1 Einleitung – Parteien, Parteiungen und politische Kultur in der Republik China

Die Zeit der Republik China (1912–1949) wird in der Forschung zumeist als eine Phase politischer Instabilität und sozialer Fragmentierung rezipiert. Eine durchsetzungsstarke Zentralregierung gab es für den Großteil dieser geschichtlichen Periode nicht, sondern wechselnde Lokalherrscher, die nur auf ein begrenztes Gebiet Einfluss hatten. Erst ab 1927/28 setzte sich die „Nationale Volkspartei Chinas“ (chin. Kuo-min-tang 國民黨, KMT) militärisch weitestgehend durch. Da wir also von keinem zeitlichen politischen Kontinuum sprechen können, lässt sich die Zeit zwischen 1912 und 1949 vereinfacht in drei sich partiell überschneidende Perioden unterteilen:

  1. 1.

    Das kurz nach Ausrufung der Republik zum Jahresanfang 1912 beginnende und erst 1916 mit dessen Tod endende Interregnum des Militärmachthabers Yuan Shikai.

  2. 2.

    Die Periode der Warlords (1912–1927), in welcher verschiedene lokale Machthaber Teilgebiete Chinas regieren.

  3. 3.

    Die 1927 beginnende Zeit der Zentralregierung in Nanjing, welche unter Führung der Kuomintang (KMT) und Chiang Kai-shek stand, wobei der Zugriff auf einzelne Teile des Landes mit verbliebenen Warlords weiterhin unsicher bleibt.

Der Fokus dieses Beitrags wird auf Gruppenbildungen innerhalb der KMT vor allem in der dritten Phase mit gewissem Vorlauf in der ersten und zweiten Phase liegen.

Etwas abseits der Forschungen zur politischen Ereignisgeschichte gibt es jedoch auch Ansätze, die in der Republikzeit einen Schmelztiegel unterschiedlicher geistiger und kultureller Strömungen sehen, welche sich – verglichen mit der vorhergehenden Monarchie und der darauffolgenden Herrschaft der Kommunistischen Partei – frei entfalten konnten und in fruchtbaren Austausch getreten sind. So hat etwa der Sinologe Frank Dikötter im Jahr 2008 ein Buch mit dem Titel The Age of Openness veröffentlicht, in welchem er die Republikzeit als außergewöhnlich liberal in Hinblick auf staatliche Grenzen, die Märkte, und eben auch hinsichtlich der Bildung von Interessenverbänden und der Ausübung von Religionen interpretiert (Dikötter 2008, S. 23). Vor diesem Hintergrund soll im ersten Abschnitt erläutert werden, welche konzeptuellen Ausrichtungen der moderne chinesische Begriff der Partei und verwandte Termini seit der späten Qing-Zeit (1644–1912) anzunehmen begannen und wie sich Parteienvertreter sowie parteilose Intellektuelle innerhalb der politischen Kultur der Republikzeit die Aufgaben von Parteien vorstellten.Footnote 1 Im zweiten Abschnitt wird gezeigt, dass sich innerhalb der KMT und in deren Umfeld einige einflussreiche Vertreter befanden, die einer Konfession angehörten und ihren Beitrag dazu leisteten, dass Rhetoriken der Modernisierung und des nationalen Aufbaus in Verbindung mit religiösen Bezügen in die Selbstdarstellung der Partei eingeschrieben wurden. Darauf aufbauend wird im dritten Abschnitt analysiert, mit welchem Typus von Partei sich die KMT am besten beschreiben lässt und für den Begriff der „Volkspartei“ als geeigneter Referenz argumentiert. Im vierten Abschnittk wird untersucht, wie und inwiefern das Thema Religion allgemein und der Buddhismus im Besonderen in der Phase von 1927 bis zum Ende der Republikzeit Konfliktlinien bot, die innerhalb der KMT zu Ansätzen der Bildung von Parteiungen führten. Diese Frage wird dann im Anschluss genauer in Hinblick auf die ausgewählten Vertreter Wu Zhihui und Dai Jitao beantwortet, welche beide als „Cheftheoretiker“ bzw. „Chefideologen“ der KMT galten und auch klar im rechten Parteiflügel verortet werden können, aber in ihrer intellektuell-weltanschaulichen Ausrichtung sehr unterschiedliche Akzente gesetzt haben. Deren unterschiedliche ideologische Ausrichtungen manifestiert sich darin, dass sie innerhalb des rechten Parteiflügels der KMT jeweils in verschiedenen Parteiungen verortet werden können. Wie in diesem Beitrag verdeutlicht werden soll, spielte für diese Art der parteiinternen Ausdifferenzierung die Frage nach dem Umgang mit Religion, und im Besonderen mit dem Buddhismus, eine wesentliche Rolle.

Methodisch lenkt der Begriff der Konfliktlinien auf die grundlegende Bedeutung von Diskursen für die Ausbildung von Parteiungen. Entsprechend wird in diesem Beitrag mit Elementen der historischen Diskursforschung gearbeitet, wie sie in der Religionswissenschaft etwa von Kocku von Stuckrad vertreten wird (von Stuckrad 2020). Folglich soll hier davon ausgegangen werden, dass bestimmte Akteursgruppen mit ihren sprachlichen Äußerungen auf Grundlage bestehender Wissensordnungen agieren und diese nicht zuletzt entlang diskursiver Konfliktlinien Parteiungen ausformen.

Zum Themenkomplex der Religionspolitik der republikzeitlichen KMT und den Wechselwirkungen mit Vertretern des chinesischen Buddhismus hat es in den letzten Jahren bereits einige Studien gegeben. So wird in der wichtigen Monografie Superstitious Regimes: Religion and the Politics of Chinese Modernity von Rebecca Nedostup der Versuch unternommen wird, die Religionspolitik der KMT ab den späten zwanziger Jahren ausgehend von deren Unterscheidung von „legitimer Religion“ und „Aberglaube“ bei der Rezeption von Glaubenssystemen, Ritualen und auch dem Buddhismus im Besonderen zu untersuchen. Mit dieser Arbeit liegt in der Forschung eine quellenreiche Aufgliederung verschiedener Diskurse innerhalb der KMT zur Religionsproblematik vor. Die Frage nach grundlegenderen Kontexten bei der konzeptuellen Basis der KMT als Partei und bei den Parteiungen als Teilstrukturen wird dabei allerdings nicht eingehender problematisiert (Nedostup 2009). Zu den Beziehungen zwischen der KMT und dem Buddhismus der Republikzeit im Speziellen hat der in Taiwan forschende Religionswissenschaftler Hou Kun-hung 侯坤宏 gearbeitet. Hou hat gerade die personellen Überschneidungen von buddhistischen Gruppen und der KMT aufzeigen können und verdeutlicht, dass nicht von einer klaren Konfliktlinie zwischen beiden Lagern gesprochen werden kann. Inwiefern diese personellen Überlappungen aber auch Gruppenbildungen innerhalb der KMT motiviert haben, wird von ihm nicht im Besonderen behandelt (Hou 2015). Daher soll dieser Beitrag, auch unter Berücksichtigung der weiteren Forschung, das Verhältnis von KMT und Buddhismus mit Fokus auf das Potenzial zur Bildung von Parteiungen thematisieren.

2 Voraussetzungen: Der Parteienbegriff im modernen China und seine Vorläufer in der späten Kaiserzeit

In diesem Abschnitt sollen zunächst die historischen Voraussetzungen für die Bildung von Parteien in der Republikzeit skizziert werden. Dabei soll vor allem geklärt werden, welchen Ursprung der in China erst im 20. Jahrhundert standardisierte Begriff der Partei hatte und ob es für den Begriff der Parteiung ein chinesisches Äquivalent gibt. Zudem soll der Frage nachgegangen werden, ob (oder inwiefern) für das Konstituieren von Parteien in dieser Zeit auch Aspekte der Religion eine Rolle spielten.

Hinsichtlich der Bildung von Parteien lässt sich konstatieren, dass der Beginn der Republik 1912 keine harte Markscheide darstellt. Bereits in der ausgehenden Qing-Zeit lässt sich ein Trend zur Konstituierung von Gesellschaften, Clubs oder diversen Gruppierungen beobachten. Seit etwa 1895, so Wang Fan-shen, kursierte in intellektuellen Kreisen der Begriff der „Gruppe“ (qun 群), welcher auf eine begriffliche Auslegung des Übersetzers und Sozialtheoretikers Yan Fu 嚴復 (1854–1921) zurückging. Yan Fu hatte, beeinflusst von Ideen zur Evolution von Charles Darwin und insbesondere durch die Rezeption von Thomas Huxley und Herbert Spencer, einen Ansatz populär gemacht, wonach das Fortbestehen der Chinesen nur gewährleistet werden könne, wenn Gruppen gebildet und tradierte Familien- und Klanstrukturen überwunden werden. Praktische Ausformungen fand dieses Konzept zu ebenjener Zeit in der Bildung von diversen Vereinigungen (hui 會), wie Handelsverbänden, nationalen Vereinigungen und Studiengesellschaften (xuehui 學會). Zusammenschlüsse der letzten Art soll es bereits in den 1890er Jahren mehr als tausend gegeben haben, welche sich vor allem mit der Diskussion westlichen Wissens oder dem Studium der chinesischen Klassiker beschäftigten (Wang Fan 1997, S. 259). Besonders im Umfeld der Reformbewegung von 1898 existierten eine Reihe von bedeutenden Gesellschaften mit dezidiert politischem Fokus, wie etwa die „Südliche Studiengesellschaft“ (Nan xuehui 南學會) oder die „Gesellschaft zum Studium der nationalen Stärkung“ (Qiangxue hui 強學會). Die letztgenannte Gruppe war 1896 von dem Reformer Kang Youwei 康有為 (1858–1927) gegründet worden mit dem Ziel, den Guangxu-Kaiser 光緒 (1871–1908) und dessen reformorientierte Gefolgsleute zu unterstützen (Liu und Liu 1997, S. 43). Innerhalb dieses zeitlichen Kontextes wurde der wenige Jahre später sich herausprägende Begriff der „Partei“ (dang 黨) noch im Sinne von „Clique“ oder „Bande“ verstanden.Footnote 2

Weiterführende konzeptionelle Beiträge zum Themenfeld der Bildung von politischen und gesellschaftlichen Gruppen stammen von dem Gelehrten und Reformer Liang Qichao 梁啟超 (1873–1929), der ebenfalls dem Kreis um Kang Youwei entstammte. Der Begriff der Partei selbst taucht bei Liang Qichao um die Jahrhundertwende in seiner Rezeption politischer Bewegungen im deutschsprachigen Raum (1899) und Russland (1904) auf.Footnote 3 In seinen späteren Essays lassen sich wiederholt grundsätzliche Versuche der Annäherung an den Parteibegriff und dessen Abgrenzung von Begriffen wie der Parteiung finden. In seinen „Grußworten für Parteien und Parteimitglieder“ (Jinggao zhengdang yu zhengdangyuan 敬告政黨與政黨員) von 1913 heißt es etwa: „A party (dang 黨) is that which unifies for the sake of the nation, a faction (pai 派) is that which is formed for the sake of individuals“ (Liu und Liu 1997, S. 45).Footnote 4 Der hier verwendete Begriff pai bezeichnet im politischen Kontext also eine bestimme Ausdifferenzierung in einer Partei und kann als Parteiung oder Faktion übersetzt werden. Noch konkreter ist der ebenfalls etwa ab der Jahrhundertwende gebräuchliche Begriff paibie 派别, der Faktion, Parteiung, aber auch den Entstehungsprozess ebendieser bezeichnet, also mit Faktionsbildung übersetzt werden kann. Er lässt sich sowohl auf Prozesse der Gruppenbildung in Parteien, den Wissenschaften, den Künsten als auch in religiösen Gemeinschaften anwenden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die im vormodernen Chinesisch geprägte, negativ konnotierte Bedeutung von dang als eine sich abspaltende und möglicherweise konspirierende Gruppe – somit ursprünglich eher der Bedeutung von „Faktion“ oder „Parteiung“ nahekommendFootnote 5 – neu überschrieben wird mit dem Begriff der politischen Partei. Als solcher ist dieser Begriff dann zur Zeit der Republik China gesellschaftlich weitgehend akzeptiert. Der sich zeitgleich für „Faktion“ oder „Parteiung“ etablierende Begriff pai bzw. paibie ist nur in speziellen Fällen negativ konnotiert, verkörpert aber überwiegend eine neutrale Bezeichnung von Gruppen mit ausgeprägterer Ausrichtung innerhalb einer Partei.

Die ersten chinesischen Organisationen, die in ihrer konzeptuellen Ausrichtung und Struktur den späteren Parteien nahe kamen, wurden um die Jahrhundertwende im Ausland gegründet. Sie bezeichneten sich allerdings, gerade wegen des damals noch verbreiteten Argwohns, nicht als Partei, sondern assoziierten sich stattdessen mit dem Terminus der „Gesellschaft“ (hui 會). Zu nennen sind dabei vor allem die Baohuanghui 保皇會 („Gesellschaft zum Schutz des Kaisers“) und die Vorläuferorganisation der Kuomintang, die Tongmenghui 同盟會 („Liga der Verbündeten“). Die Baohuanghui war 1898 von Kang Youwei und Liang Qichao in Victoria (Kanada) gegründet worden, nachdem beide in Folge der gescheiterten Reformversuche am Kaiserhof zur Flucht gezwungen worden waren. Ziele der Gesellschaft waren unter anderem die Schaffung einer konstitutionellen Staatsform und die Gründung einer großen Partei, die in ebendieser zum Wohle der Nation tätig sein würde. Im weiteren Verlauf ihres Bestehens pflegte die Baohuanghui mithilfe einer Verfassung, Flaggen und anderen Erkennungssymbolen, Versammlungsregeln und Wahlen das Bild, eine versuchsweise Spiegelung der Nation mit den Spielregeln politischer Partizipation zu sein (Larson 2007, S. 6). Dieser Anspruch, eine Vertretung möglichst aller sozialen Schichten in Form einer politischen Organisation darstellen zu wollen, lässt bereits an das Konzept der „Volkspartei“ denken, welches in diesem Beitrag noch ausführlicher als Referenz für die KMT eingeführt wird. Die Tongmenghui als Vorläuferin der KMT war 1905 in Tokio durch den ebenfalls ins Ausland geflüchteten Sun Yat-sen 孫逸仙 (1866–1925) gegründet worden. Die politischen Ziele dieser Gesellschaft waren, anders als bei der Baohuanghui, weniger auf die Erlangung einer Verfassung gerichtet, sondern vielmehr orientiert an den drei (Volks‑)Prinzipien Nationalismus, Demokratie und Wohl des Volkes (sanmin). Nationalismus meinte hierbei vor allem das Agieren gegen die als Kolonialmacht dargestellte Ethnie der Mandschu, welche das Herrscherhaus und große Teile der Beamtenschaft im Qing-Reich dominiert hatten. Bereits in dieser Phase während der ersten Dekade des 20. Jahrhundert lassen sich bestimmte Leitmotive, wie die Betonung des Militärischen, ein kämpferischer Heroismus und die Fokussierung auf das Volk als Kollektivakteur ausmachen, welche auch in der Ideologie der späteren Kuomintang signifikant waren (Xiao-Planes 2009, S. 40).

Mit dem Sturz der Monarchie im Jahr 1911 und der Ausrufung der Republik zum Jahresbeginn 1912 kündigte sich eine neue Welle von Parteigründungen an. Laut Schätzungen von Yang Liqiang entstanden zwischen Oktober 1911 und April 1913 386 Parteien, wovon 271 politische Organisationen im engeren Sinne waren. Die Mitglieder dieser Zusammenschlüsse entstammten zumeist intellektuellen und bürgerlichen Milieus (Yang Liqiang 1997, S. 192). Bei den ersten Parlamentswahlen im Dezember 1912 waren neben der Kuomintang noch drei weitere Parteien als aussichtsreiche Konkurrenten angetreten: Die von Liang Qichao gegründete „Fortschrittspartei“ (Jinbudang 進步黨), die „Republikanische Partei“ (Gonghedang 共和黨) und die „Einheitspartei“ (Tongyidang 統一黨). Bei der Auszählung im Januar 1913 ergab sich schließlich ein deutlicher Wahlerfolg der Kuomintang, welche 269 von 596 Sitzen des Abgeordnetenhauses und 123 von 274 Sitzen im Senat für sich gewinnen konnte. Eine wirkungsvolle Gestaltung der Realpolitik blieb den wählerstarken Parteien allerdings vorerst versagt, da 1913 das Parlament durch Yuan Shikai aufgelöst und Parteien wie die Kuomintang von ihm militärisch bekämpft und schließlich verboten wurden. Die eigentliche Ära, in welcher sich Parteien wie die Kuomintang und die 1921 gegründete Kommunistische Partei (KPCh) Chinas als wesentliche Akteure in der Politik Chinas herausbildeten, sollte erst in den 1920er-Jahren beginnen (Kuhn 2007, S. 135).

Im Zuge des Scheiterns des zentralen Parlaments und der Fragmentierung Chinas in unterschiedliche Machtbereiche, vor allem aber durch kulturelle und intellektuelle Strömungen wie die „Bewegung für Neue Kultur“ und die „Vierte-Mai-Bewegung“ seit der zweiten Hälfte der 1910er-Jahre, begann sich der Diskurs über Parteien zu verändern. Viele Intellektuelle, vor allem jene ohne Parteizugehörigkeit, waren hinsichtlich der Gestaltungsmöglichkeiten der Parteien desillusioniert. In der Zeitschrift Xin Qingnian 新青年 („Neue Jugend“) schrieben die Herausgeber im Jahr 1919:

Was wir hervorheben sind Reformen der Gesellschaft durch Bewegungen der Massen, und was alle früheren und jetzigen Gruppierungen und Parteien tun, ist das völlige Kappen dieser Beziehungen. Wir vertrauen nicht abergläubisch auf die Allmacht der Politik (bu mixin zhengzhi wanneng 不迷信政治萬能), aber wir erkennen an, dass die Politik ein wichtiger Teil öffentlicher Aktivitäten ist […]. Auch bezüglich politischer Parteien erkennen wir an, dass diese eine geeignetes Mittel bei der Umsetzung der Politik sind; aber angesichts der Unterstützung von Minderheiten und deren persönlichen Vorteilen oder den Interessen einer bestimmten Klasse, gibt es in unseren Augen keine Partei, die für das Wohl der gesamten Gesellschaft arbeitet und wir werden es nie über uns bringen, in eine einzutreten. (Rahav 2017, S. 116)

In diesem Zitat klingt neben der verbreiteten Skepsis gegenüber Parteien als elitären Organisationen jedoch auch die Betonung der Volksmassen (qunzhong 群眾, minzhong 民眾) als Motor und Zielgruppe der Politik an. Diese Rhetorik sollte ab etwa 1925 sowohl von der Kuomintang als auch der Kommunistischen Partei öffentlichkeitswirksam in deren jeweilige Programmatik integriert werden (Rahav 2017, S. 121). Etwa zur selben Zeit begann sich der Einfluss der Komintern auf die grundsätzliche Auffassung beider Parteien in Bezug auf politischen Wettbewerb und Entscheidungsfindung auszuwirken. Gemäß dem bolschewistischen Modell der Ein-Parteien-Dominanz waren oppositionelle Gruppen nicht vorgesehen. Zudem haben beide Parteien ihr Verhältnis zu den Volksmassen klar im Sinne eines Führens und Disziplinierens der Bevölkerung verstanden. Feng Xiaocai hat diese rhetorische Strategie als „usurpation of popular politics“ bezeichnet und zu verdeutlichen versucht, dass sich die beiden Parteien stets auf ihre Vertretung der Massen beriefen, diese selbst aber kaum die Gelegenheit bekamen, in diese Art der Repräsentation überhaupt einzuwilligen (Feng Xiaocai 2013, S. 204).

3 Politische Akteure und Konfessionen: Religiöse Affinitäten im Umfeld der Kuomintang

Im Februar 1932 berichtete die protestantische Zeitschrift The Chinese Recorder in einem kurzen Artikel über den Warlord Feng Yuxiang 馮玉祥 (1882–1948) und dessen Identifikation als Christ. Feng sei ein „Christian patriot“ und er selbst fordere „we need the sacrificial spirit of Christ, a willingness to die, to shed our blood.“ In einer chinesischen Umfrage darüber, wer der beliebteste moderne Chinese sei, wäre Marschall Feng auf Platz zwei direkt nach Sun Yat-sen gewählt worden (The Chinese Recorder 1932, S. 70). Sun Yat-sens Verbundenheit mit dem Christentum war in der gleichen Zeitschrift schon ein Jahr zuvor ausführlich besprochen worden. Ein detaillierter biographischer Abriss zeigt Sun als einen sich schon in seiner Kindheit auf Sinnsuche befindenden Menschen, der, in eine nicht-christliche Familie geboren, sich aus eigener Anstrengung mit dem christlichen Glauben beschäftigt hat. Dieses Interesse sei auch mit einer wachsenden Entfremdung und Ablehnung der chinesischen Volksreligion einhergegangen und so wird die Geschichte erzählt, dass Sun als Jugendlicher in eine Pagode seines Heimatortes gegangen sei und eine Statue beschädigt habe, um seinen Freunden die Machtlosigkeit der dort verehrten Götter zu demonstrieren. Im Alter von achtzehn Jahren habe er sich dann taufen lassen (D’Elia 1931, S. 76). Aus dem Artikel wird allerdings nicht klar, welchen Einfluss die christliche Konfession auf seine Politik hatte. Vielmehr scheint in Darstellungen dieser Art lediglich das Bild von einer Polarität zwischen dem alten, abergläubischen und dem modernen, vom Christentum mit zivilisatorischem Fortschritt bereicherten China zu entstehen.

Auch die andere große Führungsfigur der Kuomintang Chiang Kai-shek 蔣介石 (1887–1975) war ein konvertierter Christ. Er hatte sich erst 1930 im Zusammenhang mit seiner 1927 erfolgten Heirat mit Song Meiling taufen lassen. Laut einer Studie von Bae Kyounghan auf Basis von Chiangs erst posthum zugänglich gewordenen Tagebüchern hat er besonders während politischer Krisensituationen, etwa nach der Invasion durch japanische Truppen 1937, täglich in seinen Gebeten auch die Rettung der Nation mit eingeschlossen (Kyounghan 2009, S. 6). Öffentlichkeitswirksam als Christin in Erscheinung getreten ist vielmehr seine Frau Song Meiling. The Chinese Recorder druckte im Mai 1937 einen Artikel unter dem Titel „Christians and the New Life Movement“ ab, in welchem sie einen Zusammenhang zwischen dem Wohl der Nation und dem persönlichen Glauben herstellt. Unter anderem erwähnt sie einen Aufruf der „Bible Women’s Association of Canton“, wonach sich eine „League of Prayer“ von wenigstens tausend Gläubigen finden sollte, die sich verpflichten „to pray for China each morning as they arise“ (Song 1937, S. 279).

Die Affinität zum Christentum vieler einflussreicher Politiker aus dem Umfeld der Kuomintang scheint einen starken Kontrast zu den Eliten darzustellen, die ihre Prägung während der Qing Dynastie erfahren hatten und dem Christentum größtenteils ablehnend gegenüberstanden. Eine jüngere Generation von Eliten war, wie im Falle von Sun Yat-sen, in moderneren – und in einigen Fällen von christlichen Organisationen aufgebauten – Einrichtungen ausgebildet worden. Sie war daher dem Christentum gegenüber wohlwollend eingestellt (Goossaert und Palmer 2011, S. 69). Von den 274 gewählten Mitgliedern des ersten Senats von 1912 waren 60 Christen.Footnote 6 Dieser – im Verhältnis zu den konfessionellen Zugehörigkeiten der damaligen Gesamtbevölkerung Chinas – sehr hohe Anteil lässt sich ebenso auf die soziale Herkunft der neuen politischen Eliten aus den christlichen Bildungsinstitutionen zurückführen. Diese Institutionen waren beispielsweise westlich geprägte Colleges im Ausland oder in China selbst. Zudem waren seit dem 19. Jahrhundert große Teile der in China zugänglichen Presse – vor allem das Feld der Zeitungen und Zeitschriften – von Missionsgruppen gegründet worden, die es in vielen Fällen verstanden, christliche Botschaften mit einem von Wissenschaft und technologischem Fortschritt geprägten Zivilisationsbild zu verknüpfen (Goossaert und Palmer 2011, S. 70).

Gedanken zur Stärkung der Nation formulierten auch einige Intellektuelle und politische Akteure auf Basis des Buddhismus. Noch in der späten Kaiserzeit hatte Liang Qichao in seinem Aufsatz „Über die Beziehung von Buddhismus und Demokratie“ (Lun Fojiao yu qunzhi de guanxi 論佛教與群治之關係) von 1902 der buddhistischen Lehre eine besondere Grundlage für politisches und soziales Handeln attestiert. Der Buddhismus sei kein Aberglaube oder eine Lehre zur bloßen individuellen Kultivierung, sondern durch das Boddhisattva-Ideal immer gerichtet auf die Verbesserung der diesseitigen Umstände aller Lebewesen (Chan 1985, S. 42).

Der Hochschullehrer, Bildungsreformer und kurzzeitige Erziehungsminister (1912) Cai Yuanpei 蔡元培 (1868–1940) gehörte der Tongmenghui und somit dem Kreis um Sun Yatsen an und wurde schon ab Mitte der 1920er-Jahre – unter anderem neben dem noch zu erwähnenden Wu Zhihui – als einer der „vier Doyens der Kuomintang“ (Guomindang si da yuanlao 國民黨四大元老) bezeichnet. In einem frühen, zu Lebzeiten unveröffentlichten Aufsatz von 1900 unter dem Titel „Über den Schutz der Nation durch den Buddhismus“ (Fojiao huguo lun 佛教護國論) hatte er die Idee formuliert, dass ein von Ritualen befreiter, säkularisierter Buddhismus das Land retten könne.Footnote 7 Er führt aus, dass zur Abwendung des Untergangs der Nation unbedingt eine Lehre (jiao 教) vonnöten sei. Hierfür müsse zwischen Buddhismus, Christentum und den Lehren von Konfuzius eine Entscheidung getroffen werden. Die beiden letzteren Optionen seien aus Cais Sicht abzulehnen, da die christliche Lehre unwahr und die Lehren des Konfuzius durch ihre historisch tradierten Verstrickungen in die Politik diskreditiert seien (Gildow 2018, S. 108). Freilich lässt sich Cai Yuanpei nicht als Buddhist bezeichnen, vielmehr ist seine akademische Beschäftigung mit dem Buddhismus vergleichbar mit jener seiner Zeitgenossen wie Tan Sitong 譚嗣同 (1865–1898), Zhang Taiyan 章太炎 (1868–1936), Kang Youwei und Liang Qichao (Gildow 2018, S. 109). In späteren Phasen seiner politischen Karriere, etwa 1927 bei einem Vortrag vor dem Buddhistischen Seminar Minnan (Minnan Foxueyuan 閩南佛學院) des bekannten Reformmönchs Taixu 太虛 (1890–1947), hat Cai erneut Gedanken eines reformierten Buddhismus vertreten. Eine zentrale Rolle bei der Rettung der Nation hat er dem Buddhismus in diesem Kontext allerdings nicht wieder eingeräumt (Gildow 2018, S. 117).

Als Beispiel für einen Buddhisten im engeren, konfessionellen Sinne lässt sich Jiang Zuobin 蔣作賓 (1884–1942) anführen. Der Offizier und Diplomat Jiang hatte seit 1905 in Japan gelebt, 1908 seinen Abschluss an der Heeresoffiziersschule in Tokio gemacht – hier hatte auch Chiang Kai-shek seine Ausbildung durchlaufen – und sich der Tongmenghui angeschlossen. 1912 war er in der Übergangsregierung von Nanjing zum stellvertretenden Leiter des Heeresministeriums ernannt worden. Parallel zu seiner politischen Karriere, die ihn während der Jahre 1928 bis 1931 als Gesandter nach Berlin führen sollte, war er allerdings auch aktiv in verschiedenen religiösen Gruppierungen. Zunächst war Jiang Mitglied der religiösen Gruppe Tongshanshe 同善社 („Gesellschaft der Gütigkeit“)Footnote 8, wurde 1918 aber nach seinem Austritt zum Mitbegründer einer buddhistischen Gruppierung unter dem Namen Jueshe 覺社 („Erleuchtungsgesellschaft“). Die Jueshe war auf eine Anregung von Taixu hin entstanden, welcher für Jiang zur Identifikationsfigur und zum Hauptinspirator für seinen Übertritt zum Buddhismus geworden war (Dongchu 1974, S. 520). In der Jueshe befand sich Jiang in der Gesellschaft prägender Laienbuddhisten wie dem Industriellen und Künstler Wang Yiting 王一亭 (1867–1938) oder dem Gelehrten Zhang Taiyan, welche ein urbanes Milieu von vielseitig vernetzten Entrepreneurs oder Intellektuellen repräsentierten. Die wesentlichen Aufgaben der Gesellschaft waren die Herausgabe von Texten, das Abhalten von Vorträgen und die Integration buddhistischer Ideen und Rituale – wie Meditation, das Lesen buddhistischer Sutren und Bußrituale – in den Alltag urbaner Laien (Scott 2016, S. 128).

4 Die Kuomintang: „Leninistische Kaderpartei“, „faschistische Bewegung“ oder „Volkspartei“?

Um die Religionspolitik der Kuomintang und deren Haltung zum Buddhismus im Besonderen zu verstehen, muss die ideologische Entwicklung dieser Partei analysiert werden. Hierbei sollen vor allem zwei Phasen unterschieden werden: Die Formierung zur zentralisierten Kaderpartei unter sowjetischem Einfluss (1922 bis 1927) und die darauf folgende Wandlung der Partei nach Herstellung der Zentralgewalt und der Einparteienherrschaft in Nanjing (ab 1928). Letztere Phase ist in der Forschung sehr unterschiedlich als „faschistisch“ oder auch als „konservativ“ bezeichnet worden.

Nachdem die Kuomintang unter Yuan Shikai verboten worden war, hatte sie sich im Oktober 1919 unter Sun Yat-sen neu gegründet. In dieser Frühphase, aber auch nach Suns Tod 1925 waren die von ihm bereits um 1905 entwickelten „Drei Volksprinzipien“ (San min zhuyi 三民主義) der ideologische Bezugspunkt für die Mitglieder der Partei. In einer für die Partei verbindlichen Form wurden sie allerdings erst 1924 veröffentlicht. Mit den drei Volksprinzipien wollte Sun einen Entwurf vorlegen, wie China wieder Souveränität und Wohlstand erlangen könnte. Im Einzelnen sind dies (1) das Prinzip des Nationalismus, (2) das Prinzip der Demokratie und (3) das Prinzip des Volkslebens (See 2011, S. 33). Noch relevanter als ideengeschichtlicher Rahmen für Ansätze in der Religionspolitik wurden jedoch Suns Gedanken der „Drei Stufen der Revolution“. Hier hatte Sun kalkuliert, dass in der ersten Phase zunächst die Macht mittels einer Militärdiktatur errungen wird. Darauf folgt eine Periode der „erziehenden Regierung“ (xunzheng 訓政),Footnote 9 bevor schließlich im Rahmen einer verfassungsgemäßen Regierung ohne irgendeine Partei das Volk selbst die Funktion der staatlichen Organe überwacht. Die ersten der beiden konzipierten Phasen erfuhren schließlich eine konkrete Umsetzung in den 1920er-Jahren: Mit dem erfolgreichen Ausgang des Nordfeldzuges (1926–1928) hatten die Armeen der Kuomintang unter Chiang Kai-shek die Warlords besiegt und China wiedervereinigt. In der nun beginnenden Phase eines Parteistaates (dangguo 黨國) unter Kuomintang-Führung mit Nanjing als Hauptstadt (1928–1937) wurde eine Politik mit starken volksaufklärerischen Akzenten umgesetzt (Zarrow 2005, S. 213).

Der sowjetische Einfluss auf die Strukturierung und inhaltliche Ausrichtung der Partei hatte sich ab 1922 formiert, als die Kommunistische Internationale (Komintern) ihren Vertreter Michail Borodin (1884–1951) zur Beratung von Sun Yat-sen entsendet hatte. Ursprünglich war diese Zusammenarbeit aus pragmatischen Gründen von der Kuomintang initiiert worden, um sich Unterstützung für den Einigungsprozess und den nationalen Aufbau in China zu sichern, während die Komintern eine Chance sah, die kommunistische Revolution nach Ostasien auszuweiten (Li 2013, S. 219). In diesen Jahren wurde die KMT ebenso wie die Kommunistische Partei Chinas, die zeitgleich von der Komintern unterstützt wurde, nach dem Modell einer leninistischen Kaderpartei umgestaltet. Im Einzelnen bedeutete dies, dass eine zentralisierte Top-down-Struktur mit einer Befehlskette ausgehend vom Chef der Partei festgeschrieben wurde. Weiterhin baute die KMT eine eigene Armee mit entsprechenden Ausbildungsinstitutionen, etwa der 1924 eröffneten Huangpu-Militärakademie in Guangzhou auf (Zarrow 2005, S. 191). Zudem wurde mittels Schulungen, sowie der Herausgabe von Schriften und Propagandamaterial eine Pflege der Parteiideologie betrieben, die als unverrückbar und für alle Parteimitglieder als verbindlich herausgestellt wurde. Eine Betonung der Partei als „Avantgarde“ und Mobilisator der Massen wurde in der Parteirhetorik zwar verstärkt, war allerdings schon, wie wir gesehen haben, früher Bestandteil der Politphilosophie Sun Yat-sens und kein originärer Einfluss des leninschen Parteikonzeptes (Zarrow 2005, S. 213).

Durch Vermittlung der Komintern kam es 1924 zur Bildung einer Einheitsfront zwischen der KMT und der KPCh. Obwohl diese Übereinkunft ein reines Zweckbündnis herbeiführte, existierte tatsächlich eine Kooperation auf personaler Ebene und für die Dauer der Einheitsfront gab es Mitglieder der KPCh, die auch in die KMT eintraten (Zarrow 2005, S. 199). Für viele Akteure innerhalb der KMT wurde diese Zusammenarbeit aber auch Anlass für eine noch eindeutigere Positionierung gegenüber dem Kommunismus und der KPCh, vor allem nach dem Tod Sun Yat-sens im März 1925. Eine Parteiung (pai) mit der Bezeichnung „Westberge-Gruppe“ (Xishan pai 西山派) traf sich erstmals im November 1925 im buddhistischen Biyun-Tempel (Biyun si 碧雲寺), um sich über ihre Befürchtungen vor einer Unterwanderung der KMT durch kommunistische Interessengruppen und deren Umdeutung der Theorien von Sun Yat-sen im Sinne der Komintern auszutauschen und Gegenstrategien zu entwickeln. Zu einem wichtigen Bezugspunkt dieser Diskussionen wurde zwei Schriften des langjährigen Vertrauten von Sun Yat-sen und einflussreichen KMT-„Cheftheoretikers“ Dai Jitao, welcher auch Mitglied der Parteiung war: „Die geistigen Grundlagen der Sun Yat-senismus“ (Sunwen zhuyi zhi zhexue jichu 孫文主義之哲學基礎),Footnote 10 und „Die republikanische Revolution und die Kuomintang“ (Guomin geming yu Zhongguo guomindang 國民革命與中國國民黨), welche beide im Jahr 1925 erschienen waren. In diesen Texten hatte Dai gegen die Anwendung kommunistischer Theorien auf China argumentiert und vor allem die Idee des Klassenkampfs als unpassend für die chinesische Gesellschaft herausgestellt (Garushiants 2002, S. 49).

Im Kampf um die Nachfolge von Sun Yat-sen konnte sich letztendlich der als „rechter Flügel“ der KMT bezeichnete Zusammenschluss von Mitgliedern um Chiang Kai-shek und Dai Jitao durchsetzen.Footnote 11 1927 wurden die verbliebenen sowjetischen Berater der KMT ausgewiesen und im gleichen Jahr kam es auf Veranlassung Chiang Kai-sheks ab dem 12. April zu einer umfassenden „Säuberung“ der Partei (qing dang 清黨), bei der mehrere hundert Menschen verhaftet oder getötet wurden, denen Verbindungen zur Kommunistischen Partei angelastet worden waren. Hiermit wurde das Ende der ersten Einheitsfront und die Festigung von Chiang Kai-sheks Führungsposition in der KMT konsolidiert (Tsui 2018, S. 3). Hauptkonfliktlinie in dieser Zeit war somit die Haltung zur Kommunistischen Partei und Ideologie – die sich auch als Ideologie (mit Religionsersatzcharakter) deuten ließe, aber in dieser Zeit nicht als Religionsdebatte verhandelt wurde. Die Bildung dominanter Parteiungen orientierte sich somit an dieser Frage.

Die sogenannte Nanjing-Dekade – von 1927 bis zum Einmarsch der japanischen Armee 1937 und der Verlegung der Hauptstadt nach Wuhan – ist von der ideengeschichtlichen Forschung unterschiedlich charakterisiert worden. In einer jüngeren Studie hat Maggie Clinton den Faschismusbegriff auf diese Phase angewendet.Footnote 12 Frederic Wakeman wiederum hat schon früher den Begriff des „konfuzianischen Faschismus“ geprägt und damit akzentuiert, dass Chiang Kai-shek ein aufmerksamer Rezipient des sich zeitgleich konstituierenden Faschismus unter Mussolini und Hitler war, sich aber bei der Orientierung an bestimmten Werten viel stärker noch auf ein klassisch-vormodernes Erbe Chinas berief (Wakeman 1997, S. 424). Nationaler Chauvinismus, eine Betonung des militärischen Drills für alle Teile der Gesellschaft und die völlige Aufopferung des Individuums für die Nation seien zwar feste Bestandteile der politischen Rhetorik von Chiang gewesen, seien von ihm jedoch mit konfuzianischen Werten wie „Wahrhaftigkeit“ (cheng 誠) begründet worden (Wakeman 1997, S. 425). Diesen Interpretationsansatz hat Brian Tsui in einer jüngeren Studie weiterverfolgt und den Begriff der „konservativen Revolution“ gebraucht. Damit versucht Tsui, die Politik der Kuomintang in einen globalen Zusammenhang des Aufstiegs rechter Bewegungen zwischen den beiden Weltkriegen einzuordnen, gleichzeitig aber Spezifika deutlich zu machen, die gerade in der Zusammenführung von konservativer Orthodoxie und eher liberaleren Haltungen liegen. Konservativ war die Parteidoktrin der KMT, so Tsui, insofern, dass sie vom Volk und den Parteimitgliedern Respekt vor Hierarchien und eine umfassende Disziplinierung einforderte und sich von den Vorstellungen einer internationalen proletarischen Revolution abgrenzte. Als liberal erschiene sie, da sie sich von den kommunistischen Bewegungen, der Klassentheorie und deren Massenpolitik absetzte und sich dem Individuum auf einer nahezu spirituellen Ebene annäherte (Tsui 2018, S. 16). Hier kam der von Sun Yat-sen vorausgedachte Politikstil der „erziehenden Regierung“ voll zum Tragen: Das Individuum sollte sich, angeleitet durch die Propaganda der KMT disziplinieren und kultivieren und sich so in den Dienst des nationalen Aufbaus stellen. Diese Elemente stellten auch einen wichtigen konzeptuellen Unterbau für die Religionspolitik der KMT dar.

Vor diesem Hintergrund der ideologischen Entwicklung der KMT lässt sich nun als erstes Fazit die Frage stellen, mit welchem Parteibegriff sich hier – gerade auch im globalen Vergleich – operieren lässt. Der Politikwissenschaftler Jürgen Domes hat für die KMT, unter Rückgriff auf die Parteientypologie von Maurice Duverger, den Begriff der „Einheitspartei“ verwendet. Damit versucht er dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die KMT in der Nanjing-Phase (1927–1937) zwar durchaus autoritär, nicht aber totalitär regiert hat und sich dadurch auszeichnete, dass es in „ihrem Herrschaftsbereich keine Chance für die Machtübernahme konkurrierender Gruppen durch Wahlen“ gab (Domes 1969, S. 4).Footnote 13 Eine solche „nichttotalitäre Einheitspartei“ sei weiterhin davon bestimmt, dass sie darauf verzichtet, „die bedingungslose Zustimmung aller Bürger zu ihren Maßnahmen gewaltsam zu erzwingen, und dass sie meist die religiöse Freiheit und die Bewegungsfreiheit innerhalb des Landes gewährleistet“ (Domes 1969, 5). Mit der von Domes vorgeschlagenen Kategorisierung bleibt allerdings offen, wie die Partei mit sich intern herausbildenden Parteiungen umgeht. Daher soll hier der in der deutschsprachigen Politikwissenschaft geläufige Begriff der „Volkspartei“ eingeführt und auf die KMT angewendet werden.Footnote 14 Darunter soll eine Partei verstanden werden, die nach außen den Anspruch vermittelt, alle Schichten der Bevölkerung repräsentieren und auch eine heterogene Mitgliederschaft ermöglichen zu wollen. Die Bezeichnung der KMT als Volkspartei legt sich semantisch nahe, da sie in ihrer Propaganda und in den erwähnten „Der Volksprinzipien“ – hier vor allem das erste „Prinzip der Volksgemeinschaft“ (minzu zhuyi 民族主義) – meist die Gesamtheit der Bevölkerung adressiert. Dies verdeutlicht sich auch in der Ablehnung der Idee des Klassenkampfes und des fehlenden Fokus auf die Bauern als sozialer Schicht bei der sich durchsetzenden anti-kommunistische Faktion um Chiang Kai-shek (So 1986, S. 65). In dieser Art des umfassenden Repräsentationswillens der KMT als Regierungspartei lassen sich auch Ähnlichkeiten zur Staatsform des „autoritären Korporatismus“ erkennen.Footnote 15 Im Weiteren soll gezeigt werden, dass sich die Charakterisierung der KMT als autoritäre Volkspartei (mit korporatistischen Tendenzen) auch in der Integration von religionskritischen und buddhistischen Akteuren bestätigen lässt. Dies wirkt sich dann in der Folge auch auf die Frage nach der Bildung von religionsspezifischen Untergruppen als möglichen Parteiungen aus bzw. deren Grad von Integration oder Abspaltung („Faktionalisierung“).

5 Die Religions- und Buddhismuspolitik der Kuomintang: Entwicklungen, Impulse und Reaktionen

In den 1920er-Jahren kam es von Seiten der KMT aber auch der mit ihr in der Einheitsfront 1923 bis 1927 verbundenen KPCh zu umfangreichen anti-religiösen Kampagnen. Im Besonderen umfasste dies die anti-christlichen Aktionen in den Jahren 1924–1927, welche sich gegen westliche und in der Agitation als „imperialistisch“ bezeichnete Einflüsse in Form der ausländischen Missionare und ihrer Bildungseinrichtungen richteten. Michael Murdock hat gezeigt, dass die KMT im Zuge ihrer anti-christlichen Agitation in den Jahren 1924–25 eine „zweigleisige“ Strategie verfolgte: Zum einen hat sie in ihrer Propaganda Ressentiments gegen christliche Institutionen (Schulen und andere Bildungseinrichtungen) geschürt, gleichzeitigt hat sie in Einzelfällen aber auch christliche Akteure vor anti-christlichen Aktionen militärisch geschützt. Es lässt sich somit sagen, dass die Religionspolitik der KMT – auch während dieser Phase vor 1927 – nicht im eigentlichen Sinne gegen die Christen gerichtet war. Zum einen waren in der KMT, wie bereits gezeigt wurde, zahlreiche Christen Mitglieder in der KMT, zum anderen war die Motivation der Kampagnen eher von dem Versuch geleitet, die Bildungshoheit von den Missionsschulen und Universitäten zurückzugewinnen, mithilfe stark nationalistischer und anti-imperialistischer Agitation größere Teile der Bevölkerung zu mobilisieren und für die KMT zu gewinnen und gleichzeitig christliche Akteursgruppen an sich binden (Murdock 2002, S. 40).

Nachdem der Parteistaat der KMT im Jahr 1927 gefestigt worden war, wurden umfangreiche Neuregelungen im Bereich des religiösen Lebens in Kraft gesetzt. Zum einen wurden in den Jahren 1928 und 1929 eine Reihe von Bestimmungen festgelegt, mit welchen die Aktivitäten von Tempeln eingeschränkt oder sogar ganz unterbunden werden konnten.Footnote 16 Gleichzeitig gingen von der KMT dieser Jahre intensive Propagandakampagnen aus, die sich gegen verschiedene Formen des Aberglaubens (mixin 迷信) wandten und die breite Bevölkerung von der Abkehr von tradierten Praktiken, wie dem Verbrennen von Räucherstäbchen (nian xiang 拈香), überzeugen wollten. Solche Praktiken waren auch im Buddhismus unter den Laien üblich. Dennoch muss an dieser Stelle hervorgehoben werden, dass die Konfliktlinie bei der Religionspolitik während dieser Phase der Republikzeit nicht direkt zwischen der KMT und der buddhistischen Gemeinschaft verlief. Der eigentliche Fokus bei der Umgestaltung des religiösen Lebens betraf in erster Linie die erwähnten Praktiken der Volksreligion, welche sich zwar auch in buddhistischen Kontexten fanden, jedoch in der Wahrnehmung vieler KMT-Vertreter keine Kategorisierung des Buddhismus per se als illegitim nach sich zog. Ein paralleler Konflikt mit der KMT betraf die bereits erwähnten, synkretistischen „redemptive societies“, welche sich in ihren Aussagen und Ritualen auch aus dem Repertoire des chinesischen Buddhismus speisten, jedoch stärker dem volksreligiösen, „abergläubischen“ Spektrum zugeordnet wurden. Der Buddhismus wurde hingegen als etablierte Religion angesehen.

Zwei Entwicklungen charakterisieren die Religionspolitik der KMT in Bezug auf den Buddhismus der späten 1920er-Jahre: Zum einen wurden im Jahr 1928 eine ganze Reihe von „redemptive societies“, wie etwa die bereits erwähnte Tongshanshe, die Wushanshe 悟善社 („Gesellschaft der Erleuchtung und Gütigkeit“) und Daoyuan 道院 („Schule des Dao“) als „abergläubische Organisationen“ (mixin jiguan 迷信機關) eingestuft und verboten, da ihnen angelastet wurde, mit politischen Feinden der KMT, wie verschiedenen Warlords, assoziiert zu sein und sozial aufrührerisch zu agieren (Schumann 2020, S. 198). Obgleich diese Verbote wenig nachhaltigen Einfluss auf die religösen Organisationen selbst ausübten, hatte sich die KMT hiermit zumindest auf symbolischer Ebene deutlich positioniert. Gleichzeitig wurde Ende der 1920er die Stellung des Buddhismus als legitimer Religion gestärkt, da dieser in Form eines nationalen Dachverbandes von der KMT anerkannt wurde. Angesichts der erwähnten Regularien zu Tempeln der Jahre 1928 und 1929 hatten sich einflussreiche buddhistische Akteure wie Taixu, Wang Yiting und Dixian 諦閒 (1858–1932) organisiert, um im April 1929 den „Buddhistischen Verband Chinas“ (Zhongguo fojiao hui 中國佛教會), mit dem Anspruch „alle [buddhistischen] Gläubigen des gesamten Landes zu vertreten“, zu gründen. Dieser Verband fungierte in den Folgejahren gemäß einem korporatistischen Modell als offizieller Ansprechpartner der KMT-Regierung (Nedostup 2009, S. 50).Footnote 17

Vertreter der KMT wie der Minister des Innern Xue Dubi 薛篤弼 (1892–1973) adressierten die buddhistische Gemeinschaft direkt und machten ihre Unterscheidung von Religion (zongjiao 宗教) und Aberglauben deutlich. Der Buddhismus, so Xue, habe sich durch Praktiken wie Gebeten und dem Verbrennen von Räucherstäbchen von seinen ursprünglichen Werten entfernt und müsse sich daher von solchen Gepflogenheiten wieder lösen. Eine Möglichkeit, als „richtige“ (zheng 正) Religion in der Gesellschaft wieder Akzeptanz zu finden sei es, die eigenen Ressourcen – Ländereien, Tempel und Gebäude – der Nation für den Bau von Schulen, Krankenhäusern und Fabriken zur Verfügung zu stellen. Außerdem müssten sich die Laien und Ordinierten mit dem Aufbau der Nation identifizieren und dies auch ideell unterstützen. Als Prototyp einer modernen und der Allgemeinheit nützenden Religion diente in der Argumentation von Vertretern wie Xue Dubi oftmals das in China wirkende Christentum (Nedostup 2009, S. 41). Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Politik der „Ausmerzung des Aberglaubens“ (pochu mixin 破除迷信) des Innenministeriums über alle Faktionsgrenzen hinweg befürwortet wurde. Unterstützung fand sie sogar von Seiten prominenter Buddhisten in der Partei wie Dai Jitao, Lin Sen 林森 (1868–1941) und Ju Zheng 居正 (1876–1951), die jedoch alle im rechten Parteiflügel verortet werden können (Nedostup 2009, S. 17).

Die buddhistische Gemeinschaft hat – neben ihrer Bildung eines nationalen Verbandes – auf diese Impulse der staatlichen Reglementierung in kreativer Manier reagiert und in der Folge von der KMT geprägte Rhetoriken des nationalen Aufbaus integriert. Einen wesentlichen Einfluss auf diese Annäherung hatte beispielsweise die Besetzung der Mandschurei im Nordosten Chinas durch Japan im Jahr 1931. Formeln wie der „Schutz des Landes“ (hu guo 護國) finden sich daraufhin verstärkt in Artikeln der damals zahlreich erscheinenden buddhistischen Zeitschriften. Gleichzeitig gab es ab dem Inkrafttreten der Regelungen zu den Tempeln 1929 auch eine Reihe von Protesten von Seiten der Buddhisten gegenüber Vertretern und Institutionen der KMT. In vielen dieser Petitionen griffen buddhistische Reformvertreter wie Taixu Formulierungen und Losungen der KMT wie die „Ausmerzung des Aberglaubens“ (pochu mixin 破除迷信) oder die Abkehr von der „Erbringung illegitimer Kulte“ (fengsi yinci 奉祀淫祠) auf und betrieben so ihrerseits eine öffentlichkeitswirksame Religionskritik. Hier kann man auch eine Spiegelung der Konfliktlinien innerhalb der chinesischen Buddhisten zwischen Konservativen und Reformvertretern erkennen, wobei letztere die Unterscheidungen von Religion und Aberglaube übernahmen und binnenreligiöse Kritik am Ritualismus übten.Footnote 18 Zugleich äußerten solche Reformvertreter eine nuancierte Kritik an den Regelungen der KMT und versuchten sich als aktive gesellschaftliche Beteiligte zu behaupten (Nedostup und Liang 2001, S. 193). Insgesamt kann eine Entspannung der Lage zwischen KMT und den etablierten Religionen in den 1930er-Jahren festgestellt werden. Zugleich blieb die Mitgliederschaft der KMT in sich weltanschaulich höchst divers.

6 „Die Religion der Toten“: Religionskritik und die szientistische Richtung bei Wu Zhihui

Mit dem Parteitheoretiker Wu Zhihui 吳稚暉 (1865–1953) soll an dieser Stelle eine Position gegenüber dem Buddhismus exemplarisch vorgestellt werden, die sich vor allem aus diskursiven Strategien des Anarchismus und Szientismus gespeist hat. Obwohl Wu und der noch genauer zu besprechende Dai Jitao beide dem rechten Flügel der Kuomintang um Chiang Kai-shek zuzurechnen sind und innerhalb diesem die Position von Vordenkern und „Cheftheoretikern“ einnahmen, finden wir im Bezug zum Buddhismus, wie noch zu zeigen sein wird, zwei sehr unterschiedliche Diskurspositionen. Daher wird die Frage zu stellen sein, wie es trotzdem möglich war, dass beide innerhalb des gleichen Parteiflügels wirksam, in vielen anderen Fragen der Politik übereinstimmen konnten und dennoch als Vertreter verschiedener Parteiungen wahrgenommen wurden.

Wu Zhihui gehörte der Generation von Sun Yat-sen an und hatte zunächst eine klassische Ausbildung durchlaufen, aus der sich jedoch keine Karrieremöglichkeiten für ihn ergaben. 1901 kam er nach Japan um sich dort die japanische Sprache anzueignen und verschiedene westliche Wissenschaften kennenzulernen. Nach seiner Rückkehr nach China hatte er Kontakt zu Cai Yuanpei und antimonarchistischen Kreisen, bis er aufgrund politischer Verfolgung 1902 nach Europa ging. Er hielt sich in England, Schottland und Frankreich auf und sollte auch später in seinem Leben ein Modell unterstützen, wonach möglichst viele Chinesen ihre Ausbildung im Westen durchlaufen sollten (Müller 2001, S. 210). In einem Brief schrieb er, „Sie [die Franzosen] haben nicht die Tradition, die Beamten und den Adel zu verehren und es gibt nur wenige Spuren von Religion und Aberglauben“ (Clifford 1978, S. 352).

1905 traf Wu Zhihui in London Sun Yat-sen und trat kurz darauf der Tongmenghui bei. Im Jahr darauf gründete er gemeinsam mit Li Shizeng 李石曾 (1881–1973) und anderen die sogenannte „Weltgesellschaft“ (Shijie she 世界社) welche in der Folgezeit unter seiner Leitung die Zeitschrift „Neues Jahrhundert“ (Xin shiji 新世紀) herausgab (Müller 2001, 210). In dieser Zeitschrift propagierten die Autoren, die inzwischen den Anarchismus für sich entdeckt hatten, eine grundlegend erneuerte chinesische Gesellschaft, die sich westliche Wissenschaft und Technologie zu Nutze machen sollte. Zielscheibe zahlreicher Polemiken waren traditionelle Praktiken wie z. B. der Ahnenkult. Die Kritik tradierter Wertevorstellungen und die Erklärung aller Phänomene auf Basis von Wissenschaft und Rationalität waren Teil eines diskursiven Argumentationsmusters, das gerade in den 1920er-Jahren viele Intellektuelle anzog. Im Zuge der sogenannten „Debatte über Wissenschaft und Metaphysik“ (Kexue yu xuanxue lunzhan 科學與玄學論戰), die im Jahr 1923 begann, tauschten mehrere Intellektuelle Argumente darüber aus, ob Wissenschaft oder Metaphysik (bzw. Lebensanschauung; rensheng guan 人生觀) alle Phänomene des Lebens erklären könne. Ausgelöst worden war die Debatte durch die Behauptungen des Philosophen und Politikers Zhang Junmai 張君勱 (Chang Carsun, 1887–1969) der behauptet hatte, dass es Fragen des Lebens gäbe, die sich nicht mithilfe der Wissenschaft erklären ließen (Kwok 1965, S. 135). In diese Diskussion schaltete sich Wu Zhihui 1924 mit dem Essay „Die Welt- und Lebensanschauung eines neuen Glaubens“ (Yi ge xin xinyang de yuzhou yu renshengguan 一個新信仰的宇宙觀及人生觀) ein. Darin bemühte er diskursive Strategien des Naturalismus und erläuterte, dass das Universum lediglich aus Materie und Energie bestehe, und somit Konzepte von „Gott“ oder „Seele“ für die Erklärung desselben keine Notwendigkeit besäßen. Alles Leben, auch das menschliche, sei den Gesetzen der Natur unterworfen, der Mensch könne lediglich innerhalb dieses Rahmens Verantwortung übernehmen (Wang 1976, S. 177).

Wu Zhihui unterscheidet zwei Arten des Glaubens (xinyang 信仰): Den religiösen Glauben (zongjiao de xinyang 宗教的信仰) und den nicht-religiösen Glauben (fei zongjiao de xinyang 非宗教的信仰).Footnote 19 Letztere Kategorie ist der von ihm im Titel angekündigte „neue Glaube“, der auf dem materialistischen Weltbild fußen soll. In sieben Absätzen, die alle mit „Ich glaube, dass“ (wo xin 我信) beginnen, zählt Wu die Vorzüge und Zukunftsperspektiven dieses Weltbildes auf. Die Religionen sind in diesem Modell eine überholte Praxis der Menschen: „Die frühen Religionen der großen Zivilisationen waren alle trügerisches Gerede, sie haben eine Philosophie des Todes hervorgebracht“ (Wang 1976, S. 182). Dieses Bild wurde von Wu auch explizit auf den Buddhismus gemünzt. Der Mönch Taixu hat später für seine eigene Kritik am Buddhismus und zur Propagierung seiner Reformabsichten eine Polemik von Wu aufgegriffen, der gesagt haben soll, „der Buddhismus ist die Religion der Toten, er ist eine Religion, die spezialisiert darauf ist, den Toten zu dienen“ (fojiao shi siren de zongjiao, shi zhuanmen wei siren fuwu de zongjiao 佛教是死人的宗教, 是專門為死人服務的宗教; Hong 1995, S. 63).

In seinen Essays hat sich Wu Zhihui kaum präzise und ausführlich zum Buddhismus geäußert. Seine wenigen Ausführungen zeigen vor allem ein stark essentialistisches Bild der buddhistischen Tradition. Im Artikel über den „Neuen Glauben“ beschreibt er, dass der Buddhismus aus Indien nach China gekommen sei und eine Religion sei, die den Menschen lehre, dem diesseitigen Leben zu entsagen und für ein jenseitiges Leben Vorsorge zu tragen. Zhu Xi 朱熹 (1130–1200) und die anderen Neokonfuzianer des 12. und 13. Jahrhunderts hätten diese Haltungen unbewusst in ihre Staatsdoktrinen integriert und somit zur Stagnation und Rückständigkeit Chinas seit dieser Zeit beigetragen (Wang 1976, S. 189).Footnote 20

Wu steht für die modernistisch-szientistische und damit religionskritische Richtung der KMT. Innerhalb des rechten Flügels lässt er sich einer Parteiung zuordnen, zu der auch seine engen und langjährigen Vertrauten Cai Yuanpei und Li Shizeng gehörten. Besonders Wu und Cai stechen innerhalb des rechten Parteiflügels heraus, da sie – in den 1860er-Jahren geboren – zum Zeitpunkt der Errichtung der KMT-Regierung 1927 bereits etwa sechzig Jahre alt waren und in der Partei das Ansehen von „alten und verdienten Parteifreunden“ genossen. Alle drei haben beim Aufbau der KMT und der Tongmenghui als Vorgängerorganisation von Anfang an eine wichtige sinnstiftende Rolle gespielt, ohne allerdings als bloße „Parteikarrieristen“ betrachtet werden zu können. Ein Großteil ihres Renommees speist sich auch aus deren Verkörperung eines neuen Intellektuellentypus im China der ausgehenden Qing-Zeit. Für diese Vertreter einer szientistischen Diskursposition, wie sie in der Parteiung um Wu Zhihui repräsentiert wird, war das Vertrauen auf die neuen Wissenschaften und den zivilisatorischen Fortschritt auch die Basis für eine traditionskritische Rezeption und häufig ikonoklastische Kritik an verschiedenen Religionen, und so auch dem Buddhismus. Den Diskursen über die Wiederbelebung und Indienstnahme religiöser Traditionen und spiritueller Ressourcen des alten Chinas, wie sie in den Kreisen um Dai Jitao bedeutend waren, standen sie äußerst skeptisch gegenüber.

7 Dai Jitao als öffentlicher Fürsprecher des Buddhismus

Mit dem jüngeren Dai Jitao 戴季陶 (1891–1949) begegnen wir einem Vertreter des rechten Flügels der Kuomintang, der sich in der zweiten Hälfe seines Lebens öffentlich zum Buddhismus bekannt hat, in buddhistischen Netzwerken aktiv war und hierzu auch in deren Publikationsorganen veröffentlicht hat. Auch heute noch findet sich sein Name sowohl in sämtlichen geschichtlichen Darstellungen zur republikzeitlichen KMT, als auch in Studien zum modernen chinesischen Buddhismus. Seine Schriften zum Buddhismus sind umfangreich und wurden nach seinem Tod mehrfach in Neueditionen wiederveröffentlicht.Footnote 21

Dai Jitao, welcher der Generation nach Wu Zhihui angehörte, wurde in eine dem Buddhismus verbundene Familie hineingeboren (Mast 1970, S. 3). 1905 ging er als Schüler für vier Jahre nach Japan, kehrte allerdings ohne Abschluss nach China zurück und war in antimonarchistischen Kreisen aktiv (Mast 1970, S. 12). Nach seinem Eintritt in die Tongmenghui 1912 wurde er später Sekretär von Sun Yat-sen und hat parallel viele Artikel für verschiedene KMT-nahe Zeitungen und Zeitschriften verfasst. Das höchste Amt, das er während seiner Karriere in der KMT erlangte war 1924 das des Ministers für Propaganda. Noch um 1919 war Dai als Apologet marxistischer Ideen in Erscheinung getreten, wurde bald darauf aber ein ähnlich scharfer Gegner des kommunistischen Einflusses in der KMT wie Wu Zhihui (Bowles 2016, S. 80). Dai Jitaos Rolle als der wesentliche Deuter der Lehre Sun Yat-sens nach dessen Tod 1925, lässt ihn als Brückenbauer zwischen einem konfuzianischen Traditionalismus und der unter Intellektuellen populären „Neuen Kultur“ betrachten. Sun Yat-sen maß er rückwirkend die Rolle zu, der erste gewesen zu sein, der die Lehren von Konfuzius richtig verstanden und wieder aufgenommen habe. Diese Rückbindung an eine vormoderne chinesische Orthodoxie sollte nach Dai Jitao als konzeptueller Kitt für die nach 1925 sich zu fragmentieren drohende KMT fungieren (Bowles 2016, S. 82).

Zur Erläuterung von Dais Wiederentdeckung des Buddhismus wird in der Sekundärliteratur häufig eine Konversionserzählung aufgenommen, die eine hohe symbolische Bedeutung aufweist: Im Jahr 1922 war Dai auf einem Schiff unterwegs von Shanghai nach Sichuan, um im Auftrag Sun Yat-sens Verhandlungen mit verschiedenen Warlords durchzuführen. Da die Verhandlungen nicht zustande kamen, stürzte sich Dai des Nachts in seiner Frustration in einen Fluss. Im Wasser schwimmend war er plötzlich von einem Leuchten umgeben, welches er als das „Buddha-Licht“ (foguang 佛光) erkannte. Kurz darauf konnte er vor dem Ertrinken gerettet werden. In seiner schriftlichen Erzählung dieser Ereignisse hat Dai seine Konversion in seine autobiographische Narration integriert. Wie er schreibt, sei er von seiner buddhistischen Mutter geprägt worden, habe jedoch aufgrund der allgemeinen anti-religiösen Tendenzen seiner Zeit seine Verbindung zum Buddhismus nicht weiter pflegen können. Vereinfacht ausgedrückt findet sich hier wie auch in seinen späteren Schriften, laut Gregory Adam Scott, ein Narrativ von „Krankheit und Genesung“, welches er von der persönlichen Ebene auf das der Nation hebt (Scott 2011, S. 63).

Ein deutlicheres Gesamtbild von Dais Entwurf eines Buddhismus in der chinesischen Gegenwart lässt sich aus seinem 1928 erschienenen Buch „Über Japan“ (Riben lun 日本論) herauslesen. Anhand der Entwicklung Japans seit der Meiji-Restauration (ab 1868) will er zeigen, dass „erst wenn es Glauben gibt, die Massen zusammengebracht werden können“ (zhiyou xinyang cai nenggou hezhong 只有信仰才能夠合眾; Dai 1994, S. 157). Ähnlich wie Wu Zhihui versucht er den Glauben als ein eigenständiges menschliches Phänomen herauszustellen: „Die Religion ist eine Manifestation des Glaubens, aber der Glauben ist nicht unbedingt Religion“ (zongjiao shi xinyang de yi ge biaoxian, er xinyang bu yiding shi zongjiao 宗教是信仰的一個表現, 而信仰不一定是宗教; Dai 1994, S. 157). Es ist auffällig, das Dai in dieser Schrift den Begriff der Religion und explizite Verweise auf den Buddhismus umgeht und stattdessen auf den Glauben als einen Motivator für die Schaffenskraft des Individuums und als Förderer des gesellschaftlichen Zusammenhalts setzt: „Die äußeren Erscheinungen und die Inhalte des Glaubens mögen sich unterscheiden, aber das Ziel ist das gleiche. Wenn ein Volk die Kraft des Glaubens (xinyang li 信仰力) verliert, dann kann es von irgendwelchen Doktrinen (zhuyi 主義) auch nicht gerettet werden“ (Dai 1994, S. 166). Es kann vermutet werden, dass Dai Jitao sich hier gerade deshalb auf die Formel des „Glaubens“ fokussiert hat, weil er sich mit „Über Japan“ an ein breites Publikum und nicht notwendigerweise an die buddhistische Gemeinschaft wenden wollte.

In den 1930er-Jahren hat Dai seine Perspektiven für die Rettung der Nation nach außen hin sehr viel expliziter mit dem Buddhismus verknüpft. In vielen seiner Artikel mahnt er Reformen im Buddhismus an, die diesen von Aspekten des Aberglaubens befreien sollen und so schließlich seine gesellschaftliche Akzeptanz wiedererlangen lassen würden. Hinweise darauf, dass Dai Jitao buddhistische Konzepte und Ideen in den Diskurs zur Rettung der Nation tragen wollte, finden wir bei ihm nicht (Scott 2011, S. 75).

Dai repräsentiert in den Konfliktlinien des gesellschaftlichen und innerparteilichen Religionsdiskurses eine vermittelnde Diskursposition. Als einer der Chefideologen wurde er damit zur Kristallisationsfigur einer Parteiung, deren politischer Stil – in den Worten von Paul Bowles – als „revolutionärer Traditionalismus“ bezeichnet werden kann (Bowles 2016, S. 25). Damit ist gemeint, dass Dai und seine Vertrauten Elemente der chinesischen Tradition selektiv rezipierten und diese so umfunktionierten, sodass sie für Strategien und Rhetoriken des „nationalen Aufbaus“ in Dienst genommen werden konnten. Eine solche Ressource war für Dai und seine engsten Diskussionspartner auch der Buddhismus. Zu dieser Parteiung um Dai zählten die schon erwähnten Buddhisten Lin Sen, Ju Zheng und auch Yu Youren 于右任 (1879–1964). Sie sahen im Buddhismus nicht nur eine spirituelle Ressource des alten Chinas für ihre eigene Kultivierung, sondern auch einen kulturhistorisch bedeutsamen Ansatz, mit dem man beispielsweise ein panasiatisches Bündnis mit Indien aufbauen könnte (Tsui 2018, S. 211).

8 Fazit

Was die politischen Bewegungen und die Organisation des buddhistischen Lebens im China der Republikzeit vereint, ist die spätestens seit der Republikgründung 1912 sich zeigende Tendenz zur Bildung von Parteien und Parteiungen oder – im religiösen Bereich – nationalen Dachverbänden. War es für politische Akteure essentiell, sich in einer größeren und nach außen hin sichtbaren Gruppe zu organisieren, um in einem parlamentarischen System wählbar zu sein, so ergab sich für die religiösen Gemeinschaften wie den Buddhismus ein Bedarf, sich zu einem nationalen Dachverband zusammenzuschließen und so als konkreter Ansprechpartner der neuen (national)staatlichen Autoritäten dienen zu können. So hat es sich ergeben, dass sowohl die Kuomintang, als auch mindestens zwei verschiedene Allgemeinvertretungen der chinesischen Buddhisten im selben Jahr 1912 gegründet wurden.Footnote 22

Jedoch ergaben sich dabei auch Probleme: Die Kuomintang und die Tongmenghui als ihre Vorgängervereinigung waren bei ihrer Konstituierung ein Auffangbecken für Intellektuelle aller Art. So gab es in der grundsätzlichen Ideologie der KMT nur wenige Konstanten, die für alle Mitglieder eine verbindliche Bedeutung gehabt hätten. Damit hatte die KMT von vornherein einen Charakter eher einer Volkspartei mit verschiedenen Flügeln und Interessengruppen, die in ihrer Diversität als Parteiungen (factions) gefasst werden. Die Rolle dieser Gruppen wollen wir hier im Kontext der faktischen Einparteienherrschaft, der Charakterisierung der KMT als einer Volkspartei und der Ausschaltung ernstzunehmender politischer Konkurrenz interpretieren: Es geht dabei um deren Funktion einer Abbildung eines innerparteilichen Meinungsspektrums als Spiegel der weltanschaulich pluralen chinesischen Gesellschaft. So konnten sich innerhalb der KMT Gruppen wie die um Dai Jitao bilden, die den Buddhismus innerhalb der KMT intellektuell wie politisch vertraten und damit eine wichtige gesellschaftliche Gruppe in der KMT repräsentierten. Aber auch umgekehrt repräsentierten diese Vertreter eine Seite der KMT für die Buddhisten in der Gesellschaft, die somit ein Gegengewicht und Korrektiv zu religionskritischen Stimmen bot. Um hier eine Anleihe bei der deutschen Parteienlandschaft zu machen, könnte man hier von einer Art „Arbeitskreisen“Footnote 23 sprechen, die eine wichtige Funktion erfüllten, da diese Positionen im gesamtgesellschaftlichen Diskurs sich nicht wirkungsvoll in Form spezialisierter „Klientelparteien“ hätten organisieren können.Footnote 24

Bei den Parteiungen, von denen Wu Zhihui und Dai Jitao führende Mitglieder waren, lässt sich allerdings konstatieren, dass diese keinen besonders sichtbaren Grad an Organisation aufwiesen. Die Parteiungen gaben sich selbst keinen offiziellen Titel, wurden auch nicht von dritten mit einer besonderen Bezeichnung versehen und gaben als Kollektiv auch keine Schriften heraus. Diese Art der Gruppenbildung war also eher informeller Art und trat nach außen hin in keiner ausgeprägten Gruppenidentität auf. Wir können für die beiden Fallbeispiele also vielmehr von Parteiungen in einem schwachen Sinne sprechen. Diese beruhten einerseits auf persönlichen Netzwerken, andererseits organisierten sie sich entlang deutlich unterscheidbarer Diskurspositionen und Konfliktlinien.

Wie wir im Vergleich von Wu und Dai sehen konnten, vertraten beide sehr unterschiedliche Positionen gegenüber dem Buddhismus, die sich mit den Polen von relativer Ablehnung bis hin zu aktiver Partizipation bemessen lassen. Dass beide Vertreter zwar in unterschiedlichen Parteiungen zugeordnet, in einem kleineren Maßstab besehen aber dennoch innerhalb des rechten Parteiflügels verortet werden können, lässt sich diskursgeschichtlich erklären. Während die Meinungskämpfe entlang der Konfliktlinie der Haltung zu Religion allgemein, zum Christentum und auch zu traditionellen chinesischen Religionen in den 1920er-Jahren eine enorme Rolle spielten und sich auch in starken Gruppenbildungen zwischen linkem und rechtem Flügel niederschlugen, ist die grundsätzliche Frage des Verhältnisses der KMT zu den etablierten Religionen ab etwa 1928 zugunsten einer Koexistenz bei Anerkennung der Überideologie der KMT geklärt. Sowohl eine kritische Distanz als auch eine wohlwollende Rezeption des Buddhismus konnten von verschiedenen Mitgliedern der gleichen Partei verfochten werden, ohne dass es zu Zwangsmaßnahmen durch die Parteidisziplin oder einer inhaltlichen und formellen Abspaltung zu einer neuen Partei kommen musste. Ernsthafte Konflikte solcher Art wären nur im Falle einer Apologetik zugunsten von Praktiken der Volksreligion oder den ab 1928 meist verbotenen „redemptive societies“ aufgekommen. Ein „Dual Belonging“, also die zeitgleiche Zugehörigkeit zur KMT und einer akzeptierten religiösen Gemeinschaft, war nach den Debatten der 1920er-Jahren kein Problem mehr. Damit eröffnete sich innerhalb der KMT die Möglichkeit, auch anerkannte religiöse Gruppen in der Gesellschaft widerzuspiegeln.