cognitively extended empathy“ bezeichnet. Diese entwickelt sich gegen Ende des ersten Lebensjahres. Sie ist im Wesentlichen durch die Entwicklung charakterisiert, die mit Tomasello als ‚Neunmonatsrevolution‘ bezeichnet wird.

Nun folgt daraus, dass Vertrauen, dem vorliegenden Vorschlag folgend, höherstufig ist.Footnote 19 Vertrauen benötigt eine Wahrnehmung anderer Personen als intentional und zweckgerichtet handelnd. Diese Wahrnehmungsfähigkeit entwickelt sich am Ende des ersten Lebensjahres. Es ist dabei wichtig, Vertrauen nicht als rein kognitive Einstellung gegenüber anderen zu verstehen. Vertrauen ist affektiv geprägt, was etwa die Enttäuschungsreaktion im Fall von gebrochenem Vertrauen spiegelt. Und so betont auch Tomasello, dass es falsch wäre, die Entwicklung der joint attention als begrifflich reflektierte und rein kognitiv gesteuerte zu verstehen (vgl. Tomasello 2002, 93 f.). Auch wenn Vertrauen über die affektive Dimension sicher hinausgeht und eine wichtige, fundierende Rolle in unseren komplexeren Beziehungen und gesellschaftlichen Gebilden spielt, ist sie dennoch fundiert in affektiven Haltungen und einer personalen Beziehung oder einer „Du-Orientierung“ (vgl. Schütz 1932, 181–192).

5 Die Präsenz von Zielen in der Wahrnehmung

Die Wahrnehmung von anderen Lebewesen als autonome und zielorientierte Wesen ist dem ZvV zufolge die Grundlage von Vertrauensakten. Zudem habe ich oben im Anschluss an Lahno argumentiert, dass Vertrauen in der Ausbildung einer affektiv geprägten Haltung besteht. Als eine solche Haltung fungiert Vertrauen nicht nur als Überzeugung, sondern als Faktor in der Überzeugungsbildung. Insofern ist die Wahrnehmung der autonomen und zielgerichteten Anderen fundamental mit der Wahrnehmungsfähigkeit überhaupt verbunden. Dieser Aspekt der Wahrnehmung ist mit Tomasellos anthropologischer Forschung diskutiert worden. Die Phänomenologie der Wahrnehmung hilft uns, die vertrauensvolle Wahrnehmung klarer zu konzeptualisieren. Dabei sind zwei Punkte wichtig:

1. Die Autonomie und Zielgerichtetheit der Anderen entzieht sich der Wahrnehmung.Footnote 20 Dabei haben Vertrauensakte jedoch eine spezifische Relation zur Zeit: Zu Vertrauensakten gehören Eigenschaften des Objektes, die entweder aktuell, aber epistemisch opak für das vertrauende Subjekt, oder zukünftig sind. Im Kontrast dazu können sich psychische Akte wie etwa Überzeugungen und Wissen natürlich auch auf vergangene Ereignisse richten. Vertrauen hingegen setzt voraus, dass eine epistemische Unsicherheit besteht, was sich in den Eigenschaften des intentionalen Objekts des Vertrauens spiegelt. Man kann etwa einem Freund vertrauen, dass er ein Geheimnis aktuell für sich behält, oder darauf, dass die Bekannte sich an die Verabredung halten wird. Es ist aber widersinnig, auf Vergangenes zu vertrauen, zumindest wenn dieses nicht für etwas Zukünftiges relevant ist.Footnote 21 Ein solcher Fall wäre etwa, wenn ich vertraue, dass mein Freund gestern der Freundin nicht von meinem Vorhaben erzählt hat, die ich heute überraschen möchte. Widersinnig wäre aber darauf zu vertrauen, dass mein Freund vorgestern nichts von dem Geschenk erzählt hat, mit dem ich gestern meine Freundin überraschen wollte.

2. Vertrauen ist wesentlich in meine zukünftigen praktischen Vorhaben eingebunden: Darauf zu vertrauen, dass meine Freundin vorgestern den Brief eingeworfen hat, ist eben nur sinnvoll, wenn das eine aktuelle oder zukünftige Relevanz hat, die meine Vorhaben und Handlungen betrifft. Insofern gehe ich im Vertrauen mit meinen Vorhaben, meinen Wünschen und Zielen um – oder abstrakter gesagt, Vertrauen ist praktisch relevant. Der praktischen Relevanz des Vertrauens entspricht, dass das intentionale Objekt des Vertrauens in meine praktischen Belange hineinspielt, also eine Rolle für die Gegenwart oder die Zukunft spielt.

Dabei ist die Wahrnehmung im Vertrauensakt jedoch von der Wahrnehmung von eigenen Handlungspotentialen abzugrenzen. Diesen Zusammenhang, in dem die Wahrnehmung von Gegenständen und die mit diesen verbundenen Handlungspotentiale kurzgeschlossen werden, hat J. Gibson als „affordance“ (Aufforderungscharakter) von Gegenständen beschrieben (vgl. Gibson 2015 [1979], 119–135). Dabei ist sie im Grunde nicht auf die menschliche Wahrnehmung beschränkt, sondern für Lebewesen im Allgemeinen charakteristisch. Gegenstände legen uns bestimmte Handlungen nahe und schieben andere Interaktionsmöglichkeiten in den Hintergrund. Die Handlungsmöglichkeiten der Gegenstände sind auf unsere verleiblichten Vermögen rückbezogen, denn nur als verkörperte Wesen können wir handeln, auf die Dinge reagieren und antworten. Mit dem Begriff der Affordanzen ist aber nicht nur etwas Charakteristisches über Lebewesen erfasst, sondern auch eine sozio-kulturelle Dimension verbunden. Die Affordanzen erscheinen in einem soziokulturellen Umfeld, das ihnen bestimmte Bedeutungen verleiht. Auch für Gibson bilden die Dinge um uns herum eine Zusammengehörigkeit, die er als „affordance spaces“ bezeichnet. Colombetti und Krueger (2018, 223) führen etwa folgende Faktoren an, die diese Räume von Anforderungen mitbestimmen: Die durch die Evolution hervorgebrachte Lebensform mit der jeweiligen körperlichen Konstitution des Lebewesens, die Entwicklung und der Erfahrungshorizont des Lebewesens und die sozialen und kulturellen Zusammenhänge, in denen sich das Lebewesen befindet. Trotz der praktischen Relevanz erschöpft sich Vertrauen jedoch nicht in der Wahrnehmung von Handlungspotentialen. Denn im Vertrauen geht es mir nicht darum, etwas zum Mittel für meine Zwecke zu machen. Mein Füller bietet mir das Potential an, mit ihm zu schreiben. Aber deswegen vertraue ich dem Füller nicht. Und, umgekehrt, bin ich im Vertrauen auf meinen Freund nicht daran interessiert, wie dieser sich als Mittel in meine Handlungen fügt. Eine solche Haltung wäre vergegenständlichend, weil ich am anderen einfach die Potentiale sähe, die ich nutzen könnte, um meine aktuellen Interessen zu realisieren. Das widerspricht jedoch den ethischen Intuitionen und die daraus folgende Wertschätzung, die mit Vertrauensakten verbunden sind. Vielmehr findet im Vertrauensakt die Anerkennung der Limitation meiner eigenen Handlungsmöglichkeiten statt. Denn das Erreichen meiner Ziele, so erfahre ich mit dem Vertrauensakt, hängt nicht nur an meiner eigenen agency und deren intendierter Unterstützung durch die Einrichtung meiner Umgebung. Vielmehr hänge ich von der agency der Person ab, der ich mein Vertrauen schenke. Insofern nehme ich im Vertrauen nicht notwendig eine Affordanz wahr, sondern anerkenne, dass meine Ziele von anderen Akteuren abhängen.Footnote 22

Vertrauen ist dennoch eminent mit unseren praktischen Vermögen verbunden: Wir brauchen Vertrauen oft, um Handlungen auszuführen und um uns in sozialen Beziehungen zu bewegen (vgl. Luhmann 1973). Wenn ich darauf vertraue, dass eine Freundin ein Getränk mitbringt, dann weil ich möchte, dass wir beim Essen etwas trinken können. Und wenn ich darauf vertraue, dass es nicht vor Abend gewittern wird, dann weil ich auf meiner Wanderung nicht ins Gewitter kommen möchte. Was ist aber dann der Unterschied zwischen den praktischen Interessen, mit denen ich Potentiale für meine Handlungen erblicke, und Vertrauensakten?

Im Vertrauen sind wir insofern mit unseren praktischen Interessen involviert, als dass wir von dem intentionalen Gegenstand des Vertrauens wünschen, uns zur Erfüllung unserer praktischen Interessen zu verhelfen (vgl. Castelfranchi und Falcone 2020, 216 f.). Der intentionale Gegenstand des Vertrauens soll dabei aber durch seine eigene Tätigkeit unsere Interessen wahren und ihnen zur Realisierung verhelfen. Jemandem zu vertrauen bedeutet also, dass wir unsere Ziele und die eigenen Ziele des intentionalen Gegenstandes des Vertrauens als konvergierend und sich unterstützend vermeinen. Dieses Vermeinen kann sowohl affektiv vorliegen, also auch von propositionalen Einstellungen begleitet werden. In jedem Fall hat Vertrauen aber etwas mit der eigenen Ausrichtung auf praktische Ziele zu tun, die wir am Gegenstand des Vertrauens vermeinen.

Natürlich wird Vertrauen nicht allen Personen gegenüber aufgebracht, deren Ziele mit meinen konvergieren. Insofern gilt es dieses Verhältnis weiter zu spezifizieren. Für die vorliegende Konzeption von Vertrauen ist dabei zentral, dass die vertrauende Person eine affektiv geprägte Einstellung einnimmt, in der die Ziele der Person, der das Vertrauen geschenkt wird, als zuträglich oder übereinstimmend mit den eigenen Zielen wahrgenommen werden. Das impliziert für das Verständnis der Person, der vertraut wird, dass sie als Wesen mit eigenen Zielen verstanden wird. Insofern wird der intentionale Gegenstand des Vertrauens mitsamt seiner Eigenaktivität wahrgenommen und als zielgerichtet aufgefasst. Das bedeutet, wir nehmen im Vertrauen wahr, dass wir mit autonomen Wesen interagieren, die eigene Ziele verfolgen.

Das ZvV schlägt also vor, Vertrauen als die komplexe Haltung und mit dieser einhergehenden Wahrnehmung zu verstehen, in denen bereits auf affektiver Ebene die Ziele autonomer Personen wahrgenommen, mit den eigenen Zielen abgeglichen und die eigenen Ziele von der Autonomie der vertrauten Person abhängig gemacht werden. Das Fundament dieses Ansatzes liegt im Rückbezug von Zielen eines anderen Wesens auf die Zuträglichkeit zu den eigenen Zielen. Das wurde paradigmatisch am Fall von Vertrauen in Personen und Lebewesen entwickelt. Wie oben bereits gesagt, verwenden wir Vertrauen aber auch in Bezug auf unbelebte Gegenstände. So kann ich fragen, ob ich der Leiter vertraue, die mich tragen soll, oder der Gitarre in meiner Hand mein Vertrauen aussprechen, ganz zu schweigen von meinem Vertrauen in Institutionen und religiöse Entitäten. Tatsächlich erfordert die Anwendung des Vertrauensbegriffs auf die Beziehung zu Gegenständen wie Leitern oder Gitarren, dass zu diesen eine Haltung eingenommen wird, in der die Gegenstände als wesentlich zielgerichtete angesehen werden. Nun kann das bei Artefakten im Rückgriff auf die Intention der Handwerkerinnen und Ingenieurinnen geschehen: Die Leiter ist so hergestellt, um Personen sicher zu tragen. Vertrauen kann aber auch in Fällen von unintendierten Sachverhalten ausgesprochen werden, etwa bei einer Steinformation, die mir ermöglicht, über einen Bach zu gelangen. Daher scheint es adäquater, wenn, wie oben bereits getan, die These aufgestellt wird, dass wir im Vertrauensakt eine „Aristotelische Haltung“ einnehmen.Footnote 23 Diese Haltung charakterisiert, dass den Entitäten spezielle kausale Kräfte zugesprochen werden, nämlich Form- und Zweckkausalität. Mit der Formkausalität wird den Gegenständen ein Zusammenhang von kausal wirksamen Eigenschaften zugesprochen, die der Spezies des Gegenstandes entspricht.Footnote 24 Mit der Formkausalität sind in der aristotelischen Tradition zugleich Zweckursachen verbunden, insofern die Spezies eines Gegenstandes finale Implikationen enthält. Im Vertrauensakt werden also Entitäten oder Sachverhalte als wesentlich und zielgerichtet betrachtet. Ob diese Sichtweise in allen Fällen gerechtfertigt werden kann, muss hier nicht entschieden werden. Wichtig ist aber, dass sie zur menschlichen Wahrnehmung von Lebewesen und Personen gehört und eine Haltung diesen gegenüber prägt.

Vertrauen ist nicht nur lokal begrenzt auf die Interaktion mit einer Person oder einem Gegenstand, sondern zeigt als Haltung der vertrauenden Person generellere Effekte. Interessant ist etwa, dass sich mit der Aristotelischen Haltung erläutern lässt, was H. Rosa (2016) als „Resonanz“ bzw. „Weltverhältnis“ bezeichnet hat. Ob die eigenen Ziele durch diejenigen der einen umgebenden, autonomen Wesen unterstützt und befördert werden, oder ob man den Eindruck hat, dass man alleine gegen den Rest der Welt steht, hat eminente Auswirkungen auf das Selbstgefühl und das Verständnis der eigenen Handlungsmöglichkeiten. Im Vertrauensakt wird also grundgelegt, ob man sich von jemandem oder von etwas getragen fühlt.

6 Das integrative Potential des Zielverständnisses von Vertrauen

Eine wichtige Unterscheidung in der Forschungsdebatte ist, ob sich Vertrauen auf eine Person oder einen Gegenstand bezieht, oder ob sich Vertrauen auf eine Handlung oder ein Vorhaben einer Person bezieht. Beispielsweise bestimmt Hawley Vertrauen in folgender Weise:

To trust someone to do something is to believe that she has a commitment to doing it, and to rely upon her to meet the commitment. (Hawley 2019, 9)

Formal betrachtet hat Vertrauen also die Struktur: „A trusts X to φ“. Vertrauen wird also als ein dreistelliges Prädikat aufgefasst, das sich auf eine Person und eine Handlung/Handlungsintention der Person bezieht (vgl. Baier 1986; Faulkner 2007; Holton 1994; Jones 1996). Dagegen argumentiert aber P. Faulkner (2015) dafür, dass sich Vertrauen auf eine Person richtet, nicht auf deren Handlungen und Vorhaben. Diese zweistellige Form des Vertrauens, die er „attiudinal“ nennt, sei aus u. a. (sprach-) phänomenologischen Gründen basaler, als das dreistellige Prädikat.

Für das ZvV bietet sich die Möglichkeit, dass die Frage nach der Zwei- oder Dreistelligkeit des Vertrauensprädikates nicht als ein Entweder-Oder betrachtet werden muss.Footnote 25 Vielmehr bildet Vertrauen ein Kontinuum zwischen den Polen, einer Entität genau in einem ihrer Zwecke, oder der Entität als solcher zu vertrauen.Footnote 26 In vielen zweckrationalen Kontexten wird Vertrauen in Hinsicht auf bestimmte Handlungen eingegangen. Etwa vertraue ich meinem Händler, mein Fahrrad zu reparieren. Das bedeutet natürlich nicht, dass ich ihm auch in anderer Hinsicht vertraue.Footnote 27 Anders hingegen verhält es sich im umfassenden Vertrauen einer Person gegenüber. Meiner Ehefrau vertraue ich zwar auch in Bezug auf bestimmte Handlungen oder Ziele, aber vor allem in einem umfassenden Sinne, aus dem ich keines ihrer Handlungsziele hervorheben würde. Das bedeutet jedoch nicht, dass hier Zwecke und Absichten keine Rolle spielen. Vielmehr meine ich im Vertrauen, dass das übergeordnete Ziel des guten Lebens, das wir gemeinsam verfolgen, bei uns konvergieren und unsere Bestrebungen sich daher wechselseitig stützen. In der Nikomachischen Ethik hat Aristoteles bekanntlich die These aufgeführt, dass jedes unserer Handlungsziele indirekt auf unser Streben nach einem guten Leben verweist (Aristoteles 2020). Diese These kann ich hier nicht weiter begründen und ihre Wahrheit ist für den vorliegenden Kontext auch nicht notwendig. Im ZvV muss nicht jede Handlung auf das gute Leben abzielen. Aber im zweistelligen Vertrauen vertraue ich darauf, dass das übergeordnete Streben einer Person mit meinem konvergiert und mein gutes Leben durch die Glückssuche der anderen Person befördert wird, so dass ich mich auf sie verlassen kann.Footnote 28 Insofern wir im intentionalen Gegenstand unseres Vertrauens eine ebenso reiche Bandbreite an Zielen und Absichten wahrnehmen können, wie wir an uns selbst erleben, kann Vertrauen hier in unterschiedlichen Graden und Arten auftreten. Auf dieser Bandbreite findet sich unterschiedliches Vertrauen, dass aber einer einheitlichen Struktur folgt.Footnote 29 Insofern umfasst das ZvV ein Kontinuum zwischen dem zweistelligen und dreistelligen Vertrauensbegriff.

Erwähnenswert ist die Vertrauenstheorie, die Hawley (2019) ausgearbeitet hat. Anstelle von Zielen des autonomen Verhaltens des Gegenübers vermeint sie die Grundlage des Vertrauens in einem commitment zu einer Handlung. Dabei scheint mir zum einen, dass es Fälle von Verlässlichkeit gibt, die ein commitment einschließen. Denn verlasse ich mich nicht darauf, dass der Priester aufgrund seines Gelöbnisses die Messe feiern wird, anstatt ihm darin zu vertrauen? Dennoch hat der commitment-account etwas intuitiv Plausibles. Etwa macht er gleich verständlich, inwiefern Uniformen, etwa von Busfahrerinnen, dazu angetan sind, unser Vertrauen zu wecken: Durch das getragene Zeichen, als Person einer bestimmten Verpflichtung zu unterstehen, soll Vertrauenswürdigkeit signalisiert werden. Der Vorteil des ZvV ist nun, zum einen, dass kein ausdrückliches commitment der vertrauenden Person gegenüber angenommen werden muss, weshalb Gegenbeispielen wie dem obigen Schiffsbeispiel begegnet werden kann. Zudem werden commitments, etwa bei R. Brandom (1994), als Effekte einer sozialen Praxis der wechselseitigen Sanktion verstanden. Aber vertraue ich meiner Frau, weil sie sozial eine Rolle in der sozialen Sanktionspraxis einnimmt? Der Vorteil des ZvV beseht hier darin, dass die Ziele jeweils der Entität eigen sind, der Vertrauen geschenkt wird. Sie sind de se und entspringen der Autonomie des Gegenübers. Insofern vertraue ich einer Person qua ihrer Eigenheit und Autonomie, und nicht wegen einer bestimmten Sanktionspraxis. Dementsprechend verschwindet mein Vertrauen nicht mit dem gemeinsamen Wechsel des sozialen Kontextes. Natürlich sind commitments wichtig, denn sie stellen eine spezifische Form von Zielausrichtung einer Person dar, indem diese sich selbst zu einem Ziel bekennt oder durch soziale Konventionen darauf festgelegt wird. Insofern hat Hawley völlig recht, dass hier eine besondere Form von Enttäuschung entsteht, wenn auf ein commitment gebautes Vertrauen enttäuscht wird.Footnote 30

Hawley arbeitet mit einem Beispiel, das den vorliegenden Vorschlag in Frage zu stellen scheint. Das Beispiel lautet, dass es sein kann, dass ich mich darauf verlasse, dass eine Kollegin jeden Tag zu viel zu Essen mit zur Arbeit bringt, so dass für mein Mittagessen gesorgt ist, indem ich die Reste essen kann. In diesem Beispiel ist nun aber kein Vertrauen impliziert, denn es wäre völlig inadäquat, von der Kollegin enttäuscht zu sein, also einen Vertrauensbruch sehen, wenn für mich nichts mehr übrig bleibt. Insofern, so Hawley, liegt hier ein Fall von Sich-Verlassen vor, kein Fall von Vertrauen.

Das Beispiel könnte insofern gegen den vorliegenden Theorieansatz interpretiert werden, als dass ich gegenüber meiner Kollegin eine personale Haltung einnehme und mein Ziel satt zu werden auf der Basis verfolge, dass meine Kollegin ihr eigenes Ziel verfolgt. Doch der Anschein trügt. Denn in der vorliegenden Situation spielt das Ziel der Kollegin gar keine Rolle. Sie hat nie zum Ziel gehabt, mich zu sättigen oder zu viel zu Essen dabei zu haben. Der Überfluss war akzidentell für ihr eigenes Ziel, das darin besteht, ein Mittagessen für sich selbst dabei zu haben. Daher kann ich auch nicht darauf vertrauen, dass die Ziele meiner Kollegin meine Ziele zu verwirklichen helfen. Insofern hat Hawley völlig recht, dass hier kein Fall von Vertrauen vorliegt und es folglich inadäquat wäre, von enttäuschtem Vertrauen zu sprechen, wenn meine Kollegin keine Portion für mich mitgebracht hat.

7 Therapeutisches und transformatives Vertrauen

Mit Vertrauensakten verbindet sich nun der interessante Aspekt, dass der Vertrauensakt für das vertrauende Subjekt oft sehr bedeutsam ist. Vertrauensakte können ein Erlebnis erzeugen, dem eine transformative Kraft innewohnt, so dass Vertrauen etwa einen Wirkfaktor in psychotherapeutischen Kontexten darstellt. Insofern könnte man diesen Aspekt als „therapeutisch“ bezeichnen. Mit dem Wort „therapeutisches Vertrauen“ wird in der Literatur allerdings ein anderes Phänomen bezeichnet. Unter therapeutischem Vertrauen verstehen die Autorinnen, dass man darauf abzielen kann, die Vertrauenswürdigkeit des Gegenübers zu erhöhen, indem man ihm Vertrauen schenkt (vgl. Goldberg 2020, 103 f.; Keren 2020, 116 f.; McGeer 2008; O’Neil 2017, 80–82). Indem man etwa seiner Tochter den Schlüssel anvertraut, versucht man ihr Verantwortungsbewusstsein zu schulen. Mit diesem Verhalten ist zum einen verbunden, dass Vertrauen mit normativen Erwartungen einhergeht: Mit dem Vertrauen richtet man eine affektiv aufgeladene Erwartung an die adressierte Person, so dass Enttäuschung eintritt, wenn dem Vertrauen nicht entsprochen wird. Die Idee des therapeutischen Vertrauens ist darüber hinaus, dass Vertrauen eine selbsterfüllende Dynamik in Gang setzen kann. McGeer (2008), um ein Beispiel zu nennen, meint, dass Vertrauen durch Hoffnung konstituiert wird. Indem man dieser Hoffnung auf den Anderen Ausdruck verleiht und seine Vulnerabilität offenlegt, werden der anderen Person bestimmte Handlungen nahe gelegt. Man organisiert so durch den Ausdruck der Hoffnung eine Art „affectively charged scaffolding“ (248) für das Gegenüber, so McGeer.

Das ZvV kann diesen Begriff des therapeutischen Vertrauens integrieren, insofern mit dem Ausdruck des Vertrauens ein scaffolding stattfinden kann, dass der vertrauten Person nahelegt, bestimmte Ziele vor anderen zu präferieren. Das kann durch unterschiedliche Mechanismen geschehen. Es kann etwa an die Kooperationsbereitschaft appelliert, an die soziale Stellung oder an das Eigeninteresse erinnert werden. Oder die Wahrnehmung von gemeinsamen Zielen kann per se motivierend sein, insofern gemeinsames Verfolgen von Zielen deren Erreichen wahrscheinlicher machen kann. Das ZvV muss dafür jedoch nicht zusätzlich den Akt der Hoffnung hinzuziehen, der theoretisch nicht ganz einfach zu fassen ist.Footnote 31

In einem anderen Sinn wirkt sich das Fassen von Vertrauen aber auf diejenigen aus, die Vertrauen fassen und schenken. So kann Vertrauen etwa als Wirkfaktor in der Psychotherapie auftreten. So haben Therapeutinnen und Patientinnen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung in einer qualitativen Studie in Südafrika gleichermaßen Vertrauen als Fundament der therapeutischen Beziehung genannt (Langley und Klopper 2005). Und Fonagy et al. (2019) argumentieren, dass das Gefühl von Vertrauen für den Erfolg einer Psychotherapie zentral ist, da es der Patientin ermöglicht sich für soziales Lernen zu öffnen. Das psychotherapeutische Setting scheint ein besonders geeignetes Feld zu sein, um die Entstehung sowie die Auswirkungen von Vertrauen zu untersuchen. Solche basalen Aspekte von Psychotherapien sind m. E. jedoch besonders interessant angesichts der Hinweise darauf, dass die Wirksamkeit von Psychotherapie zwischen den anerkannten Therapieformen gleich verteilt ist. Der Schluss, dass diese Aspekte der Beziehung zwischen Patientinnen und Therapeutinnen, zu denen Vertrauen zählt, für die Wirksamkeit wichtiger sind als die schulmäßigen Interventionen, ist zumindest suggestiv.

Obgleich es etwa in der Psychotherapie wichtig ist, soll es hier, um Verwirrungen zu vermeiden, nicht als therapeutisches Vertrauen, sondern als transformatives Vertrauen bezeichnet werden. Inwiefern kann Vertrauen also die vertrauende Person transformieren? Dass Vertrauen transformativ ist, scheint impliziert zu sein, wenn Vertrauen als Bedingung der Möglichkeit für Beziehungen, soziale Praktiken, Gesellschaften u. v. m. verstanden wird. Es eröffnet insofern für die vertrauende Person selbst Möglichkeiten. Diese Rolle von Vertrauen ist beispielsweise für das Verständnis der Wirksamkeit von Psychotherapie bedeutsam, wenn es darum geht, alte Muster zu verändern und neuen Handlungsspielraum zu gewinnen. Dass Vertrauen neue Möglichkeiten eröffnet, wird in der Literatur oft betont und allgemein anerkannt. Schon dadurch, dass sich ein Mensch auf Gegenstände oder andere Personen verlässt, erweitert sich sein oder ihr Handlungsspektrum. Diese Erweiterung stellt sich im Vertrauen ebenfalls ein. Indem anderen Menschen oder auch Gegenständen hinsichtlich deren Autonomie und Finalität vertraut wird, geraten andere Handlungsmöglichkeiten in die Sicht der vertrauenden Person. Einer der größten Bereiche von Handlungen, die zum großen Teil durch Vertrauen ermöglicht werden, sind zum Beispiel Kooperationen.

Interessant ist dabei, dass zu großes Vertrauen nicht in jedem Fall negative Konsequenzen haben muss, sondern vorteilhaft sein kann. So kann ich beispielsweise durch zu großes Vertrauen in die Philosophie Heideggers zu großen epistemischen Anstrengungen motiviert werden. Im Zuge der Auseinandersetzung verfolge ich mein epistemisches Ziel zur Vervollkommnung meines Wissens. Dabei können durch die Beschäftigung und die eigene systematische Anstrengung bei der Lektüre Einsichten gewonnen werden, die hermeneutisch dem Autor Heidegger nicht zugeschrieben werden können.Footnote 32 So kann die Leserin in der Auseinandersetzung mehr Erkenntnisse gewinnen, als es Heidegger selbst vermochte. Aber das Vertrauen auf die gleichen intellektuellen Ziele hat die Tätigkeit des Erkundens und Weitergehens motiviert, so dass sie schließlich über Heidegger hinausgewachsen ist.

Eine Erklärung dafür, dass mit Vertrauensakten zugleich neue Denk- und Handlungsmöglichkeiten erschlossen werden, ist etwa, dass die affektive Haltung des Vertrauens zugleich als Disposition fungiert, die in die Bildung von Intentionen überhaupt eingeht und diese bestimmt (vgl. Lahno 2020, 151). Insofern bilden Vertrauensakte nicht eine Haltung oder Überzeugung neben anderen, sondern sind in der Überzeugungsbildung wirksam.Footnote 33 Das erklärt auch, warum Vertrauensbeziehungen eine relative Immunität gegenüber Gegenevidenzen implizieren.

Im Vertrauen findet jedoch nicht nur eine Erweiterung der eigenen Handlungsmöglichkeiten satt. Vielmehr enthält der Vertrauensakt eine implizite Anerkennung, dass bestimmte eigene Ziele nur durch die zielgerichtete Autonomie anderer zu erreichen sind. Es wird also anerkannt, dass die eigene Autonomie ergänzungsbedürftig ist, und zwar durch andere, autonome Wesen. Das Vertrauen ist aber nicht nur ein Anerkennen der eigenen Grenzen, sondern zugleich eine Aktivität, mit diesen Grenzen umzugehen, und zwar in affirmativer Weise (vgl. McGeer 2008, 246–248). Wird nun das Vertrauen geschenkt und auf dessen Basis gehandelt, so wird ein positiver Umgang mit der eigenen Finalität und Vulnerabilität eingeübt. In therapeutischen Kontexten kann das wichtig sein. Allein die Anerkennung der eigenen Vulnerabilität und die Erfahrung, nicht verletzt oder enttäuscht zu werden, kann stärkend wirken, gerade für Personen, denen die eigene Vulnerabilität zum Problem geworden ist.

Innerhalb des therapeutischen Kontextes kann zudem die Erfahrung stärkend sein, dass einem ein Wandel oder ein neuer Umgang mit Problemen zugetraut wird. So ist ein gefühltes Vertrauen einer Therapeutin sicher motivierend und kann im transformierenden Prozess der Therapie wirksam sein. Insofern spielt die oben genannte Bedeutung des „therapeutischen Vertrauens“ ebenfalls eine Rolle für den transformativen Prozess einer Therapie. Jedoch sollte dabei nicht übersehen werden, dass die Therapeutin weder als handelndes Subjekt hilft, die Ziele der Klienten anzugehen, noch in einem starken Sinn vertrauen muss.

Der Verzicht auf Handlungen wird in einigen Theorien der Psychotherapie als ein wichtiger Bestandteil angesehen, und implizit sind Gesprächstherapien darauf gegründet, dass die Therapeutin nicht den Wünschen der Klientin nachgeht, sondern hilft, diese zu reflektieren und dadurch neue Handlungsalternativen und -muster zu evozieren. Ein beliebtes Mittel dafür ist etwa als verbales oder non-verbales Spiegeln bekannt. Das Vertrauen der Patientin kann also, gerade weil es nicht zu Handlungen der Therapeutin führt, Anlass sein, die Erwartungen und Wünsche, und vor allem die Ziele, die die Klientin mit dem Vertrauen einbringt, zu reflektieren. So können die eigenen Ziele mentalisiert (Fonagy et al. 2019) und abgewogen werden, was ein transformatives Potential besitzt.

Schließlich wird im Vertrauen eine affektiv besetzte Haltung eingenommen, in der man von der Autonomie eines anderen Wesens meint, dass sie den eigenen Zielen zuträglich ist. Allein das Vermeinen, dass die eigenen Ziele mit denjenigen anderer Personen konvergieren, kann, wie oben gesagt, als Resonanz erfahren werden. Denn es wird im Vertrauen eine Stimmigkeit und eine gewisse Aufgehobenheit angenommen, die sich auf die Wahrnehmung der eigenen Person auswirkt. Auf der Basis dieser Konzeption von Vertrauen kann daher argumentiert werden, dass Vertrauen ein wirksames Mittel gegen Angst ist, insofern Vertrauen einer positiven Haltung gegenüber dem Zusammenwirken der Ziele anderer und der eigenen Ziele gleichkommt. In Angstzuständen wird die Gefährdung der eigenen Ziele wahrgenommen. Vertrauen bedeutet dagegen, dass die Ziele der Anderen wertgeschätzt werden und die eigenen durch jene sogar unterstützt werden. Die Wertschätzung, die wir im Vertrauen schenken, richtet sich also zugleich auf uns selbst.

8 Résumé

Die Verwendungsweise des Wortes Vertrauen ist, wie oben gesagt, enorm breit gefächert, weshalb es Zweifel gibt, ob es überhaupt einen einheitlichen Begriff gibt, oder „Vertrauen“ nicht eher ein umbrella-term ist, also in nur lose zusammenhängenden Weisen Verwendung findet (Simpson 2012). Der vorliegende Vorschlag soll nun der vielfältigen Verwendungsweise zumindest ein gemeinsames Fundament geben. In einem ersten Schritt wurde dafür argumentiert, Vertrauen im Anschluss an Holton und Lahno als besondere Haltung zu verstehen, die als „participatory stance“ oder „personal stance“ bezeichnet werden kann. Die Idee ist, dass wir im Vertrauensakt das Gegenüber nicht wie einen manipulierbaren Gegenstand ansehen, sondern als autonomes Wesen verstehen, mit dem wir in einer personalen Beziehung stehen. Dieses Verständnis des Gegenübers wurde im Anschluss an H. Jonas anhand des paradigmatischen Falles von Lebewesen mit der autopoietischen und autonomen Aktivität von Organismen gestützt. Anschließend wurde im Rückgriff auf die Forschung von Tomasello plausibel gemacht, dass die Wahrnehmung von zielgerichtetem Verhalten und den autonomen Tendenzen anderer Lebewesen ein wichtiger Entwicklungsschritt in der Kindheit darstellt. Auf dieser Fähigkeit aufbauend wurde Vertrauen bestimmt als eine affektive Haltung, in der das autonome Zielstreben anderer Wesen als für die eigenen Ziele relevant und zuträglich vermeint wird. In der Auseinandersetzung mit Theorien von Affordanzen in der Wahrnehmung wurde gezeigt, dass Vertrauen mit einer Sichtweise einhergeht, in welcher die Ziele autonomer Wesen als presence in absence erscheinen. Anstelle der ausschließlich auf das eigene Ich ausgerichteten Wahrnehmungen, etwa von Affordanzen, werden im Vertrauen die Autonomie der Anderen und die eigene Limitation wahrgenommen.

Dieses Verständnis von Vertrauen wurde dann mit prominenten Begriffsanalysen verglichen und seine integrative Kraft herausgestellt. Vertrauen ist eine fundamentale Haltung, die unsere Existenz durchdringen kann. Das wurde abschließend anhand des transformativen Vertrauens, das zum Beispiel als Wirkfaktor in der Psychotherapie untersucht wird, illustriert.

Obwohl Vertrauen mit den eigenen Interessen verbunden ist, macht das ZvV deutlich, dass Vertrauen zugleich einen ethischen Wert besitzt. Dieser liegt darin, dass im Vertrauensakt zugleich eine Anerkennung der eigenen Grenzen liegt, die eigenen Ziele zu erfüllen. Mit der Anerkennung der eigenen Grenzen öffnet sich die vertrauende Person für die Welt und es findet ein Moment der Selbsttranszendierung statt: Die eigene Bedürftigkeit wird erfahren. Diese Erfahrung wird aber im Vertrauen nicht als Anlass von Kampf, Abschottung, Angst betrachtet, sondern als Passung mit der Welt, als Resonanzerfahrung. Genauer noch wird im Vertrauen nicht nur die eigene Limitation erfahren, sondern auch die Autonomie der Entität anerkannt, der das Vertrauen geschenkt wird. Sich den Eigenheiten und der Aktivität des Gegenübers anzuvertrauen und die eigenen Ziele in deren Verhalten berücksichtigt und bestärkt zu wissen, macht Akte des Vertrauens aus.

Die ethische Bedeutung des Vertrauens ist der Grund, der Dante veranlasst, dem Verbrechen mit Vertrauensbruch eine besondere Stellung zugeben. Wird das Vertrauen zudem verletzt, obgleich die Ziele der vertrauenden Person auf das Wohl der Vertrauensbrecherin gerichtet sind, liegt zudem ein besonders perfider Fall vor: Die eigenen Ziele zu verleugnen, um der vertrauenden Person zu schaden, verletzt nicht nur diese, sondern auch einen selbst. Angesichts der eminenten Relevanz von Vertrauensbeziehungen für unser Leben hätten wir immer noch gerne eine Versicherung für die Vulnerabilität, die wir im Vertrauen auf uns nehmen. Der Glaube an die postmortalen Qualen ist dafür jedoch völlig ungeeignet. Nicht nur ist die Angst, die durch den Höllenglauben erzeugt werden soll, dem Vertrauen entgegengesetzt und kann dieses daher gerade nicht befördern. Zudem liegt in der Versicherung ein Widerspruch zum Vertrauen, insofern die Vulnerabilität durch die Nötigung der anderen Person gemindert werden soll. Wenn Dantes Dichtung uns also nicht über den Ort und die Folgen von Vertrauensbrüchen belehren kann, so aber doch über die Psychologie. So hat etwa Lessing in einer kleinen Schrift mit dem Titel „Leibniz von den ewigen Strafen“ die Hölle vom Jenseits ins Diesseits und den Ort der Hoffnungslosigkeit in das menschliche Gewissen verlegt. Anstelle einer postmortalen Strafandrohung sollten wir die Hölle eher als die Gewissensqualen verstehen, die uns durch Verletzungen und Verbrechen drohen. Und so gesehen, ist ein Leben im Vertrauensbruch ein eiskalter Ort, wie ihn Dante beschreibt. Die Kälte der Strafe symbolisiert die Resonanzlosigkeit und die erfahrene Aversion, die eine vertrauenslose Welt kennzeichnet. Ist man nicht in der Lage, sich der Autonomie anderer Personen und den Zwecken der uns umgebenden Dinge anzuvertrauen, bleibt einem nur die Kontrolle. Doch diese ist potentiell unendlich, denn man kann nur kontrollieren, was man weiß, nicht das, was man nicht sieht. An diesem Verhältnis ändert nicht einmal die Ausdehnung der eigenen Macht etwas, die moderne Gesellschaften anstreben. Die Reflexion auf Vertrauen kann uns jedoch zeigen, dass wir eine bestimmte Art des In-der-Welt-Seins dabei aufs Spiel setzen.