1 Einleitung – Antisemitismus, ein beständiges und aktuelles gesellschaftliches Phänomen

Unabhängig von der Frage, ob es sich um einen „alten“ oder „neuen“ Antisemitismus handelt, ist Antisemitismus auch heute noch in der deutschen Gesellschaft verwurzelt (Blume 2019; Heilbronn et al. 2019; Lipstadt 2019; Neuberger 2020). Dies wurde spätestens mit dem antisemitischen Anschlag auf die in der Synagoge in Halle zu Yom Kippur versammelten Betenden auch für eine breitere Öffentlichkeit in dramatischer Weise sichtbar. Dabei repräsentieren beileibe nicht allein terroristische Gewaltakte die Existenz des Antisemitismus. Gerade der alltägliche Antisemitismus und die Erfahrung von antisemitischer Diskriminierung von Jüd:innen in Deutschland weisen auf die breite und tiefe Verankerung des antisemitischen Ressentiments in der Gesellschaft hin. Allerdings, so zeigt die Forschung seit einigen Jahren, ist dieses Wissen zwar unter Betroffenen weit verbreitet, in der weiteren Politik und Gesellschaft jedoch nicht. Dieses Missverhältnis wurde auch in den Reaktionen auf den oben benannten Anschlag erkennbar: In der Mehrheitsgesellschaft zeigten sich viele überrascht, dass ein Terrorakt wie in Halle im Oktober 2019 in Deutschland überhaupt noch möglich sei. Mitglieder der jüdischen Community wiesen dagegen darauf hin, dass aus den jüdischen Communities immer wieder vor dieser Gefahr gewarnt worden sei.

Die beschriebene Divergenz zwischen mehrheitsgesellschaftlicher und jüdischer Perspektive bildet sich in der Diskrepanz zwischen repräsentativen Bevölkerungsumfragen und statistischen Erhebungen innerhalb der jüdischen Bevölkerung ab. So ist bundesweit eine relativ geringe Zustimmung zu antisemitischen Aussagen, die tradiert stereotype Darstellungen enthalten, zu konstatieren und seit den 2000er Jahren wird grosso modo eine Verringerung der Zustimmungsraten verzeichnet (Decker et al. 2016, 2018, 2020; Zick et al. 2017, 2019, 2020; Zick und Küpper 2021). Gleichzeitig geben 85 % der befragten 16.300 Jüd:innen aus 13 EU-Ländern in einer Studie der europäischen Grundrechtsagentur (European Union Agency for Fundamental Rights 2018, 2019) an, Antisemitismus sei ein drängendes Problem an dem Ort, an dem sie leben. Zudem hat in ihren Augen der Antisemitismus in den letzten fünf Jahren in ihren Augen wieder zugenommen. In derselben Studie gaben 52 % der mehr als 1000 Befragten und in der Bundesrepublik lebenden Jüd:innen an, in den letzten fünf Jahren antisemitische Übergriffe oder Bedrohungen erlebt zu haben (European Union Agency for fundamental Rights/FRA 2018, S. 15)Footnote 1. So stellt sich möglicherweise gegenwärtig die ältere Frage nach einem Antisemitismus ohne Antisemit:innen erneut und vermutlich in qualitativ neuer Art und Weise (Marin 1979, S. 546).

Nun ist es eine in der Sozialpsychologie prominente und in Politik und Öffentlichkeit verbreitete Annahme, dass Vorurteile, Stereotype und Ressentiments in pluraler werdenden Gesellschaften an Bedeutung verlieren, kommt es doch zu mehr Kontakten und (positiven) Erfahrungen in heterogenen Lebenswelten (z. B. auch Foroutan et al. 2018; Pettigrew 1998). Und angesichts einer vitalen demokratischen Zivilgesellschaft ließe sich erwarten, dass die Räume für das Ausagieren antisemitischer Ressentiments eingeengt werden. Die aufgeführte Wahrnehmung, dass Antisemitismus in den letzten fünf Jahren zu einem drängenderen Problem geworden ist, lässt allerdings Skepsis an dieser Annahme aufkommen. Entsprechend wollen wir im Folgenden exemplarisch die Annahme einer Abnahme eines manifesten wie latenten Antisemitismus in einer sich heterogen entwickelnden Stadtgesellschaft am Beispiel der Berliner Stadtbevölkerung untersuchen. Berlin weist eine große ethnische, religiöse und soziale Heterogenität sowie eine breite und aktive demokratische Zivilgesellschaft auf und kann als Paradefall bzw. representative oder sogar crucial case (Muno 2009, S. 117; Pickel et al. 2019, 2020a) für eine moderne Stadtgesellschaft angesehen werden. Zudem lebt in Berlin eine im bundesweiten Vergleich heterogene jüdische Bevölkerung, die aktiver Teil der Zivilgesellschaft ist und eine Reihe von in Berlin angesiedelten Institutionen sprechen Antisemitismus öffentlich kritisch an. Wie weit- und tiefreichend die zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung mit Antisemitismus insgesamt ist und inwieweit dies Antisemitismus „erfolgreich“ entgegenwirkt, bleibt indes offen. Entsprechend erscheint uns Berlin als ein guter Testfall für die Untersuchung latenter, und verdeckter Formen des Antisemitismus in einer spätmodernen, heterogenen Stadtgesellschaft.

Diese Überlegungen führen uns in diesem Beitrag zu folgenden Fragen:

  1. 1.

    Welche Formen von antisemitischen Ressentiments finden sich in Berlin in welchem Umfang?

  2. 2.

    Unterscheidet sich die heterogene Stadtgesellschaft Berlin diesbezüglich maßgeblich vom Bundesgebiet?

  3. 3.

    Wie nehmen Jüd:innen Antisemitismus in Berlin im Alltag wahr?

  4. 4.

    Wie ist den Existenzweisen von Antisemitismus in Berlin zu begegnen?

Unsere Thesen sind: (1) Aktuell findet sich ein, oft latenter Antisemitismus in Teilen der deutschen Gesellschaft; somit sind antisemitische Ressentiments auch in der pluralen Stadtgesellschaft Berlins existent – allerdings in geringerem Ausmaß als im Bundesgebiet. (2) Zentrale erklärende Faktoren sind das Vorhandensein von Verschwörungsmentalitäten, die Nähe zu rechtsnationalen Positionen und Vorstellungen sozialer Dominanz. (3) Aus Betroffenenperspektive werden massive, antisemitismusbezogene Problemlagen deutlich. Dabei erweist sich auch das Verhalten von Menschen, die sich im Rahmen von Einstellungserhebungen voraussichtlich nicht antisemitisch äußern, für die Erfahrung von Antisemitismus, dessen Folgen sowie Umgangsweisen mit Antisemitismus als relevant. (4) Zur effektiveren Minimierung des (teils latent) bestehenden Antisemitismus bedarf es neben einer gezielten kritischen Auseinandersetzung mit (teils latenten) Ressentiments und unterschiedlichen Formen ihres Ausagierens auch des Auf- und Ausbaus solidarischer Beziehungen.

Zur Beantwortung der Fragen und Begründung der Thesen nutzen wir in diesem Beitrag Anfang 2019 erhobene, repräsentative Befragungsdaten des Berlin-Monitors 2019 (Pickel et al. 2019), sowie Ergebnisse der aktivierenden Befragung unter Jüd:innen und der Berliner Zivilgesellschaft (Reimer-Gordinskaya und Tzschiesche 2021). An einigen Stellen greifen wir ergänzend auf die tiefenhermeneutische Auswertung von Gruppendiskussionen in der Berliner Stadtbevölkerung zurück. Durch den Einbezug von Ergebnissen aus unterschiedlichen methodischen Ansätzen können Einsichten über verschiedene Facetten des Antisemitismus verbunden werden. Zudem ist es möglich, die Erkenntnisgrenzen einzelner methodischer Zugänge zu reflektieren. Dabei geht es uns keineswegs um die Relativierung von Befunden, sondern um die Verbindung unterschiedlicher Perspektiven. So ist es vielleicht möglich, dem scheinbaren Paradoxon eines „Antisemitismus ohne Antisemiten“ in einer heterogenen Stadtgesellschaft auf die Spur zu kommen (Marin 1979).

2 Konzeptionelle Überlegungen – Antisemitismus

Judenfeindschaft hat eine lange Geschichte aus Kontinuität und Wandel, die sich auch durch die Zäsuren 1945 und 1989 fortsetzt (Kiess et al. 2020, S. 214). Früh entstand im Christentum ein religiös motivierter Antijudaismus. Jüd:innen wurden dabei u. a. als „Jesusmörder“ stigmatisiert (Brumlik 2020, S. 12–37) und in Europa über Jahrhunderte ausgegrenzt und verfolgt. Erst in der Neuzeit begannen im Kontext der Proklamation von universellen Menschenrechten Debatten um die Emanzipation der Jüd:innen, auf die der moderne Antisemitismus reagierte. Der mit dem Industriekapitalismus aufkommende, moderne Antisemitismus ist geprägt von Motiven der weltweiten Verschwörung sowie des Reichtums und Einflusses „der Juden“ (Beller 2015, S. 74–75). Solche Token kursierten auch in antikommunistischen Darstellungen von Jüd:innen. Der nationalsozialistische Antisemitismus bündelte die ideologischen Vorläufer und mündete im „Zivilisationsbruch“ als an Jüd:innen begangenen Menschheitsverbrechen (Diner 2007, S. 14).

Nach dem Holocaust entwickelte sich in Deutschland angesichts der internationalen Verurteilung des Holocausts als von Deutschen ausgehenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein Wissen darüber, was „man sagen darf“ und was man nicht sagen sollte (Horn 2014, S. 250). Dass mit der Durchsetzung dieser sozialen Norm offen antisemitische Äußerungen vermieden wurden bedeutete keineswegs, dass überkommene antisemitische Ressentiments verschwanden. Vielmehr verlagerten sie sich in eine Kommunikationslatenz und wurden auf Umwegen kommuniziert (Bergmann und Erb 1986, 1991; Silbermann und Sallen 1976). So schien es offizielle keine Antisemit:innen mehr zu geben, und wenn, dann waren es andere und nie man selbst.Footnote 2 Hinzu kam, dass die Identifikationen mit dem Nationalsozialismus für viele Deutsche nicht vom einen auf den anderen Tag endete, sich aber mit Ängsten vor politischer Verfolgung und (abgewehrten) Schuld- und Schamgefühlen mischte (Waldeck 2014). So verband sich mit dem Thema Antisemitismus ein affektiver Knoten, der sich, weil auch als Gedanke ein Tabu, als „Gefühlserbschaft“ auch auf nachfolgende Generationen übertrug (Chernivsky 2016, S. 152; Horn 2014).

Infolgedessen ist nach 1945 ein Wandlungsprozess hin zum sogenannten sekundären Antisemitismus oder „Schuldabwehrantisemitismus“ zu beobachten, der den fortexistierenden tradierten (primären) AntisemitismusFootnote 3 ergänzt und sich mit diesem verknüpft (Decker und Celik 2019, S. 58). Nach Schönbach handelte es sich um eine „Trotzreaktion, die die traditionellen antisemitischen Vorstellungen, seien es die eigenen oder die der Eltern, um ihrer Rechtfertigung willen am Leben erhält“ (Schönbach 1961, S. 80). Das Feindbild bleibt gleich, aber die Argumentation verändert sich, z. B. in dem auf „übertrieben antinationale Erinnerungspropaganda“ Bezug genommen wird (Claussem 1987). Ähnlich verhält es sich mit dem israelbezogene Antisemitismus, der in den letzten Jahren verstärkt der in die Diskussion geriet (Benz 2020; Bergmann 2010; Beyer 2015; Heyder et al. 2005; Horvilleur 2020; Frindte und Wammetsberger 2008; Neugebauer 2003; Salzborn 2014, S. 103–115). Dies ist auch deshalb eine beliebte Form antisemitischer Umwegkommunikation, weil die Entschuldung des Sprechaktes mit ihm selbst gegeben scheint: Viele öffentliche Diskussionen drehen sich um die Frage, ob es sich bei bestimmten Aussagen um kritische Bemerkungen innerhalb einer politischen Debatte oder verdeckte antisemitische Ressentiments handele. Kriterien für die Unterscheidung zwischen Kritik an israelischem Regierungshandeln und israelbezogenem Antisemitismus wurden seitens Wissenschaft und Zivilgesellschaft wiederholt angeboten. Schwarz-Friesel und Reinharz (2017, S. 194–202) unterscheiden auf Basis einer sprachwissenschaftlichen Analyse von Zuschriften an die israelische Botschaft und Zentralrat der Juden in Deutschland zwischen Kritik als einer kommunikativen Handlung mit den Merkmalen: Nachvollziehbarkeit der argumentativen Begründung, Sach- oder Realitätsbezug und einem erkennbaren Interesse an Problemlösung einerseits und einer Projektion tradierter antisemitischer Stereotype („Kindermörder“, „allmächtig“) auf den Staat Israel als imaginiertem jüdischen Kollektiv andererseits (Schwarz-Friesel und Reinharz 2017, S. 199–202). Dabei werden Sachverhalte häufig „de-realisiert“, also falsch, verzerrt oder kontextfrei wiedergegeben. Dabei entstehen die drei „Ds“, die vom ehemaligen Minister Nathan Shransky als Faustregel zur Identifikation von israelbezogenem Antisemitismus etabliert wurden: Delegitimation und Dämonisierung Israels sowie die Verwendung doppelter Standards (vgl. Salzborn 2014, S. 109; Bostom 2008; Öztürk und Pickel 2021).Footnote 4 Am deutlichsten als israelbezogener Antisemitismus identifizierbar sind die Leugnung des Existenzrechts Israels oder aber die Gleichsetzung der israelischen Politik mit der Politik Nazi-Deutschlands.Footnote 5 Der zweite unabhängige Expert:innenkreis Antisemitismus verweist auch auf „Grauzonen“, in denen die Intention eines Sprechers nicht erkennbar ist und Kontext sowie Effekt der Aussage in die Beurteilung einbezogen werden müssen (Unabhängiger Expertenrat Antisemitismus 2017, S. 27).

In jüngerer Zeit wurde gerade die Virulenz von israelbezogenem Antisemitismus mit einer bestimmten Religionsgemeinschaft ursächlich in Beziehung gesetzt (Pickel 2019, 2022; Liedhegener 2016; Pickel und Yendell 2018). So identifizierten Journalist:innen wie Wissenschaftler:innen einen muslimischen Antisemitismus (u. a. Bauer 2018; Ranan 2018; Öztürk und Pickel 2021) und argumentierten, dass der israelbezogene Antisemitismus zum ideologischen Kernbestand nationalistischer und anti-zionistischer Staaten im Nahen Osten gehört (Arnold und König 2016, S. 30; Bauer 2018; Berek 2018, S. 73; Küntzel 2019) und seinen Weg nach Deutschland findet. Ungeklärt ist die Frage, welche Anteile des muslimischen Antisemitismus herkunftsbezogen (bei Migrationserfahrung oder Migrationsgeschichte) und welche religionsbezogen sind. Sicher ist, dass sich israelbezogener Antisemitismus nicht auf muslimischen Antisemitismus reduzieren lässt. Zudem ist Vorsicht geboten, weil er von politisch rechten und muslimfeindlichen Gruppierungen genutzt wird, um Muslim:innen unter einen Generalverdacht zu stellen und deren Exklusion zu legitimieren (Pickel und Öztürk 2019, 2021; Strabac und Listhaug 2007). Eine Relevanz des muslimischenFootnote 6 Antisemitismus ist deswegen trotzdem nicht zu leugnen.Footnote 7

Vor diesem Hintergrund lässt sich verallgemeinernd festhalten, dass „antisemitische Praxen“ grundlegend auf „Grenzziehungen in Form der Konstruktion einer Gruppe „die Juden““ beruhen. Diese Praxen können „mit Befremdung, d. h. distanzierenden Eigenschaftszuschreibungen, Stigmatisierung, Herabsetzung, Enteignung, Vertreibung, Gewaltandrohung sowie Gewalt gegen Gegenstände, Orte und vor allem Personen bis hin zu Pogromen und völkermörderischer Gewalt in Form einer modernen und arbeitsteilig organisierten Massenvernichtung“ einhergehen (Schäuble 2017, S. 546). Wir verstehen Antisemitismus als Ressentiment (Decker et al. 2018, S. 181; Ranc 2016) und fassen damit gruppenbezogene Vorurteile ebenso wie ihr Ausagieren. Antisemitismus ist einerseits eine „grundlegende Haltung zur Welt“ (Salzborn 2020), eine Welterklärungsideologie, mittels derer versucht wurde und wird, einer zunehmend komplexen, als undurchschaubar erlebten Moderne habhaft zu werden (Postone 1982, S. 244). Entsprechend begleiten den Antisemitismus Verschwörungsmythen, die Jüd:innen mit Geld und Macht assoziieren und in zugespitzter Form einen weltweit wirksamen (versteckten) Einfluss von Jüd:innen imaginieren (Decker und Celik 2019, S. 58).Footnote 8 Schließt man an die Autoritarismusforschung an, erfüllt Antisemitismus auf diese Weise eine Funktion für das Individuum: Diffuse Ängste finden ihre „Gefahr“, Aggressionen ihre Zielscheibe (Adorno 1954). Die Funktionalität einer solchen Projektionsfläche scheint Beständigkeit zu besitzen (Decker et al. 2018, S. 183), auch wenn Ausdrucksweisen des Antisemitismus sich über die Zeit ändern. Beständig bleibt auch, dass sich Antisemitismus im Prozess „of turning jews into jews“ (Klug 2003, S. 137)Footnote 9 verdichtet, also konkrete Jüd:innen direkt und in teils gewaltvollen Praxen im Alltag trifft.

Diesem Facettenreichtum des Antisemitismus, einerseits als Welterklärung, welche sich in manifesten oder latenten Ressentiments äußern kann, andererseits als interaktive Dynamik und gewaltvolle Praxis mit gravierenden Folgen für Jüd:innen, versuchen wir im Folgenden multi-methodisch und multi-perspektivisch gerecht zu werden.

3 Methodik: Eine Mixed-Methods-Erhebung von Antisemitismus

Um dem Antisemitismus als gegenwärtiges Phänomen in seinen Facetten, seinen Folgen für Jüd:innen und jüdische Communities und die Gesamtgesellschaft, sowie Ansatzpunkten für politische Gegenmaßnahmen auf die Spur zu kommen, ist eine Kombination methodischer Zugänge unerlässlich. Entsprechend ist der Berlin-Monitor als interdisziplinäres Projekt angelegt, welches antisemitische Ressentiments, Antisemitismus als Alltagserfahrung sowie antisemitismuskritische Handlungsräume in einer heterogenen Stadtgesellschaft mittels Triangulation erfasst (Pickel et al. 2019; Reimer-Gordinskaya und Tzschiesche 2021; Decker et al. 2018). Folgend werden die drei verwendeten methodischen Verfahren beschrieben.

Eine für Berlin repräsentative Bevölkerungsbefragung ermittelt die Verbreitung antisemitischer Ressentiments und kann Auskünfte über Verbindungen zwischen antisemitischen Ressentiments und gruppenbezogenen Vorurteilen bzw. Rassismen geben. Durch Korrelations- und Regressionsanalysen eröffnet sich die Möglichkeit, Strukturen und Ursachen von antisemitischen Einstellungen zu identifizieren (Pickel und Pickel 2018; Pelinka et al. 2009). Für die empirische Erfassung antisemitischer Ressentiments wird in der Repräsentativumfrage des Berlin-Monitors 2019 auf die im vorangegangenen Kapitel dargestellte differenzierte Sichtweise von Antisemitismus zurückgegriffen und im Anschluss an die Leipziger Autoritarismus Studie eine dreidimensionale Skala verwendet (Tab. 1Footnote 10). Mit ihr wird neben dem (klassischen) primären Antisemitismus, der sekundäre Antisemitismus (inklusive Schuldabwehrantisemitismus) sowie der israelbezogene Antisemitismus erhoben.Footnote 11

Tab. 1 Messindikatoren und Fragen zu antisemitischen Ressentiments im Berlin-Monitor

Die Antwortskala bietet fünf Antwortkategorien, so dass diesbezüglich ein Vergleich mit bundesweiten Erhebungen (Decker et al. 2018; Kiess et al. 2020) möglich ist. Diese bildet unter Zusammenfassung zweier Antwortmöglichkeiten, mit denen die Statements tendenziell befürwortet oder tendenziell abgelehnt werden können, jeweils eine Kategorie der eindeutigen Zustimmung oder eindeutigen Ablehnung. Damit bleibt eine Kategorie, die eine teilweise Zustimmung und teilweise Ablehnung erfasst. Diese wird aufgrund ihrer nicht expliziten Ablehnung als latente Zustimmung gedeutet, da sie vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte faktisch so etwas wie Akzeptanz signalisiert (Kiess et al. 2020, S. 224). Das Argument ist, dass die Bürger:innen heute wissen, dass sie vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Verbrechen offen artikulierter und ausagierter Antisemitismus einer sozialen Sanktion unterliegt und sie entsprechenden Items nicht zustimmen sollten. Der weiterhin vorhandene Antisemitismus wird daher auf Umwegen (Holocaust- oder Israelbezogen) geäußert (Unabhängiger Expertenrat Antisemitismus 2017, S. 26; Expertenkreis Antisemitismus 2011). Diese empirische Beobachtung wurde konzeptionell-theoretisch als Kommunikationslatenz bezeichnet (Bergmann und Erb 1986; Beyer und Krumpal 2010).

Als erklärende Variablen wurden neben sozialstrukturellen Indikatoren Messinstrumente zu den Konzepten des Autoritarismus, der Verschwörungsmentalität, der politischen Ideologie (Links-Rechts-Eigeneingruppierung) sowie zur Religionszugehörigkeit und Religiosität verwendet (Schuler 2019, S. 13–20). Um sich dem latenten Antisemitismus hinter den „Kommunikationsschwellen“ weiter nähern zu können, sind Verfahren der qualitativen Sozialforschung geeignet. Durch die Methode der tiefenhermeneutischen Auswertung (Lorenzer 2005; Leithäuser und Volmerg 1988) kann sozialpsychologischen Funktionen von Ressentiments sowie der Interaktionsdynamik zwischen verursachenden und betroffenen Akteur:innen nachgegangen werden. Auf die Gruppendiskussionsstudie des Berlin-Monitors wird im vorliegenden Beitrag nur am Rande eingegangen, weil dieser Studienteil noch nicht vollends abgeschlossen ist und noch als eigenständiger Bericht veröffentlicht wird.

Ausführlich wird indes auf Ergebnisse aus der aktivierenden Befragung im Berlin-Monitor eingegangen. Dieser Ansatz rekonstruiert die Bedeutung von Antisemitismus sowie Umgangsweisen mit antisemitischen Praxen aus der Perspektive von Jüd:innen in Berlin. Er speist sich aus Traditionen der Gemeinwesenarbeit (Stövesand et al. 2013; Spieckermann 2012) und Handlungsforschung (Bradbury-Huan 2015; insbes. 453–455), seine Methoden und Techniken der Erhebung, Dokumentation und Auswertung von Daten stammen aus der als qualitativ bezeichneten Strömung in den Sozialwissenschaften (Mey und Mruck 2010). Im Sinne subjektwissenschaftlicher Handlungsforschung (Markard 2010, 2020) wird dem Anspruch nach nicht über, sondern möglichst in praktischer Absicht mit den befragten Akteur:innen geforscht. Gegenstand sind bestimmte Aspekte der Lebenswelten und Erfahrungen der Gesprächspartner:innen, die sich ihnen im Alltag als subjektive Handlungsproblematiken darstellen. Die praktische Absicht liegt darin, nicht nur Problemwissen, sondern auch Veränderungswissen, also Wissen über Gegenwehr gegen Antisemitismus und (verknüpfte) Diskriminierung sowie über das Engagement für Vielfalt und Demokratie in Berlin zu eruieren. In der Aktivierenden Befragung des Berlin-Monitors wurden hierzu 24 Gespräche mit insgesamt 31 Personen geführt. Bei den Gesprächspartner:innen handelt es sich einerseits um Expert:innen der Zivilgesellschaft, die in unterschiedlichen Handlungsfeldern in den Bereichen Kunst, Zivilgesellschaft und Politik gegen Antisemitismus und in der Gestaltung des heterogenen jüdischen Lebens in Berlin tätig sind. Andererseits sind es Expert:innen des Alltags, die Einblicke in ihre persönlichen, individuellen Erfahrungen geben.Footnote 12 Die Gruppe der Befragten ist nicht im statistischen Sinne repräsentativ für die jüdische Bevölkerung Berlins, im Sinne der theoriegeleiteten Suche nach Gesprächspartner:innen wurden indes wichtige Erfahrungshintergründe der heterogenen jüdischen Communities in Berlin einbezogen und repräsentiert, nämlich ost- und westdeutsche, israelische, US-amerikanische und postsowjetische sowie feministische und queere Perspektiven auf die drei zentralen Themen Antisemitismus, Heterogenität und Allianzen.

Die leitfadengestützten Interviews wurden transkribiert und anonymisiert. Um angesichts der geringen Anzahl von Expert:innen in diesem Feld die Anonymität der Gesprächspartner:innen zu wahren, werden diese auch nicht, wie bei größeren Referenzgruppen möglich und üblich, durch Buchstaben o. ä. gekennzeichnet zitiert. Das Ziel der Auswertung bestand darin, das Phänomen des Alltagsantisemitismus aus jüdischen Perspektiven so zu rekonstruieren. Ziel ist, dass eine „dichte Beschreibung“ (Geertz 1987) mit Blick auf die Erfahrung von Antisemitismus, die individuellen und kollektiven Umgangsweisen mit ihm sowie zivilgesellschaftliche Strategien der Gegenwehr gegen Antisemitismus in Berlin möglich wird. Diese vorab, sozusagen deduktiv bestimmten Kategorien (z. B. Erfahrungen, Umgangsweisen, Gegenwehr) wurden im Zuge der Datenauswertung durch induktiv gewonnene Dimensionen bzw. Unterkategorien ergänzt, die im folgenden Abschnitt dargestellt und veranschaulicht werden. Die heuristische Beschreibung des Phänomens Alltagsantisemitismus behauptet einerseits keine Allgemeingültigkeit für Berlin oder die jüdischen Communities, beansprucht andererseits aber einen weit über die individuellen Erfahrungsräume der Befragten hinausgehenden Geltungsbereich. Dies ergibt sich allein schon daraus, dass die Expert:innen der Zivilgesellschaft auf der Basis ihres Einblicks in eine Vielzahl relevanter Gegebenheiten in verallgemeinernder Weise über die jeweils interessierenden Phänomenbereiche sprechen. Nicht gesagt ist damit, dass sich bspw. jede in Berlin gemachte antisemitismusbezogene Erfahrung fraglos unter die entwickelten Kategorien subsummieren lässt. Qualitative Forschung lebt dem eigenen Verständnis nach vom (kontrastierenden) Vergleich. Im Sinne subjektwissenschaftlicher Handlungsforschung resultiert die Verallgemeinerung von fallbezogenen Erkenntnissen nicht aus der Anwendung statistischer Prozeduren. Stattdessen ergibt diese sich im Prozess der Verständigung über Erfahrungen, Umgangsweisen und Möglichkeiten der (effektiveren) Gegenwehr.

4 Antisemitismus in Berlin – Bestand, Gründe, Folgen

4.1 Antisemitische Ressentiments in Berlin – von der Existenz eines Ressentiments

Wie verbreitet sind nun antisemitische Ressentiments in Berlin – und sind sie in Berlin seltener als im Bundesgebiet? Beginnen wir mit dem primären Antisemitismus. Dieser liegt im Berlin-Monitor auf einem vergleichsweise niedrigeren Niveau: Zwischen 3 und 6 % der Berliner:innen stimmen den Aussagen zu. Bei Einbezug des Gedankens der Kommunikationslatenz über die Messung der teils-teils-Kategorie steigen diese Werte auf 9 bis 16 % (Abb. 1). Auch bei dieser weiteren Erfassung bestehen traditionelle antisemitische Ressentiments nur bei einer Minderheit der Berliner:innen. Die Zustimmung liegt deutlich unter Vergleichsergebnissen der Leipziger Autoritarismus Studie 2020 und etwas unter den Ergebnissen der Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung von 2019 (Kiess et al. 2020, S. 212–228; Zick et al. 2019, S. 70; Abb. 1).Footnote 13 Hier zeigt sich ein Dilemma der Interpretation: Selbst wenn man die Berliner Zahlen als vergleichsweise niedrig einstufen kann, lehnt fast jede:r achte Befragte die Aussage „Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß“ nicht ab und tradiert somit ein Stereotyp des primären Antisemitismus.

Abb. 1
figure 1

Antisemitischen Ressentiments in Berlin im deutschen Vergleich (primärer Antisemitismus). (Quelle: Berlin-Monitor 2019; n = 2005 Berliner:innen (Berlin); Daten in Prozent.) (LAS 2020 Leipziger Autoritarismus Studie, FES 2019 Mitte Studie der Friedrich Ebert Stiftung). (Aus Zick et al. 2019; Wertangaben in Prozent)

Die Beständigkeit antisemitischer Ressentiments bei einem Wandel seiner Ausdrucksformen wird beim sekundären Antisemitismus deutlicher erkennbar (Abb. 2). Hier steigt die Zahl der (manifesten) Zustimmungen auf einen zweistelligen Wert (13 %). Und nur zwei Drittel der Befragten lehnen das im Berlin-Monitor zur Messung des sekundären Antisemitismus verwendete Item („Reparationsforderungen an Deutschland nutzen oft gar nicht den Opfern, sondern einer Holocaust-Industrie von findigen Anwälten“) ab. Dieses Ergebnis bestätigt die Relevanz des Schuldabwehrantisemitismus (Schönbach 1961, S. 80–81). Das antisemitische Ressentiment zeigt sich hier als (ablehnende) Antwort auf die deutsche Erinnerungspolitik mit Blick auf Auschwitz und den Holocaust. Es kommt bei den Angefragten zu einer Schuldabwehr und oft auch so etwas wie eine Schuldumkehr (Frindte und Wammetsberger 2008; Pickel et al. 2019, S. 56; Abb. 2). Diese Zurückweisung einer „(Kollektiv)Schuld“ scheint vielen Deutschen legitimer als ein offen geäußerter primärer Antisemitismus. Im Vergleich mit dem Bundesgebiet liegen die Berliner Zustimmungswerte auch hier unter den gesamtdeutschen Werten. Selbst wenn man die unterschiedlichen Erhebungsmethoden zwischen Berlin-Monitor (Telefonbefragung) und Leipziger Autoritarismus Studie (persönliche Befragung) in Rechnung stellt, scheint der sekundäre Antisemitismus mittlerweile ein größeres Problem als der primäre Antisemitismus zu sein, und die Berliner Situation weniger durch entsprechende Ressentiments aufgeladen, wie an anderen Orten in Deutschland.Footnote 14

Abb. 2
figure 2

Antisemitischen Ressentiments in Berlin (sekundärer und israelbezogener Antisemitismus). (Quelle: Berlin-Monitor 2019; n = 2005 Berliner:innen (Berlin); Daten in Prozent.) (LAS 2020 Leipziger Autoritarismus Studie, FES 2019 Mitte Studie der Friedrich Ebert Stiftung). (Aus Zick et al. 2019; Wertangaben in Prozent)

Eine anders gelagerte, aber ähnliche Schuldumkehr findet sich beim israelbezogenen Antisemitismus. Im Vergleich der antisemitischen Ressentiments in Berlin erfahren israelbezogene antisemitische Ressentiments die höchste Zustimmung. So halten ein Drittel der Berliner:innen die Gründung Israels mehr oder weniger für eine schlechte Idee, und zwei von fünf Berliner:innen können keine Unterscheidung zwischen der Politik Israels in Palästina und dem Verhalten der Nationalsozialisten im zweiten Weltkrieg finden. Zwar halbieren sich die Zustimmungsraten, blickt man nur auf manifeste Zustimmungen, gleichwohl stimmt auch dann noch rund jede:r achte Berliner:in den Erhebungsitems für israelbezogene antisemitische Ressentiments zu (Pickel et al. 2020a, S. 23). Selbst wenn die Zustimmungsraten im Bundesgebiet wieder höher ausfallen (27–30 %), muss auch für Berlin von einer Verschiebung antisemitischer Ressentiments in Richtung einer Umwegkommunikation ausgegangen werden. Nun ist die Bestimmung des israelbezogenen Antisemitismus immer wieder Gegenstand von Auseinandersetzungen (Benz 2020). Ist es nicht einfach an sich berechtigte Israelkritik, die so in eine „Schublade“ geschoben wird, um sie zu diskreditieren? Dies mag in bestimmten Diskursen zutreffend sein (Bundesamt für Verfassungsschutz 2019). An dieser Stelle greift das Argument nicht. Bei den verwendeten Items handelt es sich explizit nicht um Fragen einer berechtigten Kritik an Israel und seiner Politik, sondern um israelbezogenen Antisemitismus: Sowohl die generelle Infragestellung des Existenzrechts Israels als auch die Gleichsetzung mit den Taten der Nationalsozialisten sind eindeutig in dieser Weise verortbar (Salzborn 2014, S. 109).Footnote 15 Und es gibt noch einen zusätzlichen empirischen Beleg: Die Items aller drei Formen antisemitischer Ressentiments (primär, sekundär, israelbezogen) korrelieren statistisch stark miteinander: Personen, die tradierte antisemitische Ressentiments aufweisen, stimmen mehrheitlich auch bei den Aussagen zum israelbezogenen Antisemitismus zu. Da kann es fast als beruhigend gewertet werden, dass nur ein sehr kleiner Teil der Berliner:innen Jüd:innen als verantwortlich für nahezu alle Kriege und Konflikte in der Welt ansieht.

Doch nicht nur die Formen antisemitischer Ressentiments sind stark untereinander verbunden, antisemitische Ressentiments sind nicht unabhängig von gruppenbezogenen Vorurteilen gegenüber anderen sozialen Gruppen, speziell Minderheiten in der Gesellschaft (Pelinka et al. 2009; Pickel und Yendell 2018). Am stärksten ausgeprägt sind in Berlin die Bezüge zum Klassismus (einer sozialen Ungleichwertigkeitsstrategie), zum antimuslimischen Rassismus (einer Ablehnung von Mitgliedern einer anderen Religionsgemeinschaft) und zum Antiziganismus. Auch zu anderen Vorurteilsstrukturen finden sich beachtliche statistische Beziehungen (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Antisemitismus und gruppenbezogene Vorurteile – statistische Interaktionen. (Quelle: Berlin-Monitor 2019; Pearsons r‑Produkt-Moment Korrelationen, alle Werte signifikant bei p < 0,05)

Nur selten treten antisemitische Ressentiments für sich alleine auf. So weisen nur 17 % der Befragten, die manifesten Antisemitismus aufweisen keine anderen Vorurteile auf. 83 % teilen zumindest ein anderes gruppenbezogenes Vorurteil. Nimmt man den latenten Antisemitismus hinzu, so erhöht sich die Zahl der Berliner:innen mit antisemitischer Einstellung auf 31 %. Allgemein gesagt: In der Berliner Gesellschaft finden wir (selten) spezifische Antisemit:innen, sondern eher Menschen, welche Vorurteile und Ressentiments gegenüber verschiedenen sozialen Gruppen, die sie als ungleichwertig ansehen, aufweisen. Man kann dies als gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit oder als Rassismus bezeichnen (Heitmeyer 2002, 2010; Memmi 1987). Gleichzeitig verbinden sich bestimmte Vorurteile besser mit antisemitischen Ressentiments als andere – und deuten auf eine gewisse Differenzierung hin. Entsprechend finden sich neben „expliziten Antisemit:innen“ in Berlin auch Personen, die gesellschaftlichen Pluralismus generell ablehnen, sowie eine dritte Gruppe an Berliner:innen mit spezifischen sowie gezielten Ungleichwertigkeitsvorstellungen. Vor allem soziale Abwertungen werden mit antisemitischen Ressentiments kombiniert. Antisemitische Ressentiments stellen somit eine grundsätzliche Form eines Ressentiments dar, speisen sich diese Haltungen doch im Gegensatz zu andereren Gruppen kaum aus persönlichen Erfahrungshorizonten. Was sind nun aber die Ursachen oder Begleitfaktoren für diese Haltungen?

4.2 Gründe antisemitischer Ressentiments in Berlin

Die Gründe für antisemitische Ressentiments können vielfältig sein. Zu nennen sind religiöse Gründe, wie im christlichen Antijudaismus, aber auch aufkommende Verweise auf einen muslimischen oder islamischen Antisemitismus (Bauer 2018; Bergmann 2010, S. 10–16; Salzborn 2014). Einschlägige Publikationen haben zudem wiederholt auf die große Bedeutung rechtsnationaler politischer Einstellungen und Verschwörungserzählungen für antisemitische Ressentiments hingewiesen (Decker und Brähler 2018, 2020). So erbrachte die Forschung zur autoritären Persönlichkeit ein enges Bedeutungsgeflecht zwischen Antisemitismus, Autoritarismus, Verschwörungsglauben und Rechtsextremismus (Adorno 1954; auch Kiess et al. 2020, S. 231). Damit wären vor allem Wirkungen rechtsnationaler Einstellungen und dogmatischer Religiosität zu erwarten. Entsprechende Befunde im Bundesgebiet bestätigen zumindest das zuerst genannte (Kiess et al. 2020, S. 24–242; Zick und Küpper 2021, S. 206–208).

Doch wie ist dies heute in einer heterogen gewordenen Stadtgesellschaft? Um diese Frage zu beantworten, führten wir drei Regressionsanalysen für die drei Dimensionen antisemitischer Ressentiments durch.Footnote 16 Die zentralen Triebkräfte für antisemitische Ressentiments sind recht schnell identifiziert: In erster Linie ist es die Existenz einer Verschwörungsmentalität, welche antisemitische Ressentiments bestärkt (Rees und Lamberty 2019, S. 204, 209–211). Jüd:innen werden auch heute immer noch von einigen Berliner:innen als Drahtzieher gesellschaftlicher und politischen Entscheidungen angenommen. Dieses Bild kann aufgrund der geringen Zahl an Jüd:innen in Deutschland nur begrenzt durch Kontakte und persönliche Erfahrungen korrigiert werden. Ressentiments gegenüber Jüd:innen können sich somit ungebremst aus Hörensagen sowie Verschwörungserzählungen speisen (Tab. 2). Letztere drücken sich in den Ängsten vor einer Bedrohung durch die „an allen Schaltstellen der Macht und insbesondere Wirtschaft sitzenden“ Jüd:innen aus. Dieses Denken besitzt einen signifikanten Einfluss auf den primären, den sekundären und den israelbezogenen Antisemitismus. Ob in Umwegkommunikation oder als primärer Antisemitismus, eine verschwörungstheoretisch untermauerte Furcht vor Jüd:innen als Drahtzieher einer Weltverschwörung ist in Deutschland und auch in Berlin noch immer vorhanden (Decker et al. 2018, S. 190–199; Zick et al. 2019, S. 102–108; Volkov 2000). Entsprechend stellt dann auch die von sechs Prozent der Berliner:innen geäußerte Angst vor einer Bedrohung durch Jüd:innen eher eine Übertragung eines bestehenden Stereotyps und Ressentiments dar, als reale oder erfahrungsbasierte Ängste. Die Bedrohungswahrnehmung ist die Bestätigung der Existenz eines tiefer liegenden antisemitischen Ressentiments. Eine rechte ideologische Positionierung und eine fehlende Selbstwirksamkeit auf der politischen Ebene bestärken ebenfalls antisemitische Ressentiments. Eine rechte ideologische Gesinnung wirkt sich besonders stark auf den sekundären Antisemitismus, aber nicht auf den israelbezogenen Antisemitismus aus.

Tab. 2 Einflussfaktoren antisemitischer Ressentiments (Regressionsanalysen)

Doch Verschwörungsmentalität und rechtsradikale Haltungen sind nicht die einzigen Effekte auf antisemitische Ressentiments. In der Glaubensgruppe der Muslim:innen, bzw. der Migrant:innen mit muslimischen Hintergrund, finden sich ebenfalls überdurchschnittlich starke antisemitische Ressentiments, insbesondere bei israelbezogenen Antisemitismus. Dieser Effekt bleibt in den Regressionsanalysen bei Kontrolle anderer Einflussfaktoren erhalten. Unklar ist, ob die Zugehörigkeit zur Gruppe der Muslim:innen religiös bedingt ist oder eine Funktion von Herkunftserfahrungen oder Übermittlungen in der Sozialisation. Wie Tab. 3 in einfacher Weise bestätigt, wirkt sich religiöser Dogmatismus ungünstig auf die Haltung zu Jüd:innen und förderlich für antisemitische Ressentiments aus. Dieser Effekt ist bei dogmatischen Christ:innen stärker als bei anderen Mitgliedern ihrer Religionsgemeinschaft, während die Unterschiede zwischen dogmatischen Muslim:innen und Muslim:innen allgemein geringer ausfällt (Koopmans 2015). Unter Muslim:innen sind antisemitische Ressentiments insgesamt stark verbreitet, insbesondere, wenn sie sich auf Israel beziehen. Hier ist auch in Rechnung zu stellen, dass unter Muslim:innen auch mehr Gläubige mit einer dogmatischen Vorstellung von Religion existieren. Bei der – wenngleich zahlenmäßig kleinen – Gruppe der dogmatisch denkenden Christ:innen scheint ein gewisser, wenn auch meist latenter, Antijudaismus überlebt zu haben.Footnote 17

Tab. 3 Muslimischer Antisemitismus und Antijudaismus?

Somit ist ohne Frage der, in jüngerer Zeit beachtliche öffentliche Aufmerksamkeit erfahrende, muslimische Antisemitismus existent. Er ist vor allem auf Israel ausgerichtet. So sind drei von vier befragtenenn Muslim:in zumindest latent antisemitisch, die Hälfte sogar manifest, wenn es um israelbezogenen Antisemitismus geht. Zumindest diskutabel ist die Annahme einer der islamischen Religion innewohnenden kulturellen antisemitische Prägung, die durch Umwelterfahrungen nicht veränderbar sei. Diese ethnisierende Einschätzung blendet ein Lernen und die Anpassung an eine neue Umwelt weitgehend aus (Cakir 2014; Shooman 2014). Dies gilt einerseits für einen Wandel der Religiosität, andererseits für herkunftsinduzierten Antisemitismus. Dort werden Prägungen aus den Herkunftsgebieten wie in der Familie weitergegebene Narrative bei Muslim:innen mit Migrationshintergrund Grund für die ablehnende Haltung gegenüber Jüd:innen (Ranan 2018, S. 171–178). Dort erlernte Narrative werden übertragen und manifestieren sich im Alltagsleben. Ergebnisse anderer Studien argumentieren an, dass es sich beim muslimischen Antisemitismus weniger um einen religiös motivierten, als eher um einen arabisch-nationalistischen Antisemitismus bei Migrant:innen handelt (Berek 2018, S. 77). Allerdings verflechten sich die islamischen und nationalistischen Motive (Arnold und König 2016, S. 19; Jikeli 2017, S. 22). Diese transnationale Migration antisemitischer Ressentiments wird durch einen Blick auf die Verankerung der Ressentiments in den Herkunftsgebieten der Berliner:innen mit Zuwanderungserfahrung erkennbar: So teilen etwa 75 % der libanesischen Bevölkerung antisemitische Ressentiments.Footnote 18 Israel bzw. die Existenz des Staates Israel wird unabhängig vom Antrieb für Migrant:innen und Geflüchtete diesen Länder zu verlassen, zu einem Kristallisationspunkt des antisemitischen Ressentiments (Jikeli 2017, S. 23). Solche Einstellungen sind sozial gebunden, und sollten vor anderen Erfahrungshorizonten veränderbar sein. Gleichwohl geschieht dies nicht von selbst und bedarf zivilgesellschaftlicher Unterstützung. Wichtig zu berücksichtigen ist, dass trotz der höheren Zustimmungswerte auch unter den Muslim:innen nur eine Minderheit sich von Jüd:innen bedroht fühlt (30 %) oder zur Durchsetzung ihrer Haltungen Gewalt anzuwenden bereit ist (< 1 %). Und keine 15 % geben an, dass ihre Religion sie dazu auffordert Jüd:innen zu misstrauen und sie abzulehnen (Pickel et al. 2020a, S. 32). Insgesamt dürften sowohl herkunftsbezogene wie religiöse Gründe für den unter Muslim:innen bestehenden Antisemitismus ausschlaggebend sein (Öztürk und Pickel 2021; Pickel et al. 2020a, S. 173, 181). Beide Begründungen sind allerdings durch Rahmenbedingungen veränderbar – oder können auch gestützt werden, und sind keineswegs kulturell unveränderbar vorgegeben.

So oder so gibt das Ergebnis Stoff für die Instrumentalisierung durch rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien und Politiker:innen (Ranan 2018, S. 16–17). Dass es sich bei den antimuslimischen Kampagnen von zuletzt genannter Seite weitgehend um eine Instrumentalisierung handelt, zeigt ein knapper Vergleich in Tab. 3 mit den Wähler:innen der rechtspopulistischen AfD. So weisen überdurchschnittlich viele AfD-Wähler:innen antisemitische Ressentiments auf. Nur liegt der Schwerpunkt auf der Schuldumkehrungsstrategie des sekundären Antisemitismus. Die Abwehr einer historischen Schuld sowie der Wunsch dies vergessen zu machen, korrespondiert mit der oft völkisch-nationalistischen Position der AfD. Wenn also die AfD auf den muslimischen Antisemitismus verweist, müsste sie auch auf die Haltungen fast der Hälfte ihrer Anhänger:innen schauen – zumindest in Berlin. Diese „Rechtslastigkeit“ des primären und vor allem des sekundären Antisemitismus wird durch eine Betrachtung entlang der Rechts-Links-Orientierung bestätigt, selbst wenn sich das antisemitische Ressentiment nicht auf Personen, die sich dem rechten Spektrum zuordnen, beschränkt. Auch auf der linken Seite des ideologischen Spektrums lassen sich antisemitische Ressentiments finden (Tab. 4). Allerdings signifikant weniger häufig als auf der rechten Seite und auch „in der Mitte der Gesellschaft“. Am geringsten ist der Abstand zwischen „Links und Rechts“ beim israelbezogenen Antisemitismus. Hierfür dürften vermutlich Sympathien für die Palästinensische Freiheitsbewegung in Teilen politisch sich eher der linken Seite des ideologischen Spektrums zuordnenden Berliner:innen mit verantwortlich sein. Sicher ist: Angesichts dieser Betrachtungen scheint es angebracht Antisemitismus heutzutage differenziert zu betrachten.

Tab. 4 Rechter und linker Antisemitismus?

Fassen wir zusammen: Antisemitische Einstellungen speisen sich in Berlin aus unterschiedlichen Quellen. Resultieren sie auf der einen Seite aus Herkunft und möglicherweise religiöser Ablehnung, ist auf der anderen Seite bei anderen Personen eine rechte Ideologie und eine tief verankerte Verschwörungsmentalität die Triebkraft für antisemitische Einstellungen. Letztere Aspekte sind zusammen mit autoritären Einstellungen ein stärkerer Prädiktor von antisemitischen Einstellungen als die Zugehörigkeit zu einer muslimischen Glaubensgemeinschaft. Dort ist es die Minderheit der der Dogmatiker und Fundamentalisten (und nicht einmal alle von diesen), welche entsprechende Ressentiments aufweisen. Gleichwohl ist unter den religiöseren und öfter dogmatisch religiösen Muslim:innen ein Potenzial für Antisemitismus. Wenn, dann begründen sie diese Vorurteile häufiger religiös oder aufgrund ideologischer Positionierung und Sozialisation. Der sekundäre Antisemitismus dagegen findet sich eher bei Personen mit einem völkisch-nationalistischen Weltbild. Ebenfalls deutlich wird, dass spezifische und differenzierte Betrachtungen mit Blick auf die Gruppe der Träger:innen antisemitischer Ressentiments, wie mit Blick auf unterschiedliche Formen von antisemitischen Ressentiments notwendig sind.

4.3 Folgen antisemitischer Ressentiments für die politische Kultur in Berlin

Die Existenz antisemitischer Haltungen ist von Bedeutung für die politische Kultur in Berlin und die Zivilgesellschaft. Nach Abb. 4 wirken sich antisemitische Ressentiments nachteilig auf eine demokratische politische Kultur aus (Lipset 1981). Betrachten wir bivariate Effekte, bzw. Verbindungen zwischen antisemitischen Ressentiments und Indikatoren für demokratische oder autokratische Positionen, so wird schnell deutlich: Antisemitische Haltungen gehen häufig mit einer antidemokratischen Haltung einher (Abb. 4). Allein schon zwischen einem hohen Nationalstolz und antisemitischen Ressentiments besteht eine signifikante statistische Beziehung. Dies ist nachvollziehbar, wirkt sich doch hier in Teilen schon ein nationalistisch-völkisches Verständnis aus. Und speziell zu den national-völkischen Vorstellungen, die als autokratische Vorstellungen eingestuft werden können, finden sich hohe Korrelationen.

Abb. 4
figure 4

Antisemitismus und demokratische politische Kultur?. (Quelle: Berlin-Monitor 2019; Pearsons Produkt-Moment Korrelationen, alle Werte signifikant bei p < 0,05; n = 2005)

Am geringsten sind die statistischen Beziehungen beim israelbezogenen Antisemitismus. Am stärksten – wenig überraschend – ist der Bezug zu sekundären, auf eine völkische Schuldabwehr gerichteten, antisemitischen Ressentiments. Es wird deutlich, dass Antisemitismus ein elementarer Bestandteil einer völkisch-nationalen rechten Ideologie ist, die gleichzeitig gegen die Demokratie, besonders in ihrer liberalen und pluralen Form gerichtet ist (Pickel et al. 2020b, S. 105; Liedhegener 2016; Lipset 1981).Footnote 19 Bemerkenswert ist zudem noch der damit harmonierende starke Bezug zu einem autoritären Führer und zum primären Antisemitismus. Damit wird erkennbar, warum zumindest der primäre Antisemitismus als integraler Bestandteil einer rechtsextremen Ideologie und eines autoritären Syndroms verortet wird (Decker et al. 2018, S. 180, 189). Antisemitische Ressentiments werden über diese grundsätzlichen antidemokratischen Haltungen mit dem Urteil über die aktuelle Demokratie und deren Leistungsfähigkeit verbunden. Antisemit:innen sind also mit der Demokratie seltener zufrieden, dafür aber signifikant offener für eine Autokratie – am besten in nationalistisch-völkischer Form. Dieses Ergebnis bedeutet umgekehrt, dass die Absenz von antisemitischen Ressentiments mit einer der Demokratie gegenüber wohlwollenderen Haltung verbunden ist. Wo fühlen sich nun aber Antisemit:innen in Berlin politisch am Wohlsten? Hierzu betrachten wir die Verteilung antisemitischer Ressentiments nach Parteien (Abb. 5).

Abb. 5
figure 5

Antisemitismus nach Parteipräferenz. (Quelle: Berlin-Monitor 2019; Angaben in Prozent; n = 2005 (ausgewiesen nur manifester Antisemitismus))

Wenig überraschend finden sich die meisten Personen mit antisemitischen Ressentiments in der Wählerschaft der rechtspopulistischen und oft völkisch argumentierenden AfD. Aber auch unter den Anhänger:innen der AfD handelt es sich (zumeist) um eine Minderheit mit antisemitischen Ressentiments (Pickel 2018). Was den sekundären Antisemitismus angeht, allerdings nur noch um eine sehr knappe Minderheit, wenn man den latenten Antisemitismus dazu nimmt, sogar um eine Mehrheit (Tab. 3). Hier schlägt die nationalistisch-völkische Ausrichtung der AfD zu Buche. Die teilweise ebenfalls vorhandene Ausrichtung an nationaler Identität und Nationalstolz dürfte der Grund sein, dass hinter der AfD die CDU den zweithöchsten Wert beim sekundären Antisemitismus erreicht. Die geringste Neigung zu antisemitischen Ressentiments findet sich in der Wählerschaft der Grünen. Dies gilt für alle Formen antisemitischer Ressentiments. Wie bereits bei dem Blick auf die ideologische Ausrichtung, wird im linken politischen Spektrum eine gewisse Bereitschaft für israelbezogenen Antisemitismus erkennbar. Die relational hohen Werte in der SPD und bei der Linken speziell des israelbezogenen Antisemitismus, welche an die der Nichtwähler:innen und der AfD-Anhänger:innen heranreichen, zeigen nochmals die Spezifik dieser Form des antisemitischen Ressentiments. So kommt es beim israelbezogenen Antisemitismus teilweise zu einer Interessenkoalition zwischen – wenn auch in der Größe begrenzten – Gruppen im linken Spektrum und Muslim:innen mit antiisraelischer sowie antisemitischer Prägung (Jikeli 2012). Da ihnen völkische Antisemit:innen der politisch rechten ideologischen Richtung zur Seite stehen, splittert sich das Spektrum der Antisemit:innen in Berlin in beachtlicher Weise auf.

4.4 Zwischenfazit der quantitativen Befragungsergebnisse

Fasst man die Ergebnisse der Umfrage zusammen, so ist die Existenz verschiedener Formen antisemitischer Ressentiments in Berlin festzustellen. Sie besitzt allerdings in Berlin – aufgrund methodischer Differenzen vorsichtig formuliert – ein geringeres Ausmaß als in anderen Bundesländern oder im Bundesgebiet. Dies gilt für alle Formen antisemitischer Ressentiments, selbst wenn diese je nach Form auch in Berlin in ihren Zustimmungsgraden variieren. Sekundärer und israelbezogener Antisemitismus finden sich in Berlin erheblich häufiger als primärer Antisemitismus. Hier, sowie in der Häufigkeit der Wahl der Antwortmöglichkeit teils/teils, entfaltet sich in geradezu exemplarischer Weise die Wirkung der bereits diskutierten Kommunikationslatenz (Bergmann und Erb 1986): Man lehnt antisemitische Aussagen nicht ab, stimmt ihnen aber (vorsichtshalber) auch nicht zu. Der folgende Abschnitt, in dem Antisemitismuserfahrungen jüdischer Berliner:innen geschildert werden, wird Aufschluss darüber geben, wie sich diese Kommunikationslatenz in unterschiedlichen Konstellationen äußert. Angesichts der im Bundesvergleich leicht unterdurchschnittlichen Zustimmungswerte scheint die Heterogenität der Berliner Stadtgesellschaft, wenn auch in Grenzen, der Ausbreitung antisemitischer Ressentiments entgegenzuwirken. Ein Verschwinden von antisemitischen Ressentiments bedeutet dies allerdings nicht. Auch in Berlin gibt es Menschen mit antisemitischen Ressentiments, selbst wenn sie eine Minderheit darstellen. Diese Minderheit ist prozentuell am geringsten beim primären Antisemitismus, wächst aber mit Blick auf den sekundären und israelbezogenen Antisemitismus zu einem beachtlichen Ausmaß.

Antisemitische Ressentiments speisen sich aus unterschiedlichen Quellen. Und diese Quellen sagen etwas über die Formen des Antisemitismus aus. Eine ideologische rechte Orientierung und die Zugehörigkeit zur Glaubensgruppe der Muslime erweisen sich als die dominanten Begründungsfaktoren in statistischen Regressionsanalysen. Die Gründe variieren allerdings mit den Formen des antisemitischen Ressentiments. Während sich der sekundäre Antisemitismus überwiegend aus rechtsnationaler Orientierung und autoritärem Denken speist, beruht der israelbezogene Antisemitismus in starkem Ausmaß auf herkunfts- bzw. religionsbezogenen Quellen. Überhaupt scheint die, oft dogmatischer ausgeprägte, Religiosität von Muslim:innen die Haltung gegenüber Jüd:innen ungünstig zu beeinflussen. Dies zeigt sich auch beim primären Antisemitismus.

Sei es die Religionszugehörigkeit, seien es Erfahrungen aus den Herkunftsgebieten der oft von Zuwanderungsgeschichte geprägten Muslim:innen in Deutschland, eine erhöhte Zustimmung zu antisemitischen Items in dieser Bevölkerungsgruppe ist nicht zu leugnen. Daraus ist allerdings nicht zu schließen, dass aller „neuer Antisemitismus“ muslimischer Antisemitismus ist. Schuldabwehrprozesse und Schuldumkehrungen (teilweise mit Israelbezug) sind in allen Teilen der Berliner Bevölkerung in beachtlichem Umfang verbreitet. Antisemitische Ressentiments stehen zudem in engen Beziehungen zu anderen gruppenbezogenen Vorurteilen, Ideologien der Ungleichwertigkeit und Rassismen. Gleichwohl besitzt der Antisemitismus aufgrund seiner Gesichte immer noch eine besondere Bedeutung für den Zustand der deutschen Demokratie und demokratischen politischen Kultur.

5 Antisemitismus aus jüdischen Perspektiven und als gesamtgesellschaftliches Problem

5.1 Divergente Perspektiven auf Antisemitismus

Die repräsentative Erhebung der Verbreitung antisemitischer Ressentiments kann per definitionem keine Aussagen darüber machen, wie diese Ressentiments im Alltag ausagiert werden. Und die ebenfalls repräsentative Erhebung von Diskriminierungserfahrungen im Berlin-Monitor zeitigt keine Erkenntnisse über antisemitismusbezogene Erfahrungen in der jüdischen Community, weil die Gruppe der Jüd:innen in Berlin so klein ist, dass sie in den Samples nicht in hinreichender Anzahl vertreten sind. Die in der Einleitung erwähnten standardisierten Befragungen von Jüd:innen in Europa und der Bundesrepublik Deutschland lassen indes vermuten, dass Antisemitismus auch von jüdischen Berliner:innen als ein sehr ernstes Problem erlebt wird. In der Aktivierenden Befragung widmeten wir uns vor diesem Hintergrund jüdischen Perspektiven auf Antisemitismus in Berlin, seinen Folgen und den gegebenen Umgangsweisen zwischen defensiver und offensiver Handhabung sowie individuell-situativer und kollektiv-politischer Gegenwehr. Diese Hinwendung zur sogenannten Betroffenenperspektive ist in der Antisemitismusforschung ein recht junges Phänomen (Schäuble 2017, S. 548–549). Noch vor einigen Jahren wurde diesbezüglich von einem „Paradigmenwechsel“ gesprochen, durch welchen ein Verständnis für das Wirken von Gewalt entwickelt werden könne, wie es in „täterfixierter“ Forschung nicht möglich sei (Zentrale Wohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland und Marina Chernivsky 2017, S. 46; Chernivsky und Wiegemann 2017). Zudem würden Betroffene durch den Rückgewinn von „Deutungshoheit“ jenseits „zugeschriebener Identitätsordnungen“ empowert (Zentrale Wohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland und Marina Chernivsky 2017, S. 48). Dass dieser wichtige Perspektivwechsel eine Kehrseite haben kann, verdeutlichte ein:e unserer Gesprächspartner:innen mit der Feststellung: „Wir finden nach wie vor, dass Antisemitismus das Problem der Mehrheit- oder der Antisemiten und Antisemitinnen ist und nicht unseres. Dass wir nur mit den Konsequenzen zu leben haben, aber dass wir deswegen auch nicht die Expert:innen für Antisemitismus sind (lacht), sondern wir sind die Expert:innen für jüdisches Leben. […] [W]ir wollen gestalten und nicht nur abwehren.“Footnote 20

In unserer Studie Antisemitismus – Heterogenität – Allianzen (Reimer-Gordinskaya und Tzschiesche 2021) haben wir uns vor diesem Hintergrund bemüht, einem dreifachen Anspruch gerecht zu werden: erstens Antisemitismus als gegenwärtige und gewaltvolle Praxis mit langer Tradition wahr- und ernst zu nehmen, zweitens das Wissen und Forderungen der von dieser Gewalt Betroffenen systematisch zu erheben und zu verbreiten, drittens dabei aber Jüd:innen nicht „von einer Opferrolle in die nächste“ zu schieben und jüdische Kulturen und Zugehörigkeiten nicht nur im Zusammenhang mit Antisemitismus zu thematisieren. Im folgenden Abschnitt werden Erkenntnisse aus dem ersten der drei Schwerpunkte der StudieFootnote 21 dargestellt und es werden Beziehungen zu Ergebnissen anderer Studienteile des Berlin-Monitors, insbesondere der Repräsentativerhebung von antisemitischen Ressentiments, hergestellt. Folgende Fragen und Themen sollen dabei in den Blick genommen werden: Wie manifestiert sich Antisemitismus im Alltag von jüdischen Berliner:innen? Wie gehen Jüd:innen mit Antisemitismus um? Welche Unterstützung erfahren sie (nicht)? Welche Folgen hat dies für sie und für die demokratische Kultur der Berliner Stadtgesellschaft?

Wir betrachten Antisemitismus hier als alltägliches und gewaltvolles Geschehen, das – wie sich zeigen wird – weit- und tiefreichender ist, als bestimmte Einstellungsbefunde vermuten lassen. So stimmten „nur“ 3 % bzw. 10 % der Berliner:innen voll und ganz oder eher bzw. teils der Aussage zu „Juden haben etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht recht zu uns“ (vgl. Kapitel 4.1); die Schilderungen unserer Gesprächspartner:innen geben nicht nur Einblick in das Ausagieren dieser Ressentiments, sondern auch in antisemitismusbezogene Praxen eines Teils der 97 bzw. 90 %, die einer solchen Aussagen (eher) nicht zustimmten. Insofern blicken wir aus jüdischen Perspektiven auf Antisemitismus und diesen als gesamtgesellschaftliches Problem, dem gemeinsam umfassender und effektiver als bislang begegnet werden muss.

5.2 Dimensionen von Antisemitismuserfahrungen in Berlin

Als Konsequenz der subjektzentrierten (vgl. Kapitel 3) Auswertung des Materials in der Aktivierenden Befragung des Berlin Monitors, hat sich eine verallgemeinernde Kategorisierung antisemitismusbezogener Erfahrungen hinsichtlich ihrer graduellen Ausprägungen im interaktiven Geschehen als sinnvoll erwiesen: Wir unterscheiden dabei zwischen a) Besonderung, also der Konstruktion von Jüd:innen als „Andere“, b) Aggressionen, also verbalen oder physischen Angriffen und c) terroristischer Bedrohung, der Jüd:innen bzw. die Nutzer:innen jüdischer Einrichtungen ausgesetzt sind. Hinzu kommt eine Erfahrungsdimension, die quer zu den bereits genannten Kategorien liegt, sich also als Besonderung, Aggression oder Bedrohung äußern kann: d) Jüdische Berliner:innen stehen im Israel-Blick der Mehrheitsgesellschaft.Footnote 22 Diese Dimensionen lassen sich in der hiesigen Darstellung unterscheiden, überlagern und verschränken sich aber in der subjektiven Erfahrungsgeschichte einer jeweiligen Person. Hierauf, sowie auf die Bedeutung der Kontextbedingungen für das Erleben antisemitischer Zumutungen, soll in der Folge eingegangen werden.

Jüdische Berliner:innen machen in ihrem Alltag regelmäßig die Erfahrung in öffentlichen Diskursen oder in beruflichen und privaten Interaktionen von einem dominanten Standpunkt aus als „Andere“ markiert und somit symbolisch und materiell ausgeschlossen zu werden. Wir bezeichnen dieses Phänomen als Besonderung und wollen es damit einerseits an den aus der postkolonialen Theorie stammenden Begriff des „Othering“ (Spivak 1993) anlehnen und andererseits die Spezifik der jüdischen Erfahrung betonen. Solche Markierungen finden in der medialen Öffentlichkeit bspw. statt, wenn von „jüdischen Mitbürger/innen“ die Rede ist, denn, wie ein:e Gesprächspartner:in bemerkt, „wenn du „Mit-“‚ bist, bist du nicht dabei“. Solche Markierungen finden auch im privaten Umfeld statt, wenn bspw. die jüdische Zugehörigkeit einer Bekannten ungewollt erwähnt wird: „das ist meine jüdische Blablabla“. Da Gesprächspartner:innen auch unsichere, verkrampfte oder übergriffige Reaktionen auf die Mitteilung ihrer jüdischen Zugehörigkeit erleben und sich daher situativ gegen ein „Bekenntnis“ entscheiden, kann eine solche Präsentation als unfreiwilliges Outing verstanden werden. Von dem:der hier betroffenen Gesprächspartner:in wurde sie als peinlich erlebt. Besondernde Markierungen wurden von Gesprächspartner:innen nicht immer dezidiert als antisemitisch wahrgenommen, sondern auch als etwas, was „etwas mit Geschichte und mit Unsicherheiten und mit […] vielleicht auch transportieren Vorstellungen von Antisemitismus, aber vor allen Dingen mit „man weiß nicht, wies geht“, zu tun hat“. Begründungszusammenhänge können auch im Philosemitismus als seit 1945 „durch Schuld- oder Schamgefühl verursachte (…) intensive Beschäftigung der Nichtjuden mit jüdischer Kultur“ (Brenner 2001) liegen. Diesen symbolisch ausgrenzenden Praxen kann auch eine Vorstellung deutscher Identität im Sinne des ius sanguinis zugrunde liegen.Footnote 23 Der:die Gesprächspartner:in bezieht sich hier auf die Zeit vor der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts im Jahr 2000 und schließt den Kommentar an: „Aber die Mentalität, die ich hinter diesem Gesetz sehe, die ist ja noch da.“ Dieser homogenisierenden Konstruktion des Deutschen entsprechen homogenisierende Konstruktionen der „jüdischen Anderen“: „Wenn ich in die Medien gucke, welche Bilder über Juden und Jüdinnen gibt es denn da? Da tauchen Menschen wie ich oder mein Freundeskreis einfach überhaupt nicht auf. Wir sind aber die Mehrheit. Und das ist halt so’n bisschen (lacht), das find ich sehr absurd.“ Exemplarisch kann hierfür Der Spiegel 4/2019 herangezogen werden: Das Titelthema „Jüdisches Leben in Deutschland“ wird mit einem Foto zweier orthodoxer Männer bebildert, welches vermutlich im Scheunenviertel der 1920er-Jahre aufgenommen wurde und in der NS-Propaganda verwendet wurde (vgl. Jüdische Allgemeine vom 02.08.2019). Auch der Untertitel, „Unbekannte Welten nebenan“, stellt Distanz und Fremdheit her. Ob Besonderungen „nett gemeint“ oder negativ stereotypisierend sind, Gesprächspartner:innen entschieden sich im Zweifelsfall lieber dafür, „im Schrank“ zu bleiben, denn als „Ausnahmeerscheinung“ behandelt zu werden. Ein:e in Deutschland aufgewachsene:r Jüd:in artikulierte in diesem Zusammenhang den Anspruch: „Ich glaube, ich habe mir sehr oft in meinem Leben gewünscht, dass Judentum in Deutschland nicht sowas Besonderes sein muss.“

Als Aggressionen fassen wir direkte und indirekte verbale und körperliche Übergriffe, also Stereotypisierungen, Beleidigungen und Gewalt gegen Personen oder personenbezogene Gegenstände. Gesprächspartner:innen berichteten u. a. davon, am Alexanderplatz „mit hässlichen Worten belegt“ worden zu sein, von angeblichen Witzen in der Schule wie der Frage, wo denn „das Judengold“ sei, dem Beschmieren von Veranstaltungsplakaten vor dem Büro in einer Hochschule mit den Worten „jüdischer Dreck“ oder von Sprüchen wie „42 war das beste Jahr der deutschen Geschichte“ im Westberliner Bildungsbürgertum. Auch medial vermittelte, stereotypisierende Darstellungen einer jüdischen Person, wie in den Karikaturen George Soros’ als Strippenzieher des „Großen Austauschs“Footnote 24, werden von Gesprächspartner:innen als „Judenbashing“ wahrgenommen, welches exemplarisch an in der Öffentlichkeit stehenden Jüd:innen vollzogen wird, aber sie als Kollektiv adressiert. Derartige Aggressionen zu erleben bedeutet mindestens, dass „man […] einfach nur, ja, herabgesetzt oder diffamiert [ist]“, auf weitere Folgen, die diese Zumutungen oder ihre Antizipation für den Alltag der Betroffenen haben, kommen wir später zurück.

Die dritte Dimension der Antisemitismuserfahrung ist die massive Bedrohung durch terroristische Gewalt, mit der die jüdische Bevölkerung Berlins konfrontiert ist. Vorkehrungen wie Polizeischutz, Panzerglas und Sicherheitsschleusen gehören zum jüdischen Alltag in Berlin, die Leben schützen und es zugleich einschränken. In Einladungen zu Veranstaltungen oder privaten Feierlichkeiten werden Adressen bisweilen nur intern kommuniziert, man müsse „immer nachdenken“, kommentiert ein:e Gesprächspartner:in. Die Schutzvorkehrungen schaffen zudem Distanz: „[D]u gehst hin, wo es Polizisten gibt. Viele Leute wissen überhaupt nicht, was da drin ist, und du gehst so rein.“ Ein Teil des in der Bundesrepublik Deutschland vorhandenen antisemitischen Gewaltpotentials hat sich im Oktober 2019 im Anschlag eines rechtsextremen Terroristen auf die an Yom Kippur versammelte jüdische Gemeinde in Halle (Saale) manifestiert. Für nicht-jüdische Politiker:innen war dies eine Überraschung, was Gesprächspartner:innen verärgert kommentierten: „[A]lso diese Idee von Überraschung macht mich sehr wütend, weil ich bin fast jede Woche in der Synagoge und ich habe […] mehrmals mit meinen Kindern dagesessen und gedacht, okay, wenn so und so passiert, dann gehen wir in diese Richtung, diese Tür ist auf. Also wir denken darüber oft (lacht). Wir sehen – also, wenn ich zur Schule komme, gehe ich durch die Sicherheit, es ist Thema immer. Es ist nicht neu.“Footnote 25

Quer zu den bisher geschilderten Erfahrungsdimensionen werden jüdische Berliner:innen unabhängig von Staatsbürgerschaft oder politischer Haltung mit dem Staat Israel identifiziert und für dessen Politik im Kontext des Nahostkonfliktes verantwortlich gemacht, ein Phänomen, welches wir als praktisch gewordenen Israel-Blick der Mehrheitsgesellschaft bezeichnen. Die geschilderte Dynamik kann sich entlang der zuvor genannten drei Praxen graduell zuspitzen und mit mehr oder weniger expliziten antisemitischen Topoi verknüpft sein. Jüd:innen werden durch ihre Identifikation mit Israel zu einer Projektionsfläche, zur Idee „des Juden“, und als solche einer mehr oder weniger aggressiven (Israel‑)Kritik ausgesetzt. Dabei wird Israel als „the Jewish State into a „Jewish“ State“ (Klug 2003, S. 125) verwandelt. Ein:e Gesprächspartner:in beschreibt diese Praxis der israelbezogenen Projektion als „allgemeiner Mainstream“, es machten, so wird die Häufigkeit und Persistenz dieser Erfahrung subjektiv zum Ausdruck gebracht, „achtzig bis neunzig Prozent aller Deutschen. Und zwar gewohnheitsmäßig“. Allgemein wurde die Erfahrung (von einer:m anderen Gesprächspartner:in) als belastend beschrieben: „Und wenn man spricht mit dir, als ob du verantwortlich bist für alles, was Israel macht oder alles, was Juden machen etc., ist es, it’s exhausting.“ Unfreiwillige Gespräche über die Besatzungspolitik bei einer großen „Unkenntnis ner israelisch-palästinensischen Lebensrealität“ auf der Seite des Gegenübers machten Gesprächspartner:innen auf Dauer „an dieser Stelle wund“. Zudem wurde bedauert, dass es im nicht-jüdischen Umfeld keine Sensibilität dafür gebe, „was Israel für ein Zufluchtsort war“Footnote 26 und angesichts der kontinuierlichen antisemitischen Bedrohung im Alltag der Diaspora für einige Jüd:innen auch noch ist.

Die beschriebenen Antisemitismuserfahrungen kommen in fast allen Lebensbereichen der Betroffenen vor: In der analogen und digitalen Öffentlichkeit, am Arbeitsplatz, z. B. in Hochschule oder im Kulturbetrieb, in Schulen, im häuslichen Umfeld, im Zuge ehrenamtlicher Tätigkeiten oder im Vereinsleben. Dementsprechend unterschiedlich ist die Beziehung, die die Betroffenen zu den Urheber:innen haben. Es können gänzlich Unbekannte sein, denen man im öffentlichen Raum begegnet, aber auch Bekannte wie Mitschüler:innen und Kolleg:innen, Familienangehörige von Freund:innen oder politische Mitstreiter:innen. Blickt man aus der Sicht von Betroffenen auf die politischen und demografischen Hintergründe der Urheber:innen, ist wesentlich, dass sich diese nicht an einem eindeutigen Profil erkennen lassen. Selbst wenn Studien immer wieder die besonders enge Verbindung antisemitischer Ressentiments und Gewalt mit dem politisch rechten Lager verdeutlichen, können sie auch aus dem linken oder islamistischen Lager sowie aus (fast) allen sozialen Milieus der Berliner Stadtgesellschaft kommen (vgl. Kapitel 4 und Pickel et al. 2019, S. 56ff und 118ff). Ein:e Expert:in stellt die Tatsache, dass „es [] eigentlich aus allen Richtungen kommen [kann]“ und insofern schwer bis gar nicht antizipierbar ist, als eine große Herausforderung für den Umgang mit Antisemitismus heraus.

Ideologisch wird aus der langen Geschichte der Judenfeindschaft geschöpft: Vormoderner Antijudaismus geht Verbindungen mit modernen antisemitischen Stereotypen ein, welche dann Israel- oder Holocaust-bezogen gewendet werden. Beispielhaft lassen sich sowohl der Ausruf „Kindermörder Israel“ anführen, der u. a. im Sommer 2014 auf Demonstrationen anlässlich des Gazakriegs zwischen der Hamas und Israel zu hören war. In diesem Ausdruck verbindet sich die seit dem Mittelalter tradierte, christlich-antijüdische Stereotype des rituellen Nutzens des Bluts christlicher Kinder mit gegenwärtigen israelbezogenen Projektionen. Auch in der Verschwörungserzählung der QAnon-Bewegung, eine globale Elite gewönne aus dem Blut unterirdisch gefangener Kinder einen Stoff der ewigen Jugend, wird diese Ritualmordlegende tradiert und aktualisiert. Diese Beispiele verdeutlichen, was ein:e Expert:in formulierte: dass der christliche Antijudaismus Teil der „kulturellen DNA Europas“ ist.

5.3 Kontextbedingungen, Bedeutung für Betroffene und gesamtgesellschaftliche Dynamik

Der Lebensbereich und die Beziehung zu den Urheber:innen sind bedeutsam dafür, wie mit antisemitischen Praxen umgegangen wird. Die Anonymität des öffentlichen Raumes kann z. B. ermöglichen, beleidigenden Äußerungen und bedrohlichen Gesten unmittelbar laut und deutlich zu begegnen: „Ich scheue die Auseinandersetzung da nicht. Ich habe keine Angst.“, kommentiert dies ein:e Gesprächspartner:in. Gleichzeitig kann das Erleben von Besonderung im persönlichen Umfeld, wie etwa in philosemitischer Manier als „meine jüdische Bekannte“ vorgestellt zu werden, zu massiver Beschämung führen und einen offensiven Umgang erschweren. Im hier skizzierten Fall bezeichnet der:die Gesprächspartner:in seine:ihre Reaktion als „Rumpelstilzcheneffekt“: „Ich möchte sofort im Erdboden versinken und auf der anderen Seite der Erde wieder rauskommen, weil ich es als ganz schrecklich empfinde. Und da es so schwierig zu thematisieren is, schluck ich das meistens runter.“ Am Arbeitsplatz oder in der Schule Antisemitismuserfahrungen zu machen bedeutet, dass dies in einem Lebensbereich geschieht, in dem Betroffene sich in Abhängigkeitsbeziehungen befindenFootnote 27 und wo sie sich regelmäßig und lange aufhalten müssen bzw. wollen. Besonders verunsichernd können Antisemitismuserfahrungen in Lebensbereichen sein, die Rückzugs- und Schutzraum sind bzw. sein sollten. Dies gilt speziell für Vorfälle am oder in der Nähe des Wohnortes.

Zu den Kontextbedingungen der geschilderten Antisemitismuserfahrungen gehört zudem, dass die Interaktionen in Deutschland stattfinden und Teil einer postnationalsozialistischen Konstellation sind. Das Wissen darum, dass der „Zivilisationsbruch, verübt an den Juden“ (Diner 2007, S. 14) von Berlin ausging, kann als Hintergrund von Erfahrungen präsent sein. Dies äußert sich z. B. darin, dem neuen Mitbewohner nach dem Umzug nach Berlin vorsichtshalber mitzuteilen, dass man sich offiziell bei der Jüdischen Gemeinde registriert habe.Footnote 28 „[J]ust in case“, kommentierte es der:die Gesprächspartner:in, also „für den Fall“, dass (wieder) eine politische Situation eintreten könnte, in der dies eine Bedrohung für den gemeinsamen Haushalt darstellt. Dieses Wissen äußert sich auch, wo als neonazistisch erkennbare Personen eine „Form von Angstmoment“ auslösen, unabhängig davon, ob eine Konfrontation stattgefunden hat oder die Person in der Situation bspw. durch sichtbar getragene Symbole als Jüd:in erkennbar war. So oder so gebe es das Bewusstsein, „da ist eh ne Feindschaft“.

Äußerst wichtig für die Bedeutung, die antisemitismusbezogene Erfahrungen für die Betroffenen annehmen und dafür, welche Umgangsweisen ihnen zur Verfügung stehen, ist auch, wie Dritte reagieren. Berichte über solidarische Reaktionen stellten eine Leerstelle in unseren Gesprächen dar. Ein:e Gesprächspartner:in beschrieb zufällig anwesende Passant:innen im Umfeld antisemitischer Vorfälle als „Ewig-Wegguckende“. Andere Gesprächspartner:innen berichteten von ausbleibenden Reaktionen verantwortlicher Stellen: „Auf meine Meldung ans Dekanat wurde weder von Seiten der Fachbereichsverwaltung noch von den Dekan:innen reagiert.“Footnote 29 Auch von sekundär antisemitischen AggressionenFootnote 30 wurde berichtet: Eine leitende pädagogische Fachkraft meinte in Reaktion auf die Thematisierung des Mobbings eines jüdischen Kindes, es sei ja auch kein Wunder, das Kind habe das Jüdischsein ja auch so herausgekehrt – und vollzieht so eine Täter-Opfer-Umkehr.

Das Verhalten Dritter ist ein integraler Bestandteil der Erfahrung von Diskriminierung, weil sich die Dynamik der Gewalt nicht allein zwischen Täter:innen und Opfern entfaltet: „Für die angegriffene Person kommt das unmittelbare Übel von dem/der Angreifer:in, das nachhaltige jedoch von der Gruppe, die wegschaut. Für sie ist es keine Überraschung, von jemandem attackiert zu werden, der voller Hass […] ist. Dass aber Menschen zuschauen und nicht eingreifen, nicht helfen, vielleicht im Nachhinein sogar das Geschehene leugnen, verursacht die Verletzung, die sie in ihrem Grundvertrauen erschüttert.“ (Salzmann 2019, S. 21).

In subjektiver Perspektive gehört zum Kontext einer antisemitismusbezogenen Erfahrung auch, welche weitere, ähnliche oder im Zusammenhang stehenden Erfahrungen eine Person als Jüd:in in Deutschland gemacht hat. Erfahrungen lagern sich in individuellen Biographien übereinander und werden zueinander in Beziehung gesetzt. Durch Fremde auf offener Straße beleidigt zu werden kann sich mit der Alltagserfahrung verbinden, durch eine Sicherheitsschleuse zu müssen, um eine jüdische Schule oder die Synagoge zu besuchen. Das Bild einer brennenden Israelfahne kann sich mit der Erfahrung verbinden, im Alltag auf den Nahostkonflikt angesprochen und für Politiken der israelischen Regierung verantwortlich gemacht zu werden. Als jüdische Bekannte vorgestellt zu werden, kann sich mit der Erfahrung verbinden, dass Dritte bei Übergriffen nicht einschreiten oder den Hinweis auf das antisemitische Geschehen als Vorwurf abwehren und ggf. mit weiteren antisemitischen Reaktionen reagieren. Vor diesem Hintergrund verstehen wir die Erfahrung von Antisemitismus als ein interdependentes Phänomen.

Kommen wir vor diesem Hintergrund auf die Ergebnisse der Repräsentativerhebung zurück, so lässt sich die Bedeutung der 90 % der Gesamtbevölkerung, die der o. g. antisemitischen Behauptung einer „Eigentümlichkeit“ von Jüd:innen (auch) nicht (teils) zustimmen, für das antisemitismusbezogene Geschehen einschätzen: Diese Gruppe vertritt zwar nicht die Einstellung, dass „Die Juden [] einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich [haben] und [] nicht so recht zu uns [passen]“, könnte Jüd:innen gegenüber im Alltag dennoch in besondernder Weise agieren. Zudem lässt sich auf der Grundlage der Befunde zur Verbreitung dieses Ressentiments auch nichts darüber sagen, ob diese übergroße Mehrheit angegriffenen Jüd:innen zur Seite steht. Aus deren Sicht ist es indes nicht nur entscheidend, wer ihnen gegenüber gewaltbereit ist, sondern auch, ob eine große gesellschaftliche Mehrheit dies aktiv und offen ablehnt und sie unterstützt und schützt.Footnote 31 Ressentiments abzubauen ist ein wichtiger Anfang. Damit eine Gesellschaft sich als demokratisch im umfänglichen Sinne der gleichen Teilhaberechte für alle bezeichnen kann, muss ihre Mehrheit allerdings einen wesentlichen Schritt weiter gehen und solidarische Alltagsbeziehungen entwickeln.

5.4 Handhabung zwischen (Un‑)Sichtbarkeit und Gegenwehr

Besonderungen oder antisemitische Aggressionen treffen Betroffene zwar als Angehörige einer (fremdkonstruierten) Gruppe, haben aber situativ einen vereinzelnden Effekt, wenn das nicht-jüdische Umfeld nicht solidarisch reagiert.Footnote 32 Derart individualisiert handhaben jüdische Berliner:innen diese Situationen trotzdem aktiv. So wird unter teils fremdbestimmten Umständen eine kulturelle, soziale oder religiöse jüdische Alltagspraxis organisiert und gelebt. Und angesichts antisemitischer Alltagspraxen werden Umgangsweisen zwischen Gegenwehr und Vermeidung praktiziert: Mit offensiven, also lauten und argumentativen Umgangsweisen, kann Verletzung in Wut umgewandelt und ein Stück Handlungsmacht zurückerobert werden. So berichtet ein:e Gesprächspartner:in: „Verletzendere Momente ehrlich gesagt, ich weiß nicht, ob ich damit einen guten Umgang habe. Ich werde dann sauer, ich schreie dann die Leute an. Genau, und wenn ich die Leute nicht einmal anschreien kann, dann ist es immer ein scheiß Moment.“ Ein:e andere:r möchte mit der verbalen Auseinandersetzung, in der er:sie „den elaborierten Code“ auch mal verlasse, das Gegenüber „ein bisschen wach rütteln“ und das Umfeld „hellhörig“ machen.

Solche Reaktionen erfordern viel Kraft, eine Kraft, mit der man laut eines:r weiteren Gesprächspartner:in auch haushalten müsse: „Es ist eine schwierige Arbeit und ich muss auch meine Energie halten und ich muss dann entscheiden, wo macht es Sinn (lacht).“ Diese Abwägung ist auch von den oben geschilderten Kontextbedingungen abhängig: Betroffene wägen u. a. ab, welche (privaten und beruflichen) Folgen ein offener Konflikt für sie haben könnte und ob es dabei Aussicht auf Unterstützung gibt. Ein:e Gesprächspartner:in beschreibt das Dilemma, in dem sich Betroffene am Ende einer solchen Abwägung befinden können: Einerseits ließe „das Gespräch ab[zu]brechen einen in irgendeiner Form von Machtlosigkeit dann irgendwie auch zurück“, andererseits sei es aber „definitiv auch ein Handlungsmoment zu merken, ok, ich kann die Situation einfach auch verlassen“. Die Erfahrung zu machen, dass die eigene Verteidigung allseitig auf Abwehr stößt, kann ein Ohnmachtsgefühl auslösen.Footnote 33 In Folge bewusst zu entscheiden, welche Auseinandersetzungen man führen möchte – und welche nicht – ist dann Ausdruck eines selbstbestimmten Umgangs mit dieser fremdbestimmten Konstellation.

Die Situation zu verlassen, heißt für viele Betroffene, ähnliche Situationen zu antizipieren und wenn möglich zu meiden. „Also, dass einfach, wenn wir davon sprechen, wie prägt Antisemitismus den Alltag, dann geht es eben nicht nur um die täglichen Erfahrungen, sondern auch um das tägliche Antizipieren und das tägliche Vermeiden der Erfahrung. Sich den Alltag so anzupassen, sich zu überlegen, wann erzähle ich meinen Kindern oder wie erzähle ich meinen Kindern, wie sie in der Schule mit dem Jüdischsein umgehen sollen et cetera.“ Quantitative Befragungen zeigen, wie verbreitet es ist, die jüdische Zugehörigkeit in Reaktion auf antisemitische Vorfälle in der Öffentlichkeit nicht mehr mitzuteilen, teils aktiv zu verstecken. So geben 38 % der im Auftrag des Zweiten Unabhängigen Expertenkreises 2016 durchgeführten Befragung an, in Folge eines antisemitischen Vorfalls ihre jüdische Zugehörigkeit in der Öffentlichkeit (ganz oder eher) verdeckt zu haben. Und über die Hälfte der Befragten hat soziale Kontakte (ganz oder eher) abgebrochen und versucht, ähnliche Situationen zu meiden (Zick et al. 2017, S. 30).Footnote 34 Ein solcher Umgang ist subjektiv funktional, um sich selbst, Familie und Community zu schützen. Der Umstand, dass infolge dann ggf. weniger Vorfälle verzeichnen werden, verweist dann weniger auf ein sinkendes antisemitisches Potenzial, als auf antisemitismusbezogene Probleme sui generis: Die notgedrungene Unsichtbarmachung jüdischer Zugehörigkeit, die Vermeidung von Begegnungen, in denen antisemitisches Verhalten antizipiert wirdFootnote 35 und Entscheidungen der Betroffenen gegen eine (öffentliche) Artikulation des Erlebten, um Abwehr oder sekundäre antisemitische Reaktionen zu vermeiden.Footnote 36

5.5 Artikulation, Sichtbarkeit, Minimierung von Antisemitismus?

Dass Antisemitismuserfahrung aus unterschiedlichen Gründen oft nicht gemeldet werden, kann in Kombination mit teils relativ niedrigen Zustimmungswerten zu antisemitischen Aussagen in repräsentativen Befragungen und einer Tradition historisch orientierter Antisemitismusforschung (Schäuble 2017) dazu beitragen, gegenwärtigen Antisemitismus für ein gesellschaftliches Randphänomen zu halten. So gilt Antisemitismus im Selbstbild der demokratischen Nachkriegsgesellschaften als ein Problem wahlweise der Vergangenheit oder der „Anderen“ (Hagen und Neuburger 2020). Antisemitismus existiert immer woanders als dort, wo man sich selbst bewegt: in anderen Zeiten, repräsentiert durch ältere Generationen, an anderen Orten, in Berlin häufig in Form anderer Bezirke, oder in anderen politischen Strömungen.Footnote 37 Dass dies mehr dem Wunschbild der AufarbeitungsweltmeisterFootnote 38 als der Realität entspricht, zeigen u. a. die hier dargestellten Ergebnisse. Unter Jüd:innen ist die tief- und weitreichende Virulenz des gegenwärtigen Antisemitismus indes bekannt und es ist seit langem oft vergeblich versucht worden, Gehör in der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft für diese vielschichtige Problematik zu finden.

Systematische Erhebungen und die Publikation dieses Wissens sind ein junges Phänomen, haben aber in den letzten Jahren entscheidend dazu beigetragen, den skizzierten Kreislauf der Unsichtbarkeit zu durchbrechen. Ein:e Gesprächspartner:in kommentierte diesen Prozess so: „Jahrelang wurde Antisemitismus ohne Bezug zu den hier und jetzt lebenden Menschen studiert und verstanden. Das gilt es, heute radikal zu verändern.“ Zu diesem Wandel trugen die bereits erwähnten quantitativen Betroffenenumfragen der Agentur der EU für Grundrechte bei, die erstmals 2013 Ergebnisse einer Befragung von Jüd:innen zu Antisemitismus veröffentlichte. Kurz darauf beauftragte der Zweite Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus der Bundesregierung eine Studie, in der 553 Jüd:innen nach ihren Erfahrungen und Umgangsweisen mit Antisemitismus befragt wurden (Zick et al. 2017). Die zutage geförderten Ergebnisse wühlten auch professionelle Akteur:innen auf: „Mich haben die Ergebnisse der Befragung persönlich ziemlich erschüttert. Ich sagte, mein Gott. (lacht)“. Die Diskrepanz zwischen erlebten und gemeldeten, also Öffentlichkeit und Behörden bekannten antisemitischen Vorfällen, wies auf die Notwendigkeit niedrigschwelliger und zielgruppenspezifischer Anlaufstellen hin. Es entstanden infolgedessen eine psychosoziale Beratungsstelle (OFEK) und eine zivilgesellschaftliche Meldestelle, die Betroffene auch hinsichtlich strafrechtlicher Schritte berät und begleitet (RIAS). Diese doppelgleisige Strategie aus Beratung und Meldung ermöglicht es, einerseits Betroffene individuell zu begleiten, andererseits durch die Aufbereitung und Veröffentlichung der gemeldeten antisemitischen Vorfälle das Ausmaß des Problems gesellschaftlich sichtbarer zu machen (vgl. für das Jahr 2019 RIAS 2020).

Die Gesprächspartner:innen erinnern sich, dass dieser Prozess für die Communities auch „etwas Aktivierendes“ hatte. Die Frage nach antisemitismusbezogenen Erfahrungen, die Bitte danach, diese zu melden und so zum öffentlichen Problembewusstsein beizutragen, führte dazu, dass man sich auch innerhalb der Gemeinden über Erfahrungen und Umgangsweisen auszutauschen begann. So wurde diskutiert „wie verarbeiten wir denn bisher unsere Erfahrungen und warum machen wir es denn so passiv oder warum machen wir es nur so und wenn’s eigentlich andere Möglichkeiten gibt“, wie ein:e Gesprächspartner:in schildert. Auf diese Weise konnte der Kreislauf aus Antisemitismuserfahrungen und mangelnder Solidarität, dem funktionalen Verstecken jüdischer Zugehörigkeit und der so indirekt und unfreiwillig verstärkten öffentlichen Unsichtbarkeit des Problems zunehmend durchbrochen werden. Interne Verständigung über Erfahrungen, die so als kollektive verstanden werden können, Footnote 39und externe Kommunikation kann im besten Fall zu mehr gesamtgesellschaftlicher Anerkennung des Problems führen. Dies kann zu einer sich selbst verstärkenden Dynamik des Empowerments werden: „Wir wollten zeigen, dass sie handlungsmächtig sind, Solidaritäten haben und selbst aktiv werden können.“, so benennt ein:e Gesprächspartner:in Ziel und Resultat des Prozesses.

Diese Entwicklung hat die Wahrnehmung von Antisemitismus in der Mehrheitsgesellschaft verändert. Statt Antisemitismus (vorwiegend) als Problem der Vergangenheit, als Ideologie oder Einstellungen ohne konkrete Adressat:innen zu verstehen, gerät nun seine Gegenwärtigkeit, Alltäglichkeit und lebensweltliche und persönliche Bedeutung aus der Sicht von Jüd:innen in den Blick.Footnote 40 Ein:e Gesprächspartner:in resümiert: „Das heißt, also, wenn diese Leute auf der Straße angesprochen werden, angespuckt oder irgendwas mit denen passiert, gibt es darüber ein Wissen.“

5.6 Zwischenfazit

Die Untersuchung antisemitischer Ressentiments mittels repräsentativer Erhebungen und die der Erfahrung von Antisemitismus im Alltag aus jüdischen Perspektiven unterscheiden sich nicht nur methodisch. Blickt man genauer auf die Phänomene, so wird deutlich, dass es sich im Grunde um unterschiedliche Gegenstandsbereiche handelt: Im einen Fall werden Einstellungen erhoben, die von sozialen Interaktionen und deren konkreten sozialen Kontexten abstrahieren, im anderen Fall geht es um das Ausagieren von Ressentiments mit seinen Folgen für Juden:Jüdinnen und die demokratische Kultur unter explizitem Einschluss dieser Kontexte. Auf diese systematische Differenz, die mehr als die übliche Unterscheidung zwischen Einstellungen und Verhalten (Mummendey 1988; Fischer et al. 2013, S. 79ff.) meint, hatte bereits Richard LaPiere (1934) verwiesen. In seiner Studie unterblieb rassistische Diskriminierung in der direkten Begegnung, wo sie von der vorher geäußerten Einstellung her zu erwarten gewesen wäre. In Bezug auf Antisemitismus deuten die Erkenntnisse des Berlin-Monitors umgekehrt darauf hin, dass antisemitismusbezogene Alltagspraxen in ihrer Qualität und ihren Folgen für Jüd:innen und die gesamte demokratische Kultur noch weit- und tiefreichender sind, als es die Einstellungsbefunde vermuten lassen.

In der Aktivierenden Befragung des Berlin-Monitors haben wir Besonderung, Aggression, terroristische Bedrohung und einen Israel-Blick der Mehrheitsgesellschaft als Dimensionen der Antisemitismuserfahrung identifiziert, ihre Bedeutung für jüdische Berliner:innen sowie deren Umgangsweisen mit antisemitischen Praxen beschrieben und angesichts dessen gesamtgesellschaftliche Handlungsnotwendigkeiten benannt. Wichtig ist, dass Jüd:innen als sog. Betroffene Akteur:innen sind, die das antisemitismusbezogene Geschehen aktiv handhaben und im Rahmen der gegebenen Konstellationen ihnen sinnvoll erscheinende Strategien verfolgen. Werden defensiv-meidende Umgangsweisen genutzt, ist zu fragen, welche Bedingungen alternative Handlungsmöglichkeiten ggf. verhindern und wo sich Möglichkeiten abzeichnen, diese Bedingungen zu verändern. Die Transformation behindernder Umstände wurde in Berlin in den letzten Jahren aus der Zivilgesellschaft heraus initiiert. So ermöglichen neue Melde- und Beratungsstellen es, individuelle Antisemitismuserfahrungen gebündelt zu dokumentieren, die Schwelle zur öffentlichen Sichtbarkeit zu überschreiten und Betroffene zu empowern. Dies hat dazu beigetragen, dass das gesamtgesellschaftliche Problembewusstsein für Antisemitismus als gegenwärtiges und gewaltvolles Phänomen gewachsen ist.

Damit Strukturen politisch angegangen und verändert werden, ist ein öffentliches Bewusstsein des Problems zwar notwendig, aber nicht hinreichend. Sichtbarkeit muss durch kontinuierlichen Druck von Selbst- oder anwaltschaftlicher Organisierung ergänzt werden. Ein:e Expert:in kommentiert, „[d]ie Politik reagiert jetzt, aber das funktioniert nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben.“ Vor diesem Hintergrund möchten wir noch einmal auf die einleitend angesprochene Ambivalenz zurückkommen: Jüdische Berliner:innen wollen „gestalten und nicht nur abwehren“, sind „Expert:innen jüdischen Lebens“, und weisen dementsprechend darauf hin, dass „Antisemitismus ein Problem der Antisemit:innen“, nicht das ihre ist. Umso wichtiger ist es, dass die nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft ihrer Verantwortung gerecht wird, ihm effektiver als bisher entgegen zu treten. Denn, in den Worten eines:r Gesprächspartner:in: „[S]olange es Antisemitismus gibt, hat das Grundgesetz sein Ziel nicht erreicht. Die Würde des Menschen ist unantastbar, mit Fußnote: Solange es Antisemitismus gibt, ist dieser Satz nicht vollständig erreicht worden.“

6 Fazit: Antisemitismus in einer pluralen Stadtgesellschaft

Die mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen gewonnenen Ergebnisse des Berlin-Monitors zeigen, dass auch in Berlin verschiedene Formen von Antisemitismus, wenn auch bei einer Minderheit, so doch virulent sind. Es bestätigt sich die Annahme einer „Kommunikationslatenz“: Die Gruppe der Berliner:innen, die den Items der Antisemitismusskala „teils/teils“ zustimmt und somit latente Ressentiments zum Ausdruck bringt, ist teilweise höher als die derjenigen mit einer manifesten Ressentiments. Vor allem aber sind sekundärer und israelbezogener Antisemitismus deutlich weiter verbreitet als primärer Antisemitismus. Prozesse der Schuldabwehr, Schuldumkehr und Umwegkommunikation kennzeichnen das auch in Berlin vorfindliche Phänomen eines „neuen Antisemitismus“ (These 1). Antisemitische Ressentiments speisen sich zudem aus unterschiedlichen Quellen, die sich zwischen den genannten drei Formen unterscheiden. Während für den primären und speziell den sekundären Antisemitismus eine politisch-ideologisch rechte Orientierung die maßgebliche Ursache ist, rückt beim israelbezogenen Antisemitismus ein herkunfts- oder religionsbegründeter Einfluss der Zugehörigkeit zu einer muslimischen Glaubensgemeinschaft an seine Seite. Eine prägende Kraft besitzt bei allen Formen antisemitischer Ressentiments die Offenheit für Verschwörungserzählungen. Bei ihren Anhänger:innen bündeln sich Narrative, wie die einer „großen Umvolkung, des großen Austausches“ oder gar „Volkstodes“, in der die – ebenfalls abgelehnte – Gruppe der Muslim:innen durch eine angebliche „jüdische Weltverschwörung“ nach Europa gebracht werde. Gleichwohl konkretisiert sich neben dem rechtsnational verschwörungstheoretisch geprägten Antisemitismus verstärkt ein muslimischer Antisemitismus in Berlin. Somit bestätigt sich unsere zweite These, dass eine rechte Ideologie, Offenheit für Verschwörungsnarrative und Autoritarismus antisemitische Ressentiments befördern. Das Spektrum der Erklärungsfaktoren wird allerdings durch die religiöse wie herkunftsbezogene Komponente bei Muslim:innen erweitert.

Insgesamt finden sich in Berlin seltener antisemitische Ressentiments als im Bundesgebiet. Möglicherweise bietet die heterogene Stadtgesellschaft hier durch ihre häufigeren Kontaktmöglichkeiten und einen breiteren Erfahrungshorizont als in anderen Gebieten Deutschlands Möglichkeiten des Abbaus gruppenbezogener Vorurteile und Ressentiments. Gleichwohl verschwinden diese auch in Berlin nicht vollständig. Dass die Zustimmung zu antisemitischen Ressentiments in Berlin im bundesweiten Vergleich relativ geringer ausfällt, bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass jüdische Berliner:innen relativ unbehelligt leben können. Nimmt man die latente Zustimmung hinzu, so müssen Jüd:innen davon ausgehen, dass jede:r zehnte Berliner:in ihnen mit tradierten stereotypen Zuschreibungen begegnet, jede:r dritte solche auf Israel projiziert. Tatsächlich begegnet jüdischen Berliner:innen Antisemitismus in unterschiedlichen Dimensionen, Lebensbereichen und verbunden mit diversen Topoi der Judenfeindschaft. Sie erleben als „anders“ konstruiert, also besondert zu werden, erleben verbale und physische Aggressionen ihnen selbst oder stellvertretend in der Öffentlichkeit stehenden Jüd:innen gegenüber, leben mit Bedrohung und stehen im Israelblick der Mehrheitsgesellschaft bzw. erleben mit diesem verbundene Praxen (These 3). Korrespondierend mit den Befunden der statistischen Analysen zur Relevanz von Antisemitismus in unterschiedlichen sozialen und politischen Gruppierungen können potenzielle Urheber:innen im Alltag nicht immer einfach an einem bestimmten Profil vorbeugend erkannt werden.

Zudem ist für die Bedeutung von sowie den Umgang mit Antisemitismus das Verhalten derjenigen relevant, die in Einstellungserhebungen voraussichtlich nicht den antisemitismusbezogenen Items zustimmen. Man muss der Aussage „Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns.“ nicht zustimmen, um von „jüdischen Mitbürger:innen“ zu sprechen. Ebenso wenig muss man „Israels Politik in Palästina“ für „genauso schlimm, wie die Politik der Nazis im zweiten Weltkrieg“ halten, um jüdischen Berliner:innen abzuverlangen, sich für die Besatzungspolitik der israelischen Regierung zu rechtfertigen. In beiden Fällen werden Jüd:innen trotzdem als Gruppe konstruiert, die mindestens als „anders“, im Falle des Israelbezugs auch negativ konnotiert imaginiert wird. Insofern wurden in der Aktivierenden Befragung antisemitische Praxen sichtbar, die in Einstellungsmessungen nicht erfasst werden und die das Recht auf Gleichheit und Differenz verletzen. Das gilt auch mit Blick darauf, dass für die Sicherheit und Unbefangenheit im Alltag nicht nur entscheidend ist, von wem eine unmittelbare Gefahr ausgeht, sondern auch, wer unterstützend eingreift. Dass in der Aktivierenden Befragung von unterstützenden Reaktionen aus dem nicht-jüdischen Umfeld kaum, vom Ausbleiben erwartbarer Hilfe indes explizit berichtet wurde, korrespondiert mit dem Bild „Wir stehen alleine da“ (RIAS und VDK 2015). Die Erfahrung und Antizipation von Antisemitismus im Alltag führt zusammen mit dem Ausbleiben solidarischer Reaktionen dazu, dass jüdische Berliner:innen sich anders in der Öffentlichkeit bewegen. Sie entscheiden sich teils dagegen, als Jüd:innen sichtbar zu sein, meiden bestimmte Orte oder Kontakte. Auch hieran zeigt sich, dass das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben als Angehörige einer Minderheit – ein Menschenrecht – massiv eingeschränkt ist.

Vor dem Hintergrund der präsentierten Ergebnisse können wir unsere eingangs gestellten Fragen – vorläufig – beantworten. Es finden sich auch in Berlin verschiedene manifeste und latente Formen des Antisemitismus, die von unterschiedlichen sozialen Gruppen jeweils relativ stärker getragen werden. Diese Antisemitismen werden von Berliner Jüd:innen in starkem Maße wahrgenommen und wirken sich auf ihr konkretes Alltagsverhalten aus. Wahrnehmungen von Besonderung und gar Bedrohung führen zur Vermeidung von Sichtbarkeit und Rückzug. Für solche Selbsteinschränkungen sind nicht nur Antisemit:innen, sondern oft auch eine fehlende Solidarität in der Gesamtgesellschaft entscheidend. Das Zusammenspiel unterschiedlicher methodischer Zugänge und Perspektiven zeichnet ein komplexes Bild jüdischen Lebens in Berlin, aber auch der Auswirkungen eines bestehenden Antisemitismus. Dabei wird deutlich, dass die zielgerichtete Bekämpfung von Antisemitismus auch den Aufbau solidarischer Beziehungen voraussetzt (These 4). Die Heterogenität einer Stadtgesellschaft löst diese Problemlage nicht von allein, sondern bedarf Zivilcourage ihrer Mitglieder sowie einer vernetzten Solidarität.