Angesichts von Krisen und Katastrophen gewinnen Religion und Religionsgemeinschaften nicht selten an Aufmerksamkeit. So führen Naturkatastrophen, Verheerungen in Folge kriegerischer Auseinandersetzungen, schwere Unglücksfälle, terroristische Anschläge oder Amokläufe oft dazu, dass auf Religion zum Zweck der Kontingenzbearbeitung zurückgegriffen wird. Religiöse Symbole und Vergemeinschaftungen werden von Kollektiven ebenso wie von Individuen in Anspruch genommen, um Handlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten bzw. wiederherzustellen, zu trösten, einzubetten, Notsituationen abzufedern, Zusammenhalt herzustellen und Menschen in unübersichtlichen Zeitläuften mit Sinngehalten und Normalität zu versorgen. Religion kann unter solchen Umständen in vielfältiger Weise als kollektive und individuelle Ressource genutzt werden. Aus ihr schöpft sich das Potenzial für Solidarität, und sie übersetzt politische und gesellschaftliche Wertvorstellungen in individuelle Ethiken.

Genau diese Übersetzungsleistung kann aber auch eine „dunkle Seite“ haben, die sich insbesondere in Zeiten gesellschaftlicher Krisen zeigen. Dann haben auch Verschwörungsnarrative Konjunktur: Alternative Weltinterpretationen und Schuldzuweisungen sind bekannte Mechanismen, um aus vermeintlich Unerklärbarem Sinn zu generieren und Verantwortungen zuzuschreiben (Butter 2018; Körner 2020; Lamberty und Imhoff 2021). Für Verschwörungsnarrative stellt Religion wichtige Ressourcen bereit (Kuhn 2010, S. 117; Schäfer und Frei 2021): sie können Schriften, Gebräuche, Symbole und Riten, die religiösen Traditionen entnommen sind, nutzen, um nicht-religiöse Weltzugriffe zu legitimieren und anschlussfähig zu machen. Dabei wird Religion in vielerlei Hinsicht zur Ausgrenzung und Abwertung in Anschlag gebracht: Menschen greifen auf religiöse Erzählungen zurück, um zwischen „wahren Gläubigen“ und „Ungläubigen“ (oder den falschen Überzeugungen Anhängenden) zu unterscheiden. Hexenverfolgung und Antisemitismus gehören zu den bekanntesten religiös motivierten Ausgrenzungen, die in Verfolgung und Pogromen gipfel(te)n.

Zugleich bleiben Religionsgemeinschaften und religiöse Überzeugungen in Zeiten von Katastrophen und anderen gesellschaftlichen Krisen nicht unverändert. Sie verändern, wie über Religion gedacht wird und in welcher Form sie praktiziert wird und werden kann. Sie machen Religion in vielfältiger Weise politisch und verändern damit auch das in Religion eingebettete Normgefüge. Menschen können in ihrer Religionsausübung eingeschränkt werden, religiöse Antworten auf soziale Verhältnisse werden wissenschaftlich und gesellschaftlich herausgefordert, politische Verhältnisse machen religiöse Grenzziehungen salient, die vorher vielleicht stillgestellt waren.

Auch die durch das SARS-CoV-2-Virus ausgelöste Pandemie der Jahre 2020 bis 2022 hat gravierende Auswirkungen auf Religionsgemeinschaften, religiöse Praktiken und (prä-)wissenschaftliche Überzeugungen (Schnabel und Ülpenich 2022). Nachdem im Frühjahr 2020 die ersten Fälle von COVID-19 auftraten, gab es zunächst besondere Vorschriften für Grenzübertritte und Reiserückkehrer. Nachdem die WHO das SARS-CoV-2-Virus zur Pandemie erklärt hatte, wurde im März 2020 ein bundesweiter Lockdown verhängt, der fast alle öffentlichen Einrichtungen, darunter auch religionsgemeindliche Einrichtungen, schloss. Dem folgten unterschiedliche Hygienemaßnahmen wie Maskenpflicht, Kontaktbeschränkungen und – später im Jahr – massive Impfkampagnen, die mit breiten öffentlichen Protesten, die von Impfgegnern, aber auch von Verschwörungstheoretiker:innen getragen wurden (Schäfer und Frei 2021). Erst im Frühjahr 2022 wurden die politischen Maßnahmen gelockert.

Während die Kontaktbeschränkungen im öffentlichen und privaten Raum Kirchen und Religionsgemeinschaften dazu zwingen, nach neuen Vergemeinschaftungs‑, Seelsorge- und Unterstützungsformen zu suchen, können religiöse Interpretationen von gesellschaftlichen und privaten Krisen Trost spenden, Sinnangebote und Kontingenzbewältigung bieten (Yendell et al. 2021). Andererseits zeigen empirische Untersuchungen auch, dass sich die meisten Menschen während der Pandemie an der Wissenschaft orientiert haben und nicht so sehr an der Religion. Allerdings stieg das gesellschaftliche Engagement vor allem bei Menschen, die sich selbst als religiös betrachten (Hillenbrand et al. 2023). Zeitgleich stieg während der Pandemie auch die Attraktivität alternativer Welterklärungen. Religionen spielten und spielen bei der Entstehung und Verbreitung von Verschwörungsnarrativen insbesondere in dieser Zeit eine ambivalente Rolle: Sie können Individuen und Gemeinschaften vor menschenverachtenden Weltanschauungen schützen; sie können in ihrem Streben nach gemeinschaftlicher Ähnlichkeit diese aber auch bestärken. So kann ihr manichäischer Charakter mit seiner Unterscheidung in „Gut“ und „Böse“, aber auch ihr utopischer Gehalt und ihre Fähigkeit zur Normalisierung (Beyer und Schnabel 2019) zur Tragfähigkeit von Verschwörungsnarrativen beitragen, die Ungleichwertigkeitsvorstellungen bspw. in Form von Antisemitismus, Muslimfeindlichkeit oder Rassismus fördern (Yendell 2021; Yendell und Herbert 2022; Imhoff und Decker 2013).

Obwohl im öffentlichen Diskurs die verschiedenen Herausforderungen von Religion durch die Pandemie immer wieder Thema waren, liegen bislang kaum zusammenhängende sozialwissenschaftliche Untersuchungen vor, die hierauf einen näheren Blick werfen. Die vorliegende Special Section versammelt daher Beiträge zur Verbindung von Religion, Pandemie und Verschwörungsnarrativen aus verschiedenen Perspektiven, die aber eng mit einander in Bezug stehen, und versucht so, ein umfassenderes differenzierteres Bild dieser Zusammenhänge zu geben. Die Special Section geht zurück auf zwei Veranstaltungen der Sektion Religionssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS). Marc Breuer, Jens Köhrsen sowie Alexander Yendell organisierten im Februar und März 2021 eine Online-Vortragsreihe mit dem Titel „Folgen der Corona-Pandemie für Religion, Religiosität und Religionsgemeinschaften“. Für den gemeinsamen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) und der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie (ÖGS) vom 23. bis 25. August 2021 in Wien organisierten Annette Schnabel, Alexander Yendell und Kornelia Sammet eine Sektionsveranstaltung mit dem Titel „Religionssoziologie – Corona und die Spiritualität von Verschwörungsnarrativen“. Die aus den Vorträgen dieer Veranstaltungen hervorgegangenen Beiträge sollen im Weiteren kurz vorgestellt werden (siehe auch Tab.1).

Alexander Unser untersucht in seinem Beitrag „Making sense of the crisis: How religion shapes the attribution of meaning during the Corona pandemic“ die Möglichkeiten von Religion und Religiosität als Ressource in Zeiten von Krisen. Auf der Basis des Meaning Making Model von Crystal Park geht er der Frage nach, wie Befragte auf der Basis individueller Religiosität versuchen, aus der Pandemie und den mit ihr verbundenen gesundheitlichen und sozialen Herausforderungen Sinn zu generieren. Er kann dabei zeigen, dass Religiosität dann als trostspendende Ressource wirksam wird, wenn sich die individuelle Religiosität auf einen „Guten Gott“ und keinen „strafenden Gott“ bezieht. Religiosität wirkt damit nicht unbedingt, sondern erst über ihre konkreten Inhalte tröstend und versichernd.

Anna Neumaier interessiert sich in ihrem Beitrag „Digitalisierung christlicher Verkündigungsformate während der Covid19-Pandemie: Empirische Befunde und theoretische Systematisierungen aus religionswissenschaftlicher Perspektive“ ebenfalls dafür, wie religiöse Institutionen auf die unerwarteten Herausforderungen der Pandemie reagierten und welche alternativen Formen der Vergemeinschaftung zu finden sie gezwungen waren. Dabei geht es in erster Linie um Digitalisierungsbemühungen, die für viele traditionelle Vergemeinschaftungsformen als eine Alternative erschienen. Digitalisierung geht allerdings mit besonderen Herausforderungen und Chancen einher und ist damit nur ein unvollständiges funktionales Äquivalent zu traditionellen gemeindlichen Sozialformen.

Auch Michael Ebertz untersucht die pandemie-bedingten Herausforderungen für Religionsgemeinschaften: In seinem Beitrag „Die rituelle Herausforderung – Corona und der Kampf um den Heiligen Löffel“ steht jedoch der Kampf um ein besonderes rituelles Artefakt im Vordergrund – nicht die Organisation, sondern die Liturgie und damit die Identität des orthodoxen Christentums wurde durch die pandemie-bedingten gesundheitsschützenden Vorschriften herausgefordert. Der Liturgische Löffel wurde dabei als besonderer liturgischer Gegenstand nicht nur für die Gesundheit der Gläubigen, sondern auch für die kollektive Identität der Religionsgemeinschaften zum Risiko.

Stefan van der Hoek widmet sich in seinem Beitrag „Immigrant Pentecostalism in the emergence of the COVID-19 Crisis: Reactions and Responses from the Universal Church of the Kingdom of God in Berlin“ dem Umgang einer spezifischen Religionsgemeinschaft mit den Herausforderungen der Pandemie. Sein Untersuchungsgegenstand ist die Universal Church of the Kingdom of God (UCKG) in Berlin, die als Teil einer globalen Kirchengemeinschaft nicht nur dem deutschen Hygieneregime, sondern auch den Vorgaben einer international operierenden Kirchenleitung unterworfen war. In diesem Sinne war diese Kongregation in besonderem Maße in die Globalität der Pandemie eingebunden. Der Beitrag arbeitet drei Strategien heraus, wie die UCKG auf die Pandemie reagierte: Sie folgten den Anweisungen der Behörden, hielten Predigten mit Untertönen des spirituellen Kampfes und lehnten die Interpretation von Wechselwirkungen zwischen Dämonen und Gesundheitsproblemen ab. Erst dadurch wurde es möglich, die Pandemie nicht allein als nationales, sondern globales Phänomen zu adressieren.

Auch das verschwörungsmentalistische Potenzial der Pandemie wird in verschiedenen Beiträgen dieser special section in den Blick genommen.

Gert Pickel analysiert in seinem Beitrag „Religiosität, Religion und Verschwörungsmentalität in der Covid-19-Pandemie“ unter Berücksichtigung theoretischer Überlegungen zum autoritären Charakter (Adorno), wie sich während der Pandemie Religiosität, Religionszugehörigkeit und Verschwörungsmentalität mit einander verzahnen. Dabei stellt er fest, dass weniger die eigene Religiosität als vielmehr antisemitische Ressentiments und antimuslimischer Rassismus anfällig machen für VerschwörungserzählungenDiese sind in Verschwörungserzählungen präsent und an menschengruppenverachtende Einstellungen anschlussfähig, wie nicht zuletzt die Verschwörungserzählung vom „Großen Bevölkerungsaustausch“ zeigt. Die Verbindung von Pandemie, Religiosität, Religionszugehörigkeit und Verschwörungsmentalität zeigt sich hier insbesondere darin, dass bestimmten Menschen eine besondere Religiosität zugeschrieben wird, die sie zum „Anderen“ der deutschen Mehrheitsgesellschaft macht.

Florian Knasmüller betrachtet in seinem Beitrag „‚Wider die Natur‘ – Zur sozialpsychologischen Dimension des Bündnisses von Verschwörungsdenken und Spiritualität in den Corona-Protesten. Eine Fallanalyse“ auf der Basis einer tiefenhermeneutisch ausgewerteten Einzelfallanalyse die andere Seite der Verschwörungserzählungen. Ihn interessiert, wie sich Verschwörungs- und esoterisch-spirituelles Denken in der conspirituality (vgl. auch Schäfer und Frei 2021) verbinden und so genutzt werden, um auf die pandemie-bedingten Unsicherheiten und die politischen Versuche der Pandemiebekämpfung biographisch zu reagieren. Verschwörungstheorien können somit zur Ressource einer Lebenshilfe in Krisenzeiten werden, indem Ängste und die Unerfüllbarkeit von Wünschen nach Harmonie und Balance auf die Natur oder auf böswillige Verschwörer:innen zugeschrieben werden.

Mit der Frage, ob und inwiefern Verschwörungsmythen religiöse oder spirituelle Elemente enthalten, befasst sich Lisa Schwaiger in ihrem Beitrag „Verschwörung als Ersatzreligion? Religiosität, Spiritualität und Verschwörungsaffinität in Zeiten gesellschaftlicher Krisen“. Emotionale Betroffenheit während der COVID-19-Pandemie ist, so stellt sie fest, ein wichtiger Prädiktor im Zusammenhang mit Verschwörungsaffinität. Eine negative emotionale Betroffenheit ist dabei an eine höhere Affinität für Verschwörungsmythen gekoppelt. Ähnlich wie Gert Pickel kann auch Lisa Schwaiger feststellen, dass Konfessionszugehörigkeit wie auch Religiosität kaum die Verschwörungsaffinität beeinflussen, jedoch ist Spiritualität ein wichtigster Prädiktor.

Der Hang zu Verschwörungsglaube hängt jedoch nicht mit allen spirituellen Weltbildern gleichermaßen zusammen, wie Rebecca Endtricht in ihrer Studie zu spirituelle Welt- und Wertebildern feststellen kann. In ihrem Beitrag „Die ambivalente Rolle der Spiritualität für die Erklärung von Verschwörungsglauben und Demonstrationsbereitschaft im Kontext der COVID-19-Pandemie“ arbeitet sie zwei Formen der Spiritualität heraus, die sich hinsichtlich des Weltbildes und der Ethik, des Wertekanons und der Sinnempfinden grundlegend unterscheiden. Diese beiden Formen sind verschieden stark und mit umgekehrten Vorzeichen mit der Offenheit gegenüber alternativen und esoterischen Welterklärungen sowie mit Skepsis gegenüber der Wissenschaft verbunden. Damit zeigt sich, dass es eben nicht allein die Neigung zu Spiritualität ist, die offen macht für Verschwörungserzählungen, sondern vielmehr die Art und Weise, wie die eigene Spiritualität verstanden wird.

Auch Heiko Beyer und Niklas Herrberg fragen in ihrem Beitrag „The Revelations of Q. Dissemination and Resonance of the QAnon Conspiracy Theory Among US Evangelical Christians and the Role of the Covid-19 Crisis“ nach den Überlappungspunkten von Religiosität und Verschwörungsglaube. Sie untersuchen dafür das Überzeugungssystem amerikanischer evangelikaler Christen und der QAnon-Bewegung in den USA. Die Autoren können zeigen, dass es vor allem bestimmte Überzeugungen sind (es gäbe eine absolute Wahrheit, die Welt könne in „gut“ und „böse“ unterteilt werden, und Erlösung könne durch politisches Handeln erreicht werden), die Familienähnlichkeiten und damit Anschlussmöglichkeiten beider Weltzugriffe produzieren.

Die hier vorliegenden Beiträge zeigen auf der Basis unterschiedlichen empirischen Materials – von Surveys über verschiedene Formen qualitativer Interviews sowie ethnographische Beobachtungen – erstens, wie Religion und Religiosität in Zeiten der Pandemie als Ressource für Trost, Hoffnung und Weltinterpretation genutzt wird, wie diese Ressource, aber auch die mit Religion verbundenen Organisationen an ihre Grenzen kommen. Zweitens zeigen sie die „dunkle Seite des Religiösen“, nämlich wie in Krisenzeiten andere als religiös gelabelt und abgelehnt werden und wie Religion, Spiritualität und Verschwörungsmythen mit einender verzahnt werden können. Allerdings lässt sich aus den Beiträgen auch herauslesen, dass diese „dunkle Seite“ weder pauschal für alles Religiöse noch für alle Arten von Spiritualität gilt. Damit ausgelotet werden kann, welche Rolle Religion(en) und Religiosität in Zeiten von Krisen und Katastrophen spielen und wie diese Kontexte Religiöses und Verschwörungserzählungen zusammenbinden können, braucht es also einen genauen und differenzierenden Blick. Genau damit leistet die folgende Special Section nicht nur einen Beitrag zur Aufarbeitung der Abläufe und Folgen der Pandemie aus religionssoziologischer und politikwissenschaftlicher Sicht, sondern ermöglichen auch Einsichten dazu, wie Religion und Religiosität in den Krisen und Katastrophen des 21. Jahrhunderts sowohl sozial verbindende als auch trennende Kraft entfalten kann.

November 2023, Alexander Yendell, Kornelia Sammet, Annette Schnabel

Tab. 1 Die Artikel in ihrer Reihenfolge im Überblick