Zusammenfassung
Die Studie zielt ab auf die thematische Eingrenzung und Fokussierung eines Ideals der Liberalität im Sinne eines Komplexes wünschenswerter Persönlichkeitseigenschaften wie Vorurteilsfreiheit, Ungezwungenheit und Offenheit, Wohlwollen und Geselligkeit in Denkart und Sozialverhalten. Zu diesem Zweck grenzt sie die Thematik zunächst gegen eine liberale Gesellschaftstheorie ab, für welche individuelles Verhalten, soweit nur rechtskonform, vollkommen irrelevant ist und als einem vorpolitischen Bereich zugehörig angesehen werden kann. Dessen Bedeutung jedoch für das sogenannte „soziale Klima“ wird in einem zweiten Schritt durch die Gegenüberstellung eines pluralistisch-agonalen liberalen Gesellschaftsmodells, nämlich dem Peter Sloterdijks, und des mit seiner Konzeption des „genuin Liberalen“ an Homöostase und Geselligkeit orientierten Modells Theodor W. Adornos erläutert. Ein Grundzug dieses letzteren Modells sind präreflexive Spontaneität und Natürlichkeit im Verhalten, was eine Abgrenzung gegen normative Ethik, aber auch gegen das Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeitspsychologie nötig macht. Die Studie schließt mit einem Ausblick auf die ästhetische Theorie Friedrich Schillers, da in ihr Natürlichkeit, Offenheit und Wohlwollen eine intrinsische Einheit bilden.
Abstract
This study aims at limiting and focussing on an ideal of liberality that unites desirable personality traits, such as non-prejudice, non-restrictiveness, openness, benevolence and sociability, both in mind-set and in social behaviour. To this end, the study initially delimits the subject from a liberal theory of society in which individual behaviour, if and to the extent to which it is legally compliant, is completely irrelevant and is considered as belonging to a sphere ahead of politics. The importance of that sphere, however, for the so-called “social climate” will be explained in a second step that compares Peter Sloterdijk’s liberal, pluralistic-agonal model with Theodor W. Adorno’s elaboration of homeostasis and sociability as a conceptual design for “genuine liberality”. Main features of the latter model are pre-reflexive spontaneity and naturalness in behaviour, which in turn necessitates a delimitation not only from normative ethics, but also from the five-factor model of personality psychology. The study concludes with an overview of Friedrich Schiller’s aesthetic theory, in which naturalness, openness and benevolence form an intrinsic unity.
Notes
So Jörn Leonhard in seiner Studie Liberalismus: zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters (siehe Leonhard 2001, Kap. II, S. 86 ff.). Ein Artikel der Neuen Zürcher Zeitung vom 29. März 2005 fasst unter dem Titel „Eine kleine Charakterkunde: Wahre Liberalität“ (ohne Angabe des Verfassers) die beschriebene Sachlage zum Begriff der Liberalität prägnant zusammen: „Edel, gütig, freigebig, großmütig, vorurteilsfrei – so war gesinnt, wer vor der Epochenschwelle der Französischen Revolution ‚liberal‘ genannt wurde. Die liberale war die eines ‚Freien‘ würdige Sinnesart. Die vorrevolutionäre Bedeutung des Ausdrucks war auch eine vorpolitische – noch ging es nicht um politische Institutionen und Parteiprogrammatik.“ (Siehe: Neue Zürcher Zeitung 2005). Siehe zur Bedeutung dieser vorpolitischen Sphäre der Sittlichkeit für die Legitimationsproblematik des säkularisierten Staates Böckenförde (1991, S. 109 ff.).
Siehe Hayek (2005, S. 270, Fußnote 20), wo es heißt, Schiller habe „wahrscheinlich so viel wie kaum ein anderer dazu beigetragen ..., liberale Ideen in Deutschland zu verbreiten“, und anschließend, E. Eyck zitierend: „Der deutsche Nationaldichter Friedrich Schiller war zugleich der größte Liberale, den Deutschland hervorgebracht hat.“.
Der Terminus „Neoliberalismus“ lässt sich in seinen verschiedenen Anwendungen auf keinen gemeinsamen Nenner bringen. Bezeichnete er in den 40er und 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Bestrebungen, das Marktgeschehen in einen sozialstaatlichen Ordnungsrahmen einzubetten, so wird er seit den 80er Jahren überwiegend in polemisch-pejorativer Bedeutung auf marktfundamentalistische Positionen der „Neuen Rechten“ bezogen.
Als Beispiel für gewalttätige Ausschreitungen im Gefolge der sozialen Spaltung führt Sloterdijk die Pariser Banlieue-Unruhen im Herbst 2005 an (Sloterdijk 2006). Es habe sich dabei um „Vandalismus als Negativität der dummen Kerle“ (319) gehandelt, „bei denen zu dem Doppelelend von Arbeitslosigkeit und Hormonüberdruck die explosive Einsicht in ihre soziale Überflüssigkeit hinzukommt“ (323). Bei allem mutmaßlichen Hochgefühl Sloterdijks über die vortreffliche Schmähung entspricht der Zynismus seiner Wertung doch nur der per se als gesellschaftsfähig ausgewiesenen Position des damaligen französischen Innenministers Nicolas Sarkozy, der die randalierenden Jugendlichen (in der Mehrzahl nordafrikanische Einwanderer) als „Abschaum“ („racaille“) bezeichnet hatte, „den man ‚wegkärchern‘, also mit einem Hochdruckreiniger wegspritzen müsse“ (Wikipedia 2018).
In den Jahren seines kalifornischen Exils beteiligte sich Adorno an einem umfangreichen, vom American Jewish Committee finanziell unterstützten Forschungsprojekt über die Anfälligkeit des Individuums für Vorurteile und antidemokratische Tendenzen. Die Ergebnisse dieser Arbeit wurden 1949/50 in einer fünf Bände umfassenden Reihe unter dem Titel „Studies in Prejudice“ von den Direktoren des Projekts Max Horkheimer und Samuel H. Flowerman in New York veröffentlicht. Die 1973 erschienenen Studien zum autoritären Charakter stellen Adornos persönlichen Beitrag zu dem ersten Band der Reihe: The Authoritarian Personality (1950) dar. Außer ihm waren Mitarbeiter und Mitherausgeber dieses Bandes Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson und R. Nevitt Sanford. Die von den Forschern gemeinsam verfasste Einleitung benennt im ersten Satz leitmotivisch Grundannahme und Gegenstand der Studien: „Die Untersuchungen, über die hier berichtet wird, waren an der Hypothese orientiert, dass die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Überzeugungen eines Individuums häufig ein umfassendes und kohärentes, gleichsam durch eine ‚Mentalität‘ oder einen ‚Geist‘ zusammengehaltenes Denkmuster bilden, und dass dieses Denkmuster Ausdruck verborgener Züge der individuellen Charakterstruktur ist. Im Mittelpunkt des Interesses stand das potentiell faschistische Individuum …“ (Adorno 1995, S. 1).
Ausgehend von einer Überlegung dieser Art ist die Kritik an der Studie The Authoritarian Personality nachvollziehbar, sie habe die Möglichkeit eines Linksfaschismus nicht in Betracht gezogen. Siehe hierzu: Wiggershaus (1989, S. 473 f.).
Siehe Tabelle 6.1 in Herzberg und Roth (2014, S. 87).
Siehe die im Anschluss an Ernst-Wolfgang Böckenfördes Theorem, „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“ (Böckenförde 1991, S. 112), von Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger 2004 geführte Diskussion um eben diese vorpolitischen Grundlagen (Habermas 2005; Ratzinger 2005). Wenngleich Habermas an der „Selbstgenügsamkeit“ einer demokratisch prozedural verfahrenden Vernunft zur Selbstlegitimierung des liberalen Verfassungsstaates festhielt, so bestand doch Einhelligkeit darüber, dass den sittlichen Überzeugungen aus Überlieferungen des christlichen Offenbarungsglaubens eine fundamentale Rolle für den Bestand säkularer Rechtsordnung zukomme. Wolfgang Riedel kritisiert m. E. zu Recht an dieser Diskussion, dass sie die „anthropologische Option“ Schillers als eines „dritten Weges“ (zwischen Vernunft und Religion) nicht in Betracht zieht. (Riedel 2018, S. 259 ff., Zitat 266).
Literatur
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Szukala, R. Liberale Denkart jenseits von Gesellschaftstheorie und normativer Ethik. ZEMO 2, 289–303 (2019). https://doi.org/10.1007/s42048-019-00047-2
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