1 Einleitung

Erst seit der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes im Jahr 2005 und nach fast einem Jahrzehnt des Aushandelns der eigenen Position zu Migration und zum Staatsangehörigkeitsrechts wird Deutschland offiziell als Einwanderungsland bezeichnet (Fereidooni 2012, S. 28). Die faktische Nicht-Anerkennung einer von Migration geprägten Gesellschaft hat nach wie vor einen großen Einfluss auf gesellschaftliche und politische Debatten sowie auf die öffentliche Bildung und die Institution Schule (OECD Band I 2019, S. 1). Der sozial- und bildungswissenschaftliche Diskurs in Deutschland über die deutsche Migrationsgesellschaft hingegen existiert nicht erst seit 2005. Seite einigen Jahren fokussiert die Bildungsforschung auf Diversität und transkulturelle Bildung an Schulen (u. a. Leiprecht und Steinbach 2015) bzw. Bildungseinrichtungen und das pädagogische Handeln von Lehrkräften (u. a. Mecheril 2016), wobei u. a. Rassismus oder Ausgrenzungen im Klassenzimmer und deren Auswirkungen in den Blick genommen wurden: Beispiele reichen von Rassismuserfahrung von Lehrkräften an ihrem Arbeitsplatz (Georgi 2013) über Strategien gegen strukturelle Diskriminierung in der Lehrerausbildung (Doğmuş et al. 2016) bis hin zu den Auswirkungen von Diskriminierung auf Schüler*innen mit Migrationsgeschichte (Fereidooni 2011). Eine Studie des Instituts für empirische Migrationsforschung der Humboldt Universität zu Berlin wies darauf hin, dass niedrige Leistungserwartungen und Vorurteile gegenüber Schüler*innen mit Migrationserfahrungen tatsächlich zu schlechteren Leistungen in der Schule führen (2017). Ähnlich zeigt es eine Untersuchung aus dem Jahr 2017, im Rahmen dessen Lehrkräften identische Tests zur Bewertung vorgelegt wurden. Die Tests, die mit türkisch klingenden Namen versehen wurden, lagen dabei in der Bewertung eine halbe Note unter dem Durschnitt (Bonefeld und Dickhäuser 2017). Schulen sind „Sorting Machines“ (Domina et al. 2017), die nach sozialen Kategorien unterscheiden und Ungleichheiten festschreiben. Diskriminierungserfahrungen von Schüler*innen spielen in diesem Zusammenhang eine Rolle und stehen häufig in Zusammenhang mit Migrationserfahrungen.

Nun zeigen weitere Untersuchungen, dass die Verbindung aus Migration und Religion, insbesondere dem Islam, sowohl in der Gesellschaft als auch in der Schule verstärkt in den Fokus rückt (Attia 2015; Spielhaus 2013; Karakaşoğlu 2020).

Öffentliche Kontroversen und diskriminierende Strukturen spiegeln sich in der Schule wider, so dass die Schule nicht nur ein Ort ist, an dem Wissen an Schüler*innen weitergegeben wird, sondern auch ein Ort, an dem Gruppenidentitäten gebildet und ausgehandelt werden. Dabei ist gerade das Handeln von Lehrkräften im Feld Schule relevant, denn „Lehrer*innenhaltungen und -handeln […] sind immer als eingebettet zu betrachten in gesellschaftliche Diskurse und schulische Strukturen.“ (Karakaşoğlu 2020, S. 96).

Empirische Grundlage dieses Artikels sind Expert*inneninterview mit Geschichtslehrkräften, die im Rahmen des Forschungsprojekts „Geschichten in Bewegung. Historisches Lernen, Erinnerungspraxen und geschichtskultureller Wandel in der deutschen Migrationsgesellschaft“ entstanden sind.Footnote 1 Die Analyse des Materials zeigte eine Vielfalt an Themen, die über die teilstrukturierten Expert*inneninterviews zum Ausdruck gebracht wurden. Darüber hinaus jedoch wurden in der Analyse wiederholt pädagogisches Wissen und institutionelle Eingebundenheit herausgearbeitet, die Handlungs- und Bewertungsrahmen von Lehrkräften aufzeigen. In diesem Zusammenhang augenfällig war die Verbindung aus Religion und Migration, die Lehrkräfte als Unterscheidungsmerkmal zwischen sich und den Schüler*innen im Klassenraum herstellten. Das qualitative inhaltsanalytische Vorgehen (Mayring 2007) ermöglichte es, diskursive Themenfelder herauszuarbeiten und deren Diskussion vorzustellen. Das theoriegeleitete Vorgehen am Material nach der Grounded Theory (Glaser und Strauss 1967) ergänzt die qualitative Inhaltsanalyse um das Vorgehen des kontrastiven Vergleichs von Einzelfällen.

In diesem Artikel soll einerseits die Verbindung aufgezeigt werden, die zwischen Religion und Migration hergestellt wird und andererseits die Unterscheidung, die Lehrkräfte damit im Unterricht zwischen sich und den Schüler*innen postulieren. Dabei ist das soziologische Konzept der symbolischen Grenzziehung der theoretische Rahmen, in dem die Analyse vorgenommen wird.

Im Mittelpunkt stehen die Fragen nach der Verbindung zwischen den diskursiven Feldern Religion und Migration und darüber hinaus, wie Grenzen und damit Klassifikationen zwischen Lehrkräften und Schüler*innen hergestellt und welche professionellen Handlungspraxen für diese pädagogischen Unterscheidungen (u. a. Emmerich und Hormel 2013; Horvath 2021) relevant sind.

Um diese Fragen zu beantworten, wird zunächst einen Überblick über den Ansatz der symbolischen Grenzen und den Zusammenhang zwischen Migration und Religion gegeben. Zweitens erfolgt die empirische Annäherung an das Material: eine zweistufige Analyse von offenen Expert*inneninterviews, die mit der Qualitativen Inhaltsanalyse kodiert und zusammengefasst wurden, mit dem theoretischen Sampling-Verfahren der Grounded Theory ausgewählt und im zweiten Schritt Interviewsegmente aus Einzelfällen ausgewertet werden. Die Analyse des Materials wird mit Einblicken in das Zusammenspiel von Grenzziehungsprozessen in der pädagogischen Praxis von Lehrkräften geschlossen.

2 Grenzziehungen und Klassifikationen entlang von Religion und Migration

2.1 Symbolic Boundaries – symbolische Grenzziehung

Abgrenzungen finden im Alltag statt – die meisten Menschen sehen sich als Teil einer bestimmten Gruppe, seien es Sportvereine, Musikgeschmäcker oder Forschungsdisziplinen. Die Kehrseite dieser Alltagspraxis ist jedoch, dass Menschen unwillkürlich mit bestimmten Gruppen assoziiert und verbunden werden. Diese Zuordnungen sind somit nicht immer ein freiwilliger Akt, sondern auch durch andere initiiert und Teil impliziter Grenzziehungen.

Wie das empirische Material, auf dem dieser Artikel basiert, zeigt, kategorisieren Pädagog*innen ihre Schüler entlang verschiedener Zugehörigkeiten. Diese Kategorisierungen und Differenzierungen kommen häufig zum Ausdruck, wenn Lehrkräfte über Schüler sprechen, die selbst oder deren Eltern nach Deutschland migriert sind (u. a. Geier 2016, S. 433).

Horvath (2021) analysiert in diesem Kontext pädagogische Unterscheidungen, d. h. „welche Unterschiede Lehrkräfte wahrnehmen, welche sie für relevant halten und wie sie diese in ihrem alltäglichen beruflichen Handeln berücksichtigen“ (7), sind wesentlicher „Mechanismus für die (Re‑)Produktion von Bildungsungleichheiten“ (2). Lehrkräftebildungsinstitute formulieren explizite Verfahren, um sogenannte „Lernanforderungen“ zu schreiben. Diese müssen von angehenden Lehrkräften während ihres Praktikums geschrieben werden – welche Herausforderungen bestehen in Bezug auf Sprache, wie ist der soziale Hintergrund oder ist die Familie eines Schülers nach Deutschland migriert. Ziel ist es, das Lernpotenzial bestmöglich auszuschöpfen und die Schüler*innen nicht zu unter- oder überfordern (LI Hamburg: 23). Differenzierung bzw. pädagogischen Unterscheidung der Schüler*innen ist somit bereits Teil der Lehramtsausbildung.

Um Klassifizierungen entlang unterschiedlicher Zugehörigkeiten in Klassenräumen zu analysieren, bietet sich das soziologische Konzept der symbolischen Grenzen an (Lamont und Molnár 2002; Wimmer 2008b). Symbolische Grenzen beziehen sich auf die klassische, aber umstrittene Binarität von „wir“ und „sie“. Duemmler (2014) definiert diese entsprechend aktueller sozialwissenschaftlicher Forschung als „symbolische Produktion von Ungleichheit, die in Stigmatisierungen von Sozialgruppen durch alltägliche Kommunikationen und Interaktionen zum Tragen kommt“ (14). Das soziologische Konzept der Boundaries fokussiert Kategorisierungen und Unterscheidungen insbesondere dann, wenn der Gruppenbildung Ausgrenzung, Ungleichheit oder unterschiedlicher Zugang zu (oder der Verwehrung von) Ressourcen in der Gesellschaft folgen. Dabei wird zwischen dem Prozess des boundary making (Grenzziehung), shifting (‑verschiebung) oder crossing (‑überschreitung) differenziert (Wimmer 2008a, S. 1030). Lamont und Molnár (2002, S. 168) schlagen vor, zwischen symbolischen und sozialen Grenzen zu unterscheiden: Soziale Grenzen fokussieren spezifisch auf Klassenunterschiede und ungleiche soziale Zugänge als objektivierte Form sozialer Differenzen, während symbolische Grenzen als „distinctions made by social actors to categorize objects, people, practices and even time and space“ (ebd.) funktionieren. Die Unterscheidung einer Gruppe von einer anderen erfolgt oft entlang rassischer, ethnischer und religiöser Linien (Bail 2008, S. 39). Insbesondere Identitäten „are defined in opposition to a privileged „other“: Symbolic boundaries may be more likely to generate social boundaries when they are drawn in opposition to one group as opposed to multiple, often competing out-groups“ (Lamont und Molnár 2002, S. 174). Ruane und Todd (2010) halten fest, dass die Verbindung aus Religion und Ethnizität eine sehr wirkmächtige Grundlage für „identity, group formation and communal conflict“ (3) sein kann. Entsprechend der Unterscheidung von Wimmer wird es in der Analyse des Materials um Grenzziehungsprozesse gehen – boundary making.

Neuere Arbeiten, die sich auf den Prozess der symbolischen Grenzziehung fokussieren bieten unterschiedliche methodische und auch thematisch Zugänge an. Dabei sind vor allem jene Studien von Interesse, die das Konzept der symbolischen Grenzen mit Bildung oder schulischen Themen verbinden.

Hierfür relevant ist beispielsweise die Untersuchung zu Boundary Work in Klassenzimmern. Duemmler et al. identifizieren diezbezüglich einen wichtigen Aspekt, der in den früheren Arbeiten über symbolische Grenzen nicht genügend Beachtung fand: „questions of power and domination have not yet received the full attention they deserve within the boundary-work literature. If boundaries are institutionalised through reified ideas about culture, tradition and gender relations, it is impossible for minority groups to blur or shift them“ (2010, S. 22). Dabei spielen Machtverhältnisse selbstverständlich gerade in der Schule eine Rolle für das Verhältnis zwischen Lehrkraft und Schüler*in. Dahinden und Zittoun (2013) fokussieren speziell auf den Aspekt der Religion als eine Form der Grenzarbeit mit einem soziokulturellen Ansatz, der besonders hilft, Grenzarbeit zwischen Gruppen in der Schule zu verstehen. Ihr Ansatz ist ein soziokultureller und psychologischer Ansatz, der besonders hilft, religiöse Grenzarbeit in der Gesellschaft zu verstehen. Meaning making wird aus sozialpsychologischer Sicht durch den Austausch gemeinsamer Symbole erklärt (2013, S. 4). Auch Wimmer (2008b) hat bereits darauf hingewiesen, symbolische Grenzen als alltägliche Beziehungsnetzwerke und weniger als feste Entitäten zu begreifen. Eine breitere Forschungsperspektive bieten Lomsky-Feder und Tabib-Calif (2014), die ethnographisch Grenzarbeit in einer israelischen Schule untersuchten. Die theoretische Annahme ist, dass Schulen ein Ort ständiger Grenzarbeit – boundary work – sind. Ein Ort, an dem Kategorien von Ethnizität und Klasse geschaffen, versteckt und neu definiert werden (22). Duemmlers Arbeit (2014) interessiert sich für die symbolische Grenzziehung unter jungen Erwachsenen und dabei explizit für die Rolle, die religiöse Zuschreibungen in Grenzziehungsprozessen spielen (17 f.). Hierbei möchte die Autorin ausdrücklich die Bedeutung religiöser Grenzziehungen untersuchen: „Neben den in den letzten Jahren entstandenen empirischen Arbeiten ist es erstaunlich, dass sich wenig theoretische Arbeiten mit der Logik von religiösen Grenzlinien beschäftigen. Während die Diskussion zu ethnischen Grenzziehungen kaum noch zu überschauen ist, gibt es bis auf wenige Arbeiten kaum theoretische Überlegungen dazu […], was religiöse Grenzziehungen spezifisch macht. Die Spezifik lässt sich nicht darauf reduzieren, dass nun plötzlich Muslime oder nichtchristliche Religionen im Fokus stehen.“ (17) In Anschluss an die Untersuchung an unterschiedlichen Schulen stellt die Autorin fest, dass es keine einheitliche Grenzziehung gibt, sondern hier verschiede Mechanismen – Einstellungen und schulische Strukturen zusammenwirken und damit Grenzen gestützt werden (340 f.). Eine ebenfalls relevante Studie für diesen Artikel ist die Arbeit von Ideland und Malmberg (2014). Sie untersuchen Veranderungsprozesse im Unterricht zum Thema „Nachhaltige Entwicklung“, indem sie Darstellungsformen in schwedischen Schulbüchern analysieren. Die Studie ist ein Beispiel für die Abgrenzung zwischen In- und Out-Groups in Lernumgebungen als klassische Wir-Sie-Binarität (370). Auch wenn die Methode unterschiedlich ist, ist der theoretische Bezug zur Konstruktion der „Anderen“ und der damit verbundenen Grenzen ähnlich.

Deutlich wird nun, dass in Interaktionen und in Relationen entstehendes Handeln als eine Form des boundary makings verstanden werden kann. Interessant ist es zudem hier explizit die Seite der Lehrkräfte, d. h. das pädagogische Handeln zu untersuchen, da dieses einerseits auf Bewertungen und Unterscheidungen qua Profession beruht und andererseits aber die pädagogische Praxis ebenso das individuelle Lehr-Lernverhältnis berücksichtigt und entlang subjektiver Bedürfnisse der Schüler*innen sich gestaltet. Dieses doppelte Verhältnis aus Unterscheiden und Klassifizieren sowie Bilden und Leiten gilt es in der Analyse kritisch zu betrachten.

2.2 Religion und Migration

In diesem Artikel geht es um die Rolle der Religion in der Schule als trennendes Moment und als klassische Kategorie der Zugehörigkeitszuschreibung. Insbesondere die Debatte um den Islam in europäischen Gesellschaften wurde nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 kontrovers geführt (z. B. Spielhaus 2018). In diesem Zusammenhang frage ich, welche Aspekte der Klassifizierung und Grenzziehung wir in der pädagogischen Unterrichtspraxis finden können, wenn Religion und Glaube im Unterricht impliziert werden, und was die methodischen Implikationen und Grenzen der Analyse von Grenzziehungen sind.

Wie ausgeführt, geht es also um Kategorisierungen und Klassifizierungen entlang von Religion, die von Lehrern im Bildungskontext in von Migration geprägten Gesellschaften vorgenommen werden.

Religion wird zu einem Merkmal der Anderen (Attia 2015, S. 181). Die These von Attia ist es, dass Migrant*innen seit Anfang der 2000er zu Muslim*innen geworden sind und damit der Faktor Religion stärker in den Blick gerückt ist. „Die Kultur und Religion der Anderen wird in sicherheits- und ordnungspolitischen Kategorien diskutiert, Gesellschaft wird zunehmend religiös-kulturell definiert“ (ebd., S. 186). Attias Schwerpunkte sind die politischen Debatten um Integration und den Türkei-EU-Beitritt, anhand denen die Autorin die diskursiven Gegensätze „Eigene“ und „Andere“ darstellt (187ff.). Für diese Unterscheidung relevant ist dabei auch der Bezug auf die „europäische Wertegemeinschaft“ (187), auf die in den Debatten stetig Bezug genommen wird. Spielhaus (2013) kritisiert in diesem Kontext die Unschärfe der Wissensproduktion zu Muslim*innen im akademischen Feld und fokussiert in ihrer Arbeit auf gesellschaftliche Konflikte, in deren Folge sich der Blick vom „Ausländer“ auf die „Muslime“ verschoben habe (171). Karakaşoğlu (2009, 2020) hingegen untersucht die Schule als ein Feld, in dem der Islam bzw. muslimische Schüler*innen „provozieren“ und Situationen verantworten, die mit pädagogischen Maßnahmen allein nicht mehr zu bewältigen seien (83). Der Islam wird, so die Autorin, in der Institution Schule als „Fremdkörper“ markiert (ebd.: 92).

Die internationale Forschung untersucht darüber hinaus ähnliche Reaktionen auf das Verhältnis zwischen Religion und Migration in der Post-9/11-Zeit. Das Phänomen der Religion als Identitätskategorie ist kein neuer Ansatz. Aber die Rolle von Religion und insbesondere die weiter gefasste Dichotomie zwischen Orient und Okzident bzw. Islam und Christentum spielen seit den Terroranschlägen von 9/11 eine bedeutende Rolle (Spielhaus 2018), in deren Folge Muslime zum pauschalen „Anderen“ wurden. Um nur einige Beispiele zu nennen, hat sich Lebowitz (2016) mit der Islamophobie nach den Terroranschlägen in den USA befasst, von der vor allem Jugendliche betroffen sind. Bobako (2018) wiederum hat sich mit der steigenden Islamophobie und den antimuslimischen Diskursen in Polen beschäftigt.

Urbańska (2018) gibt einen Überblick über die Bedeutung von Religion in der Migrationsforschung. Im Gegensatz zu früheren Studien, die sich fast nur auf die Bedeutung religiöser Institutionen und Organisationen konzentrierten, ist der Ansatz, sich auf die Erfahrungen und religiösen Praktiken von Migrant*innen im Alltag in verschiedenen sozialen Bereichen zu konzentrieren, relativ neu in der Migrationsforschung (116). Urbańska bezieht sich vor allem auf Gender und Religion in (trans‑)migrationalen Prozessen und unterstreicht damit einen relevanten Aspekt: Die Sozialwissenschaften zeigen eine starke Skepsis gegenüber der Rolle und dem Einfluss von Religion im Alltag, auch weil, so die These der Autorin, diese in einer säkularen Tradition stehen. Ihre Annahme ist allerdings, dass Religion eine der wichtigsten Analysedimensionen ist, um die Komplexität und Ambivalenz des sozialen Wandels globaler Migration zu verstehen (113). Die Routledge-Buchreihe „Research in Religion and Education“ weist auf einen Bedarf an öffentlicher Verständigung über Religion und Bildung und deren Schnittmenge hin. Erwähnenswert in dieser Reihe ist die Publikation von Collet, die den Zusammenhang von Migration, Religion und Schule in „liberalen Demokratien“ (2017) näher beleuchtet. Er diskutiert die Rolle der Schulen, um die Integration von Migrant*innen in die Gesellschaft zu erleichtern, aus einer liberal-demokratischen Perspektive. Diese Perspektive erlaube es, religiösen Bedürfnissen durch Anerkennung und Akkommodation zu begegnen, was anhand unterschiedlicher Ansätze der vergleichenden Bildungsforschung (33) untersucht wird.

3 Methodisches Vorgehen: Die Analyse der Interviews mit Geschichtslehrkräften

Betrachtet man den Forschungsstand, fällt nun auf, dass sich die Arbeiten schwerpunktmäßig auf den Islam im Kontext von migrationsspezifischen Debatten beziehen. Wie die Analyse des Materials deutlich gezeigt hat, werden von Lehrkräften Grenzen entlang religiöser Linien, insbesondere des Islams, gezogen und die Kontroverse wird im Rahmen migrationsspezifischer Phänomene verhandelt. Dabei stehen der Islam bzw. muslimische Schüler*innen weiterhin im Zentrum, doch es spielen auch die Gegensatzpaare Aufklärung bzw. eine aufgeklärte Religiosität auf der einen und starke Religiosität auf der anderen Seite eine Rolle. Der Prozess der Klassifizierung im Schulunterricht kann am besten durch qualitative Interviews mit Lehrekräften herausgearbeitet werden, wenn diese über ihre Schüler*innen und ihre Unterrichtspraxis sprechen.

Grundlage des Artikels sind 37 Interviews mit Geschichtslehrkräften, die in offenen Leitfadeninterviews zu ihrer Unterrichtsmethode und -didaktik befragt werden. Die Interviews wurden in den Jahren 2018–2020 deutschlandweit an unterschiedlichen Schulen bzw. Schulformen durchgeführt. Im Folgenden werden nun die zwei Analyseschritte dargestellt: die Auswertung nach der Qualitativen Inhaltsanalyse und die Tiefenanalyse ausgewählter Interviewsegmente. Das Ziel der Analyse dieses Artikels ist es, die Praxis der Grenzziehung in Bezug auf Religion und Migration zu analysieren.

Der Leitfragebogen bestand aus offenen Fragen, die sich mit der Unterrichtspraxis, den Methoden, aber auch mit einer heterogenen Schülerschaft befassten. Mittels des Kodierungsprozesses konnten verschiedene Themen pädagogischer Praktiken identifiziert werden. Um die Untersuchung von Klassifizierung und Unterscheidungen durch Unterrichtspraktiken zu fokussieren, wurde die Analyse in zwei Schritten vorgenommen. Zunächst wurden das Material mittels der Qualitativen Inhaltsanalyse sortiert, es wurden Codes angelegt und diese analysiert (Kuckartz 2016). Teil der Analyse ist es, „kontextspezifische Aussagen“ (Mayring 2007, S. 5) zu verallgemeinern: „Wir versuchen Regeln zu formulieren oder Beziehungen zu beschreiben, die nur unter bestimmten Bedingungen gelten, in ähnlichen Situationen oder Zeiten, für ähnliche Personen“ (ebd.: 4). So ließen sich in einem ersten Schritt symbolische Grenzen identifizieren, die Lehrkräfte ziehen, wenn sie von ihren Erfahrungen im Klassenzimmer erzählen.

Um jedoch besser zu verstehen, wie diese Grenzen in der Unterrichtspraxis entstehen und unter welchen Umständen sie gestaltet werden, wurde in einem zweiten Schritt der Fokus auf narrative Passagen in den Interviews gelegt. In narrativen Segmenten der Interviews „erzählten“ die Lehrkräfte von ihren Erfahrungen und Unterrichtsszenarien, z. B. in der Interaktion mit Schüler*innen. Die offenen Fragen mit direkten Angeboten über Unterrichtspraktiken zu erzählen, ermöglichten individuelle Erzählungen. Die qualitativ-rekonstruktive Sozialforschung „hat dann nicht – wie es im Alltag meist der Fall ist – das im Blick, was jemand meint oder sagen will, sondern die Sinnstruktur, die seinem Handeln zugrunde liegt und es – im Sinne der sozialen Genese – hervorbringt“ (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2009, S. 34). Der Sinn ist hierbei einmal das konkrete Handeln, der Common Sense und der „objektive Sinn“ (Schütz und Luckmann 1984, S. 11–17) sowie der gesellschaftlich und sozial anerkannte Sinn, der sich in der Handlungspraxis zeigt (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2009, S. 34).Footnote 2 Narrative Prozesse sind nicht nur eine individuelle Art der Kommunikation, sondern werden auch durch die Interaktion zwischen Menschen oder zwischen individueller Geschichte und sozialen Strukturen ausgedrückt und so ist die Methode auch Zugang zu kooperativem Wissen (Toledano und Anderson 2020, S. 314).

Für die Analyse wurden zwei Einzelfälle in einem theoretischen Sampling-Verfahren ausgewählt. Theoretisches Sampling im Forschungsprozess (Glaser und Strauss 1967) bedeutet, dass nicht alle Fälle von vornherein ausgewählt werden, sondern im Forschungsprozess auf der Basis von theoretischen Kategorien vervielfältigt und ausgewählt werden. Theoriebildung entlang des Materials wird als Prozess verstanden (41) und die Auswahl der Fälle bezieht sich somit auf die Theoriebildung der gesamten Stichprobe. Das prozesshafte Vorgehen beschreibt treffend die Methode des theoretischen Samplings der Grounded Theory (Charmaz 2014, S. 103).

4 Die Verbindung aus Religion und Migration: Ergebnisse der Qualitativen Inhaltsanalyse und der Einzelfallanalyse

4.1 „… dass eine Schülerin gesagt hat, dass sie kein Schweinefleisch essen kann – das war so das Maximum eigentlich an Migrationsdimension“

Über die Qualitative Inhaltsanalyse konnten unterschiedliche thematische Felder erarbeitet werden, mit denen eine Verbindung zwischen den religions- und migrationsspezifischen Differenzierungen aufgezeigt werden kann.

So ist es zum einen die Auseinandersetzung mit dem Islam und mit muslimischen Schüler*innen, die in den Blick geraten, wie dies zuvor bereits aus der Literatur hervorging (u. a. Spielhaus 2013). Darüber hinaus ist es aber nicht nur diese Auseinandersetzung, die zum Tragen kommt. Es konnte ein zweites thematisches Feld herausgearbeitet werden, dass Religiosität von Schüler*innen per se entgegen den Werten der Aufklärung verortet, die von vielen Lehrkräften vertreten werden. So werden praktizierende Schüler*innen in den Interviews häufig als die „Anderen“Footnote 3 bezeichnet, und es zeigt sich in den Interviews deutlich, dass Lehrende an Unterscheidungsprozessen beteiligt sind. Konstruiert wird der Gegensatz zwischen einer christlich-säkularen, z. T. eurozentrischen Perspektive auf Religion (repräsentiert durch die Lehrenden) und den stark religiösen Überzeugungen und Glaubensbekenntnissen (repräsentiert durch die Schüler*innen). Am Merkmal „muslimisch“ werden von den Lehrkräften häufig Zuschreibungen vorgenommen und Unterschiede manifestiert, wobei nationale Zuschreibungen mit religiös-kulturellen sich vermischen, da als türkisch oder arabisch bezeichnete Schüler*innen dem Islam zugeordnet werden (BI31: 143, BI37: 30, BI4: 88, BI6: 169): „Und da gab es eine Gedenkminute. Und da hat sich ein türkischer, muslimischer Schüler geweigert aufzustehen.“ (BI12: 332).

Auch die folgende Aussage ist in diesem Themenfeld zu verorten. Obwohl die Lehrkraft die eigene Aussage im Anschluss revidiert oder selbst problematisiert, ist der Zusammenhang hier sehr deutlich:

Mir ist das einmal aufgefallen bei der siebten Klasse, dass eine Schülerin gesagt hat, dass sie kein Schweinefleisch essen kann. Das war so das Maximum eigentlich an Migrationsdimension, wenn man das überhaupt so nennen darf. Weil es eigentlich was Religiöses war. (BI15: 21).

Muslim*innen werden, und hier zeigt sich klar die negative Bewertung der Unterscheidung, auch als „Islamisten“, „ideologisch Verwirrte“ oder „Kopftuchmädchen“ bezeichnet (BI4: 160, BI21: 64, BI11: 331, BI31: 47, BI3: 159), wie das folgenden Zitat beispielhaft zeigt: „Wir haben auch eine relativ große Mädchenfraktion mittlerweile. Unter Kategorie „Kopftuch“ gibt es mittlerweile auch eine richtige Clique. Es sind glaub ich 5–6 Kopftuchträgerinnen.“ (BI7: 61).

In den Interviews mit den Lehrenden zeigt sich, dass sich Konflikte im Klassenraum häufig auf Kommunikationsproblemen zwischen religiösen Schüler*innen und den Lehrkräften mit einem westlich-säkularen Gesellschaftsverständnis begründen. Hannah Peaceman (2018: 165) problematisiert in diesem Zusammenhang die normativ wirkende säkular-christliche Prägung vieler deutscher Schulen, wodurch Verhandlungsspielräume für vielfältige religiöse Ausdrucksformen damit von vorneherein eingeschränkt wären.

Die befragten Lehrkräfte beobachten, dass islamisch-christliche Geschichten im Geschichtsunterricht eine zunehmend wichtige Rolle einnehmen. So drückt es diese Lehrkraft folgendermaßen aus: „Also ich denke zum Beispiel auch, Religion spielt plötzlich doch irgendwie eine Rolle. Islamischer Staat wurde dann als Bedrohung natürlich, starke Bedrohung empfunden, berechtigt natürlich.“ (BI37: 157). Auch das folgende Zitat drückt aus, dass das Thema Religion in der Schule, aber auch in Lehrwerken und Curricula präsent ist: „Dieser große Themenkomplex Religion. Das spiegelt sich […] sowohl in den Lehrplänen als auch zum Beispiel in den Lehrwerken. […] auch interkultureller Austausch und islamische Welt und, und christliche Welt.“ (BI21: 100).

Der 11. September 2001 wird, so wie es auch die Literatur bereits darlegte, von den Lehrenden als wichtige Markierung identifiziert, wonach die Rolle des Islam in Europa verstärkt in den schulischen Bick gerät wie die folgenden Interviewausschnitte zeigen:

9/11 – seitdem wird das Thema Islamismus und also im Zusammenhang mit Terrorismus und so weiter viel mehr behandelt, klar. Also da ist schon ein Wandel denke ich seitdem. Und das […] sieht man dann auch in den Kernlehrplänen, da wird in der Einführungsphase, also in der elf, dann auch Fremdverstehen unterrichtet, wo auch das Zeitalter der Gastarbeiter auch nochmal behandelt wird und wo Islam und Christentum behandelt wird, was vielleicht vor 20 Jahren nicht der Fall war in Geschichte, im Fach Geschichte. Und das aber seit 2001 denke ich. (BI26: 131)

Und dann kann man sagen, dass eigentlich so ziemlich radikal ab 9/11 dieser clash of civilizations kam, […] da tauchte der plötzlich in Schulbüchern auf. Ja, und ab dann gab es erstmals diese Orient-Okzident-Sache, die auftauchte als Gegensatz oder Islam und der Westen mit ganz vielen Begriffen, die eigentlich nicht geklärt waren, was sind die „westlichen Werte“? (BI4: 132)

Der Islam ist zu einem stärker diskutierten Thema in der Gesellschaft und damit auch in der Schule geworden. Die terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 werden verstärkt im Unterricht thematisiert, wie dies die Befragten darlegen. Die Rolle der Religion, die sich insbesondere in der Dichotomie zwischen Orient und Okzident, Islam und Christentum manifestiert, nimmt dabei einen großen Stellenwert ein.

Schulbücher thematisieren die auf den Anschlag folgenden geopolitischen Veränderungen in den Fächern Politik, Geschichte und z. T. in Geographie und Ethik, wie dies auch eine Studie des Georg-Eckert-Instituts (2011) zum Bild des Islam in europäischen Schulbüchern feststellt. Hierin heißt es, dass der Islam zeitgeschichtlich häufig in Zusammenhang mit Terrorismus verhandelt wird (ebd.: 7). In diesem Zusammenhang sieht eine Lehrkraft einen Wandel in der thematischen Ausrichtung hin zur „Begegnung mit dem Islam“ (BI4: 128):

Grundsätzlich würde ich sagen, ist Geschichte entideologisiert worden. Es hat weniger mit aktuellen politischen Auseinandersetzungen zu tun. Die Geschichte ist früher, in Form von Geschichtspolitik vereinnahmt worden, um bestimmte politische Positionen zu begründen oder zu verteidigen oder so. Und das ist eigentlich seit dem Ende des Kalten Krieges weggefallen. Fukuyama hat das Ende der Geschichte verkündet und damit gibt es keine ideologische Auseinandersetzung mehr eigentlich. Es mag sein, dass es jetzt diesen clash of civilizations gibt oder so […] dass jetzt vielleicht die Frage „Begegnung mit dem Islam“ usw. deutlich mehr vorkommt, während früher Systemvergleich an allen Ecken und Enden vorkam. (ebd.)

Indem Islam und Migration gleichgesetzt, zum Teil synonym verwendet oder auch einfach vermischt wird, kommt es zu einer (Re)Produktion des Gegensatzes zwischen „Orient“ und „Okzident“. Es gibt aber auch Lehrende, die die gesellschaftlichen Folgen des Diskurses um die „islamische Welt versus westliche Welt“ als problematische Konstruktion von „Wir gegen Die“ kritisieren.

Ich habe ein paar ältere Kollegen, mit denen ich gerade echt Schwierigkeiten habe, weil das da unfassbar in so eine Wir-Die-Haltung abdriftet und auch […] teilweise eben auch von Religionslehrern mit unterstützt [wird] sozusagen in so Diskussionen, also wo man wirklich schnell aneinandergerät. (BI25: 121 f.)

Aber 9/11 ist ja auch ein Beispiel dafür. Man könnte ja wirklich sich fragen, wie kommt es eigentlich zu diesem Zusammenstoß von westlicher und, ich sage jetzt mal, westlicher und muslimischer Kultur? Die Frage könnte man ja stellen. Aber die wird, meiner Meinung nach, nicht gestellt. Sondern es werden Feinbilder konstruiert und die Feindbilder werden gepflegt. Aber völlig unhistorisch. (BI35: 261)

Dieser hier angesprochene Wandel führt nun in der pädagogischen Praxis zu Konflikten und zum Teil auch Überforderung. Denn der Blick richtet sich hier nicht mehr nur theoretisch auf ein Unterrichtsthema, sondern konkret auf muslimische Schüler*innen selbst. So erinnert sich eine Lehrerin an die Zeit im Anschluss an den 11. September 2001:

Was ist der Unterschied zwischen Islam und Islamismus? Die Schule hat versucht da entgegenzuarbeiten, also gegen die Islamophobie zu arbeiten, weil wir ja schließlich die Leute dasitzen haben. […] Und es wurde ziemlich viel auf diese religiöse Schiene geschoben (BI4: 132).

Die Lehrerin deutet auf die Herausforderung hin, der Polarisierung angemessen zu begegnen, ohne die muslimische Schüler*innen dabei als Stellvertreter*innen für den globalen Konflikt nach dem 11. September zu machen und damit in eine Art kollektive Haftung zu nehmen.

Muslimische Schüler*innen stehen deutlich im Fokus, wenn es um die Verbindung aus Religion und Migration, so lassen sich Aspekte des Themas erkennen, die auf Religiosität im Allgemeinen verweisen.

Das folgende Beispiel zeigt einmal mehr, dass die Gläubigen die Anderen sind. So sind katholische Schüler*innen Pol*innen, Russ*innen oder Italiener*innen:

Mittelalter können Sie am besten unterrichten, wenn Sie da Polen drinsitzen haben, weil die die Bibel kennen. Also, Sie brauchen Katholiken im Klassenraum, die Lernen das auch noch zu Hause oder so, da haben Sie ganz andere Voraussetzungen. Ich bin ja aus Westdeutschland. Bei uns musste man Italiener drin haben (lacht kurz), die richtig die Bibel konnten oder Polen z. B., die solche Leute wie (Zikorski) oder (Pilsudski) oder Maria Walewska kennen, weil sie das von zu Hause erzählt bekommen. (BI4: 58)

Bei der Auswertung der Interviews wurde deutlich, dass zwischen den Schüler*innen Grenzen gezogen und Gruppen entlang ethnischer Zuordnungen unterschieden werden. Dabei wurden zwei Aspekte deutlich: Die dominante Abgrenzungslinie verläuft entlang ethnischer Zuordnungen, die jedoch – im Sinne von unscharfen und sich verschiebenden Grenzen – immer wieder mit religiösen Zuschreibungen vermischt bzw. verbunden werden. So ist es die Religiosität an sich, die auf Unverständnis stößt, aber darüberhinaus auch mit nationalen Zugehörigkeiten verbunden wird, wie dies weiter unten die zweite Fallanalyse noch einmal deutlich zeigen wird. Die Qualitative Inhaltsanalyse ermöglicht es über die Kodierung, Themen abzubilden, die auf der inhaltlichen Ebene diskutiert werden. Der Islam bzw. Muslimisch Sein wird zur Chiffre für Migration und markiert damit besonders türkische und arabische Schüler*innen. Zeitlich verorten lässt sich dieses Phänomen, zumindest den Erfahrungen der Lehrkräfte nach zu deuten, auf die Zeit nach den Anschlägen vom 11. September 2001.

Dennoch lässt sich aus den Interviews auch immer wieder die Ambivalenz des pädagogischen Handelns im Umgang mit diesem Phänomen erkennen. Diese Ambivalenz lässt sich nun genauer über die Fallanalysen herausarbeiten.

4.2 Religion als Ausgangspunkt für symbolic boundary making – „Dann ist die Stunde keine Beteiligung eben“

Nachfolgend werden zwei Fälle analysiert, indem die Praxis und Bedeutung der symbolischen Grenzziehung über narrative Passagen in den Interviews herausgestellt werden. Die beiden Fälle wurden in einem Prozess des theoretischen Samplings durch maximale und minimale Kontrastierung ausgewählt. Hier war es vor allem ihr Umgang mit religiösen Schüler*innen, der sich für einen Vergleich und eine Diskussion der Ergebnisse anbot.

Beide Lehrkräfte unterrichten Geschichte in deutschen Großstädten und arbeiten in heterogenen Klassenzusammensetzungen. Beide äußern Unsicherheiten, zuweilen sogar Unverständnis, wenn es um Bedürfnisse und Positionen gläubiger Schüler*innen geht. Ihre Herangehensweise ist unterschiedlich, aber in beiden Fällen gerät Religion zu einem Konfliktthema und implizit zu einem Symbol für die Anderen. Beide Lehrkräfte sehen sich selbst als engagierte in ihrem Beruf.

Für die Analyse werden Interviewsegmente aus Erzählungen über konflikthafte Begegnungen herangezogen. Auf diese Begegnungen folgen pädagogische Strategien zur Lösung des Konflikts, die zu impliziten Verstärkungen von Klassifizierungen und Kategorisierungen führen.

Der erste Fall

Frau Amsel ist Geschichts- und Ethiklehrerin in einer deutschen Großstadt. Sie selbst ist in einem arabischen Land aufgewachsen, hat mit ihrer Familie in verschiedenen europäischen Ländern gelebt und ist schließlich nach Deutschland migriert, woher eines ihrer Elternteile kommt. Sie positioniert sich als gläubige Christin und hat u. a. Islamwissenschaften studiert.

Der zweite Fall

Frau Specht ist Geschichtslehrerin. Sie unterrichtet ebenfalls in einer deutschen Großstadt mit einer großen migrantischen Einwohner*inneschaft. Sie engagiert sich in erinnerungskulturellen Aktivitäten in ihrer Region und bietet viele außerschulische Aktivitäten für die Schüler*innen an. Sie steht kurz vor der Pensionierung. Sie positioniert sich nicht als religiös oder hat – dem Interview nach zu urteilen – eine Familiengeschichte, die von Migration geprägt ist.

4.3 Fall Eins

Frau Amsel bietet in der Oberstufe einen Kurs zum Thema „Geschichte der Türkei“ an, der über ein Schuljahr lang stattfindet. Sie unterrichtet an einer Schule mit einem hohen Anteil an Schüler*innen mit Familien, die aus der Türkei oder arabischen Ländern nach Deutschland eingewandert sind. Die Lehrerin hat ursprünglich Islamwissenschaft und Geschichte studiert und gibt an, ihre „erste Liebe“ (BI31: 3) sei die Islamwissenschaft. Diese Aussage ist ihrer Erzählung vorangestellt, wodurch sie auf ihre Kenntnisse über den Islam hinweist. Sie spricht zudem fließend Arabisch.

Frau Amsels Erzählungen über ihren Unterricht stehen alle in dem übergeordneten narrativen Kontext ihres Interviews, dass sie einen sehr großen Anteil an Schüler*innen mit Migrationsgeschichte unterrichtet, für die Religion bzw. der Islam ein sehr wichtiges Thema ist.

Die Erzählung über den Kurs bezieht sich auf zwei Ereignisse, bei denen sie mit der Herausforderung konfrontiert wird, nicht genau zu wissen, wie sie mit der Situation im Unterricht umgehen soll. Frau Amsel beginnt ihre Erzählung über „eine schwierige Situation vor allem in Bezug auf das Thema Islam“ (BI3: 37). Anhand der Darstellungen der Odaliske im westlichen Orientalismus des 19. JahrhundertsFootnote 4 wollte sie, dass die Klasse diskutiert, ob das Bild des Harems realistisch ist und wie sich die Bilder im Vergleich zur Beschreibung im Koran unterscheiden. Ihr Ziel war es, die Geschichte der Türkei im Spannungsfeld zwischen islamischer Kultur und der westlichen, europäischen „Welt“ zu vermitteln, um ein Verständnis für die Rolle der Türkei in der heutigen Europäischen Union zu schaffen. Sie sieht sich mit einer unerwarteten Reaktion ihrer Schüler konfrontiert: „Und auf einmal drehen sich vier Schüler um und weigern sich dahin zu gucken. Und das waren natürlich meine Pappenheimer, das waren sehr stark fromme Schüler.“ (BI31: 41).

In der Erzählung der Lehrerin sind verschiedene Formen der Grenzziehung angedeutet. Schüler, die in ihrem Unterricht Ärger machen, sind die „stark frommen Schüler“. Denn obwohl viele Schüler*innen den Kurs besuchen, deren Eltern aus der Türkei kommen, sind nicht alle von ihnen religiös. Einerseits wird eine klare Linie zwischen ihr und den besonders religiösen, nicht-christlichen Schülern aufgezeigt, und gleichzeitig wird mit der Betonung „das waren natürlich meine Pappenheimer“ eine Verbindung zwischen ihr und den Schülern explizit gemacht. Gerade der zweite Aspekt eröffnet einen Raum für die pädagogische Arbeit, in dem ein professionelles Verhältnis zwischen Schüler*innen und Lehrkräften betont wird. Ihre pädagogische Praxis wird im folgenden Teil der Erzählung deutlich:

Und da war ich natürlich ziemlich hilflos und hab gedacht was machst du jetzt. Und dann habe ich die Schüler gefragt, warum sie sich umdrehen und der eine, der immer so ein bisschen das Sprachrohr da (lacht) der Konservativen war, der hat gesagt, also er würde sich das nicht angucken nackte Frauen, das wäre unanständig […] Und dann habe ich gesagt, weißt du das versteh ich nicht so ganz, weil sobald du hier aus der Schule heraustrittst, springen dir an jeder Ecke Bilder von nackten Frauen entgegen […] Werbung, Facebook […], die weitaus obszöner sind und weitaus sexuell aufgeladener als das Bild was ich dir jetzt hier zeige. (BI31: 41–43)

Ein Konflikt stellt sich nun dar: die Ablehnung des Schülers aus religiösen Gründen, wie die Lehrerin es interpretiert. Frau Amsel versucht nun, mit diesem Konflikt rational umzugehen und kontrastiert das Bild der Odaliske mit Bildern und Darstellungen in sozialen Medien und in der Werbung. Der Konflikt zwischen der religiösen Überzeugung und ihrer rationalen Argumentation offenbart die Grenze und das Unverständnis der Lehrkraft. Ihr pädagogisches Handeln ist an dieser Stelle der Versuch einer rationalen Erklärung und einer Überzeugung über den Vergleich. Es geling ihr nicht, die Situation aufzulösen.

Also sage ich, weißt du, das kann ich mir irgendwie nicht vorstellen, dass das jetzt da der wirkliche Grund ist. Und es war einfach, er wollte einfach den Punkt markieren, er wollte mir klarmachen das ist jetzt für ihn sozusagen moralisch verwerflich. Und ob das jetzt so ist oder nicht war dahingestellt. (BI31: 43)

Dass es zu einem Konflikt kommt, ist nicht das eigentliche Problem, sondern dass er in einem pädagogischen Setting nicht auf Augenhöhe gelöst werden kann, zeigt die Grenze der Institution, die sie vertritt, und der Werte, die sie lehrt: Religion wird an dieser Stelle nicht ernst genommen, stattdessen wird den Schülern nicht geglaubt und unterstellt, dass sie nur „ein Zeichen setzen wollten“ – also den Unterricht absichtlich gestört haben. In der Coda dieser Erzählung wird durch die Auflösung der Situation deutlich, worauf es der Lehrerin ankommt und wie sich eine hierarchische, pädagogische Abgrenzung manifestiert:

Das war natürlich dann ganz, ganz schwierig, also ich hab dann meine Stunde gemacht […] und hab gesagt, okay, dann drehst du dich eben um und ist diese Stunde keine Beteiligung heißt dann einfach Sechs, also wenn du da nicht mitmachst, dann ist für diese Stunde die Beteiligung eben, ja, das würde er in Kauf nehmen, dann sag ich, dann ist ja gut, dann sind wir uns ja einig. (BI31, 43)

Frau Amsel gibt zu, dass diese Situation für sie in dieser speziellen Unterrichtsstunde schwierig ist, gerade auf diese konfrontative Art des religiösen Ausdrucks von Schüler*innen einzugehen. Das Mittel, um ihre Hilflosigkeit zu überwinden, ist jedoch die Disziplinierung durch die Vergabe der Note ungenügend. Mit dem abschließenden Urteil, dass Schüler und Lehrerin sich einig sind, wird ihre Machtposition als Lehrerin manifest, denn sie definiert den Ausgang des Konflikts. Die pädagogische Grenze wird im Verlauf des Konflikts durch disziplinierende Maßnahmen zum Ausdruck von Autorität. Das oben erwähnte Unverständnis zwischen religiösen Überzeugungen auf der einen und rationalen Argumenten auf der anderen Seite ist der Grund für ihre autoritäre Praxis. Die anfangs scheinbar klare Grenze entlang von Religion durch die Lehrerin wird in eine hierarchische, wissensbasierte Abgrenzung übersetzt, indem sie versucht, den Konflikt mit rationalen Argumenten zu lösen. Dieser Ansatz scheiterte insofern, als dass sie die Schüler vermutlich nicht erreicht. Um die eigene Position im pädagogischen Raum dennoch aufrecht zu erhalten, machte Frau Amsel deutlich, wer letztlich entscheidet.

Im Verlauf der Erzählung erlebt sie eine zweite herausfordernde Situation in ihrer Klasse, in der die Interaktion zwischen Lehrerin und Schülerin damit beginnt, dass Frau Specht „sprachlos“ ist. Wieder verweigern Schüler*innen ihre Aufgabe: Sie wollen nicht die von ihr als Hausaufgabe aufgegebenen Koranabschnitte lesen. Stattdessen behaupten sie, dass die Version des Korans, die Frau Amsel der Klasse angeboten hat, nicht korrekt ist.

Ja, war ich erstmal ein bisschen sprachlos und damit habe ich natürlich nicht gerechnet und gesagt was hast du denn für einen Koran zu Hause in türkischer Übersetzung? Habe ich gesagt, weißt du was, wir machen Folgendes, du bringst die türkische Übersetzung mit und ich bring die arabische mit. Und dann lesen wir gemeinsam und ich kann nämlich Arabisch und dann gucken wir mal, ob die deutsche Übersetzung, die ich dir gebracht hab, die übrigens eine wissenschaftliche Übersetzung ist […] dann gucken wir mal welche richtiger ist, die türkische oder die deutsche. (BI31: 45)

Die pädagogische Lehr-Lern-Routine wird durch die Verweigerung der Schülerin unterbrochen. Die Orientierung der Schülerin wird in Bezug auf die wissenschaftlichen Kriterien der deutschen Übersetzung nicht ernst genommen. Dieses Beispiel ist ähnlich wie die oben beschriebene Situation: Frau Amsel versucht, religiöse Grenzen in Fragen der wissenschaftlichen Korrektheit umzudeuten. Auch hier wird ihre pädagogische Praxis deutlich. Sie ist sich der Machtverhältnisse und der „Deutungshoheiten“ sehr bewusst und reflektiert diese in Form einer Bewertung ihres eigenen Handelns.

Das ist natürlich auch das ganz große Problem für viele muslimische Kinder, die sehr stark, die fromm sind. Die stehen mir gegenüber und ich enteigne sie sozusagen in gewisser Weise, in meiner Person. […] Viele Mädchen auch mit Kopftuch und so weiter, für die das ja sehr schwer ist. Die stehen mit diesem Kopftuch für diese fromme islamische Identität und da kommt da so eine wie ich dahin und weiß viel mehr als sie wissen über das was sie eigentlich als ihr Eigenes betrachten. […] Es geht um Deutungshoheiten und es geht auch darum, dass sie sozusagen, sie können nicht deuten, weil sie einfach nicht die ganzen Elemente haben, sie meinen aber, dass sie deuten können. Und wenn die aber merken, dass ihnen ganz viel fehlt, also anhand von Wissen mit dem sie arbeiten könnten um zu deuten, ja, dann kommen sie in ganz große Bedrängnis. (BI31, 47–49)

Frau Amsel ist in der Lage, die Machtverhältnisse in ihrem Klassenzimmer zu benennen. Außerdem ist sie in der Lage, ihre eigene Rolle als Lehrerin zu reflektieren, die das Narrativ des Schülers dekonstruiert. Diese Fähigkeit wird jedoch in der pädagogischen Konsequenz durch das Aufzeigen klarer Grenzen dargestellt, die didaktisch mit den in der Schule wichtigen Kompetenzen begründet werden. Um schulische Inhalte interpretieren zu können, benötigen die Schüler zunächst inhaltsbezogene Standards oder Deutungswissen und -kompetenzen, wie sie es ausdrückt, um die gestellten Aufgaben zu verstehen. Die Lehrerin interpretiert die Situation richtig, indem sie die Schwierigkeit darstellt, die sich aus der religiösen Selbstbehauptung und den inhaltsbezogenen Unterrichtsanforderungen ergibt. Die symbolische Grenze zwischen Lehrerin und Schüler besteht in diesem Widerspruch und in der Hierarchie zwischen pädagogischem Wissen und Ansprüchen einerseits und individueller, religiöser Selbstbehauptung andererseits. Der an dieser Grenze entstehende Konflikt wird metaphorisch ausgedrückt: „also diese fünf Mädchen: das war Krieg.“ (BI31, 49) Gelöst wird die Situation nach wie vor durch eine klare Grenzziehung, wobei das Machtverhältnis zwischen Lehrerin und Schüler*innen top-down entschieden wird: Da die Schüler*innen im Unterricht nicht kooperativ waren und ihre Feindseligkeit gegenüber der Lehrerin offen gezeigt haben (sie haben einen „Krieg“ angefangen), droht sie ihren Schülerinnen, sie nicht mit dem Kurs auf eine Auslandsreise mitzunehmen. Nur weil sie betteln, weinen und geloben, sich besser zu benehmen, dürfen sie schließlich mitfahren. Die Lösung ist Autorität, indem sie den Schüler*innen droht und für ihre Unkooperativität bestraft, was eine pädagogische Methode sein kann.

Im Falle der Lehrkraft Amsel zeigen sich deutlich Ambivalenzen und Widersprüche zwischen Überzeugungen, Wissen und pädagogischer Ordnung. Sie hat selbst eine Migrationsgeschichte und kennt die Sprache und den arabischen Raum sehr gut. Sie thematisiert im Interview die Islamfeindschaft anderer Lehrkräfte und die Diskriminierung, die gerade junge Frauen mit Kopftuch erfahren. Sie selbst hat einen wissenschaftlichen Zugang zum Islam und hat den Koran interpretiert und macht, wie sie selbst sagt „keinen Katechismus“ (BI31: 49) mit den Schüler*innen.

4.4 Fall Zwei

Der zweite Fall ist eine erfahrene Geschichtslehrerin, Frau Specht. Sie ist sehr aktiv in der Erinnerungskultur und macht viel außerschulische Arbeit mit ihren Schülern. Frau Sprecht erzählt von einer „sehr, sehr schwierigen Klasse“, mit der sie eine Exkursion machte und sich ein berühmtes Mosaikfenster in einer Kirche ansehen wollte. Ein muslimischer Schüler weigerte sich aus religiösen Gründen, die Kirche zu betreten. Der Konflikt setzte sich in der Klasse fort:

Habe ich dann halt versucht, ihn zu überzeugen, dass er sich das anguckt. Wollte er nicht und dann habe ich das Thema den Tag darauf nochmal in den Unterricht eingebracht und es war also erschreckend, dass ich da angegangen worden bin von mehreren Jugendlichen, ich sei intolerant. Ich müsse das akzeptieren, dass er nicht in die Kirche rein will. Und ich habe dann argumentiert „Ich erwarte aber von jemandem, der hier in diesem Land lebt, dass er bereit ist, sich mit der Kultur dieses Landes auseinanderzusetzen.“ Also da würde ich sagen, da ist so eine Stunde ein Versuch der Klärung in die Hose gegangen, weil diese Klasse sehr schwierig war (BI20: 25).

Auch hier steht die religiöse Selbstbehauptung im Gegensatz zur pädagogischen Unterrichtsplanung. Der religiöse Glaube des Schülers wird nicht ernst genommen und da die Klasse ihn verteidigt, wird sie als „schwierig“ beschrieben. Interessanterweise ist die von Frau Sprecht rekapitulierte Argumentation gegenüber den Schüler*innen nicht nur eine symbolische Abgrenzung zwischen christlich und muslimisch (bzw. religiös vs. säkular), sondern könnte auch national gelesen werden: Wer hier lebt, soll sich auf die Kultur einlassen, zu der auch die Mosaikfenster in einer Kirche gehören. Diese Argumentation setzt ungewollt eine homogene nationale Gruppe voraus, die die gleichen Vorstellungen über z. B. Kultur und Religion teilt. Dem Schüler, der sich weigert, die Kirche zu besuchen, wird damit indirekt der Zugang zur nationalen Gruppe verwehrt. Vielmehr möchte sie die universalistische Idee des kulturellen Erbes trotz religiöser Zugehörigkeit betonen und ist überzeugt, dass man voneinander lernen muss. Doch in dieser Situation scheinen die Schüler*innen sie falsch zu verstehen, die ihr stattdessen vorwerfen, sie sei nicht fair und müsse seine Religion respektieren. In dieser rekapitulierten Interaktion zu sagen, dass sie von Migrant*innen erwartet, sich auf die Kultur des Gastlandes einzulassen, führt indirekt zu einer Klassifizierung der Schüler*innen in Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit, die entlang religiöser Linien verläuft. Anstatt den Glauben ihrer Schüler*innen zu akzeptieren, wie es die Klasse von ihr forderte, wird der Konflikt auf eine Ebene von Ethnizität, Zugehörigkeit und Migration gehoben. An dieser Stelle dominieren offensichtlich gesellschaftliche Debatten darüber, wer dazugehört und was einen Deutschen ausmacht. Sie konnte sich nicht durchsetzen und ihre Schüler anders überzeugen. Schließlich wird auch in diesem Fall die Grenzziehung durch Disziplinierung vollzogen: Weil dieselbe „schwierige Klasse“ später einen Test verweigert, gibt die Lehrerin allen eine Sechs. Sogar ihre Kollegen bitten sie, die Strafe zurückzunehmen, aber sie will ein Exempel statuieren, auch weil die Klassen bereits zuvor „schwierig“ im Umgang mit der Situation in der Kirche war.

Auch im Falle von Frau Specht ist eine Ambivalenz ihrer pädagogischen Praxis zwischen der von ihr als sehr schwierig bezeichneten Situation einerseits und ihren generellen Überzeugungen in Bezug auf Heterogenität andererseits sehr deutlich. Sie praktiziert sehr klar den Dialog und das gemeinsame Lernen und kritisiert die Einseitigkeit der Berichterstattung in Bezug auf muslimischen Antisemitismus:

Und dann hat er am Anfang gesagt, dass das Problem ist, den Muslimen, die praktisch den Antisemitismus mit der Muttermilch aufgesogen haben. Und da hätte ich ihn am liebsten geschüttelt, weil das der Dreh- und Angelpunkt ist. Wir müssen rauskommen aus dieser Frontbildung (BI20: 101)

In beiden Fällen – Frau Amsel und Frau Specht – wird die Erzählung als ein Lern- und Erziehungsprozess dargestellt, in dem die Lehrerin kurzzeitig die Kontrolle über die Situation verliert, aber durch die Disziplinierung als pädagogische Option – schlechte Noten oder Ausschluss aus einem Kurs – letztlich ihre Machtposition manifestiert und damit die Situation auflöst.

Einer Herausforderung, der sich beide Lehrer stellen müssen, ist der Widerstand der Schüler. Dieser Herausforderung zu begegnen bedeutet, ihr pädagogisches Wissen zu mobilisieren, die eigene Rolle zu reflektieren und einen Dialog mit den Schülern zu ermöglichen. Gleichzeitig werden die symbolischen Grenzen im Klassenzimmer zwischen Lehrerinnen und Schüler*innen durch Disziplinierung und Bestrafung klar gezogen. Letztlich ist der Auslöser des Konflikts die Erzählung von religiös-ethnischen Grenzen, die im Klassenzimmer pädagogisch ausgehandelt werden. Schwierigkeiten der gegenseitigen Verständigung führten zu disziplinierenden Formen der pädagogischen Arbeit.

Dennoch zeigen beide sehr klar Ambivalenzen zwischen ihren grundsätzlichen Einstellungen und ihrer pädagogischen Praxis, die von Autorität und Wissenshierarchien gezeichnet sind.

4.5 Exkurs: „Ich hab nicht versucht zu manipulieren mit meinen Weltbürgergedanken“

In Kontrast zu dem Erlebnis von Frau Specht steht die folgende Sequenz aus einem Interview mit dem Lehrer Rabe. Seine Eltern sind nach Deutschland migriert und er wird von seinen Schüler*innen gelegentlich auch als Muslim adressiert, insbesondere in konflikthaften Situation. Er selbst jedoch bezieht sich immer wieder auf seine Position als „Weltbürger“ und weicht der Rolle als „muslimischer Migrant“ im Interview des Öfteren aus. Der Kontrast bietet sich an, da auch Herr Rabe den Besuch einer Kirche im Unterricht unternimmt und vor einer ähnlichen Situation steht. Die folgende kurze Narration dreht sich um diesen Kirchenbesuch, an dem auch muslimische Schüler*innen teilnehmen:

Ich habe die nicht versucht zu manipulieren mit meinem Weltbürger-Gedanken, sondern diesen gegenseitigen Respekt über das Menschsein aufzubauen. Auch bei den Asyljugendlichen. Also wir haben zum Beispiel so ein Projekt gehabt, nach [Stadt] zu fahren und dort kulturelle Einrichtungen […] zu besichtigen. Die [Name] Kirche in [Stadt] zum Beispiel und da war ein Moment, wirklich ein Schlüsselerlebnis auch für mich, als Schüler gesagt haben: „Dürfen wir da rein überhaupt?“ Also die waren sehr reserviert, in eine Kirche reinzugehen, also afghanische Schüler, zum Beispiel, auch persische Schüler waren dabei. Und die waren sehr, sehr vorsichtig und sehr ängstlich, ne? Und bis ich dann auch gesagt habe: „Nein, das geht, wir gehen das jetzt rein, schauen uns die Bilder an, schauen uns die Skulpturen an.“ Und ich habe auch Fotos geschossen und dann haben wir dies im Unterricht zum Beispiel auch nochmal aufbereitet, wann wurde das Gebäude gebaut und so weiter, ne? Und insofern ist Migration auch wichtig, um wieder Vorurteile, Voreingenommenheiten, Ängste und solche Dinge abzubauen. Und auch sozusagen so zu vergleichen auch ein bisschen, ne? „Wie ist es bei Dir, wie ist es hier?“ Und gibt es da einen Konsens? Oder kann man Verständnis und Empathie entwickeln? Und einfach Ängste abbauen. (BI37: 55)

Zuerst fällt auf, dass Herr Rabe die eigene Überzeugung aus der pädagogischen Situation heraushält. Die Schüler*innen müssen nicht verstehen, was seine Einstellung zu Humanismus und Weltbürgerschaft ist. Stattdessen ist er empathisch, in dem den Schüler*innen nicht religiöse Provokation oder ein Unverständnis unterstellt wird, sondern er bezeichnet sie als „vorsichtig und ängstlich“. Er interpretiert den Kirchenbesuch ähnlich einem Lehrstück für Migration im Unterricht, dem er nur Positives abgewinnen kann. Der Vergleich zum Fall Specht lässt sich nicht gänzlich ziehen, da zum einen an dieser Stelle nicht klar ist, wie die Verhältnisse zwischen Lehrkraft und Klasse schon vor dem Ereignis in beiden Fällen waren. Insbesondere ist ein Vergleich auch schwierig, da Herr Rabe von den Schüler*innen als „türkischer Lehrer“ und auch als Muslim gesehen wird, auch wenn er selbst diese Zuschreibungen nicht verwendet. Natürlich hat er in dieser Situation eine andere Überzeugungskraft für die Schüler*innen. Dennoch zeigt er grundsätzlich Verständnis für „Ängste“, „Reserviertheit“ und „Vorsicht“ migrantischer Jugendlicher gegenüber deutschen „Kulturgütern“.

5 Grenzziehungen zwischen pädagogischer Ordnung und individuellem Wissen

Die empirische Analyse zeigt, dass der Umgang mit Migration im Klassenzimmer oft mit einer Überforderung des Lehrpersonals einhergeht, wenn unterschiedliche Zugehörigkeitsordnungen, z. B. nationale und religiöse Identität von Schüler*innen mit Migrationsbiographie zum Ausdruck kommen. Die Konflikte rufen zunächst pädagogische Praktiken, aber auch Unsicherheiten bei den Lehrkräften hervor. Die Rolle professioneller Pädagog*innen, die versuchen, eine Beziehung des Vertrauens und der Gleichberechtigung zu schaffen, und die pädagogische Praxis des methodischen und didaktischen Wissens und dessen Anwendung zur Lösung des Konflikts sind die eine Seite. Aber das Verschwinden der Autorität auf der anderen Seite führt zu einem Rückgriff auf Kategorien der Klassifizierung, die den symbolischen Prozess der Grenzziehung ausmachen. Es wurde deutlich, dass dieser Prozess in pädagogischen Settings auf einem komplexen Verhältnis zwischen institutionellen Ordnungen – wie Lehrkräfteausbildung und Schulcurricula –, individuellem Wissen – wie der eigenen Migrationsbiographie oder politischen und sozialen Überzeugungen – und der sozialen Beziehung zwischen Lehrkräften und Schüler*innen beruht.

Beide Fälle zeigen, wie professionelles, hier pädagogisches, Handeln durch Kontroversen in Schüler*in-Lehrkraft-Interaktionen und durch die Verweigerung der Schüler*innen, die gestellte Aufgabe anzunehmen, herausgefordert wird. Die Mehrdeutigkeit und parallele Entwicklung von Grenzziehungen – durch die Klassifizierung des Anderen als muslimischer Schüler – und deren Überschreitung – durch den Versuch, den Konflikt mit pädagogischen Handlungen und Argumenten zu lösen – wurde bei der Analyse der Fälle deutlich und unterstrich die Komplexität symbolischer Grenzziehungen. Unterschiedliche Ebenen von pädagogischem Wissen, persönlicher Überzeugung und Erfahrungen wurden deutlich. In den Interviews mit den Lehrern wurden komplexe Verhandlungen und Interaktionen geschildert, deren Handeln zum Teil von ihren persönlichen Erfahrungen und Überzeugungen und zum Teil vom institutionellen Rahmen der Lehrkräfteausbildung und den Erwartungen beeinflusst wird. Es ist auch der institutionelle und professionelle Rahmen, in dem Lehrkräfte arbeiten und in dem sie ausgebildet werden, ihre Schüler*innen explizit zu klassifizieren, z. B. entlang ihres sozialen Status oder ihrer Migrationserfahrungen. Daher traten verschiedene Faktoren in den Vordergrund, die das Zusammenspiel der unterschiedlichen Aspekte der Grenzziehung beeinflussen.

In beiden Fällen ist eine Lücke zwischen pädagogischem Wissen und dessen Umsetzung in die Praxis offensichtlich. In den narrativen Passagen über die Unterrichtspraxis werden die vermeintlich klaren religiösen Grenzen von den Lehrerinnen in pädagogische, wissensbezogene Grenzen übersetzt. Gleichzeitig wandeln die Lehrerinnen aber das pädagogische Wissen in eine hierarchische, autoritative Macht, wenn der Versuch, die Situation rational zu lösen, nicht funktioniert.

Die Analyse zeigt also, dass Lehrkräfte in der Praxis durchaus versuchen, ethnische oder religiöse Grenzen in ihrem pädagogischen Handeln durch Umdeutung zu durchbrechen.

Aber es gibt ja auch die Reproduktion institutioneller Grenzen, z. B. in der Lehrkräfteausbildung, wo sie sich über einen langen Zeitraum, zusammen mit institutionellen Praktiken entwickelt haben (Jahreie und Ottesen 2010, S. 216).

Ein weiterer entscheidender Aspekt, der das Zusammenspiel von Grenzen zeigt, ist, dass nicht nur Hinweise auf die Herkunft durch die Kontroversen entlang der Religion gemacht werden, sondern auch Verweise auf Klassenzugehörigkeit und akademische Leistung Teil des Grenzbildungsprozesses in den Interviews sind. Die Kombination verschiedener Formen symbolischer und sozialer Grenzziehungen zeigt die verflochtenen Zusammenhänge in ihren Handlungsschemata. Verschiedene Kategorien, die die Grenzziehung im Klassenzimmer beeinflussen, sind miteinander verwoben: „while deeply marked by political and public discourses, their everyday usage by teachers is anchored in the structures of educational practice. These potentially detrimental forms of categorization and problematization disproportionally affect migrant students.“ (Horvath 2018, S. 237).

Aus diesem Grund müssen sowohl politische und öffentliche Diskurse als auch die individuellen, auch biografischen Diskurse Teil der Analyse dessen sein, was Horvath die „kognitiven Ressourcen“ nennt, auf die Lehrkräfte zurückgreifen (239). Es ist möglich, politische und diskursive Einflüsse durch eine Inhaltsanalyse der Interviews nachzuzeichnen, aber die autobiographischen Einflüsse auf die Ressourcen der Lehrkräfte, die ebenso als Teil ihres Wissens mobilisiert werden, können nur durch eine rekonstruktive, interpretative Analyse des qualitativen Materials vorgenommen werden.

Letztlich zeigt der Exkurs über Herrn Rabe aber auch, dass Lehrkräfte grundsätzlich nicht von ihren Möglichkeiten und von ihrer Verantwortung entbunden sein sollten, zu reflektiert und sich kritisch zu verhalten im Kontext migrations- bzw. religionsspezifischer Herausforderungen (Karakaşoğlu 2020, S. 96). Aus diesem Grund unterstützt die Autorin dieses Beitrags die Empfehlung Karakaşoğlus, Lehrkräfte vielmehr in religionsspezifischen Aspekten und Themen zu bilden, um die „religious literacy“ (ebd.) zu stärken.