1 Politische Religion und Totalitarismus

Eine Beschäftigung mit dem Konzept der Parteiung unter den Bedingungen von Totalitarismus muss beim Begriff der „Politischen Religion“ beginnen. Schon von den Zeitgenossen so apostrophiert,Footnote 1 gilt der Nationalsozialismus als Muster dafür. (Der Begriff wird jetzt auch für den politischen Islam wie für den Hinduismus der Präsidentschaft Modhis verwendet). Dabei stehen sich zwei Positionen gegenüber:Footnote 2 Die nach der Katastrophe des Nationalsozialismus 1945 geäußerte Prophezeiung ex eventu, der Nationalsozialismus habe nach dem potenziellen Endsieg auch das Christentum (genauer: die Kirchen) vernichten wollen, wie er es zuerst an den Juden getan habe,Footnote 3 führt zu der These, dass Politische Religion das Gegenteil von Religion sei. Hans Maier und die Forschergruppe um ihn haben dies so beschrieben.Footnote 4 Der Nationalsozialismus sei Nihilismus, Höhepunkt der Säkularisierung, die Weltanschauung des NS habe die bestehende Religion des Christentums ersetzen sollen (Ersatzreligion, Religionsersatz). Eine Parteiung in der evangelischen Kirche habe das unterstützt, die „Deutschen Christen“. Die andere These beschreibt Politische Religion als die Sakralisierung von Politik durch den „braunen Kult“, durch Magie (als pervertierte Form von Religion). Dem liege ein erweiterter Religionsbegriff zugrunde.

Religionswissenschaftlich sind beide Konzepte nicht brauchbar, setzen sie doch eine Definition von Religion voraus, die aus „dem“ Christentum als Norm gewonnen wurde.Footnote 5 Der folgende Aufsatz stellt zwei Systeme vor, die sich als exklusiv nach außen und als inklusiv gegen innen verstehen. Christentum und Totalitarismus, die sich wechselseitig ausschließen, prallten, so die gängige Lesart, aufeinander in der Zeit des Nationalsozialismus, aber überhaupt in allen totalitären Systemen. Mit „Totalitarismus“ wurde ein Begriff eingeführt, der ein übergeordnetes Konzept für Faschismus, Nationalsozialismus, Frankismus, Kommunistische Parteidiktaturen zusammenfasst. Bezogen auf Religionen kann man aus dem vergleichenden Begriff die These ziehen, dass alle diese politischen Systeme auch religionsfeindlich wirkten. Für den Nationalsozialismus haben aber die Studien eine hohe Religionsproduktivität ergeben, innerhalb der Kirchen und außerhalb. Manfred Gailus nennt sein Buch über Religiosität in der Zeit des Nationalsozialismus daher „Gläubige Zeiten“.Footnote 6 Sarah Thieme hat am Beispiel des nationalsozialistischen Märtyrerkults beschrieben, wie dabei nicht nur die religiöse Zeichensprache übernommen wurde, sondern auch Pastoren und Priester in ihrer Mitwirkung keinen Gegensatz darin sahen.Footnote 7 Zu der Perspektive der Institution und ihrer Vertreter hinzu kommt die Perspektive der „Gläubigen“. Das Wort spielt eine große Rolle in der NS-Zeit.Footnote 8 Während allerdings das Wort auf der Seite der Katholiken der Glaube als der „Glaube der Kirche“ an das „Lehramt“ der Institution gebunden wird,Footnote 9 gewinnt der Glaube des Individuums bei den Protestanten seit der Jahrhundertwende 1900 die Bedeutung der Entschiedenheit. Dort noch im Sinne des „Glaubens an (Jesus)“ und die Werte der biblischen Botschaft gebunden, verwenden gläubige Nationalsozialisten das Wort im Sinne von Haltung Gläubigkeit und Entschiedenheit. Wie Michael Wildt gezeigt hat, waren viele derer, die im Reichssicherheitshauptamt die Verbrechen in Osteuropa und an den Juden planten, als entschiedene Christen sozialisiert.Footnote 10 Begriffe wie „hybride Gläubigkeit“ sind aus Sicht der Religionswissenschaft nicht auf die nationalsozialistischen Christen oder die christlichen Nationalsozialisten zu begrenzen.Footnote 11 Burkhard Gladigow hat zu den eben genannten zwei Perspektiven im Rahmen seiner Konzeption einer religionswissenschaftlichen „Europäischen Religionsgeschichte“ festgestellt: In der Religionsgeschichte einer so dichten Konstellation wie der europäischen gibt es nicht nur eine Religion, sondern mehrere konkurrierende, aber sich nicht ausschließende Sinnstifter. Auf diese können die Individuen in je verschiedenen sozialen Konfigurationen zurückgreifen, um ihr Handeln zu begründen.Footnote 12

Mit Blick auf das heuristische Potenzial des Begriffs der Parteiung bespreche ich zunächst die Exklusivitäts- und Inklusivitätsansprüche des monotheistischen „katholischen“ Christentums. In der parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik sahen sich die Kirchen eingeladen zur Partizipation an Politik und Zivilgesellschaft; blieben aber distanziert zur Demokratie. Das Konkordat und die Verfassung zur neu geschaffenen Deutschen Evangelische Kirche schienen die Erfüllung lang gehegter Hoffnungen zum Verhältnis von Staat und Kirchen dank der neuen Herrschaft der Nationalsozialisten. Doch in der Zeit der konsolidierten Herrschaft zeigte sich einerseits, wie brüchig das vertraglich zugesicherte Versprechen war. Andererseits wurde deutlich, dass nicht zwei geschlossene Systeme den Konflikt bildeten, sondern innerhalb dieser Parteiungen aufeinandertrafen. Trotz „Gleichschaltung“ und Hierarchie der Bischofskirchen waren die Parteiungen nicht in der Lage, sich im Sinne der Durchsetzung einer Weltanschauung auf gemeinsames Handeln zu einigen. Dies wird im Folgenden an zwei Beispielen gezeigt: das eine ist das Schulgesetz zur Einführung der „Deutschen Schule“, das andere ist die Wahrnehmung dieser Parteiungen seitens der katholischen Kirche bei der Formulierung der Enzyklika „Mit brennender Sorge“. Die Abschnitte 6 und 7 beschreiben Parteiungen im Nationalsozialismus und in den Kirchen. Der Schluss führt noch einmal zurück auf die Konzeption der Politischen Religion.

2 Christenheit als Einheit und gespalten in Parteien

Die eine Kirche gespalten in Parteien ist ein Problem, das die christliche Religion spätestens seit der sog. Konstantinischen Wende umtreibt: als die christliche Religion aus einer auf Haus und Familie, auf Unterschichten bezogenen Untergrundreligion 312 n. Chr. zu einem politisch bedeutenden, bald beherrschenden Mittel der Machtdurchsetzung transformiert wurde. Oft gegen die Mehrheit vor Ort beriefen sich die Minderheitsvertreter auf ein Konstrukt der Katholizität: die vom Kaiser unterstützte kaiser-fromme Partei gerierte sich als die „die ganze Welt umspannende“ Religion oder Ökumene. Auf dem ersten ökumenischen Konzil in Nikaia 325 unterband Kaiser Konstantin Parteiungen unter den Bischöfen durch das Machtwort von der Wesenseinheit (ὁμοούσιος homo-ousios) Gottvaters und Gottsohns und erließ ein Glaubensbekenntnis, dem im assertorischen Sprechakt einzustimmen, nicht zu diskutieren ist.Footnote 13

Natürlich gab es, sobald es das Reichs-Christentum gab, unterschiedliche, widerstreitende Parteien, die aber, anders als in der Demokratie, nicht um die besseren Ziele und Lösungen stritten, sondern sich gegenseitig den wahren Glauben absprachen. Michel-Yves Perrin spricht von „häresiologischen Ethos“, sich wechselseitig zu Ketzern zu erklären.Footnote 14 Um der „Wahrheit“ zum Sieg zu verhelfen, musste oft das Mehrheitsprinzip ausgehebelt werden,Footnote 15 die Minderheit konnte sich nicht zum größeren, wohl aber zum besseren Teil/Partei erklären.Footnote 16

Seit sich im Zuge der Reformation und der Konfessionalisierung drei Kirchen und manche Dissidenten konsolidierten, war die Aufspaltung in unterschiedliche Gruppen politisch manifest – und der Westfälische Frieden 1648 am Ende eines dreißigjährigen Krieges musste Regeln für die Koexistenz der so genannten „Religionsparteien“ finden, sei es durch räumliche Trennung der Konfessionen oder durch Parität in den wenigen noch verbliebenen gemeinsamen Gremien des Reiches.Footnote 17 Das preußische Landrecht 1794 unterschied „privilegierte“ von „geduldeten Religionsparteien“. Mit dem Herrscherhaus gab es eine herrschende Religion. Herrschaftskritik und, noch fundmentaler, Religionskritik wurden drastisch bestraft: Der der Dynastie der Herrscher Legitimität verleihende Gott wurde durch den Blasphemie-Paragraphen geschützt, Aufruhr war Aufruhr gegen Gottes geheiligte Ordnung. Doch schon die Enthauptung des englischen Königs Charles I. 1649 entfesselte eine Diskussion über die Verklammerung von Herrschaft und christlicher Religion.

Mit der Französischen Revolution beginnt ein Prozess, der Herrschaft und Religion auseinander dividierte, ausdifferenzierte. Nicht mehr Religion war die allumfassende Einheit, sondern der Staat beansprucht das Monopol über alle Bürgerinnen und Bürger innerhalb der Grenzen des Herrschaftsgebietes; Religion wird eine unter anderen Institutionen, die parteiisch ihre Interessen reklamieren und im Aushandlungsprozess durch Gesetze sichern müssen: Die moderne Staatsgewalt beansprucht die oberste Souveränität.Footnote 18 Noch mehr als ein Jahrhundert blieb die Staatskirche das normale Modell für Religion. Im preußischen Staat, ab 1871 im Deutschen Reich beispielsweise, waren nunmehr vier Religionen vertreten, die jeweils gegenüber dem König und seiner Regierung ein Konsistorium bildeten, neben Lutheranern, Calvinisten, Katholiken auch der israelitische Oberkirchenrat (sic), da es aber konfessionell keinen allen vier Konfessionen/Religionen vorgeordneten Bischof geben kann, übte diese Gewalt der evangelische König/Kaiser aus als summus episcopus, das sog. Summepiskopat.Footnote 19 Diese äußeren Regelungen waren der Rahmen für die Sakralisierung des Reiches während des 19. Jahrhunderts, in Nationalfesten, Nationalisierung und Germanisierung von Religion,Footnote 20 der Erklärung anderer Religionen zu Feinden (wie sie als Antikatholizismus im „Kulturkampf“ und Antisemitismus) zum Ausdruck kamen.Footnote 21 Neben der Protestantisierung der Nation entstand aber auch eine die Konfessionen überwölbende Zivilreligion, etwa in der Feier zum neuen Jahrhundert 1900.Footnote 22

Die sog. Säkularisierung ist als komplementärer Prozess zu der darauf reagierenden Transformation von Religion zu beschreiben,Footnote 23 nicht einfach als Verlust von Religion oder Durchsetzung des Säkularen.Footnote 24 Auch das Verhältnis des Nationalsozialismus zu Religion ist unter dieser Voraussetzung zu diskutieren. Mit dem Bruch der direkten Verbindung von Herrschaft und Religion, Staat und Kirche 1918 zeigten sich offen Parteiungen auf dem religiösen Gebiet, aber auch religiöse Parteiungen in der Politik, selbst im totalitären Staat, wie gleich zu zeigen ist.

3 Religionen als Parteien im republikanischen Staat

Der Erste Weltkrieg endete in allen deutschen und den meisten europäischen Ländern mit der erzwungenen Abdankung der Monarchen und damit dem Ende des Staatskirchenwesens. In den Republiken war jetzt nach einem Weg zu suchen, das Verhältnis von Staat und Kirche so zu regeln, dass keine Religion bevorzugt würde, und alle Weltanschauungen gleiches Recht besitzen sollten. Den selteneren Fall der „feindlichen“ Trennung von Staat und Kirche hatte Frankreich bereits 14 Jahre zuvor 1905 in seinen Gesetzen zur laïcité gegeben, das faschistische Italien folgte 1922.Footnote 25 Auch dort gab es deutliche Anzeichen von nicht-konfessioneller Sakralisierung der Republik, wie die Kunstreligion der Kathedralen als Befreiung von klerikal unterdrückender Angst von Hölle und Teufel oder der Grablege des führenden Naturwissenschaftlers Louis Pasteur.Footnote 26 Entschieden religionsfeindlich war die Russische Oktoberrevolution 1917. In den Revolutionen in Deutschland, ausgelöst bei den Marinesoldaten, die den Befehl verweigerten, stolz in See zu stechen, um dort den Heldentod zu sterben, erhob sich die Frage: Würden die Kommunisten nach russischem Vorbild die Religion auslöschen wollen? Der USPD-Minister verordnete das Verbot des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen; er blieb aber nur sieben Wochen im Amt.Footnote 27 Die SPD hingegen äußerte sich klar: „Wir erkennen die Bedeutung von Religion an und sind keine Kulturkämpfer.“ Und führte den Religionsunterricht wieder ein. Sie suchten eine „schiedlich-friedliche Auseinandersetzung, keine gewaltsame Trennung.“Footnote 28 Das war zunächst Ländersache, dann aber auch Gegenstand der Weimarer Verfassung. Deren Regelungen zur Religion vom 11. August 1919 wurden im Reichskonkordat 1933 von den Nationalsozialisten garantiert und als § 140 in das Grundgesetz der Bundesrepublik 1949 übernommen.

Die Verbindung der Religionsgemeinschaften mit dem Staat wurde garantiert für die Fortgeltung des Status einer Körperschaft öffentlichen Rechts, für den Religionsunterricht als ordentliches Schulfach, für den Einzug der Kirchensteuer durch den Staat, Garantie der kirchlichen Vermögensrechte und der Staatsleistungen.Footnote 29 Allerdings führte die nun flächendeckende Erhebung der Kirchensteuer dazu, dass angesichts der desolaten wirtschaftlichen Verhältnisse 800.000 Evangelische sich die Mitgliedschaft in der Kirche nicht mehr leisten konnten oder wollten. Durchaus verschieden wurde die Frage gelöst, wer der Souverän der Kirche sei: Bischof bzw. der Oberkirchenrat (hierarchisch von oben nach unten) oder die Gemeinden und Synoden (presbyterial von unten nach oben).Footnote 30

Hatte die Katholische Kirche es bereits im Kulturkampf gelernt, als Partei im Staat auftreten zu müssen, die eigene Interessen verfolgt, und eine Interessenvertretung im Parlament (die politische Partei des Zentrums) gebildet, so mussten die Evangelischen das erst lernen in der Niederlage. Der führende Repräsentant der Preußischen Kirche (altpreußische Union ApU), Otto Dibelius, schrieb zehn Jahre später: „Der 9. November 1918 […] ist der Geburtstag der freien, selbständigen evangelischen Kirche in Deutschland. An diesem Tage rissen alle die Bindungen entzwei, die bis dahin die Kirche in Abhängigkeit gehalten hatten. Der Tag war wirklich das „befreiende Gewitter“. […] Es ist alles andere als eine erhebende Erinnerung, daß „das Jahrhundert der Kirche“ auf diese Weise hat beginnen müssen. Aber sollten wir deswegen die ganze Entwicklung, die mit dem Jahr 1918 eingesetzt hat, für Teufelswerk erklären, das wieder beseitigt werden muß?“Footnote 31 Der Protestantismus war nicht mehr in weitgehender Übereinstimmung mit dem protestantisch-preußischen Staat. Es gab entschiedene Demokraten unter den Protestanten, wie Ernst TroeltschFootnote 32 oder Martin Rade mit seiner liberalen und viel gelesenen Zeitschrift Christliche Welt,Footnote 33 dann die Reihe der „Vernunftrepublikaner“, aber die meisten Protestanten standen der Weimarer Republik ablehnend gegenüber.Footnote 34 Dibelius’ Zitat zeigt das deutlich ebenso wie die neue Biographie zu Martin Niemöller, später führender Kopf der kirchlichen Opposition gegen den NS in der Bekennenden Kirche.Footnote 35

Freilich war ein Traum nicht in Erfüllung gegangen. Die Delegierten auf dem ersten Deutschen Evangelischen Kirchentag in Wittenberg 1848 hatten gefordert, man müsse über eine Nationalkirche die Einheit der Deutschen herbeiführen, analog zur politischen Nationalversammlung.Footnote 36 Die Wahl des Ortes für die Versammlung in der Luther-Stadt signalisierte das Programm einer Vollendung oder der Zweiten Reformation. Am 10. November 1933 jährte sich der 450. Jahrestag der Geburt Luthers. Die Jubiläumsveranstaltung in der Hauptstadt sollte zum Fanal einer Zweiten Reformation im Sinne der Deutschen Christen werden. Sie stürzte jedoch die Kirche in die Krise des innerkirchlichen „Kirchenkampfs“ („Sportpalast-Skandal“).Footnote 37 Ziel der „Deutschen Christen“ war die Bildung der Nationalkirche als mächtige Institution an der Avantgarde der nationalsozialistischen Bewegung, über die Konfessionen hinweg: Lutheraner, Calvinisten, Unierte und Katholiken in der einen Nationalkirche.Footnote 38 Die alten Parteiungen sollten überwunden werden in einer „Bewegung“ in Analogie zur nationalsozialistischen Bewegung. So nannten sie sich „Kirchenbewegung Deutsche Christen“ und „Glaubensbewegung Deutsche Christen“.Footnote 39 Die Reformation vollenden wollte auch das 1939 auf der Wartburg gegründete „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“.Footnote 40 In scharfer Abgrenzung zur „Häresie“ der Deutschen Christen gab sich die Bekennende Kirche in der Barmer Erklärung vom Mai 1934 – ihr Grundprogramm: sie stellte die unterschiedlichen Bekenntnisse der unterschiedlichen Konfessionen ins Zentrum und begründete damit, dass eine Nationalkirche aus den 28 evangelischen Landeskirchen unmöglich sei.

Zwischenfazit: Sowohl für die Kirchen wie für die Nation bildeten sich zwei antagonistische Konzepte: Die Einheit aller Christen/aller Deutschen beschworen beim Ausbruch des Ersten WeltkriegsFootnote 41 und bei der „Machtergreifung“ der „Bewegung“ 1933. Dieses utopische Konzept fordert eine Identifizierung der unterschiedlichen Interessen ein, 1914 unter dem Eindruck äußerer, 1933 äußerer und innerer Feinde, verschwörungsmythisch zusammengefasst als jüdisch-bolschewistische Weltherrschaft des Kapitalismus.Footnote 42 Dem standen gegenüber die Interessen der einzelnen Gruppen, die sich organisierten in Vereinen, Parteien, Konfessionen und Bewegungen (Arbeiter‑, Frauen‑, Wahlrechtsbewegungen); sie mussten sich unterordnen unter die Interessen der einen Partei, die sich des Staates bemächtigte. Teils unter Terror, der den Widerstand anderer Parteien tötete oder zum Schweigen brachte, teils aber auch willentlich sich einfügend, erzwang der Nationalsozialismus die „Volksgemeinschaft“: die Aufgabe von Individualrechten und korporativen Rechten, die Aufgabe überhaupt von Recht als wechselseitigem Vertrag.Footnote 43 Gerade die Jugend sollte zum totalen Staat erzogen werden mittels zwangsweiser Auflösung und Unterordnung unter die Einheit der Hitlerjugend.Footnote 44 Doch bei der Ausarbeitung eines Schulgesetzes zeigten sich im Totalitarismus Parteiungen unter den Protagonisten über die Bedeutung der Religion. Am Ende erzielten sie in dieser grundlegenden Frage der Erziehung zum neuen System kein Ergebnis. Der Plan einer nationalsozialistischen Schule scheiterte.

4 Schule und Glaube. Parteiungen zur Religionsfrage innerhalb des Nationalsozialismus

An zwei herausragenden Prozessen des Jahres 1937 will ich in den folgenden beiden Abschnitten deutlich machen, dass es innerhalb des Nationalsozialismus Parteiungen gab, die das Verhältnis zur Religion ganz unterschiedlich gestalten wollten, und dass es innerhalb der Religion Parteiungen gab, die das Verhältnis zum Nationalsozialismus unterschiedlich beurteilten. Als Beispiele dienen mir zum einen die Debatten bei der Erarbeitung des Schulgesetzes, zum andern die katholische Enzyklika „Mit brennender Sorge“.

Wenn es eine Differenzierung innerhalb des Nationalsozialismus zur Religionsfrage gab, dann sind die Behauptungen falsch, die im Nationalsozialismus eine geschlossene Weltanschauung sehen, mit dem Ziel, das Christentum zu beseitigen und durch die eigene Weltanschauung zu ersetzen: der Nationalsozialismus als Religionsersatz.Footnote 45 Sich im Nachhinein verteidigend behauptete die betont christliche Bonner Republik: Was die Nationalisten zuerst mit der Ausgrenzung und Vernichtung der Juden durchgeführt hätten, das würden sie, wenn sie den Weltkrieg gewonnen hätten, auch bei den Christen vollenden. Als Beleg führte man die Praxis in den neu eroberten Gebieten an.Footnote 46 Die Totalitarismus-These verbindet sich mit der Behauptung, die eine verbindliche Weltanschauung sei atheistisch. Es ist aber nicht gelungen, eine solche Ideologie zu fassen. Immer wieder hat man das an Hitlers Weltanschauung zu rekonstruieren versucht.Footnote 47 Zu Recht ist man mittlerweile von einer AkteursperspektiveFootnote 48 abgerückt und hat stattdessen auf der Rezeptionsseite die „Volksgemeinschaft“ als die zentrale Figur von Handlung und Motivation herausgearbeitet.Footnote 49 Die Bedeutung von Religion in dieser Volksgemeinschaft ist allerdings kaum beachtet, weil sie immer noch und wieder als Kirchengeschichte und nicht als Religionsgeschichte wahrgenommen wird.Footnote 50

1937 war die Macht der Nationalsozialisten konsolidiert. Gemäß der „legalen“ Machtübernahme durch Selbstentmachtung des Parlaments und verfassungswidrige Entfristung des „legalen“ Notstandsparagraphen lief der neue Staat nominell weiter nach der Weimarer Reichsverfassung, realiter aber war er zur Diktatur geworden. Der „neue Staat“ sollte auch eine neue Ordnung erhalten. Noch galten ja die alten Gesetze. In dieser Situation wurde, um die Jugend in der Zwangsinstitution Schule zur Volksgemeinschaft zu erziehen, ein Schulgesetz vorbereitet.Footnote 51 Im Folgenden konzentriere ich mich – im Blick auf die Themenstellung des Aufsatzes – auf die Diskussion innerhalb von Regierung und Partei. Die Umsetzung war und blieb Ländersache.Footnote 52 Das Schulgesetz sollte eine reichseinheitliche Lösung und Zentralisierung erreichen. Der interne Prozess der Diskussion beginnt 1936,Footnote 53 wird intensiv 1937 fortgeführt und versandet dann. Die Entwürfe und Einwände lassen Parteiungen innerhalb des Nationalsozialismus zur Religionsfrage erkennen, nicht nur beim Thema Religionsunterricht.Footnote 54 So blieb das alte Gesetz gültig. Doch dieses stellte Religion als zentrale Kategorie der Einheit auf: Die Schule waren in der Regel entsprechend dem Bekenntnis der jeweiligen Ortsgemeinde als Bekenntnisschulen eingerichtet. Und die Lehrer mussten dem Bekenntnis der Schüler entsprechend Mitglieder der Kirche sein.Footnote 55 Das bedeutete, dass Nationalsozialisten zumindest bei Dienstantritt Mitglied einer der Kirchen sein mussten.Footnote 56 Das war für die Partei (in der Regierung war Martin Bormann der Vertreter) ein Ärgernis und spielte in den Diskussionen eine bedeutende Rolle. Am Ende gab es kein neues Gesetz, aber eine neue Kategorie, was ein „gläubiger“ Lehrer sei: evangelisch, römisch-katholisch und „gottgläubig“.Footnote 57

Beteiligt waren unterschiedliche Ministerien: Das Reichserziehungsministerium unter dem Minister Rust reagierte auf den Entwurf des Reichskirchenministeriums unter dem Minister Kerrl (Synopse ARH IV, Q 2a). Zum Reichskirchenministerium ist knapp zu bemerken: Zunächst versuchten Teile der evangelischen Kirchen an den Institutionen vorbei und gegen die Struktur der Evangelischen in 28 Landeskirchen mit unterschiedlichen Konfessionen (lutherisch, reformiert, uniert) eine Reichskirche aufzubauen. Für das neu geschaffene Amt des Reichsbischof forderte Hitler den unbekannten ostpreußischen lutherischen Militärdekan Ludwig Müller. Die Synode der Landeskirchen wählte dagegen den bekannten Fritz Bodelschwingh. Hitler warf wegen eines Formfehlers den Kirchenvertretern vor, illegal gehandelt zu haben. „Um das Recht wiederherzustellen“, setzte er eine Staatsaufsicht ein, August Jäger (1887–1949), der ohne Rücksprache die einzelnen Landeskirchen gewaltsam und widerrechtlich in die Reichskirche eingliederte. In dem Coup der ganz kurzfristig einberufenen Kirchenwahlen und massiver Wahlunterstützung der Deutschen Christen durch die NSDAP trumpften diese im Juni 1933 in allen Landeskirchen auf und übernahmen die Kirchenleitungen. Nur die großen lutherischen Landeskirchen Hannover, Württemberg und Bayern behielten ihre Bischöfe.Footnote 58 Das Verhältnis zwischen Staat, Partei, „Reichsbischof“ und Landeskirchlichen Behörden wurde immer gespannter, bis Hitler ein Ministerium in seiner Regierung einrichtete, Hanns Kerrl am 16. Juni 1935 zum Minister berief und den Reichsbischof faktisch entmachtete (Dezember 1935: Schneider 1993, S. 224), wenn auch nicht formell absetzte. Der Jurist und Protestant Hanns Kerrl (1887–1941) war bereits seit 1923 Mitglied der NSDAP und in vielen Staatsämtern eingesetzt, zuvor Präsident des Preußischen Landtags, Justizminister, Minister ohne Geschäftsbereich, dem dann der Bereich Kirchen und später der Raumordnung zufiel. Den Bereich Kirchen sah er aus der Perspektive des Nationalsozialismus und als Jurist mit dem Ziel, die Privilegierung der Kirchen durch die Weimarer Verfassung und das Konkordat zu verringern. – Das Erziehungsministerium, aus dem Zuständigkeitsbereich des Innenministeriums im März 1934 ausgegliedert, riss die bisherige Zuständigkeit der Länder in der Schulpolitik an sich, um eine reichseinheitliche Politik durchzusetzen: die preußischen Maßstäbe wurden den anderen Ländern des Reiches übergestülpt. Minister Rust musste regionale Widerstände ebenso berücksichtigen wie den Beauftragten des Führers für die geistige und weltanschauliche Schulung, Alfred Rosenberg; und der Minister für Volksaufklärung, Joseph Goebbels, dann zunehmend Martin Bormann obstruierten immer wieder die Maßnahmen des Ministeriums (Zymek 1989, S. 192f). Mit dem Vierjahresplan als Vorbereitung des Angriffskrieges und während des Krieges sollte „Die deutsche Schule im Zeitalter der Totalmobilmachung“ auch prae-mililtärische Funktionen übernehmen, wie Alfred Baeumler am 10. Februar 1937 vor dem Reichstag vortrug,Footnote 59 aber das Schulgesetz kam nicht zustande.

In der Synopse der beiden Entwürfe fällt auf, dass das RKiM (Reichskirchenministerium) Wert legte auf den obersten Grundsatz (§ 1): „Die deutsche Schule ist nationalsozialistische Bekenntnisschule.“ Gegen die Formulierung des RErzM (Reichserziehungsministeriums) „Die deutsche Schule gestaltet in allen ihren Arten, Stufen und Unterrichtsfächern Erziehung und Unterricht im Geiste des Nationalsozialismus“ beharrte das RKiM auf dem Begriff nationalsozialistische Bekenntnisschule mit folgender Begründung (ARH IV, Q 2b, Anm. 9): „Das Wort „Bekenntnis“ soll aus dem Besitz der überkommenen Konfessionen herausgenommen und durch den nationalsozialistischen Staat mit neuem Inhalt erfüllt [sic] werden […], indem wir einerseits sprechen vom nationalsozialistischen Bekenntnis und andererseits von Konfessionen.“ Und das RKiM (MR Roth) erläuterte: „Die Grundlage aller schulischen Erziehung und Unterweisung ist die nationalsozialistische Lehre.“ Und weiter zum Satz: „die deutsche Schule ist in der Regel öffentliche Schule.“ erläutert er: „Der nationalsozialistische Staat ist im allgemeinen den Privatschulen nicht sehr geneigt, da durch sie staats- und parteifeindlichen Kreisen zu leicht die Möglichkeit gegeben wird, ihren Geist den Schülern einzuimpfen […]. Es ist Tatsache, daß gerade die Kirchen die Hauptinteressenten an dem Bestand des Privatschulwesens sind und auch die Träger der meisten bestehenden Privatschulen sind. Daher soll die deutsche Schule in der Regel öffentliche Schule sein.“ (ARH IV, Q 2a, Anm. 4). Das RErzM verwarf den Vorschlag des RKiM: Also keine „nationalsozialistische Bekenntnisschule“, stattdessen wurde auf Wunsch des RKiM eingefügt: Die deutsche Schule „hat alle Kinder in das religiöse und sittliche Empfinden des deutschen Volkes einzuführen.“ (ARH IV, Q 2c Anm. 14). Der Chef des Stabes des Stellvertreters des Führers, Martin Bormann, entscheidet gegen die „nationalsozialistische Bekenntnisschule“ und fügt dem § 1 der Ausführungsverordnung hinzu: „Zur Erteilung des Unterrichts an deutschen Schulen werden nicht zugelassen: a) Glaubenslose, b) Lehrer, die einem religiösen Bekenntnisse angehören, das den Bestand des Staates gefährdet.“Footnote 60 Ausführlich wurde in den Ausführungsbestimmungen das Recht zur Abmeldung vom Religionsunterricht diskutiert (ARH IV, Q 20): das stehe dem Oberhaupt der Familie zu. Denn: „schließlich komme jetzt immer häufiger der Fall vor, daß ein Elternteil sich deshalb von seinem bisherigen Bekenntnis lossage, weil er es mit seiner nationalsozialistischen Weltanschauung nur für schwer vereinbar halte, in starker Beziehung zu einer konfessionellen Gemeinschaft zu leben.“ (S. 63). Die Lösung, dass man sich zum Religionsunterricht eigens anmelden müsse, erhält jedoch keine Unterstützung. Ein Gesetz zur Regelung des Kirchenaustritts, wurde zwar von Hitler und Kerrl diskutiert (ARH IV, Q 31, Anm. 4, bereits ARH III, Q 144), aber nicht weiter verfolgt, bzw. „zur Zeit zurückgestellt“. Religionsunterricht blieb also ein reguläres Schulfach, dem man sich nur in Ausnahmen entziehen konnte.

Man sieht, wie sich innerhalb des Nationalsozialismus verschiedene Parteiungen bildeten – gar nicht primär entlang der Konfliktline um den konfessionellen Religionsunterricht, sondern entlang der unterschiedlichen Beurteilung der Wichtigkeit von Religion für den NS-Staat. Die Lehrkräfte müssten gläubig sein, welchen Glaubens sei dabei sekundär, auch wer die Dogmen der konfessionellen Gemeinschaften ablehnte, konnte sich als „gottgläubig“ standesamtlich eintragen lassen.Footnote 61 Konfessionsschulen sollten noch möglich, aber die Ausnahme sein. Dass das Konkordat sie im Bestand garantiere, sei eine Fehlinterpretation, versuchte man den Vertrag zu umgehen.Footnote 62 Prominentes Beispiel für die Parteiung war der Reichsministers Peter Paul Freiherr von Eltz-Rübenach. Als er dem Schulgesetz widersprach, er der Katholik, weil es das Konkordat des Deutschen Reiches mit dem Vatikan verletze (ARH IV, Q 15), musste er um seine Entlassung nachsuchen (ARH IV, Q 24). Doch am Ende blieb dieses wichtige Gesetz ohne Ergebnis.Footnote 63 Das Berufsverbot für Nationalsozialisten und Atheisten wurde durch die neue Kategorie im Standesrecht gelöst, das neben evangelisch und römisch-katholisch eine dritte Form von Gläubigkeit ermöglichte: gottgläubig. Die neue Kategorie ist also nicht entstanden, um die christliche Religion zu ersetzen, sondern um Nationalsozialisten den Beruf als Lehrer zu ermöglichen.

5 Die katholische Kirche gegen die Neuheiden: März 1937

Als zweites Beispiel für Parteiungen innerhalb des Nationalsozialismus (und innerhalb der Kirchen) sei die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ besprochen. In einem spektakulären Coup nahm ein päpstliches Schreiben Stellung gegen den Nationalsozialismus. An der polizeilichen Überwachung vorbei gelang es, die Enzyklika heimlich zu drucken, in allen katholischen Pfarreien zu verteilen und am folgenden Sonntag [Palmsonntag] von der Kanzel zu verlesen, am 21. März 1937. Die so düpierte NS-Führung rächte sich später brutal.

Die Enzyklika „Mit brennender Sorge“Footnote 64 begrüßt einleitend das Konkordat von 1933; dieses sei aber seitens des deutschen Staates nicht erfüllt worden ([6] „Vertragsumdeutung, Vertragsumgehung, Vertragsaushöhlung“).Footnote 65 Ziel des Nationalsozialismus sei hingegen von Anfang an der „Vernichtungskampf“ gegen die (katholische) Kirche gewesen [5]. Nach dem knappen juristisch-formalen Teil wendet sich der Papst der Kirchenlehre zu:

Der Papst mahnt, erstens zum reinen Gottesglauben. Das NS-Wort „gottgläubig“, mit dem sich aus der Kirche ausgetretene Nationalsozialisten im Standesamt eintragen lassen konnten, sei nicht der Glaube an den wahren Gott. Rasse dürfe nicht zum höchsten Kriterium erhoben werden, so wichtig sie sei (12 entsprechend dem katholischen Naturrecht). Die Kirche müsse sich wehren „gegen ein angriffslüsternes, von einflussreicher Seite vielfach begünstigtes Neuheidentum“ (17). Zweitens, verbiete es reiner Christusglaube, die Offenbarung zu ergänzen durch „willkürliche Offenbarungen, die gewisse Wortführer der Gegenwart aus dem sog. Mythus von Blut und Rasse herleiten wollen“ [20]. Drittens verstehe der reine Kirchenglaube die Kirche als eine alle Völker und Rassen überwölbende Kuppel. Die Anklagen gegen die katholischen Kleriker und deren manchmal menschlich-allzumenschliches Verhalten [gemeint sind Missbrauch, Konkubinat, Devisenvergehen] seien aufgebauscht. Die Kirchenaustrittsbewegung [24] müsse gestoppt werden. Es gelte nach wie vor der Primat des Papstamtes. Die Umdeutung heiliger Worte, wie Offenbarung des Blutes, Demut, Schöpfung ist abzulehnen. Dies sei der Ansatz zu einem Ersatzglauben [48]. Der Rassismus gegen die Juden wird nicht thematisiert – auch nicht der Rassismus gegen Christen, die aus einer jüdischen Familie stammten und von den Nationalsozialisten als Juden definiert wurden.Footnote 66 Die Enzyklika wird oft als der grundlegende Text des katholischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus verstanden.Footnote 67

6 Parteiungen im Nationalsozialismus in Bezug auf Religion

Doch dagegen spricht ein Zeugnis: Die Enzyklika hat der Münchner Erzbischof Michael Faulhaber entworfen. Er war im Januar mit anderen Bischöfen nach Rom gereist, um Maßnahmen zu treffen zu den Schikanen der Nationalsozialisten gegen die Kirche und den Klerus. Eben dieser Bischof hatte aber wenige Wochen zuvor Hitler um ein Gespräch gebeten und durfte drei Stunden mit ihm diskutieren. Zurückgekommen schrieb er enthusiastisch in sein Tagebuch:Footnote 68 „Der Reichskanzler lebt ohne Zweifel im Glauben an Gott, er anerkennt das Christentum als Baumeister der abendländischen Kultur.“ Angesichts der Einschätzung des Verfassers der Enzyklika kann sich diese also nur gegen bestimmte Gruppen innerhalb des Nationalsozialismus richten, nicht gegen Hitler. Sie erhebt nicht den Vorwurf des Neuheidentums gegen den gesamten Nationalsozialismus, sondern gegen eine bestimmte Parteiung innerhalb desselben.

Die Kontroverse zwischen diesen Parteiungen innerhalb des Nationalsozialismus manifestierte sich in der Gegenüberstellung von germanischer Religion und Christentum in aller Schärfe, als Himmler eine Schule für seine SS in Verden den Märtyrern der germanischen Religion weihte. Verden an der Aller war historisch der Ort, an dem Karl der Große von der Elite der Sachsen einen Loyalitätsbeweis verlangte und die Bekehrung zum Christentum forderte.Footnote 69 Wer das nicht tat, wurde hingerichtet: „Karl der Sachsenschlächter“. Himmler ließ für die 4500 Toten je einen Findling entlang des Weges zur Aller aufstellen. Für Himmler waren Teile des Christentums wie Passion, Demut, Nächstenliebe nicht akzeptabel. Himmler ist als einziger aus der NS-Elite aus der (katholischen) Kirche ausgetreten. Die Behauptung jedoch, Himmlers SS sei ein „militant pseudoreligiöser Orden“ germanischer Religion mit einem Heiligtum auf der Wewelsburg, ist falsch.Footnote 70 Hitler widersprach Himmler. Karl der Große war sein Vorbild. Er öffnete „de[n] Weg, der von Dutzenden von deutschen Stämmen zu einer einzigen deutschen Nation führte, als mehr oder minder harte Vergewaltigung über Zehntausende […] ging und gehen musste.“Footnote 71 Für Hitler war das Christentum ein probates Mittel zur Rechtfertigung der Gewaltherrschaft.

Das Parteiprogramm der NSDAP 1922 hatte im Artikel 24 festgelegt, die Partei vertrete den Standpunkt eines „positiven Christentums“ ohne konfessionelle Bindung und Dogmen.Footnote 72 Das öffnete den Weg zu einer Nationalreligion mit christlicher Grundierung. Die Deutschen Christen wollten entsprechend eine deutsche Reichskirche (überkonfessionell) als Avantgarde des Nationalsozialismus schaffen.

Das Reichskonkordat (katholisch, 20. Juli 1933) und die Verfassung der Deutschen Evangelischen Reichskirche (11. Juli 1933) schienen dies zu bestätigen: Die Nationalsozialisten verstanden das Christentum als festen Bestandteil der deutschen NS-Volksgemeinschaft. Allerdings ohne ihre politischen Organisationen und Betätigung – was dann immer enger definiert wurde. Der Nationalsozialismus brauchte keine andere Religion, musste nicht selbst zur „Politischen Religion“ werden. Die Zeit des Nationalsozialismus war religionsproduktivFootnote 73 und gleichzeitig scharf antiklerikal. Religionsproduktiv waren auch die Christen in der Um-Interpretation ihrer Tradition. Antiklerikal sprach Hitler oft in seinen Monologen. Anlass dafür waren die Atheisten in der NS-Elite. Dazu gehörte u. a. Martin Bormann, der zunehmend der Schleusenwärter wurde, der bestimmte, welche Informationen er zu Hitler durchließ, wer mit ihm reden durfte und wie Hitlers Anweisungen an die zuständigen Stellen weitergleitet wurden.

Die kurze Phase, in der er den Auftrag an die völkischen Religionsführer stellte, eine art-gerechte Religion zu entwickeln, erwies sich angesichts unterschiedlicher Interessen und Ansichten schnell als Fehlschlag.Footnote 74 Immerhin stellte der Führer der Deutschen Glaubens-Bewegung, der Tübinger Religionswissenschaftler Jakob Wilhelm Hauer, ein Feierbuch für deutsch-völkische Feiern aus Texten protestantischer Nationalisten der anti-napoleonischen Zeit, etwa Ernst Moritz Arndts, zusammen.Footnote 75 Er war übrigens erstaunt, dass man ihn zwang, aus der evangelischen Kirche auszutreten.

Dieser Phase der Entwicklung einer deutschen Religion setzte Hitlers Rede scheinbar ein Ende, als er auf dem Parteitag 1938 verkündete:

Der Nationalsozialismus ist eben keine kultische Bewegung. … An der Spitze unseres Programms steht nicht das geheimnisvolle Ahnen, sondern das klare Erkennen und damit das offene Bekenntnis. Indem wir aber in den Mittelpunkt dieser Erkenntnis und dieses Bekenntnisses die Erhaltung und damit Fortsicherung eines von Gott geschaffenen Wesens stellen, dienen wir damit der Erhaltung eines göttlichen Werkes und damit der Erfüllung eines göttlichen Willens, und zwar nicht im geheimnisvollen Dämmerschein einer neuen Kultstätte, sondern vor dem offenen Antlitz des Herrn.Footnote 76

Der Nationalsozialismus konnte auf die Akzeptanz der Christen bauen, auch der christlichen Kirchen, berief sich auf das positive Christentum, allerdings als spirituell-treue, dogmenlose, priesterlose, antijüdische „Bewegung“.Footnote 77 Kritik und Spott an (v. a. katholischen) Klerikern und den Kirchen als Institution stehen dazu nicht im Widerspruch. Dieses Verständnis des Christentums konnte anknüpfen an die Kriegsreligion im Ersten Weltkrieg.Footnote 78 Doch Hitlers Rede wendet am Ende den Rassismus als Auftrag aus Gottes Schöpfung. Die Nationalsozialisten erfüllten Gottes Gebote.

7 Kirchen-Parteiungen – ohne politische Betätigung

Wenn das Konkordat zwischen Vatikan und Deutschem Reich 1933 die politische Betätigung der Kirchenangehörigen verbot,Footnote 79 so bedeutete das die Aufgabe v. a. der Zentrumspartei als die Partei, die die Weimarer Republik getragen hatte, dazu Gewerkschaften, katholische Arbeiterbewegung z. B. im Ruhrgebiet, Kolping-Vereine etc. Der Vatikan verfolgte damit sein Ziel der Monopolisierung der Papstzentrale gegenüber den regionalen Bischöfen, der katholischen Partei und den selbstbewussten Laien-Vereinigungen. Im Kirchenrecht (Codex Iuris Canonici 1917) war die Kirche rein als Kleriker-Kirche konzipiert, Laien hatten nur das Recht, passiv die Sakramente zu erhalten (CIC 1917; c. 682). Das Verbot politischer Betätigung im Konkordat 1933 war im Sinne der Papstkirche und von ihr gewünscht.Footnote 80 Das Amtsverständnis der Protestanten („Priestertum aller Gläubigen“) und die bis 1918 bestehende Verbindung von Staat und Kirche als protestantischer Staatskirche sowie die Aufteilung in 28 Landeskirchen verhinderte bei den Protestanten ein Bewusstsein einer wehrhaften Institution.Footnote 81 Genau das aber, die unterschiedlichen Konfessionen der Landeskirchen, bildete die Grundlage für den theologischen Widerspruch gegen die NS-Politik der Nationalkirche nach dem Führerprinzip in der Barmer Erklärung (Mai 1934) und die Bildung der Bekennenden Kirche: der Primat der „Königsherrschaft Christi“ über jeder irdischen Herrschaft. Damit organisierten sich die Parteiungen in der evangelischen Kirche, die Bekennende Kirche gegen die Deutschen Christen, die doch gerade „keine kirchenpolitische Partei in dem bisher üblichen Sinne sein“ wollten.Footnote 82 Der bayerische Landesbischof Hans Meiser erwies sich als starker Antipode des Nationalsozialismus, wenn es um seine Kirche ging, aber lehnte jede Opposition gegen das staatliche Handeln ab, getreu der Zwei-Reiche-Lehre Luthers.Footnote 83

8 Schluss

  1. 1.

    Die Analyse verschiedener Positionen in den politischen und religiösen Parteiungen hat gezeigt, dass die Konzepte eines einheitlich anti-religiösen Totalitarismus, einer die Kirchen ablösenden „politischen Religion“ ungenügend sind, weil sie die vorangehenden Transformationen des Religiösen und die Konfliktlinien innerhalb der politischen und der religiösen Sphäre ignorieren.Bisher wurde für den Nationalsozialismus und sein Verhältnis zur Religion Begriffe verwendet, die eine gewaltsam hergestellte Einheit (Gleichschaltung) voraussetzen durch eine klare und einheitliche Ideologie: Totalitarismus, Diktatur unter einem Führer. Geleitete von der These, dass Totalitarismus prinzipiell atheistisch sei, wird „Politische Religion“ typologisch zum Gegenteil von (wahrer) Religion. Ziel sei die Zerstörung der bestehenden Religionen. Die Realität von Parteiungen innerhalb des „Totalitarismus“ passt nicht zu den Vorannahmen. Totalitarismus und Politische Religion erweisen sich als apologetische Kampfbegriffe.Footnote 84

  2. 2.

    Im 19. Jahrhundert gewann das Konzept Nation eine teleologische Bedeutung als Ziel aller Geschichte und damit eine heilsgeschichtliche Einordnung. Religion wurde Nationalreligion. Ihren Höhepunkt erreichte die Nationalreligion im Ersten Weltkrieg als Zivilreligion und Kriegstheologie: „Gott mit uns!“ Religion diente als wichtiger Faktor für die Herstellung von Identität durch Inklusion und Exklusion: Juden und Katholiken galten demnach als nicht-deutsch. Repression durch staatliche Macht und mediale Meinungsmache, Sakralisierung von Nation durch Denkmäler und Feste steigerte der Nationalsozialismus durch ethnische und politische „Säuberung“ der „Volksgemeinschaft“.Footnote 85

  3. 3.

    Im Bezug auf Religion zeichnen sich verschiedene Parteiungen in der NS-Elite ab. Die These, Hitler habe die Radikalen gebremst,Footnote 86 suggeriert eine einheitliche Haltung in unterschiedlichem Tempo der Aktionen. Das trifft aber nicht. Man kann mindestens drei Parteien erkennen: diejenigen, die das Christentum „positiv“, also weitgehend ohne Priester, ohne Kirchen, ohne Privilegien, aber wegen seiner die NS-Herrschaft stützenden Funktion erhalten wollten (Hitler, Goebbels), die Deutschgläubigen (Himmler, Rosenberg), die Materialisten und Technikgläubigen (Bormann).Footnote 87

  4. 4.

    Das Konzept des „Dritten Reiches“ lud die Herrschaft des Nationalsozialismus religiös auf als eschatologisches End-Reich mit Endlösung und Endkampf des von Gott dazu erwählten Volkes und des weltgeschichtlich einmaligen Kairós mit der Sendung des messianischen Führers. „Positives Christentum“ formuliert auf der Handlungsebene eine gemeinsame Identität, erstens, gegen Juden, zweitens, gegen den Bolschewismus. Drittens, gegen eine übernationale Kirche mit eigener Agenda, deren Interessen, viertens, von einer politischen Partei in der parlamentarischen Demokratie repräsentiert wird (die Zentrumspartei). – Positiv verleihe Gott seine allmächtige und willkürliche übermenschliche und unmenschliche Gewalt der politischen Herrschaft. Nach dem Schulgesetz mussten Lehrer gläubig sein; es inkludiert also Christen beider Konfessionen und das nationalsozialistische Bekenntnis, exkludiert Pazifisten, Atheisten. Religionsunterricht überhaupt stand nicht zur Disposition, solange er „im nationalsozialistischen Sinne“ erfolgt.

  5. 5.

    Der Begriff der Volksgemeinschaft hat den Fokus weg von der politischen Elite auf die erweitert, die die NS-Herrschaft, die Entrechtung der Individualrechte und des Rechtsstaats widerspruchslos akzeptierten und vollstreckten. Nicht nur die jungen Aufsteiger, die von den Säuberungen profitierten, sondern auch „ganz normale Menschen“.Footnote 88 In Bezug auf Religion gab es auch eine Volksgemeinschaft derer, die sich als deutsch und christlich verstanden. Für die Untersuchung muss auch hier der Fokus weg von Religionspolitik der Regierung, Bürokratie und Kirchenleitung (mit dem stolzen Unterton des „Widerstandes“) hin zu einer Erfahrungsgeschichte, was Christentum bedeutete nach den Transformationen von Religion in der Nationalisierung der Religion im 19. Jahrhundert und der Zuspitzung im Ersten Weltkrieg.Footnote 89Footnote 90