1 I.

Am 11. März 2020 schrieb die WHO der Krankheit Covid-19, vulgo Corona, den Status einer weltweiten Pandemie zu und mobilisierte mit diesem „Einsetzungsakt“ (Bourdieu 1990, S. 71) in einigen sozialen Feldern normative Maßnahmen, aber auch Widerstände, das bisherige physische Zusammenleben (auf unbestimmte Zeit) umzugestalten, um das Virus, das sich schließlich in weitere Wellen verbreitete, einzudämmen. Auch in den zahlreichen religiösen Feldern löste dieser gesundheitspolitisch definierte Ausnahmezustand eine „Wirklichkeitskrise“ (Berger/Luckmann 2016, 167) mit Irritationen, Einschränkungen und Kämpfen aus, zumal die WHO ausdrücklich Empfehlungen an religiöse Führer und Glaubensgemeinschaften adressierte.Footnote 1 Die Kämpfe betrafen nicht nur die Körper und Artefakte, welche in diesen Feldern in spezifischer Weise rituell konfiguriert werden, sowie die Sinndeutungen und fundamentalen Überzeugungen ihrer Akteur:innen, sondern auch das jeweilige feldinterne und -externe positionelle Machtgefüge, das diese repräsentieren. Corona, so soll insbesondere an einem Ritualbeispiel der Kommunionpraxis in einigen christlich-orthodoxen Kirchen gezeigt werden, betraf kognitive, handlungspraktische und strukturelle Elemente, die „bisher unauflöslich in einem System verbunden waren“ (Bourdieu 1990, S. 79). Die zugeschriebene Bedeutung und Wirkung religiöser Riten und Rituale, so wird deutlich, hängt vom Zusammenspiel eines ganzen Systems interdependenter Bedingungen ab. Dieses Zusammenspiel wird irritiert, wenn identitätsstiftende Rituale, ausgelöst von einer Krise, nicht mehr im Modus des Selbstverständlichen vollzogen werden können. Dann wird die „Illusio“ (Bourdieu 1998, S. 140f) der Akteur:innen des religiösen Feldes mobilisiert, d. h. ihr leidenschaftlicher Glaube an das, worum es in diesem Feld geht, was in ihm auf dem Spiel steht, und sie werden dazu gebracht, Diskurse über die Identität ihres Feldes, d. h. auch seiner immer umkämpften Grenzen zu produzieren. Bei diesen Auseinandersetzungen, so zeigte sich im Umgang mit der Coronakrise, spitzten sich die ohnehin stattfindenden und derzeit auch in der katholischen Kirche (vgl. Ebertz 2018) unübersehbaren „Kämpfe um die Durchsetzungen einer legitimen Definition sowohl des Religiösen als auch der verschiedenen Arten, die religiöse Rolle zu erfüllen“ (Bourdieu 1992, S. 231f), noch einmal zu. Multiple „Spannungen in den höchsten Rängen der Kirche“ (Vukomanovic´ 2021, S. 20) sind auch in Geschichte und Gegenwart der orthodoxen Kirchen nicht unbekannt. Sie gehen nicht allein von Akteuren – orthodoxen Theologen und Hierarchen – in der westlichen Diaspora aus und spitzen sich aktuell ganz besonders im Zusammenhang mit den territorialen Ansprüchen des russischen Staats und der russisch-orthodoxen Kirche auf die religiöse Landschaft der Ukraine zu, wo unterschiedliche orthodoxe Kirchen um ihre Vorherrschaft kämpfen.

2 II.

Da sich religiöse Praxis nicht nur im Privaten, sondern auch öffentlich und zumeist gemeinschaftlich vollzieht, d. h. „physische Anwesenheit aller Beteiligten […] für viele Formen von Religiosität charakteristisch ist“, wurde sie bereits zu Beginn der Coronakrise als „besonders virulenter Krisenherd“ inspiziert und als solcher in den Massenmedien kommuniziert (Stichweh 2020, S. 203). Insbesondere liturgische Veranstaltungen leben „vom Zusammenkommen der Gläubigen“ (Feulner und Haslwanter 2020, S. 21). Die Unterstellung, dass vom religiösen Feld mit seinen Heilswahrheiten und Heilsgütern ‚Unheil statt Heil‘ ausgeht, musste den von seinen Akteur:innen gepflegten Selbstanspruch basal in Frage stellen. Auch und gerade die Akteur:innen der unterschiedlichen Konfessionen der christlichen Erlösungsreligion sahen sich in ihrer Illusio in diesem Sinne provoziert; denn – darauf zentriert sich ja ihre häufig als ‚befreiend‘ charakterisierte Botschaft und Praxis – „Gott wurde in der Person Jesu Mensch, um die Menschheit aus ihrer Unheilsituation zu befreien“ (Savramis 1979, S. 13). Weshalb sollen angesichts des coronarischen Unheils ausgerechnet christliche Gottesdienste unterbunden werden, so fragten Laien zum Beispiel im katholisch-kirchlichen Feld die Inhaber seiner bischöflichen Repräsentanten an, habe sich Jesus doch „zugunsten der Menschen über Hygienevorschriften hinweggesetzt; zudem gebe der Glaube doch die Sicherheit, dass Gott eine Ansteckung im Rahmen religiöser Aktivitäten verhindern würde“.Footnote 2 Hat die Coronakrise nicht als göttliches Zeichen der Zeit, gar als Strafe Gottes zu gelten (vgl. Sattler 2020; KNA vom 30.03.2020, 3–4), auf die deshalb auch (nur) mit spezifisch religiösen Zeichen, mit ritueller geistlicher Kommunikation, zu antworten ist?

Solche interaktionsförderlichen, gesundheitsriskanten und die Verletzung staatlicher Regulierungen des Zusammenlebens in Betracht ziehenden religiösen Überzeugungen wurden auch in zahlreichen orthodoxen Kirchen vertreten, dort aber nicht vorwiegend von einer kleinen Minderheit von Laien, die zum Beispiel ihren Bischöfen Briefe schrieben, sondern in öffentlichen Diskursen auch und gerade von den kirchenoffiziellen Funktionsträgern, den Interpreten der Heilswahrheiten und Verwaltern der sakramentalen Heilsgüter, und damit von denjenigen, welche für die Legitimation, Erhaltung und Einhaltung des „liturgischen Codes“ (Bourdieu 1990, S. 81) Verantwortung tragen und beanspruchen, die „sakramentale Kontrolle“ (Hahn 1988, S. 240f) auszuüben. Diese Überzeugungen ranghoher Geistlicher, der tatsächlichen „Täger des skeptron“ (Bourdieu 1990, S. 79), die nicht im eigenen Namen und aus eigener Machtvollkommenheit sprechen, wurden Bestandteil ihrer spezifischen Autoritätsdiskurse, wozu sie ihr „Delegationsvertrag“ (Bourdieu 1990, S. 81) legitimierte, durch den sie sich mit Gott, den Gläubigen, aber auch mit den Akteur:innen anderer sozialer Felder verbunden sehen. Dabei scheint ihre rechtliche und soziokulturelle Verbundenheit mit dem politischen Feld (etwa Trennung von Kirche und Staat) nicht unerheblich, zumal letzteres in der Coronakrise massive Interventionsansprüche gegenüber allen sozialen Feldern erhob. Was jene Hierarchen sagen, hat – je nach Delegationsvertrag – Gewicht und findet Gehör (vgl. Vukomanovic’ 2021, S. 19; Metreveli 2021, S. 21), ist aber außerhalb wie innerhalb des eigenen Feldes – etwa seitens theologischer Experten, religiöser Laienintellektuellen oder des asketischen Mönchtums – umkämpft und durch die Pluralisierung und „Relativierung von Geltungsansprüchen“ (Wasmuth 2012, S. 14f; vgl. Makrides 2011, S. 18f, S. 20f, 25f; Stöckl 2009, S. 245f, S. 252f) bedroht. Ihr kulturelles und symbolisches Kapital als „Gruppensprecher“ (Bourdieu 1990, S. 72) des kirchlichen Feldes verleiht ihnen auch Gewicht im – von Bourdieu sogenannten – „Spannungsfeld der Macht“ (Bongaerts 2008, S. 114), d. h. im Machtgefüge zwischen den unterschiedlichen sozialen Feldern, nicht zuletzt im Blick auf das politische Feld, wofür in der ‚Orthodoxie‘ ein traditionseigenes – nicht spannungsfreies – staatsphilosophisches Konzept, die Leitidee der ‚Symphonia‘, sensibilisiert, das freilich „historisch kaum je verwirklicht worden ist“ (Stöckl 2009, S. 250; vgl. Makrides 2009, S. 212f) und schon gar nicht in der Diaspora realisiert werden kann. Angesichts ihres hohen sozialen Gewichts im Feld der orthodoxen Kirchen steigt auch das Gesundheitsrisiko, das mit jenen Überzeugungen verbunden ist, zumal die orthodoxe Tradition eine Präferenz für eine gemeinschaftliche religiöse Praxis zeigt (Makrides 2010). Diese wurde als „sehr physisch“ charakterisiert; denn es „beinhalten die ostkirchlichen Riten viel physischen Kontakt zwischen den Geistlichen und ihrer Gemeinde, darunter das Küssen von Händen und Ikonen sowie Umarmungen und Küsse zwischen den Gemeindemitgliedern“ (Vukomanovic’ 2021, S. 18; vgl. Erding und Brahm 2020, S. 743f).

3 III.

Bereits beim Betreten des Kirchengebäudes werden mehrere Ikonen (zumeist hinter Glas) an solchen Stellen mit dem Mund berührt, an denen schon andere Anwesende oder Abwesende ihre Speichelspuren – also mittelbar – hinterlassen haben. Ob die hierbei gegebene Infektionsgefahr größer ist als beim analogen Schwellenritus in der römisch-katholischen Kirche, mag dahin gestellt bleiben. Immerhin ist es Praxis unter römisch-katholischen Gläubigen, beim ‚Durchschreiten der Pforte‘ (Guardini 2008, S. 34–37) ihres Kirchengebäudes ihre Fingerkuppen in geweihtes Wasser aus einem eigens dafür reservierten Behälter zu tauchen – eine Praxis, die, verbunden mit einer Bekreuzigung, dem Gedächtnis der eigenen Taufe dienen soll (vgl. Cress 2019, S. 80ff.). Da diese ‚Weihwasserbecken‘, die sich etwa auf Ellenbogenhöhe an jedem Eingang eines römisch-katholischen Kirchengebäudes befinden, außer dem mit geweihtem Kochsalz versehenen Wasser nicht selten eine Süßwasseralge, die an ihrer Rotfärbung erkennbar ist (‚Blutregenalge‘), sowie eine Fülle unsichtbarer Keime enthalten (vgl. König 2017; Feulner 2020a), galten sie schon vor Corona als Quelle von Unheil. Der ikonenzentrierte Schwellenritus in den orthodoxen Kirchen kommt dagegen ohne Weihwasser aus, das in anderen Ritualen der orthodoxen Kirchen durchaus üblich ist. So geht der orthodoxe Gläubige „erst auf die Bilderwand, die den Altarraum vom Gemeinderaum trennt, und küsst die dort angebrachten Ikonen in einer bestimmten Reihenfolge: zuerst die Christus-Ikone, dann die Marien-Ikone, dann die Ikonen der Engel und Heiligen. Er begibt sich dann an ein Pult […] auf dem – mit dem Kirchenjahr wechselnd – die Ikone des Heiligen des betreffenden Tages oder des betreffenden Kirchenfestes ausgelegt ist, und bringt auch dieser durch Kuss, Verneigung [bis auf Kniehöhe, MNE] und Bekreuzigung seine Verehrung dar“ (Benz 1971, S. 7). Die Ikone gilt, so Ernst Benz (1971, S. 9) in seinem klassischen religionswissenschaftlichen Werk über „Geist und Leben der Ostkirche“ weiter, gewissermaßen als „ein Fenster, das zwischen unserer irdischen und der himmlischen Welt angebracht ist, ein Fenster, durch das die Bewohner der himmlischen Welt in unsere Welt herabschauen und auf dem sich die wahren Züge der himmlischen Urbilder flächenhaft, also zweidimensional abdrücken.“

Obwohl sich das orthodoxe Christentum in einer „Fülle von Sakramenten und Sakramentalien“ (Benz 1971, S. 30) entfaltet, wodurch, so die fundamentale religiöse Illusio, die erlösende Kraft Gottes auf die Menschen wirken und erfahrbar werden soll, wird hierzu kirchenoffiziell – neben der individuumsbezogenen Taufe – an erster Stelle die Eucharistiefeier gezählt (vgl. Mantzaridis 1981, S. 109ff.). „Die Vergottung des Menschen und die Sakralisierung der Welt sind die letzten Endziele des orthodoxen Lebens“, die in, mit und aus der Liturgie heraus generiert werden und eine legitime Grenzziehung zwischen den sakralen und den anderen Felden verhindern sollen (Kostjuk 2005, S. 262). Orthodoxe Kirchen sind deshalb solche, so Tamcke (2011, S. 8), „in denen die Liturgie als Ausdruck der Rechtgläubigkeit eine zentrale Bedeutung hat.“ Dies macht ‚die Orthodoxie‘, der in der westlichen Religionssoziologie bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde (vgl. Makrides 2009, S. 204ff.), was jüngst auch im Blick auf die Rezeption des Werks von Demosthenes Savramis kritisiert wurde (s. Ebertz 2019), weniger mit den protestantischen Konfessionen als mit dem römischen Katholizismus verwandt, zumal diese beiden Zweige des Christentums neben der Traditionsbindung (vgl. Makrides 2019, S. 113ff.) dem ‚Handeln‘ mit sakramentalen Heilsgütern und damit der kirchlichen Institution und ihren Amtsträgern eine ähnlich starke Heilsbedeutung einräumen. „Wenn sie nicht Eucharistie feiert, ist sie keine Kirche mehr. Und umgekehrt gilt deshalb: Die Eucharistie konstituiert die Kirche, Eucharistie bedeutet Kirche“ – eine solche Konditionalaussage, die vom griechisch-orthodoxen Metropoliten von Deutschland, Augoustinos Lambardakis, stammtFootnote 3, kann auch von römisch-katholischen Funktionsträgern formuliert werden.Footnote 4 Bei aller Nähe sollte jedoch „keine vorschnelle Identifizierung mit der römischen Messe“ (Benz 1971, S. 32; vgl. auch Lang 1998, S. 363ff.) vorgenommen werden, zumal sich der (kosmische) „Gesamtzusammenhang“ (Nassehi 2009, S. 204) und die „Weltbezogenheit“ (Makrides 2019, S. 115; vgl. Ebertz 2019, S. 96ff.) des liturgischen Codes wie auch der Einbezug von Körpern und Artefakten (vgl. Armbruster 2019) in diesen komplexen Ritus ganz erheblich voneinander unterscheiden. Mantzaridis (1981, S. 113) betont für das Ensemble der orthodoxen Kirchen die hohe Bedeutung der rituellen Konfiguration von Körpern und Artefakten, dass mithin die symbolischen Körperhandlungen, „ja sogar die kultischen Geräte und Instrumente im Rahmen des Bezuges des Menschen zu Gott über ihre praktische Bedeutung oder ihren Nutzwert hinaus auch einen besonderen symbolischen Inhalt“ tragen. Es gebe Werte, so heißt es etwa in der vom „X. Weltkonzil des Russischen Volkes in der Christus-Erlöser-Kathedrale zu Moskau“ formulierten „Russischen Erklärung der Menschenrechte“ von 2006, „die nicht weniger wichtig sind, als die Menschenrechte. Dazu gehören Glaube, Moral, sowie die Unverletzlichkeit heiliger Gegenstände […] Wir dürfen nicht zulassen, daß Situationen entstehen, in denen die Ausübung der Menschenrechte zum Herumtrampeln auf religiöser oder moralischer Tradition, zur Beleidigung religiöser oder nationaler Gefühle oder heiligen Gegenständen führt“.Footnote 5

Im Rahmen des vorliegenden Beitrags kann freilich weder ein intrakonfessioneller noch ein interkonfessioneller Vergleich der rituellen Bestandteile vorgenommen werden, auch keine historische Untersuchung ihrer Entstehung und Entwicklung, die wohl ohne das Konzept der „erfundenen Tradition“ (Hobsbawm und Ranger 1992) nicht auskommen würde. Vielmehr soll nur ein unscheinbares Spezifikum der liturgischen Praxis im orthodoxen Christentum herausgestellt werden, das selbst in einschlägigen Darstellungen ignoriert (vgl. Tamcke 2011, S. 33ff.) werden kann, aber im Zuge der Pandemie ans Licht geraten ist, weil ihm noch mehr als dem Ikonenkuss ein erhebliches Infektionsrisiko zugeschrieben wurde. Es geht um die Verwendung eines körperorientierten, ja körperverbindenden Artefakts, des Kommunionlöffels. Dieses Spezifikum der rituellen Körperpraxis im Feld der Orthodoxie gewann als Identitäts- und Unterscheidungszeichen Aufmerksamkeit in den Auseinandersetzungen kirchlicher Akteur:innen um den richtigen Umgang mit der Coronapandemie, zumal es sowohl das Monopol auf die legitime Gewalt bzw. Autorität zur Verfügung über die Heilswahrheiten und Heilsgüter im religiösen Feld und seiner Grenzziehung betraf als auch die Machtrelation zu anderen Feldern betreffen konnte.

4 IV.

Zum liturgischen Code oder „Montageplan“ (Oppitz 1999) des zentralen Rituals vieler orthodoxer Kirchen – Ernst Benz (1971, S. 34) nennt es in Analogie zur griechischen Tragödie „Mysteriendrama“ – gehören bestimmte kompositorische Bausteine, neben Sprache, Klang, Körper, Handlungen auch zentrale Gegenstände, darunter ein silberner ‚Heiliger Löffel‘. Nicht dieses Artefakt selbst, sondern die Form seiner Verwendung wurde und wird in der Pandemie zum Ansteckungsrisiko. Die Verteilung der Kommunion geschieht nämlich unter beiderlei Gestalt, d. h. von Brot und Wein (‚sub utraque‘), und auch aus einem gemeinsamen Kelch mit nämlich diesem – wohlgemerkt demselben – ‚Heiligen Löffel‘. Brot und Wein werden vom Priester in einem Kelch gemischt „zu einer Art Brei, der mit einem für alle benutzten Löffel den Gläubigen direkt in den Mund gegeben wird“ (Heller 2020, S. 111). Diese Praxis ist in vielen ‚Ostkirchen‘ üblich, wenn auch nicht überall.

Die kirchenoffiziellen Reaktionen auf das Infektionsrisiko und die entsprechenden Interventionen aus dem politischen und dem medizinischen Feld waren – auch je nach Phasen ihres Verlaufs – unterschiedlich und je nach Bewertung (als ‚kreativ‘ oder als ‚destruktiv‘) umkämpft. Auffällig ist zunächst: Im Ensemble der orthodoxen Kirchen waren die Reaktionen nicht koordiniert, und selbst innerhalb eines nationalkirchlichen Territoriums, wie z. B. der Serbischen Orthodoxen Kirche, wurde die kirchliche Praxis „nicht in allen Eparchien und Gemeinden standardisiert“ (Vukomanovic’ 2021, S. 18). Darin schlägt sich auch nieder, dass das orthodoxe Christentum, „das historisch und geographisch meistens im Osten und Südosten Europas Fuß fasste“ und „heute Diasporagemeinden in der ganzen Welt von Westeuropa bis zu den USA und Australien hat“ (Makrides 2011, S. 15), hochgradig pluralisiert, wenn nicht fragmentiert ist (vgl. auch Stöckl 2009, S. 246f). Tamcke (2011, S. 8) spricht sogar von einer „fortschreitenden Zersplitterung“, wofür ihm auch die in den letzten Jahren umkämpfte institutionelle Differenzierung des kirchlichen Feldes in der Ukraine Recht gibt. Nicht zuletzt deshalb gab es zwischen den orthodoxen Kirchen und innerhalb einiger Ostkirchen keine konzertierte Strategie in Bezug auf die Osterfeier 2020 (vgl. Vukomanovic’ 2021, S. 18).

5 V.

Betrachtet man die Pluralität der kirchlichen Reaktionsformen auf die vom staatlichen Feld ausgehenden gesundheitspolitischen Maßnahmen, die Infektionsdynamik einzuschränken, und versucht, jene etwas systematisch zu typisieren, dann zeigen sich zunächst zwei Extremformen: „Einige stellten die Liturgiefeiern komplett ein, während andere mit der üblichen Praxis fortfuhren“ (Vukomanovic’ 2021, S. 18). Selbst in der (weitgehend zentralisierten) Russisch-Orthodoxen Kirche fluktuierte das Spektrum der Reaktion „zwischen strengsten Restriktionen (wie etwa die obligatorische Selbstisolierung [Lockdown] in Moskau und in Sankt Petersburg) und der einfachen Anweisung, Maske und Handschuhe nur in geschlossenen Räumlichkeiten öffentlicher Nutzung zu tragen“ (Vasyutin 2020, S. 634). Zwischen diesen Extremen gab es aber auch zahlreiche Diversifizierungen des Rituals, die sich im Verlauf der Pandemie abwechseln, überschneiden und als Objekt des internen Kampfes um die richtige religiöse Praxis anbieten konnten. Betrachten wir zunächst die beiden Extremformen (Dekommissionierung vs. Stabilisierung), dann die Zwischenformen.

  1. 1.

    Dekommissionierung: Bei der aus dem politischen Feld heraus geforderten Maßnahme ging es nicht um die permanente Abschaffung, aber um die temporäre Stilllegung des gesamten liturgischen Rituals, d. h. der mit ihm einhergehenden Konfiguration von Körpern und Artefakten, insbesondere – so der Berater der griechischen Regierung – um „die Einstellung der Kommunion überhaupt“ (Haslwanter 2020, S. 626). Ähnlich wie andere Ostkirchen (z. B. die Armenische Kirche oder die Syrisch-Orthodoxe Kirche in Deutschland) hat z. B. das Patriarchat der Rumänischen Orthodoxen Kirche hinsichtlich der Ikonenverehrung verlautbaren lassen, man „dürfe es vorübergehend […] vermeiden, die Ikonen in der Kirche zu küssen [,] und stattdessen nur die eigenen Ikonen zuhause küssen“ (Heller 2020, S. 110). Damit wurde zwar nicht die Existenz des gesamten kirchlichen Feldes und seine Betriebsorganisation (Gebäude und Personal) in Frage gestellt; allerdings die Persistenz seines liturgischen (Dauer)Betriebs und damit die Illusio des Betriebszwecks. Max Weber sprach dann von ‚Betrieb‘, wenn es um den „Vollzug von politischen oder hierurgischen Geschäften“ ging, „soweit das Merkmal der zweckhaften Kontinuierlichkeit zutrifft“ (Weber 1922, S. 28). Partielle Dekommissionierungen konnten dadurch erfolgen, dass seit der Wiedereröffnung von Kirchengebäuden von orthodoxen Kirchenleitungen (z. B. in Deutschland, in Rumänien) verfügt wurde, den mit dem Heiligen Löffel vollzogenen Kommunionempfang für die Laien auszusetzen, d. h. Kommunion „nur in dringenden Fällen“ (Erding und Brahm 2020, S. 741) zu spenden und/oder (stellvertretend) nur den Klerikern zu gestatten, obwohl das gottesdienstliche Versammlungsverbot aufgehoben war und die Laien wieder unmittelbar an der Göttlichen Liturgie teilnehmen durften. Diese partielle Dekommissionierung für Laien überschneidet sich mit anderen Maßnahmen (s. unten), die rituelle Praxis auf der Ebene der Akteur:innen zu differenzieren.

    Mit der Dekommissionierung wurde der hierokratische Anstaltsbetrieb nicht abgebrochen, sondern unterbrochen, d. h. die Kontinuität der Spendung von Heilsgütern versagt, auf die sich üblicherweise die Erwartungen der Gläubigen richten. Diese Außerbetriebnahme geschah zwar auf Zeit, aber auf unbestimmte Zeit, und war auch schon deshalb umkämpft, am heftigsten offensichtlich in den Anfangswochen der Pandemie. Die – auch in Westeuropa getroffenen – gesundheitspolizeilichen Entscheidungen, Sakralgebäude zu schließen, war für viele Akteur:innen im religiösen Feld der Orthodoxie jenseits ihres habitualisierten Erwartungshorizonts und konnten als „vollkommen gottlos“ stigmatisiert werden (Vasyutin 2020, S. 637). So wurden in Russland Petitionen mit „Zehntausenden von Unterschriften“ (Heller 2020, S. 110) mobilisiert, und zahlreiche Demonstrationen wandten sich gegen die Schließung der Kirchen und nahmen polizeiliche Sanktionen (Strafzettel, Verhaftungen) in Kauf. Sie riefen zum bürgerlichen Ungehorsam auf unter dem Motto, dass die staatliche Macht antichristlich agiere, wogegen man Widerstand leisten solle. Sie gaben an zu wissen, dass es solche Maßnahmen in der Geschichte Russlands nie gegeben habe, auch nicht während der Cholera- und Pestepidemien. Man behauptete außerdem, dass die Kirchenvater eindeutig verboten hätten, Veränderungen in die Liturgie einzuführen, sogar im Fall einer bedrohlichen Seuche oder Epidemie“ (Vasyutin 2020, S. 634). In einer „aufgeheizten öffentlichen Stimmung“ stemmten sich auch in Griechenland Vertreter der Kirchenleitung zusammen mit Akteur:innen „aus dem Kirchenvolk“ (Haslwanter 2020, S. 607) gegen die Option der Dekommissionierung der rituellen Praxis der orthodoxen Kirche. In Georgien widersetzte sich die orthodoxe Kirchenleitung der staatlichen Regulierung und kündigte an, die Ausgangssperre „zu unterlaufen“ (Heller 2020, S. 111).

    So gab es – nicht nur in Griechenland (vgl. Haslwanter 2020, S. 610f) – Bestrebungen, Lizenzen aus dem politischen Feld zu erwirken, die behördlich verfügte temporäre Unterbrechung des Rituals selbst temporär unterbrechen zu dürfen (vgl. Haslwanter 2020, S. 610), insbesondere mit Blick auf das Osterfest. Akteur:innen mit hohem sozialen und symbolischen Kapital und andere Laienkreise konzertierten dementsprechende Petitionen und produzierten religiöse und religionspolitische Diskurse, welche auf die zentrale Bedeutung des Osterfests mit einem der wichtigsten christlichen Rituale im Kirchenjahr sowie – an die Doxa des politischen Feldes anschließend – „auf die Religionsfreiheit und die Verletzung der Menschenrechte von Kirchgängern“ hinwiesen (Vukomanovic’ 2021, S. 18). Im Übrigen zeigte sich dabei eine gewisse „Gleichgültigkeit gegenüber anderen Interessen, anderen Interessenobjekten“ (Bourdieu 2018, S. 108) der anderen sozialen Felder. So wurden deren Logiken – etwa des medizinischen oder des staatlichen Feldes – ignoriert oder den spezifisch religiösen subordiniert. Innerhalb des religiösen Feldes – mit Betonung der dogmatischen Höchstbedeutung von Ostern – wie außerhalb, d. h. im öffentlichen Raum kam es zu massiven Kämpfen um die religiöse Identität der ‚Orthodoxie‘, um die Definitions- bzw. Grenzziehungshoheit über das religiöse Feld sowie um seinen Status ‚unter‘ bzw. ‚über‘ den anderen Feldern der nationalen Gesamtgesellschaft, zumal die postulierte „Verschmelzung von religiöser und nationaler Identität“, die generell als „repräsentativ für die östliche Orthodoxie“ (Metreveli 2021, S. 21) gilt, nicht unumstritten und angesichts der wachsenden religiösen Pluralisierung auch der osteuropäischen Gesellschaften nichts Statisches ist. In Serbien zum Beispiel wurden diese Kämpfe durch „Unstimmigkeiten unter den kirchlichen Hierarchen“ und deren Fraktionierung (‚Eiferer‘ und ‚Gemäßigte‘), durch „Verwirrung“ unter den orthodoxen Gläubigen und durch „Meinungsverschiedenheiten“ zwischen den kirchlichen Hierarchen und dem mehrheitlich von Medizinern besetzten Krisenstab der Staatsorgane befeuert, der die „Ausgangssperre über Ostern“ unterstützte, „während die kirchlichen Vertreter auf (religiösen) Ausnahmen für diese Regel bestanden“ (Vukomanovic’ 2021, S. 18f).

    Die Option der religiösen Dekommissionierung – nicht der Lockdown in anderen Feldern – konnte durch die Inhaber der Staatsorgane nicht überall durchgesetzt werden, selbst wenn sie von ihrer Seite ‚in der Sprache der Engel‘, zum Beispiel mit dem Verweis auf das christliche Gebot der Nächstenliebe vorgetragen wurde, wie das in Griechenland der Fall war (Haslwanter 2020, S. 608), und phasenweise mit der Androhung und dem Einsatz physischen Zwangs verknüpft wurde. Man akzeptiere seitens der kirchlichen Autoritäten die Logik von Politik und Wissenschaft, erwarte dies aber auch umgekehrt gegenüber den Akteur:innen des religiösen Feldes, forderten diese. Die politische Option, die ja bedeutete, dass sich auch „die religiösen Pflichten an die Realität anpassen“ müssten, wie der griechische Ministerpräsident (Kyriakos Mitsotakis) formulierte (Haslwanter 2020, S. 608), war in vielen orthodoxen Kirchen höchst umstritten, galt sie doch als eine illegitime Intervention ins religiöse Feld und mit dessen sakraler Illusio unvereinbar. Aber bereits ihr Versuch konnte „die Gewissheit ihrer kognitiven und normativen Verfahrensweisen […] in Frage“ (Berger und Luckmann 2016, S. 12) stellen und als leibhaftige Beleidigung Gottes erlebt werden. Der Widerstand dagegen, der von Hierarchen, Mönchen und Laien getragen sein konnte (vgl. Vukomanovic’ 2021, S. 19; Vasyutin 2020, S. 642f; Haslwanter 2020, S. 610), war von der gegenteiligen Option geleitet, die auch in zeitlicher Hinsicht auf kognitive und rituelle Stabilisierung zielte. Dementsprechend lassen sich in den apologetischen Diskursen auch die – wissenssoziologisch bekannten – Muster der „Nihilierung“ (Berger und Luckmann 2016, S. 120f) erkennen. Sie sollten die religiöse Wirklichkeitsbestimmung stützen und die innerhalb des kirchlichen Feldes zur Dekommissionierung Neigenden, welche die feldeigene Logik in Frage stellen, delegitimieren, indem ihnen ein inferiorer Status der Abweichung zugeschrieben wird: Für Kirchenglieder sei es „völlig inakzeptabel, die Essenz des Sakraments der Kommunion anzuzweifeln, indem man seine Zweifel durch die Ablehnung der Verwendung des gemeinsamen Löffels als Quelle von Infektionsübertragung zum Ausdruck bringt“, so zum Beispiel die Kirchenleitung der Georgischen Orthodoxen Kirche (zit. n. Metreveli 2021, S. 21). Dabei griff der Heilige Synod auf einen Fundus diagnostischer Begriffe zur Stigmatisierung von Abweichler:innen zurück. Kirchenmitglieder wurden nicht nur mit dem Stigma des Glaubenszweifels, der kognitiven Armut (Unwissende) und der Verletzung einer tausendjährigen Praxis versehen, sondern auch als Falschgläubige, ja als Glaubensleugner problematisiert und etikettiert. Ihnen wurde das richtige Wissen, der richtige Glaube abgesprochen: Es seien „Menschen, denen das richtige Wissen oder der richtige Glaube an die spirituelle Bedeutung dieses Mysteriums fehlt. Die Kommunion vom gemeinsam geteilten Löffel ist die höchste Bestätigung der Einheit und Liebe der Gemeindemitglieder mit Christus und miteinander, und wer immer dies leugnet, leugnet den Erlöser“ (Metreveli 2021, S. 22; vgl. Lomidze 2020, S. 675). Weil in einigen Ländern „die Regierung während der Coronavirus-Krise nicht fähig war, die Herrschaft des Rechts für alle ihre Bürger*innen zu wahren, da die kirchlichen Vertreter größtenteils von den meisten epidemiologischen Maßnahmen ausgenommen waren“ (Vukomanovic’ 2021, S. 19), konnten sich die Machtgewichte im Feld der Macht zugunsten des kirchlichen Feldes und seiner Stabilisierung verschieben. Der serbische Religionssoziologe Milan Vukomanovic’ (2021, S. 20) glaubt darin sogar Anzeichen einer „De-Säkularisierung der serbischen Gesellschaft“ zu sehen. Solche Prozesse sind nur in längerfristiger Perspektive zu erkennen, aus der heraus offensichtlich auch viele der Akteur:innen im Verlauf der Pandemie ihre Bewertungen wechselten und die Entscheidungen zur vorübergehenden oder partiellen Dekommissionierung akzeptierten.

  2. 2.

    Stabilisierung: Den Akteuren im kirchlichen Feld, welche die Option der Dekommissionierung nicht akzeptierten, sie vernachlässigt oder abgeschwächt haben, zum Beispiel Ostern 2020 und an anderen Tagen der Pandemie die liturgischen Feiern fortsetzen (vgl. Vukomanovic’ 2021, S. 19) und dabei für die „strikte Beibehaltung des gemeinsamen Löffels bei der Kommunionspraxis“ (Metreveli 2021, S. 21) eintraten, vertraten auch eine ganz bestimmte diskursive Position in der Krisenbewältigung. Es ging ihnen um die Erhaltung der Illusio der Wirklichkeit der transzendenten Wirksamkeit, genauer gesagt darum, den spezifisch orthodox-religiösen Gewissheitsakzent, d. h. den Glauben an das energetische Wirken transzendenter Kräfte in der empirischen Wirklichkeit von Natur und Gesellschaft im kirchlichen Feld zu erhalten und auch im Feld der Macht gegenüber anderen Feldern nachhaltig durchzusetzen. Von kirchlicher Seite wurde zahlreiche spezifisch religiöse Mittel eingesetzt, um diese Illusio aufrechtzuerhalten, wozu auch „die Entscheidungen einiger Bischofe“ der russisch-orthodoxen Kirche gehörte, „das Coronavirus durch das Läuten von Glocken zu bezwingen, da es angeblich Viren und Bakterien töten könne“ (Vasyutin 2020, S. 635). Diese Art von – wie ich sie nennen möchte – religionsenergetischer Wirklichkeitsbestimmung, die sich mangels empirischer Wahrnehmbarkeit transzendenter Wirklichkeiten nicht von selbst versteht (vgl. Tyrell 2008), konnte nur seine Glaubwürdigkeit entfalten, wenn der auf die Kommunikation zwischen Immanenz und Transzendenz, d. h. der auf die sinnliche Begegnung mit der energetischen Realität Gottes zentrierte Montageplan des eucharistischen Heilsgüterrituals unverändert befolgt wird und insbesondere der Bestandteil der symbolischen Löffelpraxis erhalten bleibt, in der sowohl das Ritual seinen kommunitarischen Höhepunkt als auch die fundamentalen Überzeugung von der wirksamen Gnade Gottes (welche die eucharistischen Gaben, d. h. Brot und Wein, und darüber deren Konsumenten heiligt) ihren dichtesten handlungspraktischen Ausdruck findet. So bestehe zwar „die Chance, dass Ungläubige infiziert werden, doch wenn ein echter Gläubiger zu Gott kommt, um die Kommunion zu empfangen, wird nichts Schlimmes geschehen“, ließen z. B. Bischöfe (in Georgien) verlautbaren (zit. n. Metreveli 2021, S. 22). Diese Erhaltungsstrategie zielt auch auf die Stabilisierung der Glaubensgewissheit, konnten doch auch mehr oder weniger internalisierte eschatologische „Sanktionen gegen den wirklichkeitszersetzenden Zweifel“ (Berger und Luckmann 2016, S. 166) erinnert werden: „Wenn Du das nicht im Glauben anerkennst, ist das Dein Problem, weil Du später Probleme haben wirst, wenn Du vor Gott stehst. Die Zeit wird kommen, und alles [,] was Du jetzt sagst, kommt auf Dich zurück, und Du wirst Dir wünschen, es wäre nicht zu spät“ (zit. n. Metreveli 2021, S. 22). Dass in diesem Diskurs um den heiligen Löffel das punitive – in der westlichen Theologie marginalisierte (vgl. Ebertz 2004; Ernesti et al. 2021) – Gottesbild aktiviert wird, lässt darauf schließen, dass es den Akteuren auch um die Produktion und Reproduktion der kirchlichen Institution geht, was miteinschließt, im Feld der Macht Tendenzen zur religiösen Unabhängigkeit, ja zur Überlegenheit anderer ‚säkularer‘ sozialer Felder und in Folge der Krisenbewältigung entgegenzuwirken. Damit ist das im Feld der orthodoxen Kirchen umkämpfte Verhältnis zur Moderne betroffen, in dem es um die „Legitimität einer säkularen Sphäre in modernen, ausdifferenzierten Gesellschaften und eines säkularen Staates“ (Makrides 2011, S. 22) geht. Wenn die Coronapandemie auch ein „Lackmustest für die säkulare Identität“ (Metreveli 2021, S. 23) von Staat und Gesellschaft war, dann kam es nicht von ungefähr, dass in den kirchlichen Feldern der Orthodoxie auch die Gegner des „Triumphs einer Vernunft, die das Leben auf der Erde ohne Gott zu regeln bestrebt ist“Footnote 6, sozusagen sprungbereit zur Stelle waren, um für ihren Glauben zu den symbolischen Waffen zu greifen.

    Konkret ging es bei dieser Stabilisierungsstrategie darum, autonome Maßnahmen der Medizin und der Politik zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus zu relativieren, ja zu inferiorisieren, um innerhalb und außerhalb des kirchlichen Feldes keinen Zweifel am Glauben an die größere – und umfassendere – Wirklichkeit Gottes aufkommen zu lassen, deren Energie auch die empirische Realität zu durchstrahlen vermag. Dementsprechend unterließen, ja verweigerten es einige Bischöfe und Priester und mit ihnen die Gläubigen, der Isolationspolitik der Staatsorgane Folge zu leisten – wohlgemerkt nicht generell, sondern einzig und allein dann, wenn sie öffentlich zugängliche heilige Stätten und gottesdienstliche Versammlungen betraf. Die Wirksamkeit des Coronavirus wurde lediglich im Zusammenhang mit dem Ritual der Liturgie verneint, zumal im religiösen Feld alle anderen Zusammenkünfte dekommissioniert wurden. So wurde – wie in Georgien oder in Serbien – die bisherige gottesdienstliche Praxis fortgesetzt, indem die Teilnehmer:innen „die Kommunion vom gleichen Löffel empfingen“ (Vukomanovic’ 2021, S. 19). Die Berufung auf das Grundrecht der Religionsfreiheit war dabei nur ein sekundäres Argument. Primär war das spezifisch religiöse Apriori, dass durch die Schließung der Gottesdienste, von denen Schutz, Heil und Erlösung ausgehe, nur „der Vormarsch der Seuche“ (Heller 2020, S. 110) erleichtert, also Unheil begünstigt und befördert werde. Dabei war die Metapher von der „Unsterblichkeitsarznei“ leitend – Ergebnis eines für das orthodoxe Selbstverständnis charakteristischen Rückgriffs auf ein Theologumenon der sogen. Kirchenväter. Die damit verbundene Vorstellung von der Kommunion als „Gegengift“Footnote 7, das – wie die „Wunderwelt“ (Vasyutin 2020, S. 645) der Kirche – den empirischen – vergänglichen, sterblichen, tödlichen – Wirklichkeiten von Natur und Gesellschaft überlegen ist und diese zugleich durchdringt, stand während der Pandemie zum Beispiel bei den kirchlichen Akteuren der orthodoxen Kirchen Georgiens und Griechenlands hoch im Kurs, war aber auch eine in vielen anderen der orthodoxen Kirchen „äußerst prominente und während der Pandemie nahezu allgegenwärtige“ (Haslwanter 2020, S. 628). Für die Glieder der Kirche sei „das Herantreten zur Heiligen Eucharistie“, so der Heilige Synod in Griechenland, „und die Kommunion vom Gemeinsamen Kelch des Lebens sicher und kann nicht zur Ursache für die Übertragung von Krankheiten werden“. Sie „empfangen den Leib und das Blut Christi, das zur ‚Arznei der Unsterblichkeit‘ wird, ‚zur Vergebung der Sünden und zum ewigen Leben‘“ (zit. n. Haslwanter 2020, S. 627; vgl. Feulner 2020b, S. 62). So konnten die Artefakte des Löffelrituals für sakrosankt erklärt werden, indem der zum Blut Christi verwandelte (und mit kochend-heißem Wasser vermischte) Wein als hochwirksames Desinfektionsmittel klassifiziert wurde: „Der Löffel, gereinigt im Wein, ist frei von Bakterien. Es ist dasselbe wie ihn in medizinischen Alkohol zu tauchen“, hat zum Beispiel ein georgischer Bischof verlautbaren lassen, der mit Blick auf die religiöse Alltagspraxis ergänzend auf die Schutzwirkung von Weihwasser hinweist: „Versprengen Sie jeden Morgen und Abend Weihwasser in ihrem Haus, und Sie werden nicht vom Coronavirus infiziert“ (vgl. Metreveli 2021, S. 21). Mit seiner Gleichsetzung von rituell verwandeltem Wasser und Wein (der ja durch alkoholische Gärung aus Traubensaft gewonnen wird) mit ‚medizinischem Alkohol‘ und mit anderen Infektionsmitteln nimmt er mithin – auch ausgelöst durch die Coronakrise – an einem „Klassifizierungskampf“ teil, d. h. an der „Strukturierung der Wahrnehmung, die die sozialen Akteure von der sozialen Welt haben“ (Bourdieu 1990, S. 71f) sollen. Dabei erhält er die breite Zustimmung anderer Kleriker, die nichts weniger als den „Anspruch auf die Macht […], zu benennen und benennend die Welt zu gestalten“ (Bourdieu 1990, S. 71) erheben, und zwar im Namen einer anderen, die säkulare Welt übersteigenden und ihr – auch historisch – vorgegebenen, d. h. auch vorrangigen und übergeordneten Wirklichkeit, die zwar nicht mit der Methodologie der wissenschaftlichen (medizinischen) Felder erfahrbar, aber mit den rituellen Methoden des religiösen Feldes und seiner Konfiguration von Artefakten (Wein und Löffel) und Körpern erfahrbar, d. h. subjektiv kollektiv erlebbar ist. Wie in Georgien gaben orthodoxe Hierarchen und Priester auch in anderen Ländern zu verstehen, dass sie im Vollbesitz magisch-religiöser Kräfte die Vollmacht haben, höheren Gesetzen Folge zu leisten, weshalb die staatlichen Kontaktverbotsregeln „für sie nicht gelten“ (Heller 2020, S. 111). Diese charismatische Legitimierung wurde durch traditionale Narrative ergänzt, derzufolge „die Praxis der Verwendung eines gemeinsam geteilten Löffels für die Kommunion […] eine tausendjährige Geschichte“ (Metreveli 2021, S. 21) habe. Ungeachtet des historischen Befunds, „dass die Verwendung eines einzelnen Kommunionlöffels eine erst relativ späte Entwicklung und nicht immer unumstritten war“ (Haslwanter 2020, S. 624), hieß es in einer gemeinsamen Erklärung der meisten der Bischöfe des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel: „Als unermüdliche Wächterin und Bewahrerin des von den Heiligen Vätern Überlieferten bewahrt sie [die Kirche, MNE] das seit Ewigkeiten bis heute Gültige und findet keine Notwendigkeit für eine Änderung dieser Form [der Kommunionspendung], schon gar nicht unter dem Druck äußerer Faktoren“ (Haslwanter 2020, S. 624). Dementsprechend sind auch in Georgien „keine neuen Formen des Kommunionempfangs eingeführt worden. Eher umgekehrt wird der Empfang der Eucharistie mit dem Kommunionlöffel quasi sakralisiert, da jeglicher Zweifel an einer Übertragung der Infektionskrankheit durch die Benutzung eines gemeinsamen Löffels verboten wird“ (Lomidze 2020, S. 673). Die Tabuisierung des Rituals wurde auch durch eine Tabuisierung eines ritualbezogenen Risikodiskurses unterstützt. Dies musste nicht unbedingt heißen, die gesundheitspolitischen Regeln, in Georgien etwa Ausgangssperren an Ostern (zwischen 21 und 6 Uhr) und andere physische Distanzregeln zu unterlaufen. Es konnte auch heißen, sie strikt einzuhalten, indem den Gläubigen zugemutet wurde, sich während der Ausgangssperre „neun Stunden lang in der Kirche aufzuhalten und die Kommunion von demselben Löffel zu empfangen“ (Metreveli 2021, S. 23).

    Auch die Option der Stabilisierung löste Kämpfe aus, je länger die Pandemie anhielt und auch den Corona-Tod zahlreicher Kleriker – darunter ranghohe Geistliche (z. B. in Georgien, in Russland, in Serbien) – forderte. Corona hat, für alle Akteur:innen des religiösen Feldes erfahrbar, dessen heilige Stätten und Handlungen kontaminiert und vor dem Leben seiner Sakralfunktionäre nicht Halt gemacht. Erfahrbar war gleichwohl auch, wie an deren Begräbnisfeierlichkeiten unter Beteiligung staatlicher Repräsentanten viele Trauernde „die Kommunion vom gleichen Löffel empfingen“ oder von den offenen Särgen „die Plexiglasabdeckung küssten“, was nicht nur in Serbien die Frage aufkommen ließ, ob die Kirche mit ihren behördlicherseits mehr oder weniger geduldeten Ausnahmeprivilegien „genug getan hat, um die Ausbreitung des Virus [zu] verlangsamen, oder ob sie im Gegenteil dazu beigetragen hat, die Epidemie zu verschärfen“ (Vukomanovic’ 2021, S. 19). Zu Beginn der Pandemie war ein solcher Verdacht nur bei einer Minderheit kirchlicher Akteure fassbar, die sich herausgefordert sahen, frühzeitig ihre kirchlichen Leitungsorgane zu kritisieren, sofern sie die Option der Dekommissionierung nicht unterstützten. So „erpresst das georgische Patriarchat mit Hilfe fanatischer religiöser Gruppen“, heißt es in einem offenen Bittbrief einer „Gruppe von Absolventen des Geistlichen Seminars an die orthodoxen Patriarchen und Kirchenoberhäupter der Orthodoxen Kirchen“, „direkt oder indirekt die georgische Staatsregierung und erlaubt ihr nicht, geeignete Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit zu ergreifen“. Viele Kirchenfunktionäre blieben „hartnäckig in ihrer unveränderlichen Position“, heißt es weiter; sie forderten „die Gemeindemitglieder nicht auf, zu Hause zu bleiben und Gott von zu Hause aus anzubeten. Infolgedessen brachten die Geistlichen die Gläubigen in Lebensgefahr“.

  3. 3.

    Rituelle Stabilisierung und Differenzierung: nach Akteur:innen: Eine Variante zwischen den Polen der Dekommissionierung und der Stabilisierung liegt noch nahe am Letzteren und bestand in einer mehrfachen Differenzierung des Kommunionrituals auf der Akteursebene, genauer gesagt nach den Rollen hier und ihren persönlichen Inhabern dort, insbesondere den Inhabern von ‚weltlichen‘ Laienrollen. Konkret ging es darum, das Ritual und damit die rituelle Verteilung der heiligen Kommunion an den Klerus und die Gläubigen aus demselben Kelch unverändert beizubehalten und dies – wie z. B. in der Rumänischen, in der Serbischen oder in der Russisch-Orthodoxen Kirche – damit zu legitimieren, dass nicht von ihr, sondern von der Präsenz kranker Menschen Infektionsgefahr ausgehe. So legitimierte die Kirchenleitung der Russisch-Orthodoxen Kirche wie auch das Oberhaupt der Ukrainischen Orthodoxen Kirche (Moskauer Patriarchat) in einem (krankheitsfolgenreichen) „Aufruf, sich in Kirchen zu versammeln“; denn nicht das liturgische Ritual mit seinen Artefakten sei das Problem, weil bei der Löffelpraxis „kein Virus übertragen werden könne“, die heilige Kommunion mithin selbst „keine Quelle von Krankheit und Tod“ sei und „niemals sein kann“, sondern (sündige) Einzelpersonen (Heller 2020, S. 112; Vasyutin 2020, S. 641). Gemeint waren damit eher die persönlichen Inhaber von Laienrollen, weniger die Inhaber sakraler Rollen. Dieser sakralen, für das religiöse Feld charakteristischen Differenzierungs- bzw. Immunisierungsstrategie entsprechend, lautete auch die Anweisung für den russisch-orthodoxen Klerus, „unter allen Umständen vor dem Altar [zu] dienen“. Dieser Appell zielt nicht zuletzt auch auf die Immunisierung der kirchlichen Institution und des Anspruchs ihrer Priester, die Verwaltung und Wirkung der Heilsgüter zu monopolisieren und – eben auch in Krisenzeiten – zu garantieren: auch dann, wenn Personen (tödlich) erkranken. Und er dient der demonstrativen Aufrechterhaltung von Vertrauen in den unsichtbaren „Delegationsvertrag“ (Bourdieu 1990, S. 81) zwischen den Gläubigen und den Priestern, über den Dauerbetrieb der Produktion von Heilsgütern vor Unheil zu schützen und Heil zu bewirken. Der die kirchliche Institution repräsentierende Klerus steht dafür, den Bruch dieses Vertrags nicht einseitig zu riskieren und selbst dann zu verhindern, wenn einzelne Positionsinhaber (nicht zuletzt Laien und Akteur:innen anderer sozialer Felder) ihn nicht mehr zu garantieren vermögen. Dieses Muster der Ritualerhaltung und gleichzeitiger Differenzierung nach Akteur:innen war sehr variantenreich. Eine Variante war, Klerus und Laien dadurch räumlich auf Distanz zu halten, dass sich Letztere im Freien und mit gewissen Abständen vor dem Sakralgebäude zu platzieren hatten (vgl. Metreveli 2021, S. 22). Eine Untervariante war, durch zeitliche Segmentierung (Liturgien in den Abend- und Morgenstunden) die Masse der Kirchenbesucher:innen zu verkleinern bzw. zu teilen (Metreveili 2021, S. 22). Eine weitere Variante bestand darin, orientiert am Infektionsschutz vor Erkrankung, die Akteur:innen der Laien nach dem Lebensalter zu segmentieren. So entschied sich zum Beispiel die Russisch-Orthodoxe wie die Serbische Orthodoxe Kirche „gegen die Einstellung regulärer Liturgien, bat aber ältere Bürger*innen, die Kirchen während der Pandemie aus gesundheitlichen Gründen nicht zu besuchen“ (Vukomanovic’ 2021, S. 18; vgl. Vasyutin 2020, S. 639). Ihnen den Gottesdienstbesuch zu verbieten, sei „ungerecht und ein Verbrechen gegen Gott“ (Lomidze 2020, S. 675). In anderen Ländern sollten die „Priester allein, ohne die Teilnahme von Gläubigen“ (Haslwanter 2020, S. 611; vgl. Vasyutin 2020, S. 639) Liturgie feiern, oder die Laien stellten ihrerseits die rituelle Kollaboration mit dem Klerus selbst am Osterfest mehrheitlich ein, indem sie selbstaktiv entschieden, zu Hause zu bleiben (Metreveli 2021, S. 23). Auch die Umbettung von Gottesdiensten in den massenmedialen bzw. digitalen Raum, wie sie zum Beispiel von den Kirchenleitungen in Russland und in Griechenland empfohlen wurde (vgl. Vasyutin 2020, S. 639f; Haslwanter 2020, S. 609, 611), folgte dem Muster, nach Klerus und Laien zu differenzieren. Ähnlich wie der römische Papst im Petersdom und viele katholische Kleriker (in bischöflichen Hauskirchen oder leeren Pfarrkirchen) feierte auch der Moskauer Patriarch (Kirill) die Osternacht „in der leeren Christi-Erlöser-Kirche zusammen mit etwa zwei Dutzend Klerikern und zwei Chören“ und ließ den Gottesdienst live im Fernsehen übertragen (Heller 2020, S. 110). Auch in Serbien konnten Gläubige Ostergottesdiensten – ähnlich wie die Orthodoxen in Deutschland – am Fernsehen bzw. gestreamt verfolgen. In den beiden orthodoxen Kirchen der Ukraine, die nicht dem Moskauer Patriarchat unterstehen, wurden die Laien schon früh dazu aufgefordert wurden, die Gottesdienste „lieber online anzuschauen“ (Heller 2020, S. 111). Soweit ich sehe, lösten diese Maßnahmen – ähnlich wie die Vorschläge, den Ikonenkuss zu verhäuslichen oder in ihn wie andere rituelle Kusshandlungen in den Kirchengebäuden vorübergehend durch eine „respektvolle Verneigung“ (Erding und Brahm 2020, S. 738) zu ersetzen – keine heftigen Auseinandersetzungen im kirchlichen Feld aus, offensichtlich deshalb, weil sie zur Stabilisierung des Kommunionrituals und der Konfiguration der Körper und Artefakte selbst beitrugen, das es keinesfalls zu ersetzen galt. Freilich wurde theologisch – auch im Vergleich mit dem Protestantismus – hervorgehoben, dass auf Dauer „keine digitalen Praktiken die Offline-Teilnahme am liturgischen Leben ersetzen könnten“: Nonverbale Kommunikation sei „in der Tat wichtig. Die Eucharistie kann jedoch nicht ohne das gemeinsame Essen stattfinden (Ponomariov 2021, S. 169, 173).

  4. 4.

    Rituelle Stabilisierung und Differenzierung: Modifizierung der Handlungspraxis: Eine andere Variante nahe des Pols der Stabilisierung bestand darin, die ehedem gemeinschaftliche Handlungspraxis der Laien seriell auseinanderzuziehen: „Als Akt des ‚Zugeständnisses‘ an die öffentlichen gesundheitspolitischen Maßnahmen blieben die Gottesdienstbesucher vor dem Eingang der Kirche stehen und traten einzeln ein, um die Kommunion zu empfangen“ (Vukomanovic’ 2021, S. 18). Damit wurde zwar der größere Teil der Akteur:innen diversifiziert und die kommuniale Handlungspraxis abgeändert, aber das Löffelritual konnte stabilisiert werden. Eine nicht nur zeitliche Schranke zwischen den Gläubigen wurde dadurch eingebaut, dass der Heilige Löffel nach jeder Nutzung einer oder eines Gläubigen desinfiziert wird. Zugleich änderte die dabei erfolgte Einfügung zusätzlicher Artefakte (Alkohol, Tücher) und Handlungen (Abwischen des Löffels) die „Reihe festgelegter Handlungen“ (Mauss 1978, S. 206) und konnte als Verletzung des Ablaufs des rituellen Montageplans, als Störung im Erleben des liturgischen Codes empfunden werden. Dieses Beispiel weist noch auf andere rituelle Varianten der Reaktion auf das Coronarisiko hin, die aber Kämpfe auslösten, weil sie an der Modifizierung des Umgangs mit dem heiligen Löffel selbst ansetzten.

  5. 5.

    Rituelle Stabilisierung und Differenzierung: Modifizierung des Löffelpraxis: Weiter entfernt vom Pol der Stabilisierung liegt eine Variante, die bei den Artefakten ansetzt, indem Ikonen und das liturgische Gerät des ‚Heiligen Löffels‘ mit Alkohol desinfiziert wurden (Heller 2020, S. 110). Und ‚desinfizieren‘ heißt, totes oder lebendes Material in einen Zustand zu versetzen, dass es keimfrei und für den Menschen unschädlich ist. So wurde in der Georgischen Orthodoxen Kirche zunächst nur verfügt, die zu küssenden „Ikonen mit einem trockenen Tuch abzuwischen“ (Metreveli 2021, S. 22), während der Heilige Synod der Russischen Orthodoxen Kirche die Entscheidung traf, Ikonen und „Ikonenrahmen, welche die Gläubigen küssen“, zu desinfizieren (Vasyutin 2020, S. 635f; vgl. Haslwanter 2020, S. 626). Diese Entscheidungen lösten Legitimations-, ja Glaubenskämpfe mit entsprechenden Nihilierungen, aus, besage eine solche Intervention doch, „dass man weder an Gott noch an seine allmächtigen Gnadenhandlungen inmitten seines Leibes, der Kirche, glaube“ (Vasyutin 2020, S. 641).

    Die Eingriffe in solche und weitere rituelle Kusshandlungen (Kreuz, Kelch, Priesterhände) und der Einbau hygienischer Schutzvorrichtungen (Plastikhandschuhe) sowie besondere Maßnahmen der Entkeimung (auch des Evangeliars) waren auch und gerade im Blick auf die Löffelpraxis umkämpft (Heller 2020, S. 110); denn in die heilige Handlung werden fremde Elemente eingefügt, d. h. solche, die einer anderen – nicht-transzendenten – Feldlogik entspringen: So soll, heißt es etwa in einer Anweisung der Kirchenleitung der russisch-orthodoxen Kirche in der Übersetzung von Alexander Vasyutin (2020, S. 636), „der Löffel nach jedem Kommunikanten in Alkohol getaucht oder mit einem alkoholgetränkten Tuch abgewischt werden“. Dagegen formierte sich defensiver Widerstand, kann der Heilige Löffel doch schon durch die heilige Handlung selbst – wie oben gesehen – als desinfiziert gelten. Würde die Zustimmung zu einem solch dezidiert chemischen Eingriff nicht die Relativierung der religiösen Gewissheit implizieren, dass Gott selbst in seinem durch heilige Handlungen in sein Blut verwandelten Wein heilend wirksam ist, ja mehr noch: dass von der heiligen Löffelpraxis Unheil statt Heil ausgehen könne? Auch beleben Sterilisierungshandlungen Momente des Ekels und Misstrauens unter den Kommunizierenden, irritieren deren Gemeinschaftsgefühl. Mit dem mit dem Desinfektionsmittel verbundenen assoziativen Unheilshof von Krankheit, Leiden, Tod werden den Mitkommunizierenden stillschweigend gesundheitsgefährdende Seiten zugesprochen. Auch wurden solche Entkeimungsmaßnahmen, die in einigen orthodoxen Kirchen praktiziert wurden, als Übergriff aus der profanen – medizinischen – Realität in das „Gebiet der heiligen Riten“ (Weber 1922, S. 791) interpretiert. Zugleich galt es, die Grenzen des religiösen Feld insbesondere gegenüber dem medizinischen Feld zu sichern, neu abzustecken und vor dessen Übergriffen und seiner Dominierung des religiösen Feldes zu bewahren.

  6. 6.

    Rituelle Destabilisierung: Neuadressierung der Löffelpraxis: Um völlig auszuschließen, dass ein gemeinsamer Kommunionlöffel von den Gläubigen nicht mit der Zunge oder den Lippen berührt wird oder sich infektiöse Aerosolpartikel auf ihm niederlassen, gab es Vorschläge, zwischen Wesen und Form der Kommunionpraxis zu unterscheiden. Solche Stimmen, die z. B. in der orthodoxen Kirche von Kreta vom niederen Klerus ausgingen und über das Internet eine Verbreitung fanden, die weit über die Region der größten griechischen Insel hinausging, wurden innerorthodox „rasch zum Schweigen gebracht“ (Haslwanter 2020, S. 627). Gleichwohl fanden solche Modifikationen der Kommunionspendung in einigen Kirchen der Orthodoxie statt, indem mit einer besonderen Art von ‚Handkommunion‘ experimentiert wurde. Einige ‚Ostkirchen‘ reichen die beiden Gestalten getrennt, „und das Brot bei den autokephalen Ostsyrern (‚Nestorianern‘) sogar als ‚Handkommunion‘“ (Brakmann 2011, S. 146). Die während der Coronapandemie z. B. bei den Syrisch-Orthodoxen (Erding und Brahm 2020, S. 738) und bei den Griechisch-Orthodoxen in Österreich praktizierte – und mit einem Traditionsargument legitimierte, d. h. „auf eine alte Tradition der Kirche zurückgeführte“ (Erding und Brahm 2020, S. 738) – Handkommunion besteht darin, dass den Gläubigen jeweils ein Stück mit Wein getränktes konsekriertes Brot mit dem Löffel in die Hand gegeben wird (Feulner 2020b, S. 61f; Heller 2020, S. 111), bevor es von ihnen konsumiert wird. Der eine Heilige Löffel wird damit nicht aus dem Verkehr gezogen, sondern im rituellen Betrieb gehalten, wenn er auch gewissermaßen einen kleinen Umweg nimmt, seine Bewegungsrichtung und seine ‚Adresse‘ (vom Mund in die Hand) wechselt und damit den potenziell kontaminierenden Lippen‑, Zungen‑, Speichel-Kontakt umgeht. An die Stelle dieses Symbols der Vergemeinschaftung tritt als distanzverbürgende Zwischenstation die jeweilige Hand, und wird zwar die „rechte Hand in Form eines Kreuzes auf die linke Hand“ gelegt (Erding und Brahm 2020, S. 738). Im Unterschied zur Linken ist die Rechte die, wie Robert Hertz (2007, S. 188) formuliert, die den „Pol der religiösen Welt“ repräsentiert. Sie – oder dieser Pol – ist der Linken auferlegt und übergeordnet. Die rechte Hand ist die Adresse des im Betrieb gehaltenen gemeinsamen Löffels. Das symbolisch gemeinsame Andere ist das Tabu der linken Hand, welche „die Bedürfnisse des niederen Lebens erledigt“ und als Gegenspieler der rechten „das Wesen der heiligen Dinge“ (Hertz 2007, S. 209, 188) durch bloße Berührung verringern, verkleinern und verändern würde. So ist „allein die rechte Hand“ berechtigt, dass sie „während der Mahlzeiten aktiv eingreift“ (Hertz 2007, S. 205). „An unserer rechten Hand und an unserer rechten Seite“, so Hertz (2007, S. 196, 201) weiter, „treten die wohltuenden und belebenden Kräfte in uns ein“, sie „steht für die Höhe, die höhere Welt, den Himmel“ und „ist es, die die Gnade des Himmels erhält“.

    Diese Umstellung des Kommunionrituals konnte ebenfalls die Reihe festgelegter und habitualisierter Handlungen irritieren. Anekdotische Beobachtungen des einen oder anderen Gläubigen zeigen: Als er sich routinemäßig vor dem Priester „hinkniete und den Mund öffnete, wies der Priester darauf hin, die Hand zu öffnen. Dies war das erste Mal, dass er die heilige Kommunion in der Syrisch-Orthodoxen Kirche in der Hand empfangen hatte“ (Erding und Brahm 2020, S. 745). Auch war die Technik der Handkommunion innerhalb des kirchlichen Felds nicht unumstritten, zumal die zwecks Legitimierung der rituellen Innovation herangezogenen Traditionsargumente keiner kritischen Überprüfung standhielten. Problematisiert wurde der Bruch eines Berührungstabus, war es doch bislang „nur dem Priester gestattet […], die Kommunion in die Hand zu nehmen“ (Erding und Brahm 2020, S. 745). Damit war auch das priesterliche Monopol der Verfügung über die Heilsgüter tangiert, das den Laien verbot, mit ihnen zu ‚handeln‘. Durch die Handkommunion wurden sie an ihrer Spendung ‚aktiver‘ beteiligt, und aus einer paternalistisch-fürsorglichen Geste des ‚Fütterns‘ (direkt in den Mund) wurde ein Heilsgüterkonsum, der die Interaktion der Aufnahme der geistlichen Nahrung in Richtung eines symmetrischen selbstaktiven Geschehens (‚rituelle Selbstverpflegung’) verschiebt. Kritisiert wurde an dieser rituellen Innovation auch das Risiko einer doppelten Profanierung des Heilsguts, dass nämlich (a) „Wein auf die Hand des Gläubigen kommt und dort in den meisten Fällen zurückbleibt“, wenn das mit konsekriertem Wein getränkte eucharistische Brot dann (b) „mit der anderen Hand in den Mund geführt wird“ (Erding und Brahm 2020, S. 738). Einzelne Beobachtungen entdecken denn auch dementsprechende priesterliche korrigierende Eingriffe, z. B. in einer syrisch-orthodoxen Kirche in Schweden: „dass der mit Plastikhandschuhen bekleidete Priester die Hand einer gläubigen Frau, auf die er die Kommunion gelegt hat, mit seiner Hand zu ihrem Mund fuhrt, wohl um sicherzustellen, dass die Kommunion möglichst vollständig und zuverlässig verzehrt wird“ (Erding und Brahm 2020, S. 747).

  7. 7.

    Rituelle Destabilisierung: Individualisierung der Löffelpraxis: Die Variante, nach Akteur:innen zu differenzieren, konnte auch dadurch (wie z. B. in der Rumänisch- Orthodoxen Kirche) erweitert werden, den Laien, die sich vor einer Ansteckung fürchten, temporäre rituelle Dispens vom gemeinsamen Löffel zu erteilen und ihn durch ein Privatbesteck zu ersetzen: Sie können „den Priester ausnahmsweise bitten, die Kommunion auf einem selbst mitgebrachten Löffel mit ihnen zu teilen“ (zit. n. Heller 2020, S. 112). Diese Diversifizierung des Rituals gibt bereits den gemeinsamen Löffel ab oder auf, legt ihn zur Seite, nimmt ihn außer Betrieb, lässt ihn ruhen, zieht ihn aus dem rituellen Verkehr zwischen Gott, den Priestern und den Menschen. Neben solchen Privatlöffeln konnten, wie anfänglich ebenfalls in Rumänien und auch vom griechisch-orthodoxen Metropoliten in Amerika empfohlen, auch Einweglöffel zum Einsatz kommen (Heller 2020, S. 111; Haslwanter 2020, S. 626), die nach Gebrauch verbrannt oder sterilisiert werden (Feulner 2020b, S. 61). Diese Diversifizierung des Heiligen Löffels war höchst umstritten und wurde etwa seitens der Hierarchen der Georgischen Orthodoxen Kirche als nicht-traditionskonform („tausendjährige Geschichte“) delegitimiert. „In dieser Zeit“, so der seitens der Bevölkerung mit hohem Vertrauenskapital ausgestattete georgische Patriarch Illia II. weiter, „gab es viele Fälle der Verbreitung von lebensbedrohlichen Infektionen. In solchen Perioden hatten die orthodoxe[n] Gläubige[n] keine Angst, das Sakrament von einem gemeinsam geteilten Löffel zu empfangen; im Gegenteil wandten sie sich noch häufiger dieser heiligen Handlung, weil, wie wir alle wissen, der Mensch im Sakrament das Heilige Blut und den Leib Christi empfängt, der Leib und Seele läutert und heilt“ (zit. n. Metreveli 2021, S. 21). Damit werden die Gläubigen von gestern und die Gläubigen von heute unterschieden, diesen gegenübergestellt und als tapfere wie fromme Glaubensvorbilder in der gegenwärtigen Pandemie empfohlen. Zugleich wird an die gemeinsame Gewissheitsbasis („wir alle wissen“) der religiösen Illusio und an gemeinsame Praktiken im Umgang mit den Heilsgütern erinnert, von denen heilsame Wirkungen ausgingen. Nicht medizinische ‚Heilung‘ und religiöses ‚Heil‘ werden unterschieden, sondern Heilung wird im Heil inkludiert und auch durch die religiösen Heilsgüter und mit und in ihnen kreditiert. Damit bezeugen sie eine andere – göttliche – Wirklichkeit und Wirksamkeit, die sie auch dadurch bekräftigen, dass sie – wie in Georgien – die Werbung zur Corona-Impfung einerseits verweigern (Metreveli 2021, S. 23) und anderseits für die stereotype Beibehaltung des Rituals eintreten. Damit wird die Coronapandemie kausal nicht auf die Eigendynamik der ‚Natur‘ (so Stichweh 2020), sondern auf eine andere außergesellschaftliche Größe zurückgeführt, nämlich als Strafe Gottes dafür, „dass der Mensch sich von Gott entfernt hat“ (Lomidze 2020, S. 671; vgl. Metreveli 2021, S. 21), interpretierbar gehalten. So konnte die Kirchenleitung wie in Georgien dazu auffordern, in der religiösen, d. h. auch liturgischen Praxis keinesfalls nachzulassen, sondern „intensiver zu beten und religiösen Traditionen zu folgen“ (Metreveli 2021, S. 21), d. h. den gemeinsam geteilten Löffel nicht durch Privatisierung und Individualisierung zu diversifizieren und die Löffelpraxis – womöglich – für die Zukunft zu pluralisieren. Es galt dabei während der Coronapandemie nicht nur, säkularen, wenn nicht ‚säkularistischen‘ medizinischen Auslegungs- und Anweisungsmustern entgegenzutreten, sondern auch durch ‚den Westen‘ eindringende – und in der Diaspora beobachtbare – Tendenzen der Individualisierung zu blockieren und diese sie als Gegenhorizonte zu markieren.

Die Coronapandemie spitzte damit nicht nur die üblichen Kämpfe um die legitime Definition des Religiösen und darum zu, wie im religiösen Feld mit den Körpern und Artefakten „richtig Religion zu praktizieren ist“ (Armbruster 2019, S. 142). Sie ließ auch und gerade die Spezifika der rituellen Konfiguration von Körpern und Praktiken einer christlich-orthodoxen Illusio hervortreten, die sich doch deutlich von anderen Versionen des ‚westlichen‘ Christentums abhebt. Auch zeigt sich in den durch die Krise hervorgebrachten Diskursen, welchen Werten die Akteur:innen im kreativen Umgang mit der Coronakrise Raum gaben und wie sie sich mit anderen Feldern, dem politischen und dem medizinischen Feld, arrangierten. Im Kampf um den Heiligen Löffel hatten offensichtlich die Werte, die in der orthodoxen religiösen Kultur ‚dem Westen‘ zugeschrieben werden, namentlich bestimmte Menschenrechte, Individualismus und Pluralismus (Makrides 2009, S. 206), kaum eine Chance, sich durchzusetzen. Bei aller Vielfalt der orthodoxen Kirchen konstituiert sich ein zentrales Moment ihrer gemeinsamen ‚Identität‘ in entschieden verteidigten Löffelritual. Die „vielen rigoristischen orthodoxen Kreise und Bewegungen“, die diesen Kampf während er Coronakrise mitbestimmten, sind wohl auch diejenigen, welche den „interchristlichen Annäherungsversuchen negativ bis feindlich gegenüberstehen“ und auch „antieuropäische Züge aufweisen“ (Makrides 2009, S. 209). Doch dies ist ein anderes Thema.