1 Einleitung

Die Auseinandersetzung mit Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten hat in der Schulpädagogik eine lange Tradition. Bereits im letzten Jahrhundert wurde die Thematik im Kontext der Reformpädagogik international diskutiert (Oelkers 2010). In der neueren deutschsprachigen Literatur werden erweiterte Autonomiespielräume im Rahmen von Formen des offenen Unterrichts und des selbstregulierten Lernens gefordert, um heterogenen Lerngruppen einen niveauangepassten, selbstbestimmten, motivierenden und lernkompetenzfördernden Unterricht zu ermöglichen (Bohl und Kucharz 2010; Götz und Nett 2017). Seit rund 15 Jahren wird die Diskussion darüber insbesondere im angloamerikanischen Raum durch den Begriff des personalisierten Lernens erweitert, wobei unter dem Slogan choice and voice Wahlmöglichkeiten und die aktive Mitgestaltung von Schule und Unterricht seitens der Lernenden gefordert wird (Bray und McClaskey 2015; Miliband 2006). In der Deutschschweiz orientieren sich verschiedene innovative Schulen ebenfalls an personalisierten Lernkonzepten, indem sie ihren Schüler*innen einen individualisierenden, selbstorganisierten sowie fachlich und überfachlich kompetenzfördernden Unterricht zu ermöglichen suchen. Obwohl manche Schulen bereits langjährige Erfahrung mit vielfältigen autonomiefördernden Lernumgebungen aufweisen, mangelt es immer noch an wissenschaftlichen Untersuchungen zu Dimensionen und Umsetzungsformen der Autonomiegewährung. Diese Forschungslücke soll mit dem vorliegenden Beitrag bearbeitet werden, indem untersucht wird, welche Grade an Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten Schüler*innen in Schulen mit personalisierten Lernkonzepten wahrnehmen. Damit soll zur Klärung der Frage beigetragen werden, inwiefern es sich bei Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten um empirisch bedeutsame Konzeptdimensionen personalisierten Lernens handelt. Die ausgewerteten Daten stammen aus der perLen-Studie (personalisierte Lernkonzepte in heterogenen Lerngruppen) (Stebler et al. 2018), in der Lehr-Lernkulturen untersucht werden, die dem Sammelbegriff personalisierter Lernkonzepte zugeordnet werden können. Als theoretischer Rahmen werden das Konzept des personalisierten Lernens und die damit häufig verbundenen Begriffe choice and voice in lernpsychologischer Perspektive eingeführt. Zur Kontextverortung werden die Bedeutung von Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten aus bildungspolitischer Sicht sowie deren Verbreitung und Wirkungsweisen aus empirischer Sicht dargelegt. Im empirischen Teil steht die Wahrnehmung von choice and voice aus Sicht der Schüler*innen im Zentrum. Die Auswertungen sollen zu einem tieferen Verständnis der praktischen Umsetzung personalisierter Lernkonzepte anhand von Daten aus der Deutschschweiz beitragen.

2 Theoretischer Rahmen

2.1 Personalisiertes Lernen – Ein internationales Bildungsschlagwort

Unter dem Stichwort personalisiertes Lernen werden international Lernkonzepte diskutiert, welche sich an den individuellen Voraussetzungen und Bedürfnissen der Lernenden orientieren und eine aktive Beteiligung der Schüler*innen mittels choice and voice ermöglichen (Bray und McClaskey 2015; DfES 2004a; Keamy et al. 2007; OECD o.J.; Schratz und Westfall-Greiter 2010; U.S. Department of Education 2017a). Obwohl die OECD (2006) bereits vor rund 15 Jahren Personalisierung als Bildungskonzept der Zukunft diskutierte, fehlt bis anhin ein einheitliches Verständnis dieses vielschichtigen Begriffs (Keamy et al. 2007; Prain et al. 2013; Stebler et al. 2018; U.S. Department of Education 2017b). Nebst unterschiedlichen Akzentuierungen verschiedener Facetten personalisierten Lernens, unterscheiden sich auch die Vorstellungen zur praktischen Umsetzung, welche von einer Unterrichtsentwicklung innerhalb bestehender Strukturen bis hin zu einem kompletten Neudenken von Unterricht und den Rollen der Beteiligten reichen (Bray und McClaskey 2015; DfES 2004a; Lee et al. 2018; Sebba et al. 2007; U.S. Department of Education 2017b). Für die perLen-Studie haben Stebler et al. (2018, 2021) ausgehend vom internationalen Diskurs (u. a. Bray und McClaskey 2015; DfES 2004a; Hoz 1986; Miliband 2006; Müller 2014; Murphy et al. 2016; Schratz und Westfall-Greiter 2010; U.S. Department of Education 2017a) fünf Dimensionen personalisierten Lernens herausgearbeitet, welche in unterschiedlichen Akzentuierungen als handlungsleitende Grundsätze bzw. Orientierungen dienen: 1) Unterrichtsangebote an die personalen Bildungs- und Lernvoraussetzungen von Lernenden und Lerngruppen anpassen; 2) personale und soziale Kompetenzen aufbauen und dadurch Schüler*innen in ihrer Persönlichkeit ganzheitlich fördern; 3) selbstgesteuertes Lernen auf eigenen Wegen ermöglichen; 4) als Lernende kompetenzorientiertes Lernen zur persönlichen Sache machen; 5) als Lehrperson und als Lerngemeinschaft bildend und unterstützend wirken.

Obgleich der Begriff des personalisierten Lernens in der deutschsprachigen Literatur bislang nicht stark verbreitet ist (z. B. Agostini et al. 2018; Holmes et al. 2018; Stebler et al. 2018), zeigt sich eine nahe Verwandtschaft zu den im deutschsprachigen Raum intensiv diskutierten Konzepten der Individualisierung, Differenzierung, des adaptiven Unterrichts, des offenen Unterrichts oder des selbstregulierten Lernens (Stebler et al. 2021). Während beim differenzierenden und individualisierenden Lernen sowie beim adaptiven Unterricht die Frage nach der Passung von Lernangebot und Lernbedürfnis im Vordergrund steht, fokussieren der offene Unterricht und das selbstregulierte Lernen darüber hinaus Fragen nach der Steuerung und Verantwortungsübernahme im Lernprozess. Beide Aspekte sind Kernelemente personalisierter Lernkonzepte und werden in der Literatur unter dem Slogan choice and voice diskutiert.

2.2 Choice and voice in personalisierten Lernkonzepten

An einer OECD-Konferenz zum Begriff des personalisierten Lernens von 2004 plädierte der damalige britische Staatsminister für Schulen, David Miliband, für deutlich mehr choice and voice in allen Belangen von Schule und beeinflusste damit den Personalisierungsdiskurs nachhaltig (Miliband 2006). Der Slogan choice and voice wurde von verschiedenen Autorinnen und Autoren aufgegriffen, jedoch meist ohne Milibands wirtschaftlich orientierte Interpretation zu übernehmen. Milibands Verständnis fußte auf einem Personalisierungsbegriff, der seine Wurzeln in der Marketing-Theorie hat und bei dem die aktive Mitgestaltung von Prozessen und Produkten durch Kundinnen und Kunden im Vordergrund steht (Hartley 2008). Durch choice and voice sollen Schüler*innen sowie deren Eltern auf allen Ebenen des Schulsystems nicht nur Wahlmöglichkeiten (choice) erhalten, sondern die damit verbundenen Wahloptionen mitgestalten können, indem sie ihre Ideen und Wünsche zur Weiterentwicklung des Bildungsangebotes einbringen können (voice) (Miliband 2006; OECD o.J.). Das britische Bildungsdepartement (Department for Education and Skills, [DfES]) beschreibt die praktische Umsetzung von choice and voice im Rahmen eines lehrpersonengesteuerten und vom traditionellen Unterricht nur marginal abweichenden Unterrichts. Danach diagnostizieren die Lehrpersonen Kompetenzstand und präferierte Lernmethoden der Schüler*innen, beobachten, welche Themen die Lernenden besonders interessant finden und gestalten entsprechende Unterrichtsarrangements. Innerhalb dieser vorbereiteten Settings erhalten die Lernenden sodann bestimmte Wahlmöglichkeiten (choice). Mit zunehmendem Alter der Lernenden erweitern sich die inhaltlichen Wahlmöglichkeiten innerhalb des staatlichen Curriculums (DfES 12,13,a, b). Damit die Lehrpersonen maßgeschneiderte Angebote planen können, müssen die Schüler*innen ihre Wünsche und Bedürfnisse einbringen können (voice). Inwiefern die Lernenden am Wahlangebot aktiv mitwirken können, wird nicht explizit erläutert. Choice and voice bedeutet in diesem Sinne primär, dass die Lehrpersonen im Unterricht Wahlmöglichkeiten anbieten und die Lernenden anhören, damit deren Wünsche und Bedürfnisse in der Unterrichtsplanung berücksichtigt werden können. In der unterrichtsnahen, stärker an Konzepten der Differenzierung und Individualisierung des Lernens ausgerichteten Publikation „Make Learning Personal“ von Bray und McClaskey (2015) entfällt die klassische Planungsfunktion der Lehrperson zugunsten einer strikten Orientierung des Unterrichts an den Lernenden, wodurch die Idee des sich aktiven Einbringens mittels choice and voice eine nochmals erweiterte Akzentuierung erhält. Die Schüler*innen übernehmen bei der Wahl der Inhalte, der Spezifizierung der Lernziele und wie sie diese erreichen wollen (voice), eine deutliche Mitverantwortung. Auch bezüglich der Rechenschaftslegung haben sie Wahlmöglichkeiten (choice), wie sie ihre Kompetenzen zeigen wollen. Dadurch, dass die Gestaltung und Verantwortung für das Lernen im Unterricht – choice and voice – in deutlicher Akzentsetzung an die Lernenden übertragen wird, grenzen die Autorinnen personalisiertes Lernen von den Lehrpersonen verantworteten Formen der Differenzierung und Individualisierung ab (Bray und McClaskey 2015).

Inwiefern die Lernenden durch choice and voice an Entscheidungen partizipieren können, hängt, wie die beiden Beispiele zeigen, vom Ausmaß der in die Mitsprache und Mitverantwortung der Lernenden einbezogenen Dimensionen ab. Im Artikel wird unter choice and voice im Sinne des DfES ein Wahlangebot verstanden (choice), welches von den Schüler*innen mitgestaltet werden kann (voice) und sich sowohl auf Inhalte als auch auf den Lernprozess bezieht. Während choice im vorliegenden Artikel mit Wahlmöglichkeiten übersetzt wird, übersetzen wir voice – da es hier primär darum geht, dass sich die Lernenden einbringen können („eine Stimme geben“) – mit Mitbestimmung. Choice and voice verortet sich im Rahmen personalisierten Lernens somit in den von Stebler et al. (2018, 2021) herausgearbeiteten Dimensionen eins (angepasstes Bildungsangebot), drei (selbstgesteuertes Lernen) und vier (Lernen zur persönlichen Sache machen). Welche Bedeutung dem Begriffspaar in der Praxis sowie in einer theoretischen und empirischen Perspektive zukommt, wird in den folgenden Kapiteln dargelegt.

2.3 Choice and voice in Deutschschweizer Schulen

In der Deutschschweiz ist ein Recht auf Mitverantwortung und Mitsprache von Schüler*innen aus pädagogischer und auch rechtlicher Sicht weitgehend unbestritten und in einigen Kantonen explizit gesetzlich festgeschrieben (z. B. § 50 Volksschulgesetz Kanton Zürich vom 7. Februar 2005 [VSG; LS 412.100]). Gemäß Lehrplan 21 ist die Kompetenz, zunehmend selbstständig zu lernen, ein bedeutsames Ziel der Volksschule (Bildungsdirektion Kanton Zürich 2017), dessen Förderung ein Unterrichtsangebot bedingt, in welchem die Lernenden selbst Entscheidungen in niveauangepassten Freiräumen fällen können.

Im Hinblick auf die Praxisumsetzung haben Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten in der Deutschschweiz insbesondere seit den 1990er-Jahren durch die Verbreitung der „Erweiterten Lehr- und Lernformen“ (ELF) Eingang in die Klassenzimmer gefunden. Bei den ELF handelt es sich um eine von der Praxis ausgehende und von dieser getragene Reformbewegung in der Deutschschweiz, welche „auf eine stärkere Individualisierung und Förderung des selbstverantwortlichen und selbstgesteuerten Lernens durch vermehrten Einbezug offener Unterrichtsformen zielte“ (Pauli et al. 2010, S. 314). In Abgrenzung zum vor allem in Deutschland diskutierten Konzept des offenen Unterrichts wurden ELF nicht als Ersatz, sondern als Erweiterung traditioneller Unterrichtsformen gedacht (Pauli et al. 2010). Vor rund 20 Jahren gaben 92 % der befragten Deutschschweizer Lehrpersonen an, zumindest ab und zu ELF im Mathematikunterricht einzusetzen (Pauli et al. 2003). Ein Vergleich von Lehrpersonen, welche häufig oder fast immer ELF einsetzen (ELF-Gruppe) und Lehrpersonen, welche nur selten oder sporadisch ELF einsetzen (Nicht-ELF-Gruppe) zeigte, dass Lernende der ELF-Gruppe vermehrt über Freiräume und Mitsprachemöglichkeiten berichten (Pauli et al. 2003). Eine aktuellere Studie, welche die unterrichtsbezogenen Partizipationsmöglichkeiten in Klassen der Primar- und Sekundarstufe I untersuchte, zeichnet ein weniger optimistisches Bild. Nach Müller-Kuhn et al. (2020) berichten sowohl die rund 500 befragten Schüler*innen als auch deren Lehrpersonen von wenig Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten im Unterricht, wobei die Möglichkeiten von den Lehrpersonen signifikant höher eingeschätzt werden.

2.4 Choice and voice aus theoretischer und empirischer Sicht

Im deutschsprachigen Raum hat sich das Angebot-Nutzungs-Modell (Helmke 2009; Reusser und Pauli 2010) zur theoretischen Rahmung von Unterrichtswirkungen etabliert (Lipowsky 2009). Bildungswirkungen werden demnach von der Angebotsqualität des Unterrichts, der Nutzungsqualität der Lernenden sowie der Synchronisationsqualität zwischen Angebot und Nutzung beeinflusst, wobei der Unterricht in wechselwirkender Beziehung zu kontextuellen Faktoren steht. Wird Lernen aus konstruktivistischer Sicht als individueller, selbstregulierter und ko-konstruktiver Prozess verstanden, so bedeutet dies vor dem Hintergrund einer heterogenen Klassenzusammensetzung, dass für eine optimale Synchronisationsqualität das Angebot passend zu den individuellen Voraussetzungen und Bedürfnissen der Lernenden sein muss. Dazu kann die Lehrperson aufgrund ihrer diagnostischen Einschätzung individuelle Ziele und Inhalte für die Lernenden auswählen oder sie stellt ein offeneres Wahlangebot zur Verfügung, wobei die Schüler*innen selbst Aufgaben, Vorgehensweisen und Unterstützungsangebote auswählen, welche optimal ihren Voraussetzungen und Bedürfnissen entsprechen (Bohl et al. 2011; Klieme und Warwas 2011). Beschränkte Ressourcen der Lehrperson, geforderte Mitsprachemöglichkeiten der Lernenden und das Ziel des selbstständigen Lernens sprechen dabei für eine Unterrichtsöffnung (Dumont 2019; Reusser et al. 2013). Eine Unterrichtsöffnung wird zudem durch Studien unterstützt, die zeigen, dass sich wahrgenommene Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten positiv auf das Selbstbestimmungsempfinden auswirken, was wiederum die Motivationsqualität günstig beeinflusst (Deci und Ryan 1993; Hartinger 2005; Rakoczy 2006). Empirische Studien zur Wirksamkeit von Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten im Unterricht zeigen jedoch ein uneinheitliches Bild: Je nach Studie finden sich positive, negative oder keine Effekte auf Leistung und Motivation (Evans und Boucher 2015; Katz und Assor 2007). Katz und Assor (2007) erklären die heterogene Befundlage anhand der Selbstbestimmungstheorie, welche postuliert, dass die Entwicklung intrinsischer Motivation die Befriedigung der drei Grundbedürfnisse nach Autonomie, Kompetenz und sozialer Eingebundenheit bedingt (Deci und Ryan 1993). Autonomiespielräume sind demnach nur dann lernförderlich, wenn sich die Lernenden bei der Entscheidung kompetent fühlen. Überfordernde Autonomiespielräume können hingegen die Motivation negativ beeinflussen (Furtak und Kunter 2012; Katz und Assor 2007). Vor diesem Hintergrund kommt der Lehrperson in der Ermöglichung eines bedeutungsvollen, anforderungsniveauangepassten und strukturierten Wahlangebots sowie eines Klimas der gegenseitigen Akzeptanz eine zentrale Rolle zu (Assor et al. 2002; Furtak und Kunter 2012; Jang et al. 2010; Katz und Assor 2007). Während die motivationspsychologischen Erkenntnisse vielfach aus Experimentalstudien resultieren, findet die Wirkungsweise auch in der pädagogischen Unterrichtsforschung Bestätigung. Studien zeigen, dass nicht die autonomiefördernde Unterrichtsorganisation selbst, sondern deren Umsetzungsqualität auf der prozessbezogenen Tiefenstruktur entscheidend ist (Lipowsky 2002; Reusser 2011). Die Gestaltung der Prozesse auf der Mikroebene hängt stark von der Kompetenz und Unterstützung der Lehrperson ab, beispielsweise wie es ihr gelingt den Unterricht zu strukturieren, die Lernenden mittels Scaffolding zu unterstützen und kognitiv zu aktivieren, Feedback zu geben oder metakognitive Strategien zu fördern (Alfieri et al. 2011; Hattie 2013; Lipowsky 2002; Lipowsky und Lotz 2015). Nebst der Relevanz der Lernunterstützung konnten in der Unterrichtsforschung differentielle Effekte festgestellt werden: So nutzten konzentrationsschwache Grundschulkinder die Lernzeit in offenen Lernsituationen weniger aufgabenbezogen als konzentrationsstarke Schüler*innen (Lipowsky 1999). Auch starke und schwache Lernende unterschieden sich, da bei wenig Vorwissen das Arbeitsgedächtnis durch die komplexen Aufgabenstellungen zu stark beansprucht und dadurch der Lernprozess erschwert wurde. Nebst dem Vorwissen setzt die produktive Nutzung einer offeneren Lernumgebung nach Lipowsky und Lotz (2015) auch ausreichend Selbststeuerungsfähigkeiten und Motivation voraus. Schwache Lernende sind daher besonders auf ausreichende Strukturierung von Wahlangeboten und auf die Unterstützung der Lehrpersonen angewiesen (Lipowsky und Lotz 2015).

3 Fragestellung

Trotz fehlender Definition wird im internationalen Diskurs die Bedeutung von Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten bzw. choice and voice im Rahmen personalisierter Lernkonzepte deutlich (vgl. Abschn. 2.1 und 2.2). Vor dem Hintergrund der ELF-Reform (vgl. Abschn. 2.3) kann davon ausgegangen werden, dass Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten auch in innovativen Deutschschweizer Schulen, die sich an personalisierten Lernkonzepten orientieren, zentrale Konzeptdimensionen darstellen. Empirische Untersuchungen zum Verständnis und zur praktischen Umsetzung personalisierter Lernkonzepte fehlen jedoch weitgehend. Es interessiert daher, wie die zentralen Aspekte der Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten von den Schüler*innen der Sekundarstufe I wahrgenommen werden und ob die Übereinstimmung der Einschätzungen auf eine personalisierte Schulkultur hinweist (Fragestellung 1). Vor diesem Hintergrund wird geprüft, ob sich ein Modell mit den Konstrukten Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten sowohl für die Individual- als auch die Schulebene bilden lässt (Fragestellung 2). Da von einer vielfältigen Praxisumsetzung auszugehen ist, wird weiter untersucht, ob sich das von den Lehrpersonen eingeschätzte Ausmaß der Orientierung an personalisierten Lernkonzepten (Personalisierungsgrad) in der Wahrnehmung der Lernenden spiegelt und sich die Dimensionen choice and voice somit als empirisch bedeutsam für personalisierte Lernkonzepte erweisen (Fragestellung 3). Wie im Abschn. 2.4 dargelegt wurde, sind erweiterte Freiräume nur in Kombination mit adaptiver Lernunterstützung sinnvoll. Daher wird bei allen Fragestellungen ergänzend die Lernunterstützung durch die Lehrperson aus Sicht der Schüler*innen ausgewertet. Für den vorliegenden Artikel sind damit folgende Fragestellungen leitend:

  1. 1.

    Wie nehmen Schüler*innen aus Schulen mit personalisierten Lernkonzepten Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten (choice and voice) sowie die Lernunterstützung durch die Lehrperson wahr und wie reliabel sind die Schüler*innenwahrnehmungen auf Schulebene?

  2. 2.

    Lässt sich ein Messmodell mit den Konstrukten Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten (choice and voice) sowie der Lernunterstützung durch die Lehrperson für die Individual- und die Schulebene bilden?

  3. 3.

    In welchem Maße lässt sich die Schüler*innenwahrnehmung von Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten und der Lernunterstützung durch die Lehrperson auf Schulebene durch den von den Lehrpersonen berichteten Personalisierungsgrad erklären?

4 Methode

4.1 Die perLen-Studie als Rahmen, Studiendesign und Stichprobe

Der vorliegende Artikel basiert auf Daten eines Subsamples der perLen-Studie, welche Schulen mit personalisierten Lernkonzepten (nachfolgend perLen-Schulen genannt) im Hinblick auf Unterrichtsprozesse und -wirkungen sowie die dadurch neu entstandenen Rollen und Herausforderungen für Lehrende und Lernende untersucht (vgl. Stebler et al. 2018). Die nicht repräsentative Gesamtstichprobe umfasst 65 Schulen der Primar- und Sekundarstufe I aus insgesamt 15 Kantonen der Deutschschweiz. Die Schulen wurden im Gesamtprojekt längsschnittlich (2012–2015), mehrperspektivisch und multimethodisch untersucht. Die Sicht der Sekundarschüler*innen wurde in der 7. Klasse (t1), 8. Klasse (t2) und 9. Klasse (t3) mittels Online-Fragebogen erfasst, wobei einzelne Konstrukte nicht zu allen Zeitpunkten erhoben wurden. Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten wurden vorwiegend im Onlinefragebogen t2 erfragt, weshalb sich die vorliegenden Auswertungen darauf stützen.

Von den 40 Sekundarschulen der Gesamtstichprobe nahmen 35 Schulen (davon 5 Privatschulen) an der Online-Befragung t2 mit insgesamt 1046 Schüler*innen der 8. Klasse teil. Die Befragung wurde während der Unterrichtszeit im Juni/Juli 2014 durchgeführt. Von den befragten Schüler*innen waren 47,2 % weiblich. Durchschnittlich waren die Lernenden 14,9 Jahre alt.

4.2 Instrumente

Der Fragebogen für die Schüler*innen beinhaltete sowohl neuentwickelte Skalen und Items als auch solche aus erprobten Instrumenten, wobei aus ökonomischen Gründen nicht immer alle Items einer bestehenden Skala übernommen wurden. Die Items wurden für die perLen-Studie teilweise adaptiert. Zur Erfassung der verschiedenen Aspekte von Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten sowie der Lernunterstützung wurden Items aus fünf Originalskalen (Bos et al. 2010; Hagenauer 2011; Helm 2014; Rakoczy et al. 2005; Ramm et al. 2006) eingesetzt. Aufgrund der bestehenden inhaltlichen Überschneidungen der Originalskalen sowie zum Zweck der Optimierung der Messmodelle, wurde in einem ersten Schritt die Dimensionalität mittels explorativer Faktorenanalyse geklärt. Dabei liessen sich drei Faktoren identifizieren, welche den Konstrukten Wahlfreiheit, Mitbestimmung und Lernunterstützung zugeordnet werden konnten. Der erste Faktor Wahlfreiheit umfasste sämtliche Items der Originalskala von Helm (2014), welche mittels fünf Items nach der Häufigkeit der eigenständigen Wahlmöglichkeiten der Schüler*innen in organisatorischen und inhaltlichen Belangen fragt. Auf den zweiten Faktor Mitbestimmung luden sechs Items aus zwei unterschiedlichen Originalskalen: Davon fokussieren drei der Items, inwiefern die Wünsche der Lernenden für die inhaltliche Themenwahl berücksichtigt werden (Ramm et al. 2006) und drei Items erfragen, in welchem Ausmass die Lernenden in Bezug auf persönliche Lernziele involviert werden (Rakoczy et al. 2005). Der dritte Faktor umfasste sieben Items zur Lernunterstützung, welche den Instrumenten zum Unterstützungsverhalten (Bos et al. 2010) und der wahrgenommenen Fürsorglichkeit der Lehrperson (Hagenauer 2011) entnommen wurden. Die Reliabilitätsanalyse zeigte für alle Skalen eine zufriedenstellende bis hohe interne Konsistenz. In Tab. 1 sind die Skalen im Überblick dargestellt. Die einzelnen Items sind im Onlinematerial 1 zu finden.

Tab. 1 Überblick der manifesten Skalen

4.3 Auswertungsverfahren

Zur Beantwortung der ersten Forschungsfrage wurden die manifesten Skalen Wahlfreiheit, Mitbestimmung und Lernunterstützung deskriptiv ausgewertet. Zur Überprüfung, ob die Schulhausebene in der Auswertung zu berücksichtigen ist bzw. ob eine Zusammenfassung der Daten auf Schulhausebene reliabel ist, wurden die Intraklassenkorrelationen (ICC1 und ICC2) für die Schulebene berechnetFootnote 1. Der ICC1 gibt an, welcher Anteil der Gesamtvarianz auf Unterschiede zwischen den Schulen zurückgeführt werden kann während der ICC2 eine Aussage über die Reliabilität der Aggregatdaten erlaubt (Gärtner 2010). Die deskriptiven Auswertungen sowie die Berechnung der Intraklassenkorrelationen erfolgten mit der Statistiksoftware SPSS 27 (IBM Corp 2020).

Zur Überprüfung, ob sich ein Messmodell mit den Konstrukten Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten sowie der Lernunterstützung für die Individual- und die Schulebene bilden lässt (zweite Forschungsfrage), wurde mittels konfirmatorischer Mehrebenen-Faktorenanalyse (Multilevel Confirmatory Factor Analysis [MCFA]; Ebene 1: Schüler*innen, Ebene 2: Schulen) die Faktorstruktur der vorgängig manifest gebildeten Skalen mit dem robusten MLR-Schätzer überprüft. Da zahlreiche Indikatoren pro Faktor zu einem geringeren Anteil geteilter Varianz und zu einer grossen Anzahl zu schätzender Parameter führen, wurde durch das Zusammenziehen von Indikatoren zu Parcels das Modell entlastet, ohne dass die Nachteile der Kontrolle zufälliger Messfehler aufgegeben werden musste (Marsh et al. 2013; Rioux et al. 2020). Die Überprüfung der Dimensionalität erfolgte mittels Schätzung und Modellvergleich mehrerer MCFAs mit unterschiedlicher Faktorenzahl. Die MCFA wurde anschließend mit dem Step-Up-Ansatz auf cross-level-Messinvarianz überprüft, wobei zunehmend restriktivere Modelle gebildet wurden und anhand des Chi2-Differenztestes überprüft wurde, ob sich diese signifikant vom Ausgangsmodell unterscheiden (Kleinke et al. 2017).

Zur Überprüfung, ob sich die Unterschiede in der mittleren Wahrnehmung der Lernenden zwischen den Schulen im Hinblick auf Wahlfreiheit und Mitbestimmung durch den von den Lehrpersonen eingeschätzten schulbezogenen Personalisierungsgrad erklären lassen (dritte Forschungsfrage), wurde ausgehend vom beschriebenen Messmodell ein Mehrebenen-Strukturgleichungsmodell (Multilevel Structural Equation Modeling [MSEM]) geschätzt. Für das Mehrebenen-Strukturgleichungsmodell wurde die Prädiktorvariable „Personalisierungsgrad“ in manifester Form auf Schulebene ins Modell aufgenommen. Die Bildung des Personalisierungsgrades wird im folgenden Kapitel beschrieben. Das Messmodell sowie auch das Mehrebenen-Strukturgleichungsmodell wurden mit Mplus, Version 8 (Muthén und Muthén 2017) geschätzt. Die Beurteilung der Modelle wurde nach Empfehlung von Byrne (2012) anhand der Fit-Werte χ2, CFI (Comparative Fit Index), RMSEA (Root Mean Square Error of Approximation) und SRMR (Standardized Root Mean Residual) dokumentiert, wobei sich die Beurteilung an den Cutoff-Werten von Hu und Bentler (1999) orientierte. Demnach sollte der CFI mindestens 0,95 betragen, der RMSEA nicht über 0,06 und der SRMR nicht über 0,08 liegen.

4.4 Personalisierungsgrad

Die perLen-Stichprobe ist bezüglich Umsetzung personalisierter Lernkonzepte heterogen. Zur Strukturierung der Stichprobe wurde in der perLen-Forschungsgruppe die Variable „Personalisierungsgrad“ gebildet. Der Wert, welcher für jede Schule bestimmt wurde, setzt sich aus den gemittelten Einschätzungen der Lehrpersonen und Schulleitungen auf die Frage „Wie stark orientiert sich Ihre Schule an personalisierten Lernkonzepten?“ der Online-Befragungen t2 und t3 zusammen (für weiterführende Erläuterungen siehe Stebler et al. 2018). Das Ausmaß wurde auf einer vierstufigen Skala von 1 (kaum) bis 4 (sehr stark) eingeschätzt. Der mittlere Wert des Personalisierungsgrades für die 35 Sekundarschulen der Substichprobe lag bei 3,11 (SD = 0,44) bei einer Spannweite von 2,4 (Min. = 1,60, Max. = 4,00).

5 Ergebnisse

5.1 Wahrnehmung der Schüler*innen von choice and voice

Die deskriptive Auswertung der Skalen zeigte, dass die perLen-Schulen aus Sicht der Schüler*innen Wahlmöglichkeiten (choice) gewährten (M = 3,22, SD = 0,62). Die Analyse der Einzelitems wies darauf hin, dass vorwiegend Wahlmöglichkeiten bezüglich Zeiteinteilung (M = 3,57, SD = 0,71) und Sozialform (M = 3,31, SD = 0,80) wahrgenommen wurden. So gaben 68 % der befragten Schüler*innen an, dass sie in der Schule häufig selbst die Zeit zum Lernen einteilen können. Lediglich 8,4 % der Lernenden gab an, dass sie ihre Zeiteinteilung nie (2,2 %) oder selten (6,2 %) selbst bestimmen können. Am wenigsten nahmen die Schüler*innen inhaltliche Wahlmöglichkeiten (M = 3,04, SD = 1,00) und Wahlmöglichkeiten bezüglich des Lernortes (M = 3,04, SD = 0,90) wahr. Die hohen Standardabweichungen wiesen auf eine substantielle Variation der Wahrnehmung hin. Mitbestimmungsmöglichkeiten (voice) wurden signifikant weniger häufig wahrgenommen (M = 2,66, SD = 0,66; t(1045) = 169,130, p < 0,001). Auswertungen auf Ebene der Einzelitems zeigten, dass die höchste Zustimmung das Item „Im Unterricht vereinbaren wir mit unseren Lehrpersonen unsere persönlichen Lernziele“ (M = 2,90, SD = 0,86) erzielte. Die Schüler*innen der perLen-Schulen nahmen die Lernunterstützung durch die Lehrperson insgesamt positiv wahr (M = 3,14, SD = 0,55). Die Mittelwerte und Standardabweichungen sämtlicher Einzelitems sind im Onlinematerial 1 aufgeführt.

Zur Klärung, ob von einer personalisierten Schulkultur gesprochen werden kann, wurde zudem die Reliabilität der Schüler*innenwahrnehmung untersucht. Die ICC1 für Mitbestimmung und Wahlfreiheit wiesen auf eine ausreichende Variabilität zwischen den Schulen hin und bedeuten, dass sich 18 % (Mitbestimmung) bzw. 17 % (Wahlfreiheit) der Varianz in der Wahrnehmung der Lernenden durch die Schulen erklären lassen, was nach Lebreton und Senter (2008) einem mittleren Effekt entspricht. Die Aggregation für die beiden Skalen auf Schulebene wurde aufgrund des ICC2 als reliabel eingeschätzt und betrug für die Skala Mitbestimmung 0,87 und für die Skala Wahlfreiheit 0,86. Bezüglich Wahrnehmung der Lernunterstützung aus Lernendensicht zeigte der ICC1 nur einen kleinen Schuleffekt von 6 % (Lebreton und Senter 2008). Die Reliabilität des ICC2 von 0,64 kann als knapp genügend eingeschätzt werden, wobei Lebreton und Senter (2008) darauf hinweisen, dass der häufig verwendete Grenzwert von 0,70 für den ICC2 nicht als starre, sondern heuristische Regel betrachtet werden soll. Aufgrund der Auswertungen ist eine Aggregation der Skalen auf Schulebene möglich und eine Berücksichtigung der Clusterung der Daten notwendig.

5.2 Bildung eines dreidimensionalen, hierarchischen Messmodells

Für das Messmodell wurden in einem ersten Schritt Parcels gebildet (vgl. Abschn. 5.2.1). In einem zweiten Schritt wurde die Passung der dreidimensionalen Struktur anhand von Alternativmodellen überprüft (vgl. Abschn. 5.2.2) und in einem dritten Schritt folgte die Überprüfung der cross-level-Messinvarianz (vgl. Abschn. 5.2.3).

5.2.1 Bildung homogener Parcels

Auf Empfehlung von Marsh et al. (2013) wurden homogene Parcels gebildet, bei welchen die Binnenstrukturen nicht überdeckt werden. Da die Skalen Mitbestimmung und Lernunterstützung Items aus verschiedenen Originalskalen umfassten (vgl. Abschn. 4.2), wurden je die Items einer Originalskala zu einem Parcel zusammengefasst. Die Skala Wahlfreiheit wurde als Originalskala übernommen, weshalb die Items nach inhaltlichen Kriterien (organisatorische versus inhaltliche Wahlfreiheit) aufgeteilt wurden. Die gebildeten Parcels sind in Tab. 2 zusammengefasst.

Tab. 2 Überblick der Parcels

5.2.2 Konfirmatorische Mehrebenen-Faktorenanalyse

Zur Überprüfung der Modellpassung wurden zwei alternative MCFAs mit einfaktorieller (M1) bzw. zweifaktorieller (M2) Struktur getestet. Beide Alternativmodelle wiesen eine mangelnde Passung zu den Daten auf, während die dreifaktorielle MCFA (M3) eine angemessene Modellpassung für die mittels Parcels latent modellierten Faktoren Wahlfreiheit, Mitbestimmung und Lernunterstützung auf beiden Ebenen zeigte (vgl. Tab. 3). Aufgrund negativer Varianzen wurden auf der Schulebene zwei Residuuen auf null fixiert (Kleinke et al. 2017). In der dreifaktoriellen MCFA waren sämtliche standardisierte Ladungen auf beiden Ebenen statistisch signifikant (p < 0,001) und größer als 0,54 (Individualebene) bzw. 0,75 (Schulebene). Die Faktorkorrelationen waren auf der Schulebene bedeutend höher, weshalb sich die Frage der Diskriminanzvalidität der Konstrukte auf Ebene 2 stellte (vgl. Onlinematerial 2). Aufgrund der Fit-Werte, insbesondere des für den Vergleich nicht verschachtelter Modelle zentralen informationstheoretischen Masses des BIC, und zugunsten der inhaltlichen Interpretierbarkeit (Kleinke et al. 2017) wurde das Modell M3, mit dreifaktorieller Struktur auf beiden Ebenen, favorisiert.

Tab. 3 Zusammenfassung der Fit-Werte der MCFA-Modelle mit MLR-Schätzer

5.2.3 Überprüfung auf cross-level-Messinvarianz

Aufgrund des Modellfits der dreifaktoriellen MCFA konnte konfigurale Invarianz angenommen werden (Kleinke et al. 2017). Zur Überprüfung der cross-level metrischen Invarianz wurden im Modell 4 (M4) jeweils die sich entsprechenden Faktorladungen über beide Analyseebenen gleichgesetzt. Der für MLR-Schätzer angepasste χ2-Differenztest zeigte für das restringierte Modell M4 keinen signifikant schlechteren Modellfit im Vergleich zum Modell M3, weshalb metrische Invarianz angenommen werden konnte (Satorra-Bentler corrected Δχ2 = 5,32, df = 3, n. s.) (vgl. Tab. 4). Im Modell 5 (M5) wurde cross-level skalare Invarianz durch das Restringieren der Fehlervarianzen auf null überprüft, wobei sich der Modellfit signifikant verschlechterte. Für das Mehrebenen-Strukturgleichungsmodell wurde deshalb das ebenenbezogen metrisch invariate Messmodell M4 verwendet (vgl. Onlinematerial 3). Die ICC1-Werte der latenten Faktoren Wahlfreiheit und Mitbestimmung betrugen im Modell M4 je 0,16, der ICC1-Wert des Faktors Lernunterstützung 0,04. Damit waren sie nahezu gleich stark ausgeprägt wie die zuvor berichteten ICC1-Werte der manifesten Skalen.

Tab. 4 Überprüfung auf cross-level-Messinvarianz

5.3 Schüler*innenwahrnehmung in Abhängigkeit des Personalisierungsgrades

Im Rahmen der dritten Forschungsfrage wurde mit einem Mehrebenen-Strukturgleichungsmodell untersucht, in welchem Maße sich die Schüler*innenwahrnehmung von Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten sowie der Lernunterstützung auf Schulebene durch den von den Lehrpersonen berichteten Personalisierungsgrad erklären lassen. Abb. 1 zeigt das auf der MCFA M4 aufbauende Modell mit den standardisierten Koeffizienten und Korrelationen. Die Modellpassung ist gut (χ2 (20) = 37,222, CFI = 0,991; RMSEA = 0,029; SRMRwithin = 0,017; SRMRbetween = 0,076).

Abb. 1
figure 1

Mehrebenen-Strukturgleichungsmodell mit standardisierten Regressionskoeffizienten und Korrelationen. ***p < 0,001, **p < 0,01, *p < 0,05; Nwithin: 1046, Nbetween: 35; Personalisierungsgrad (LP/SL): Personalisierungsgrad eingeschätzt durch Lehrer*innen und Schulleiter*innen

Der von den Lehrpersonen berichtete Personalisierungsgrad erwies sich als statistisch bedeutsamer Prädiktor für die von den Lernenden auf Schulebene wahrgenommene Wahlfreiheit (β = 0,65, p < 0,001), Mitbestimmung (β = 0,58, p < 0,001) und Lernunterstützung (β = 0,78, p < 0,001). Auf der Individualebene korrelierten alle drei Konstrukte signifikant und mit mittlerer Stärke miteinander. Auf Schulebene zeigten sich starke Korrelationen zwischen der aus Lernendensicht wahrgenommenen Unterstützung der Lehrperson mit der Wahlfreiheit (r = 0,84, p < 0,01) und Mitbestimmung (r = 0,93, p < 0,01). Mitbestimmung und Wahlfreiheit korrelierten auf der Schulebene zwar nominell stark (r = 0,67), jedoch nicht statistisch signifikant miteinander.

6 Zusammenfassung und Diskussion

Der facettenreiche Sammelbegriff „Personalisiertes Lernen“ beinhaltet vielfältige pädagogische Konzepte und Massnahmen, die den Anspruch verfolgen, Lernarrangements an den persönlichen Bedürfnissen aktiv lernender Schüler*innen auszurichten. Mit dem Slogan choice and voice werden dabei Wahlfreiheiten sowie ein aktives Einbringen und Mitbestimmen der Lernenden gefordert. Das in der Literatur vorfindbare empirische Gesamtbild über Wirkungen von Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten ist dabei uneinheitlich, was unter anderem auf unterschiedliche Verständnisse und Umsetzungsmöglichkeiten von autonomiefördernden Unterrichtskonzepten zurückzuführen ist. Was verschiedene Studien zeigen konnten, ist, dass auch (und ganz besonders) im offenen Unterricht nicht die sichtbaren Organisationsstrukturen, sondern die Qualität der Lehr-Lernprozesse auf der Ebene ihrer Tiefenstruktur für den Lernertrag entscheidend sind, dabei (mit Bezug auf die Lernvoraussetzungen der Schüler*innen) differentielle Effekte zu erwarten sind und der Lernunterstützung durch die Lehrperson eine grosse Bedeutung zukommt (Alfieri et al. 2011; Bohl et al. 2011; Lipowsky 2002; Reusser 2011). In der Deutschschweiz schließt die Forderung nach choice and voice an frühere Unterrichtsreformen an, welche den Schüler*innen einen passgenaueren Unterricht und selbstbestimmteres Lernen ermöglichen sollten. Obwohl verschiedene innovative Schulen der Deutschschweiz sich an personalisierten Lernkonzepten orientieren und langjährige Praxiserfahrungen mit Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten haben, ist wenig über die Verbreitung und Wahrnehmung dieser Autonomiespielräume aus Lernendensicht bekannt. Der Artikel leistet einen Beitrag zur Schließung der Forschungslücke.

Mit der ersten Forschungsfrage wurde untersucht, wie Schüler*innen in Schulen, die sich an personalisierten Lernkonzepten orientieren, Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten sowie die Lernunterstützung durch die Lehrperson wahrnehmen und ob die Einschätzung auf Schulebene als reliabel betrachtet werden kann. Die Ergebnisse zeigen, dass die Lernenden der Sekundarstufe I im Unterricht regelmäßig Wahlmöglichkeiten wahrnehmen, wobei insgesamt eine höhere Entscheidungsfreiheit bei organisatorischen Fragen wahrgenommen wird. Aus Sicht der Schüler*innen sind Wahlmöglichkeiten in Bezug auf Lernort und Inhalt weniger häufig. Während sich das geringere Ausmaß der Wahlfreiheit mit Bezug auf den Lernort durch beschränkte räumliche und personelle Ressourcen erklären lässt, ist die Wahrnehmung in Bezug auf inhaltliche Wahlmöglichkeiten vor dem Hintergrund verbindlicher Lehrplanvorgaben plausibel. Im Kontext eines institutionalisierten Lernsettings und mit Blick auf bisherige Untersuchungen (Müller-Kuhn et al. 2020) kann die Wahrnehmung der Wahlfreiheit aus Lernendensicht als positiv eingeschätzt werden. Das gemeinsame Aushandeln von Zielen und Inhalten (Mitbestimmung) wird von den Schüler*innen weniger positiv wahrgenommen. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass viele Sekundarschulen aus der perLen-Stichprobe ihren Unterricht in einem Zusammenspiel von Inputlektionen und LernlandschaftenFootnote 2 organisieren. Während die Inputlektionen mit einem geführten Klassenunterricht vergleichbar sind, bieten die Lernlandschaften ein Gefäß für individuelle Lernzeit, welche in weitgehender Selbstverantwortung der Schüler*innen genutzt wird. Es findet somit weniger ein gemeinsames Planen, Aushandeln und Mitbestimmen statt, sondern die Schüler*innen können in klar vorgegebenen Zeitfenstern selbstbestimmt bzw. selbstorganisiert lernen, was die höhere Einschätzung der Wahlfreiheit erklärt. Die positive Einschätzung der Lernunterstützung zeigt, dass sich die Schüler*innen gut von den Lehrpersonen unterstützt fühlen. Die Auswertungen zur Wahrnehmung der Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten aus Lernendensicht wurden auf Basis der Individualdaten ohne Berücksichtigung der Schulebene ausgewertet. Da sich die Anzahl der befragten Schüler*innen pro Schule stark unterscheidet, fallen große Schulen stärker ins Gewicht, was zu Verzerrungen führen könnte. Eine Replikation der Analysen basierend auf Daten, die auf Schulebene aggregiert wurden, ergab jedoch weitgehend identische Ergebnisse. Damit kann eine grobe Verzerrung der Befunde durch ungleiche Schulgrößen ausgeschlossen werden.

Da viele perLen-Schulen keine traditionellen Klassen mehr führen, sondern den Unterricht in flexibel zusammengesetzten Lerngruppen organisieren, wurden die Intraklassenkorrelationen für die Schulebene berechnet. Dabei zeigte sich, dass die Schulebene – trotz unterschiedlichen Lehrpersonen und Lerngruppen – einen substantiellen Anteil der Varianz in der Wahrnehmung der Schüler*innen hinsichtlich Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten erklären kann und die Einschätzungen auf Schulebene reliabel sind. Inhaltlich lässt dies darauf schließen, dass die Schulen der perLen-Studie auf diese Aspekte der Personalisierung bezogen breit geteilte Standards in Form einer einheitlichen Schulkultur entwickelt haben, welche die Praxis maßgeblich anleiten und im Schulalltag von den Schüler*innen konsistent wahrgenommen werden. Für die Wahrnehmung der Lernunterstützung zeigt sich nur ein kleiner Schuleffekt. Dies ist nachvollziehbar, da diesbezüglich weniger das Schulkonzept oder die Schulorganisation, sondern stärker die persönliche Beziehung zu den (verschiedenen) Lehrpersonen sowie individuelle Merkmale der Schüler*innen die Einschätzung mitbeeinflussen.

Im Rahmen der zweiten Forschungsfrage wurde die Bildung eines hierarchischen Messmodells für die Konstrukte Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten (choice and voice) sowie der Lernunterstützung überprüft. Da die Cluster-Fallzahl mit 35 Schulen gemessen an der Modellkomplexität klein ist, wurden zur Entlastung des Modells homogene Mittelwert-Parcels gebildet (Marsh et al. 2013; Rioux et al. 2020). Das Parceling wird in der Literatur kontrovers diskutiert (Little et al. 2002, 2013; Marsh et al. 2013). Für den vorliegenden Artikel wurde das Vorgehen als angemessene Auswertungsstrategie zur Modellentlastung eingeschätzt, da von eindimensionalen Konstrukten ausgegangen werden konnte und im Zentrum des Erkenntnisinteressens nicht die einzelnen Items, sondern die latenten Konstrukte standen (Little et al. 2002).

Auffallend bei der MCFA waren die deutlich höheren Faktorkorrelationen auf Schulebene, insbesondere zwischen den wahrgenommenen Mitbestimmungsmöglichkeiten und der wahrgenommenen Unterstützung der Lehrperson. Während aus inhaltlichen Gründen die dreidimensionale Struktur beibehalten wurde, wird der starke Zusammenhang im Rahmen der Diskussion der dritten Forschungsfrage erörtert.

Mit der dritten Forschungsfrage wurde untersucht, inwiefern die Wahrnehmung der Schüler*innen im Hinblick auf Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten sowie der Lernunterstützung mit dem von den Lehrpersonen und Schulleitungen eingeschätzten Personalisierungsgrad übereinstimmt bzw. sich auf diesen zurückführen lässt. Das Mehrebenen-Strukturgleichungsmodell bestätigt den Personalisierungsgrad als relevanten Prädiktor: In Schulen, die von den Lehrpersonen und Schulleitungen als stark personalisiert eingeschätzt werden, nehmen die Schüler*innen ausgeprägtere Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten wahr. Zugleich schätzen sie auch die Lernunterstützung positiver ein. Während der positive Effekt des Personalisierungsgrades auf die Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten aufgrund der Theorie erwartet wurde, erstaunt der starke Einfluss auf die wahrgenommene Lernunterstützung, da sich Schüler*innen unabhängig vom Unterrichtskonzept von den Lehrpersonen gut unterstützt fühlen sollten. Aufgrund der starken Korrelation kann vermutet werden, dass insbesondere den Lehrpersonen aus den sehr stark personalisierten Schulen eine erfolgreiche Konzeptumsetzung, bei welcher die Orientierung an den individuellen Bedürfnissen der Schüler*innen zentral ist, besonders gut gelingt.

Ein weiteres interessantes Ergebnis des Mehrebenen-Strukturgleichungsmodells sind die starken Zusammenhänge zwischen den wahrgenommenen Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten und der Lernunterstützung. Schüler*innen, welche häufiger Wahlfreiheiten wahrnehmen und gemeinsam mit der Lehrperson Ziele und Inhalte aushandeln können, fühlen sich insgesamt besser von den Lehrpersonen unterstützt – obwohl autonomiefördernde Lernumgebungen besondere Anforderungen an die Unterstützung der Lehrperson stellen. In didaktischer und lernpsychologischer Perspektive ist bzw. wäre dies ein erfreulicher Befund, gilt doch die Qualität des Lernens bei geöffneten, d. h. erweiterte Autonomiespielräume ermöglichenden Settings als stark von der Qualität der Lernunterstützung abhängig (Alfieri et al. 2011; Lipowsky 2002). Ob aus dem vorliegenden Befund wirklich auf eine überzeugende Lernunterstützungspraxis geschlossen werden kann, oder ob dahinter eher Ausstrahlungseffekte liegen, ist in weiterführenden Auswertungen zu klären.

Aus theoretischer Perspektive wäre die Korrelation zwischen Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten plausibel, da sowohl choice als auch voice relevante Dimensionen personalisierten Lernens sind. Im Mehrebenen-Strukturgleichungsmodell ist jedoch nur auf der Individualebene die Korrelation dieser Konstrukte signifikant. Dieses Ergebnis lässt sich nebst der geringen Clusterzahl auch mit den unterschiedlichen Korrelationen der wahrgenommenen Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten zwischen den Schulen erklären. So zeigten ergänzende Auswertungen, dass es Schulen gibt, in denen die Schüler*innen sowohl hohe Wahl- als auch Mitbestimmungsmöglichkeiten wahrnehmen und Schulen in denen Schüler*innen das eine deutlich ausgeprägter als das andere wahrnehmen. Daher wäre für weiterführende Auswertungen ein vertiefter Blick lohnenswert, wobei verschiedene Konfigurationen und Umsetzungen der Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten sowie der Lernunterstützung in den einzelnen Schulen untersucht würden. Hierfür speziell geeignet wären ein person- (bzw. hier schul-) zentrierter Ansatz, um solche Konfigurationen in Form von Typen bzw. latenten Klassen zu fassen.


Limitationen

Bei der Interpretation der Ergebnisse sind auch gewisse Limitationen zu berücksichtigen. So basieren sämtliche Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung auf Selbsteinschätzungen. Die an der Studie beteiligten Schulen schätzten sich selbst als personalisiert ein, wobei diese Einschätzung mehr aus dem innovativen Selbstverständnis der Schulen als dem Erfüllen klar definierter Kriterien resultiert haben dürfte. Auch wenn damit der Leitidee Rechnung getragen werden konnte, dass sich personalisierte Lernkonzepte an den jeweiligen Bedürfnissen der Beteiligten orientieren und daher verschiedene Gesichter aufweisen können (Bray und McClaskey 2015), war dies sicher mit ein Grund dafür, dass die perLen-Stichprobe sehr heterogen ausfiel (vgl. auch Stebler et al. 2018). Aufgrund der Stichprobenheterogenität sowie dem Fehlen einer Vergleichsstichprobe bleibt jedoch offen, ob und wie stark sich die innovativen perLen-Schulen im Hinblick auf Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten von „regulären Schulen“, d. h. einer Zufallsstichprobe unterscheiden.

Bei der Unterrichtswahrnehmung aus Schüler*innensicht muss berücksichtigt werden, dass die Einschätzung sowohl von individuellen Personenmerkmalen als auch der Gruppe (Schule) mitbeeinflusst ist, was die Vergleichbarkeit zwischen den Schulen einschränkt. Bei der Wahrnehmung der Lernunterstützung zeigte sich zudem, dass nur ein kleiner Anteil der Gesamtvarianz auf die Schulebene zurückgeführt werden kann. Einschränkend gilt es zudem festzuhalten, dass die vorliegenden Auswertungen keine Aussagen darüber erlauben, inwiefern relevante Personenmerkmale – wie beispielsweise der Leistungsstand – die Wahrnehmung beeinflussen. Da aufgrund der Theorie differentielle Effekte zu erwarten sind, erscheint es angezeigt, in weiterführenden Untersuchungen den Zusammenhang von autonomiefördernden Lernumgebungen und Lernunterstützung unter Berücksichtigung individueller Personenmerkmale zu untersuchen.

Trotz beachtlichem „Verzerrungspotential“ (Wagner 2008, S. 6) der Unterrichtswahrnehmung aus Sicht der Schüler*innen, bleibt diese Datenquelle für die Unterrichtsforschung essentiell: Denn in vielerlei Hinsicht hat sich weniger die „objektive Wahrnehmung“ durch Beobachtende, als vielmehr die Wahrnehmung der Schüler*innen als bedeutsam für deren Lernen erwiesen (Bohl und Kucharz 2010; De Jong und Westerhof 2001; Hartinger 2006; Helm 2016; Lüdtke et al. 2009; Pauli et al. 2007). Autonomiespielräume müssen somit nicht nur vorhanden, sondern von den Schüler*innen auch als solche wahrgenommen werden, damit sie genutzt werden und die Schüler*innen sich als selbstbestimmt erleben. Die Auswertungen zeigen, dass dies in den perLen-Schulen in hohem Maße der Fall ist. Ob die Wahrnehmung von choice and voice auch tatsächlich Wirkung entfaltet, muss Gegenstand weiterer Analysen sein.

Der vorliegende Beitrag zeigt, dass es sich bei Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten nicht nur aus theoretischer, sondern auch aus empirischer Sicht um eine bedeutsame Dimension personalisierter Lernkonzepte handelt. Für ein tieferes Verständnis von deren Voraussetzungen und Wirkungen sowie für die Einschätzung ihrer Praxisbedeutsamkeit, braucht es künftig weitere qualitative und quantitative Studien, in denen Konfigurationen von Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten in Verbindung mit weiteren Merkmalen einer personalisierten Unterrichtsgestaltung in der praktischen Umsetzung untersucht werden.