1 Einführung

Wissenschaftliches Denken wird als Denken beschrieben, das sich mit Phänomenen der Welt beschäftigt unter der Zielsetzung, einen Erkenntnisgewinn herbeizuführen. Es bezieht sich insbesondere auf die Fähigkeit von Individuen, wissenschaftliche Verfahren und Denkweisen anzuwenden, um Informationen zu evaluieren und Erkenntnisse zu generieren und wird als eine Schlüsselkompetenz zur Partizipation in der „Wissensgesellschaft“ beschrieben (Fischer et al. 2014). Beim wissenschaftlichen Denken kommen grundlegende kognitive Prozesse wie die des induktiven und deduktiven Schließens zur Anwendung (Lawson 2010; Morris et al. 2012; Zimmerman 2007). Der aus diesen Prozessen resultierende Erkenntnisgewinn hat unter anderem zur Folge, dass domänenspezifisches Wissen konstruiert wird, welches als sogenanntes „Theoriewissen“ weiteren Denk- und Problemlöseprozessen zur Verfügung steht (Kuhn 2011). Gemäß Kuhn und Pearsall (2000) ist im Kontext des wissenschaftlichen Denkens ein breiter Theoriebegriff legitim, welcher das Kategoriewissen, Interpretationen und Erklärungswissen von Individuen umfasst (siehe auch Sandoval et al. 2014). Insbesondere Forschungsbefunde der Entwicklungspsychologie und der naturwissenschaftlichen Fachdidaktik belegen, dass Komponenten des wissenschaftlichen Denkens – mit spezifischen aufgaben- und anforderungsbezogenen Einschränkungen – bereits im Kindergartenalter zu beobachten sind und dass sich bis zum frühen Erwachsenenalter systematische Fortschritte verzeichnen lassen (Butler 2020; Sandoval et al. 2014; van der Graaf et al. 2018).

Neben dem Theoriewissen werden zum wissenschaftlichen Denken das Wissen um epistemische Aktivitäten sowie die Fähigkeiten zu deren Anwendung gerechnet (Koerber et al. 2015; Zimmerman 2007). Unter diese epistemischen Aktivitäten fallen Denk‑, Arbeits- und Handlungsweisen wie das Fragen stellen, Beobachten, Untersuchungen planen, Untersuchungen durchführen, Daten sammeln, Messen, Interpretieren und Dokumentieren (Hetmanek et al. 2018). Zudem wird die Variablenkontrollstrategie als ein bedeutsamer Aspekt des wissenschaftlichen Denkens im Bereich der Datengenerierung und -interpretation eingeordnet. Erkenntnisgewinne aus epistemischen Aktivitäten ergeben sich aus der Koordination von Theorie und Evidenz, d. h. im Abgleich von empirisch generiertem Wissen mit den aus der Theorie abgeleiteten Hypothesen bzw. mit den von Individuen bereits konstruierten Wissenskomponenten. Sandoval et al. (2014) weisen darüber hinaus darauf hin, dass neben der Anwendung von Methoden zum Erlangen empirischer Evidenz auch eine Plausibilitätsprüfung der Behauptung (claim) zentral ist, welche u. a. durch Quellenverlässlichkeit und zugeschriebene Expertise erfolgt. Langfristiges Ziel der Erkenntnisgewinnung durch wissenschaftliches Denken ist es demnach auch, durch die Nutzung (empirischer) Evidenz das jeweilige Theoriewissen als wahr oder unwahr einschätzen zu können (Kuhn und Pearsall 2000).

Wissenschaftliches Denken wird gemäß des Modells Scientific Discovery as Dual Search (SDDS) von Klahr und Dunbar (1988) als Suche im sog. Hypothesenraum und im Experimentierraum verstanden, wobei davon ausgegangen wird, dass sich die Suchen im Hypothesenraum und im Experimentierraum gegenseitig einschränken. Darüber hinaus unterscheiden die Autoren in der Phase der Hypothesenbildung zwischen „Evozieren“ und „Induzieren“ einer Hypothese. Beim Evozieren einer Hypothese wird angenommen, dass das Abrufen von Vorwissen und im Gedächtnis gespeicherten Theorien die Grundlage der Hypothesenbildung sind; beim Induzieren einer Hypothese finden in erster Linie Beobachtung und Mustererkennung statt, bevor eine erste Hypothese formuliert werden kann. Diese Prozesse weisen auf die Bedeutung grundlegender kognitiver Prozesse wie Deduktion und Induktion beim Abgleich zwischen Suchprozessen der beiden Suchräume hin.

Aus ko-konstruktivistischer Sicht ergibt sich beim Umgang mit Theoriewissen und Evidenz auch die Bedeutung von wissenschaftlichen Argumentationen, da mit Argumenten Gewissheiten und Vorannahmen in Frage gestellt werden können sowie Theorien durch Belege und Stützung von Argumenten im Diskurs ausgeschärft werden (Mercier 2012). So sind nach Fischer et al. (2014) Argumente bezüglich der Beurteilung der Angemessenheit einer Versuchsplanung, der Interpretation der Belege und der Gültigkeit und Wahrheit von Wissen als das Zentrum wissenschaftlichen Denkens zu verstehen. Typischerweise sind Argumente aufgebaut als Aussagen, die mindestens zwei Evidenzen, zwei Theorien oder eine Theorie und eine Evidenz miteinander verbinden sowie wenigstens eine Begründung beinhalten (vgl. Toulmin 2003; Furtak et al. 2010). Eine Begründung reicht jedoch oft nicht aus, sondern bedarf häufig wiederum einer oder mehrerer stützender Aussagen. Letztere können wiederum Theorien sein, mit denen Evidenzen oder subjektive Erfahrungen explizit gemacht werden und auf die man sich stützt, um die Vertrauenswürdigkeit der Begründung zu untermauern. Dabei werden Argumente mit mehreren Begründungen und stützenden Aussagen (die auch die Vorwegnahme eines Gegenarguments und dessen Widerlegung beinhalten können) im Hinblick auf wissenschaftliches Denken als die besseren Argumente angesehen (Toulmin 2003). Darüber hinaus sind in der wissenschaftlichen Argumentation theoretisch oder empirisch gewonnene Belege (empirische Evidenz) zur Untermauerung einer Begründung besonders wichtig und werden als qualitätsvoll eingeschätzt (Chinn und Malhotra 2002; Furtak et al. 2010; Mercier 2018).

In diesem Überblick fokussieren wir auf der Grundlage der Literatur zum wissenschaftlichen Denken und Argumentieren auf die zentralen kognitiven Prozesse der Deduktion, Induktion und Abduktion. Dabei zeigen wir auf, welche Bedeutung diese für die Entwicklung grundlegender Fähigkeiten in wesentlichen Teilbereichen wie der Theorie-Evidenz Koordination haben können und inwiefern die Konzeptentwicklung mit dem wissenschaftlichen Denken zusammenhängt. Zudem werden die im Themenheft publizierten Studien in diesen Kontext eingeordnet.

2 Grundlegende kognitive Prozesse

Das Enkodieren relevanter Information und dessen mentale Repräsentation gelten als grundlegend für kognitive Prozesse des wissenschaftlichen Denkens (Morris et al. 2012). Die zunehmende Fähigkeit von Kindern zur Enkodierung von solchen Informationen, die für einen Erkenntnisgewinn relevant sind, wird sowohl durch die Aneignung von Kodierungsstrategien als auch durch die Aneignung von domänenspezifischem Wissen unterstützt (Siegler 1989). Die resultierenden mentalen Repräsentationen sind u. a. die Voraussetzung für die Anwendung kognitiver Prozesse wie der Deduktion und Induktion, wobei sie weder als voneinander getrennt noch als hierarchisch konzeptualisiert werden (Goel und Waechter 2017; Lawson 2010). Dennoch wird im Folgenden ein analytischer Zugang gewählt, der es erlaubt, Forschungsstränge entsprechend zu ordnen – im Wissen, dass diese Ordnung nicht ausschließlich und auch nicht abschließend zu verstehen ist.

2.1 Deduktion

Beim deduktiven Schließen wird von einer Aussage ausgegangen, die im weitesten Sinn eine Theorie umfasst oder Teil einer Theorie ist (Goel und Waechter 2017). Deduktion wird als konditionales Denken verstanden („wenn ich diesen Baustein wegnehme, dann fällt der Turm zusammen“), kontrafaktisches Denken („wenn ich diesen Baustein nicht weggenommen hätte, wäre der Turm stehen geblieben“) und transitives Denken (linearer Syllogismus: „wenn der kleinste Turm mit diesen Bausteinen gebaut wurde und der zweitgrößte Turm ebenfalls und beide bleiben stehen, wird der größte Turm aus diesen Bausteinen auch stehen bleiben“, vgl. auch Goswami 2011). Ziel der Deduktion ist es somit, Phänomene unter bestimmten Voraussetzungen in eine gegebene Theorie einzuordnen und darüber eine logische Schlussfolgerung zu ziehen. Das deduktive Schlussfolgern wird insbesondere zur Beweisführung eingesetzt, bei welcher eine bestimmte Aussage aus einer oder mehreren Aussagen abgeleitet wird (Johnson-Laird et al. 2018). Mit Deduktion können demnach aus allgemeinen Theorien spezifischere Theorien abgeleitet werden, wobei Deduktion im engeren Sinn als formale Regel verstanden werden kann, die nicht auf Wahrheit, sondern auf die logische Gültigkeit von Aussagen abzielt (Goel und Waechter 2017). Lawson (2010) weist auf die Bedeutung des deduktiven Schließens für das wissenschaftliche Denken hin. Im Beitrag Hardy, Stephan-Gramberg und Jurecka (in diesem Heft) wird ausgeführt, wie das evidenz-basierte Begründen als Prozess des deduktiven Schließens im Abgleich von Hypothese mit empirischer Evidenz einzuordnen ist.

Kinder können bereits im Alter von sechs Jahren logisch schlussfolgern, wenn gegebene Prämissen sich auf konkrete, bestätigte Fälle beziehen, auch wenn sich die Kinder diese vorzustellen haben (z. B. „Wenn etwas ein Auto ist, hat es einen Motor. Nimm an, dass du ein Auto siehst. Denkst du, dass es einen Motor hat?“ vgl. Markovits und Thompson 2008). In der gleichen Studie konnte aber auch gezeigt werden, dass sechsjährige Kinder größere Schwierigkeiten hatten, Schlussfolgerungen in folgender Form richtig zu beurteilen und somit abzulehnen: „Nimm an, dass du etwas siehst, was einen Motor hat. Ist es sicher, dass es ein Auto ist?“ Diese Form des schlussfolgernden Denkens gelang mit zunehmendem Alter häufiger (untersucht wurden 6‑, 7 und 9‑jährige Kinder). Jedoch auch sechsjährigen Kindern gelangen Schlüsse dieser Art, wenn sie sich die Fälle nicht vorstellen mussten, sondern diese gezeigt bekamen. Auch Kindern im Vorschulalter ist es möglich, deduktive wenn-dann Schlüsse aufgrund von empirisch falschen Prämissen zu ziehen, sofern diese in einen den Kindern verständlich gemachten Phantasie-Kontext verankert werden (Leevers und Harris 2000). Neuere Studien konnten darüber hinaus zeigen, dass das Evozieren von flexiblem Denken (divergent thinking) kurz vor dem Lösen von deduktiven Aufgaben deren Lösungswahrscheinlichkeit durch Vorschulkinder erhöht (de Chantal und Markovits 2017). Die Autoren führen das darauf zurück, dass die Kinder dadurch dazu angehalten werden, sich über alternative Prämissen Gedanken zu machen. Insbesondere die letzteren Studien stützen die Vermutung, dass das Verständnis für einen hypothetischen Charakter von Prämissen als Bestandteil deduktiver Denkprozesse zu verstehen ist (Barrouillet et al. 2008).

2.2 Induktion

Induktives Schließen umfasst das Wahrnehmen bzw. Beobachten einer Reihe von Fällen und das Finden einer Systematik oder Regel, welche diese Fälle ordnet. Sobald eine solche Systematik entdeckt wurde, wird es möglich, hieraus Theoriewissen zu extrapolieren, welches nicht nur die wahrgenommenen Fälle, sondern auch zukünftige Fälle einordnet (Dunbar und Klahr 2012). Induktion kann somit zur Konstruktion von Hypothesen, von Konzeptwissen und von Theorien führen (Goel und Waechter 2017) und gilt als einer der zentralen kognitiven Prozesse, mit denen sich individuelle Leistungsunterschiede im wissenschaftlichen Denken erklären lassen (Morris et al. 2012; Zimmerman 2007). Personen mit wenig Vorwissen neigen dazu, beim Vergleichen von Fällen auf leicht erkennbare perzeptuelle Merkmale anstelle von abstrakten Gemeinsamkeiten zurückzugreifen, was insbesondere bei Vorschulkindern mit geringem domänenspezifischem Wissen auftritt (Namy und Gentner 2002). Beispielsweise begründen jüngere Kinder die Gemeinsamkeiten zwischen einem Strohhalm und einem Pflanzenstiel damit, dass beides lang und dünn sei, während ältere Kinder aussagen, dass Strohhalm und Pflanzenstiel Nährstoffe transportieren könnten (Gentner 1988). Neuere Studien weisen darauf hin, dass die Aktivierung von Vorwissen z. B. durch die Ermöglichung systematischer Vergleiche mehrerer spezifisch abgestimmter Fälle oder durch die Verwendung sprachlich fokussierender Hinweise dazu führt, dass eher nach abstrakten als nach perzeptuellen Merkmalen geordnet wird und relationale Gemeinsamkeiten gefunden werden (Gentner und Namy 1999; Schalk et al. 2011).

Kognitive Komponenten von Vergleichsprozessen können mit der Theorie des Structural Alignment analysiert werden (z. B. Gentner und Smith 2012). Diese beinhalten das Abrufen relevanter Informationen aus dem Langzeitgedächtnis, die Identifizierung sowie das Abgleichen und Bewerten von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zweier (oder mehrerer) Fälle. Auf der Grundlage eines Vergleichs werden Schlussfolgerungen gezogen, wodurch ein abstraktes Schema (d. h. Theoriewissen) entsteht. Dieser Prozess ist als eine in mehreren Schritten ablaufende relationale Mustervervollständigung zu verstehen, die zuvor implizite Relationen zweier (oder mehrerer) Fälle zunehmend deutlicher hervortreten lässt und es erlaubt, fortwährend abstraktere Schemata zu bilden (Gentner und Hoyos 2017; Gentner und Smith 2012). Eine Vielzahl von Studien bestätigt diese Annahmen für unterschiedlichste Altersstufen und Domänen (vgl. für einen Überblick Gentner und Maravilla 2018). Im Kontext des wissenschaftlichen Denkens konnte zudem gezeigt werden, dass auch Vorschulkindern die Vorhersage und Erklärung des Schwimmverhaltens von Gegenständen leichter fällt, wenn induktive Prozesse durch die Beurteilung von zwei Vergleichsgegenständen angeregt werden (Hardy et al. 2020).

2.3 Abduktion

Abduktion kann als Spezialfall der Induktion verstanden werden der es erlaubt, mögliche Erklärungen für unerwartete Ereignisse zu entwickeln. Dabei wird in der Literatur häufig nicht explizit zwischen Induktion und Abduktion unterschieden. Beispielsweise verstehen Chinn und Brewer (1993) Induktion dahingehend, dass Verknüpfungen zwischen Theorie, Evidenz und Alternativen hergestellt werden, die in einem kontinuierlichen Prozess hinsichtlich ihrer Plausibilität überprüft und erklärt werden. Die Abgrenzung von Induktion und Abduktion erlaubt es jedoch, den Prozess des Findens von Erklärungen genauer in den Blick nehmen. Abduktion fokussiert dabei auf das Zusammenspiel von Erklärungen, Hypothesenfindung und -überprüfung als einem iterativen Prozess (Koslowsky 2018). Anders als Deduktion und Induktion im engeren Sinne werden mit Abduktion formale Regeln oder Auftretenswahrscheinlichkeiten weniger stark gewichtet, fokussiert Abduktion doch auf die Bedeutung von wahren und relevanten Informationen und Theorien. Mit dem SDDS Modell von Klahr und Dunbar (1988) lassen sich neben Induktion und Deduktion auch abduktive Prozesse verorten, da in diesem Modell das Zusammenspiel von Erklärungen, Hypothesenfindung und -überprüfung im Zentrum steht. Gemäß der Abduktion wird anschließend an die Suche im Hypothesen- und Experimentierraum entweder gedanklich oder handelnd eine Untersuchung durchgeführt, die zu einer umfassenden Schlussfolgerung als „beste Erklärung“ abzielt. Dafür müssen mögliche Erklärungen ausgewertet und in einen Vergleich zu konkurrierenden Erklärungen gesetzt werden. Die Merkmale des Abduktion lassen sich auch in der Theorie des Problemlösens nach Dewey (2009) finden, die als Ziel des wissenschaftlichen Denkens das „Finden der besten Erklärung“ identifiziert. Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass in abduktiven Prozessen die Erklärung dahingehend beurteilt wird, ob sie konsistent mit etabliertem Wissen ist (Lombrozo 2012). Abduktion ist demnach mit dem Anspruch verbunden, wahre Theorien zu finden, die bestehende Theorien plausibel erweitern und als Erklärung für zukünftige Ereignisse dienen können.

3 Zentrale Aspekte des Wissenschaftlichen Denkens in diesem Themenheft

Die Blickrichtung auf zugrundeliegende kognitive Prozesse soll dazu dienen, die Erkenntnisse aus Studien zum wissenschaftlichen Denken in Modelle der kognitiven Psychologie einzuordnen und weiterführende Forschung abzuleiten. Im Themenheft werden anhand von vier empirischen Beiträgen zum wissenschaftlichen Denken von Kindern im Alter zwischen vier und zwölf Jahren die folgenden zentralen Bereiche adressiert: Hypothesenbildung und evidenz-basiertes Schlussfolgern, Variablenkontrolle, wissenschaftliches Argumentieren und Begründen sowie der Zusammenhang zwischen dem frühen wissenschaftlichen Denken und Konzeptwissen. Das Spektrum der adressierten Teilbereiche des wissenschaftlichen Denkens zeigt damit auch die Bandbreite der Bezüge zu Kontexten und Domänen des vorschulischen und schulischen Lernens auf.

3.1 Hypothesenbildung und evidenz-basiertes Schlussfolgern

Als Grundlage zur Revision von Vorannahmen und Theoriewissen gilt es, Ergebnisse von Experimenten als Informationsträger zu erkennen und Experimente als wichtiges Hilfsmittel für die Gewinnung von Evidenzen zu sehen. In einer Interventionsstudie konnten Schulz et al. (2007) zeigen, dass Vorschulkinder in der Lage sind, das Ergebnis eines neuartigen Experiments auf der Grundlage von experimentell gesammelten Evidenzmustern vorherzusagen. Darüber hinaus zeigte eine Untersuchung von Piekny et al. (2014) dass Vorschulkinder schlüssige und teilweise schlüssige Evidenzen entsprechend einschätzen können. Insbesondere wurde festgestellt, dass die Übereinstimmung zwischen den vorhandenen Vorannahmen der Kinder und präsentierten Evidenzen die korrekte Bewertung erleichterten, während den Evidenzen widersprechende Vorannahmen die korrekte Bewertung behinderten (Koerber et al. 2005). Bonawitz et al. (2012) stellten hingegen fest, dass es 6‑bis 7‑jährigen Kindern durchaus gelingen kann, ihre Vorannahmen aufgrund von widersprechender Evidenz zu revidieren, sofern ihnen keine weiteren Erklärungen gegeben wurden, die nichts mit ihren Vorannahmen zu tun hatten. Hardy, Stephan-Gramberg und Jurecka (in diesem Heft) untersuchten, inwiefern bei Vorschulkindern ein Training mit unterschiedlichen adaptiven Unterstützungsmaßnahmen (Scaffolding) die korrekte Evaluation von Evidenz bei vorgegebenen Hypothesen unterstützt. Sie fanden einen Trainingseffekt, wenn Antworten im Trainingskontext modelliert und adaptiv unterstützt wurden. Dieser bezieht sich, wie aus der Literatur zum deduktiven Schließen abzuleiten ist, insbesondere auf die Evaluation von Ereignissen, die bezüglich der Hypothese irrelevant sind.

3.2 Variablenkontrollstrategie

Die Qualität von Begründungen hängt nicht nur vom Zusammenhang zwischen der Hypothese und den gewonnenen Daten, sondern auch von der korrekten Durchführung experimenteller Versuchsanordnungen ab. Unter der Variablenkontrollstrategie wird die Fähigkeit verstanden, unkonfundierte Experimente zu erkennen und zu produzieren sowie experimentelle Anordnungen bei Bedarf zu korrigieren (Klahr und Li 2005). Erste Studien von Inhelder und Piaget (1964) stellten fest, dass 7‑ bis 9‑jährige mehrere Variablen gleichzeitig veränderten und sich nicht bewusst waren, dass auf diese Weise keine validen Rückschlüsse hinsichtlich des Ergebnisses getroffen werden können. Chen und Klahr (1999) vermuten, dass eine höhere Performanz beim Einsatz der Variablenkontrollstrategie durch die Präsentation klar voneinander abgrenzbarer Variablen erreicht werden kann, jedoch auch mit einer entwicklungsbedingten Verbesserung der Anwendung von gelernten Strategien zusammenhängen kann. Dies wurde durch eine Studie von van der Graaf et al. (2015) im Kontext der schiefen Ebene bestätigt, in der sich Fortschritte hinsichtlich der Anwendung der Variablenkontrollstrategie bei Kindern zwischen 4 und 6 Jahren zeigten. Diese sind zwar auf den Entwicklungsstand der Kinder zurückzuführen, eine längere Intervention erwies sich aber durchaus als erfolgreich. Darüber hinaus konnten van der Graaf et al. (2019) zeigen, dass die direkte Instruktion und verbale Unterstützungsmaßnahmen während eines Experiments die Anwendung von Variablenkontrollstrategie fördern. Eine Langzeitstudie von Schalk et al. (2019) mit Grundschulkindern zeigt schließlich, dass der Erwerb der Variablenkontrollstrategie auch durch eine konsekutive, implizite Umsetzung von naturwissenschaftlichem Unterricht mit einem hohen Anteil des forschenden Lernens möglich ist. Ausgehend von diesen Ergebnissen untersuchten Laufs und Kempert (in diesem Heft), die an individuelle Interessen angepasste Vermittlung der Variablenkontrollstrategie. Diese erzielte im Vergleich zur Vermittlung der Variablenkontrollstrategie ohne Berücksichtigung individueller Interessen einen positiven Effekt auf das Interesse der Schülerinnen und Schüler am Lerngegenstand. Die Analysen zeigen jedoch auch, dass die Schülerinnen und Schüler beider Gruppen einen ähnlichen Lernzuwachs in der Variablenkontrollstrategie erzielten.

3.3 Wissenschaftliches Argumentieren und Begründen

Eine Vielzahl von Forschungsarbeiten untersucht die Charakteristika wissenschaftlichen Denkens und Argumentierens insbesondere im Bereich der Naturwissenschaften (vgl. im Überblick Ball und Thompson 2018; Driver et al. 2000; Fischer et al. 2018; Holoyak und Morrison 2012). Das Argumentieren sowie das im Naturwissenschaftskontext häufig implizierte Modellieren beinhalten die Formulierung von Argumenten und deren (empirische) Evaluation sowie die in der Regel diskursgetragene Abwägung von Gegenargumenten. Schon Vorschulkinder sind in der Lage, zur Aushandlung von Entscheidungen Argumente vorzubringen und aufgrund von Übereinstimmungen in ihren Argumenten gemeinsame Entscheidungen zu treffen (Köymen et al. 2014). Auch scheint es 3‑ bis 5‑jährigen Kindern möglich zu sein, starke Argumente („Der Hund ist da entlang gegangen, weil ich gesehen habe, dass er in diese Richtung gegangen ist“) von Zirkelschlüssen („Der Hund ist da entlang gegangen, weil er in diese Richtung gegangen ist“) zu unterscheiden (Mercier et al. 2014, 2018). Ryu und Sandoval (2012) zeigten, dass Grundschulkinder von einer unterrichtlichen Intervention profitierten, in der das wissenschaftliche Argumentieren in Bezug auf die Aufstellung und die Evaluation von Behauptungen in unterschiedlichen naturwissenschaftlichen Inhaltsgebieten fokussiert wurde. In einer anderen Studie wurde der Zusammenhang zwischen der Verwendung von evidenzbasierten Argumenten im Unterrichtsdiskurs und die Bedeutung der Impulsgebung der Lehrkraft untersucht und bestätigte deren Bedeutung – wenn auch auf insgesamt meist niedrigem Begründungsniveau (Hardy et al. 2010). Jenseits des Argumentierens im Unterrichtsdiskurs kann das Aufstellen von Begründungen auch mit schriftlichen Testverfahren erfasst werden (Brown et al. 2010). Die Untersuchung von Peteranderl, Edelsbrunner und Deiglmayr (in diesem Heft) zeigt, dass bei Sechstklässlern durch eine Intervention zur Variablenkontrollstrategie die Verwendung von fortgeschrittenen, evidenzbasierten Argumenten gefördert werden konnte. Die Verwendung von solchen evidenzbasierten Argumenten fokussierte dabei aber in der Regel auf der Begründung von Haupteffekten und nicht von Interaktionseffekten zwischen zwei Variablen.

3.4 Zusammenhänge zwischen wissenschaftlichem Denken und Konzeptwissen

Insbesondere in der Unterrichtsforschung werden das Argumentieren und die wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung in Zusammenhang mit dem Aufbau von Konzeptwissen gestellt. Dabei ist dieser Zusammenhang zwar theoretisch plausibel, jedoch empirisch bisher wenig untersucht. Es wird angenommen, dass für einen tiefgreifenden Konzeptwandel folgende Voraussetzungen erfüllt sein müssen: Das Individuum muss unzufrieden mit dem bisherigen Konzept sein, das Zielkonzept muss verständlich sein, einleuchtend und übertragbar auf weitere Kontexte, also als Grundlage für weitere Erkenntnisgewinne dienen (Posner et al. 1982). Auch andere Modelle der konzeptuellen Entwicklung sprechen den instruktionalen Bedingungen zur Umstrukturierung von Konzepten eine große Bedeutung zu (Vosniadou et al. 2001). Entsprechend fanden Edelsbrunner et al. (2018), dass Schülerinnen und Schüler mit höherer Ausprägung in Experimentierstrategien mehr von Physikunterricht mit Forschungsanteilen bezüglich des Aufbaus von Konzeptwissen profitierten als eine Vergleichsgruppe. Bei jüngeren Altersgruppen ist hingegen der Zusammenhang zwischen den Komponenten weniger klar. In einer empirischen Studie im Kindergarten zeigten van der Graaf et al. (2018), dass wissenschaftliches Denken den Erwerb von Konzeptwissen vorhersagte. Koerber und Osterhaus (in diesem Heft) fanden hingegen in einer längsschnittlichen Studie, dass das domänenspezifische Konzeptwissen von Fünfjährigen ihre Performanz im wissenschaftlichen Denken zum Ende des Kindergartens vorhersagte. Dabei wurde das wissenschaftliche Denken mit einem umfangreichen Instrument erhoben, welches auf die Erfassung von Experimentierstrategien, Dateninterpretation und Wissenschaftsverständnis abzielte. Der gefundene Zusammenhang kann dahingehend interpretiert werden, dass ein früh ausgeprägtes Konzeptwissen im Bereich der Naturphänomene hilfreich ist, um die Aufmerksamkeit auf Aspekte zu lenken, die sich wissenschaftlich untersuchen bzw. begründen lassen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wissenschaftliches Denken und Argumentieren im Dienste der Erkenntnisgewinnung auf den kognitiven Prozesse der Induktion, Deduktion und Abduktion bei der Koordination von Theorie und Evidenz beruhen (Dewey 1910; Lombrozo 2012). Auch der Aufbau von neuen Konzepten hängt mit der Anwendung entsprechender kognitiver Prozesse zusammen. Dass eine Verknüpfung der Forschung zur Konzeptentwicklung mit der Forschung zum wissenschaftlichen Denken sinnvoll ist, wurde bereits in einigen empirischen Arbeiten aufgezeigt (z. B. Edelsbrunner et al. 2018; van der Graaf et al. 2018). Werden die Annahmen von Posner et al. (1982) zum Konzeptwandel weitergeführt, so könnten beispielsweise die Konfrontation mit neuen Theorien sowie mit nicht erwartungskonformer Evidenz bei Individuen eine Unzufriedenheit mit dem bestehenden Konzeptwissen auslösen. Eine solche „Konfliktstrategie“ wurde häufig für das forschungsorientierte Vorgehen im naturwissenschaftlichen Unterricht zugrunde gelegt, um die Notwendigkeit zum Aufbau von neuem Theoriewissen zu befördern (Limon 2001). Entsprechend spielt auch die argumentative Bearbeitung und Modellierung von solchen neuen Wissensbeständen in Bildungsgelegenheiten eine zunehmende Rolle (Duschl 2008; Sandoval et al. 2014). Dabei müssen Argumente einer Plausibilitätsprüfung ausgesetzt werden und sollten, z. B. anhand von deduktiv logischen Schlussfolgerungen, nachvollziehbar sein (vgl. Lombrozo 2012; Sandoval et al. 2014). Auch Prozesse des induktiven Schließens tragen dazu bei, einzelne Beobachtungen auf Regelhaftigkeit zu überprüfen und plausible Theorien zu extrapolieren. Durch Abduktion schließlich werden Wissensbestände wiederum für Hypothesengenerierung sowie für das Finden von Erklärungen herangezogen. Somit kann auch die Entwicklung konzeptuellen Wissens in Bildungsgelegenheiten als ein iterativer Prozess des wissenschaftlichen Denkens und Argumentierens verstanden werden, wobei der Erkenntnisgewinn aufgrund epistemischer Aktivitäten wie dem Beobachten und der Datensammlung sowie dem Abgleich von Theorie mit Evidenz erreicht wird.

4 Ausblick

Die Beiträge des Themenhefts liefern Erkenntnisse zur Entwicklung und zu Förderansätzen des wissenschaftlichen Denkens und Argumentierens im Kindesalter zwischen vier und zwölf Jahren. Dabei werden in drei der Beiträge des Themenhefts in experimentell angelegten Trainingsstudien unterschiedliche Lern- und Instruktionsformate und ihre Effekte auf die Entwicklung früher Fähigkeiten des wissenschaftlichen Denkens überprüft. Ein weiterer Beitrag beschäftigt sich mit den Zusammenhängen zwischen dem wissenschaftlichen Denken und dem Konzeptwissen in einer längsschnittlichen Untersuchung (Koerber und Osterhaus in diesem Heft). In allen Beiträgen wird das wissenschaftliche Denken mit inhaltsvaliden Kontexten aus Alltag und/oder den Naturwissenschaften verknüpft. Die Ergebnisse ergänzen den bisher überschaubaren Forschungsstand insbesondere dahingehend, welche instruktionalen Kontexte des (frühen) Kindesalters für eine Förderung des wissenschaftlichen Denkens und Argumentierens sinnvoll sein können. Dabei wurden Trainingssettings mit unterschiedlichen instruktionalen Strategien umgesetzt, welche die individuelle Bedeutsamkeit des Lernkontexts (Laufs und Kempert in diesem Heft), den Aufgabenkontext und -inhalt (Peteranderl, Edelsbrunner und Deiglmayr in diesem Heft) und die individuelle Lernerunterstützung (Hardy, Stephan-Gramberg und Jurecka in diesem Heft) fokussierten. Darüber hinaus geben die Arbeiten Hinweise darauf, an welchen Stellen weiterer Forschungsbedarf besteht, um die zugrundeliegenden kognitiven Mechanismen und Zusammenhänge des wissenschaftlichen Denkens mit individuellen Eingangsvoraussetzungen der Lernenden spezifizieren zu können. Eine solche Weiterführung der Erkenntnisse kann unter der Perspektive grundlegender kognitiver Prozesse vorgenommen werden, in der wissenschaftliches Denken als ein Wechsel induktiver, deduktiver und abduktiver Prozesse verstanden wird, welche langfristig den Aufbau von konzeptuellem und prozessbezogenem Wissen befördern.