1 Einleitung: Zusammenleben in Vielfalt bedroht?

„Die Hauptursache liegt in einem Gefühl der Bedrohung, das viele Menschen haben.“ So erklärt Sozialpsychologe Frank Asbrock (2018) aktuelle Entwicklungen in Deutschland, wie wachsende Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Polarisierung der Gesellschaft. Migrationsbezogene Bedrohungsgefühle sind zunehmend von zentraler gesellschaftspolitischer Bedeutung, weil sie das Zusammenleben in Vielfalt sowie letztlich die freiheitlich-demokratische Grundordnung und den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden können (Lengfeld und Dilger 2018; Lipkowski und von Drach 2018). Studien verzeichnen einen Anstieg solcher Wahrnehmungen in Deutschland, denen zu Folge die steigende Zahl an Zuwanderer*innen hiesige Arbeitsplätze, das Sozialsystem, kulturelle Werte, u. ä. bedrohe (Lengfeld und Dilger 2018; MIDEM 2018; Pfeffer-Hoffmann 2016). Das macht die Frage brisant, welche Faktoren diese migrationsbezogenen Bedrohungsgefühle derzeit bedingen.

In der Forschung werden, ausgehend von der Integrated Threat Theory in der Sozialpsychologie, Bedrohungsgefühle meist als Mediatoren für Vorurteile untersucht (Aberson 2015; Stephan und Stephan 1996; Stephan et al. 2000, 2002, 2016; Tausch et al. 2009). Angesichts ihrer zentralen gesellschaftspolitischen Bedeutung stehen jedoch Bedrohungsgefühle für sich genommen im Fokus des vorliegenden Artikels. Es soll ein Forschungsbeitrag dazu geleistet werden, welche Arten von Bedrohungswahrnehmungen derzeit in Ost- und Westdeutschland vorherrschen und welche Aspekte mit ihnen in Beziehung stehen. Dabei wird im Spezifischen die Rolle der Religion analysiert. Diese ist in der Vorurteilsforschung vor allem im US-amerikanischen Kontext und zu früheren Zeitpunkten gut untersucht (Allport und Ross 1967; Batson und Ventis 1982; Hall et al. 2010; Herek 1987). Für Deutschland zeigen sich uneinheitliche Ergebnisse, was u. a. auf unterschiedliche Forschungszeitpunkte, Stichproben, Messkonzepte und Arten von Vorurteilen zurückzuführen ist (Küpper 2010; Küpper und Zick 2010; Pew 2018; Streib und Klein 2018; Zick et al. 2011). So besteht hier weiterer Forschungsbedarf bzgl. der derzeitigen Zusammenhänge zwischen der Religion der Bürger*innen und deren migrationsbezogenen Bedrohungsgefühlen im Spezifischen, insbesondere unter Kontrolle weiterer relevanter Faktoren wie Bildung, Intergruppen-Kontakt, Autoritarismus, u. ä. Mit dem Immigrations-Modul des European Social Survey (ESS) (2014) steht ein auf hohen wissenschaftlichen Standards basierender Datensatz zur Verfügung, mit dem sowohl die migrationsbezogenen Bedrohungsgefühle als auch die Religion differenziert gemessen und wesentliche Drittvariablen berücksichtigt werden können. Damit kann getestet werden, inwieweit die Religion einen eigenständigen Einfluss auf Bedrohungsgefühle ausübt. So lautet die Forschungsfrage:

Welche Rolle spielt die ReligionFootnote 1 für migrationsbezogene Bedrohungsgefühle in Deutschland?

In einer theoriegeleiteten empirischen Analyse soll der bisherige Forschungsstand um möglichst aktuelle, robuste und differenzierte Ergebnisse bereichert werden. Zunächst wird der theoretische Analyserahmen erarbeitet. Nach Darlegung des theoretischen Hintergrunds werden die Variablen „migrationsbezogene Bedrohungsgefühle“ und „Religion“ jeweils konzeptualisiert und Hypothesen bzgl. ihrer Wirkungszusammenhänge hergeleitet. Anschließend wird das Forschungsdesign (Datengrundlage, Operationalisierung der Variablen, Methode) erläutert. Im empirischen Teil werden die Hypothesen im Rahmen einer multivariaten Regressionsanalyse überprüft und die Ergebnisse diskutiert, ehe ein Fazit gezogen wird.

2 Theoretischer Analyserahmen: Migrationsbezogene Bedrohungsgefühle und Religion

Im Folgenden wird zunächst der theoretische Hintergrund skizziert, bevor die beiden zentralen Konzepte „migrationsbezogene Bedrohungsgefühle“ und „Religion“ spezifiziert und die Arbeitshypothesen hergeleitet werden.

2.1 Theoretischer Hintergrund

Die Systematisierung von Bedrohungsgefühlen lässt sich in der Integrated Threat Theory (ITT) der sozialpsychologischen Vorurteilsforschung verorten (Stephan und Stephan 1996; Stephan et al. 2002, 2016). Diese wiederum nimmt ihren Ausgangspunkt in der Social Identity Theory (SIT) (Tajfel 1982; Tajfel und Turner 2004). Ihr zufolge basiert die soziale Identität einer Person, die einen wichtigen Teil ihres Selbstkonzepts darstellt, auf der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe. Individuen würden einen positiven Selbstwert anstreben und daher zu einer positiv bewerteten Gruppe gehören wollen. So werde die eigene Gruppe (ingroup) positiv und in Abgrenzung zu Anderen (outgroup) definiert (Tajfel und Turner 2004, S. 376 f.). Gemäß der Integrated Threat Theory könnten beim Aufeinandertreffen von Mitglieder*innen unterschiedlicher kollektiver Identitäten Gefühle von Angst und Bedrohung entstehen, wenn die „Fremden“ der outgroup als Gefahr empfunden werden. Dies resultiere beispielsweise aus einer verstärkt wahrgenommenen Konkurrenz um knappe Ressourcen (Arbeitsplätze, Sozialleistungen, u. ä.). Bei Befürchtungen, die das materielle Wohlergehen oder die politische Macht betreffen, wird von realistischen Bedrohungsgefühlen gesprochen. Demgegenüber beziehen sich symbolische Bedrohungsgefühle auf die Lebenswelt der eigenen Gruppe und deren kulturelle bzw. religiöse Identität (z. B. Werte, Normen, Weltanschauungen). Zudem kann eine individuelle von einer kollektiven Ebene differenziert werden. Individuelle Bedrohungsperzeptionen sind auf die eigene Situation und persönliche Interessen gerichtet (z. B. mein Arbeitsplatz, meine Sicherheit). Kollektive Bedrohung bezieht sich auf die Bedingungen der ingroup als Ganzes (z. B. unser Land, unsere Kultur) und ihr wird ein stärkerer Einfluss auf die outgroup-Abwertung zugewiesen (Green und Staerklé 2013; Stephan et al. 2016). Die Bedrohungswahrnehmungen werden in der ITT als zentrale Prädiktoren für negative Einstellungen gegenüber der anderen Gruppe – VorurteileFootnote 2 – konzeptualisiert, was verschiedene Studien nachweisen (Aberson 2015; Stephan et al. 2000, 2002, 2016; Tausch et al. 2009).

Als Einflussfaktoren auf Bedrohungsgefühle gelten in der ITT vor allem Persönlichkeitsmerkmale (z. B. Autoritarismus), Einstellungen und Kognitionen (z. B. Offenheit für Diversität), Intergruppen-Kontakt sowie situationsbezogene Faktoren (z. B. Statusdifferenzen) (Stephan et al. 2016). Der religiöse Faktor wird in der ITT jedoch nicht explizit berücksichtigt, wohl aber in der Vorurteilsforschung allgemein (Allport und Ross 1967; Altemeyer 2003; Herek 1987; Laythe et al. 2002; Pickel 2018; Scheepers et al. 2002; Whitley und Kite 2010).Footnote 3 Dort wird der Religion eine ambivalente Rolle zugewiesen: „Sie schafft Vorurteile und sie vernichtet Vorurteile“ (Allport 1954, S. 444; Übers. durch d. Verf.). Einerseits würden die in fast allen Religionen existierenden Lehren von Gleichheit, Geschwisterlichkeit und Nächstenliebe eine geringe Vorurteilsneigung begründen. Anderseits würden religiöse Überzeugungen wie exklusive Wahrheitsansprüche und konservative Weltbilder eine starke ingroup generieren – bei gleichzeitiger Intoleranz gegenüber outgroups (Allport und Ross 1967, S. 433). Um einen Teil dieser Ambivalenz zu erklären, unterschieden Allport und Ross (ebd., S. 434 f.) eine „intrinsische Religiosität“ (Glaube als zentrales Leitmotiv) von einer „extrinsischen Religiosität“ (Glaube als Mittel für andere Zwecke). Batson und seine Kolleg*innen (Batson et al. 1993) konzipierten noch eine Quest-Dimension als „Sinn-suchende Religiosität“, wenn im religiösen Erleben Fragen wichtiger sind als Antworten. Insbesondere diese dritte Religiositätsform gehe mit weniger Vorurteilen einher. Intrinsische Religion korreliere zwar negativ mit offenen Vorurteilen, aber positiv mit subtilen – extrinsische hingegen positiv mit beiden (Batson und Stocks 2005). Als vierte Dimension wurden „fundamentalistische Glaubensüberzeugungen“ im Sinne der Überlegenheit des eigenen Glaubens identifiziert, welche die Vorurteilsbildung besonders befördern würden (Altemeyer 2003; Altemeyer und Hunsberger 1992).

In jüngerer Zeit mehrt sich die Kritik an diesen Unterscheidungen (Klein et al. 2018; Küpper 2010). Da beispielsweise die Sinn-suchende Religiositätsform von der Bildung einer Person abhängig sei, könne es sich um eine Scheinkorrelation handeln – zumal auf relevante Drittfaktoren bislang wenig kontrolliert wurde (Küpper 2010, S. 7–11). Zudem seien unterschiedliche Wirkungen von Religion anzunehmen, je nachdem gegen welche Gruppe sich die negativen Einstellungen richten. Abwertungen zeigen sich vor allem gegenüber Homosexuellen und Frauen (Küpper 2010; Whitley 2009; Zick et al. 2011). Weiterhin ist wenig untersucht, wie diese Verbindungen zu anderen Zeiten und in anderen Länderkontexten (außerhalb der USA) aussehen (Küpper 2010, S. 2–11; Whitley und Kite 2010, S. 256 f.). So ergibt sich insgesamt weiterer Forschungsbedarf zur Rolle der Religion für migrationsbezogene Bedrohungsgefühle im Spezifischen sowie im aktuellen deutschen Kontext. Die bislang vereinzelten Studien zu Deutschland zeigen folgendes uneinheitliches Bild.

Coenders et al. (2005) wiesen in ihrer deskriptiven, bivariaten Analyse auf Basis des ESS (2002/2003) für Gottesdienstgänger*innen leicht höhere Bedrohungswahrnehmungen gegenüber Migrant*innen aus. Das wurde als Durchschnitt über 18 europäische Länder hinweg berechnet, worin Deutschland zwar inkludiert war, aber keine eigenen Ergebnisse dafür vorliegen. In der Regressionsanalyse von Meuleman und Billiet (2011) mit dem ESS (2004/2005) ging die „religiöse Einbindung“ (Index aus Religiosität, Gottesdienstbesuch und privates Gebet) in den meisten der 25 untersuchten europäischen Länder mit geringeren ethnischen Bedrohungsgefühlen einher – in Deutschland jedoch mit stärkeren. Die auf einer repräsentativen Erhebung von 2010 mit 2411 Befragten basierende Analyse von Decker et al. (2010) zeigte anhand bivariater Korrelationen, dass Angehörige der evangelischen (nicht aber der katholischen) Kirche in Deutschland eher zu ausländerfeindlichen Aussagen neigen. In den umfassenden Studien von Küpper (2010), Küpper und Zick (2010) und Zick et al. (2011) zum Syndrom der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ (GMF) aus den Jahren 2005, 2007 und 2008 wurden in einem Sample von acht EU-Ländern mit insgesamt 8026 Befragten religiöse Menschen als vorurteilsbehafteter identifiziert (vor allem mit Blick auf Sexismus und Homosexualität). Unter Kontrolle wesentlicher Drittvariablen fand sich für die Fremdenfeindlichkeit in den meisten Ländern (Frankreich, Italien, Portugal, Polen, Niederlande) ein schwach positiver Trend – in Deutschland jedoch eine Tendenz zu weniger Fremdenfeindlichkeit bei zunehmender Religiosität. Das Pew Research Center (2018) wies in einer bivariaten Analyse auf Basis einer Umfrage von 2017 in 15 westeuropäischen Ländern größere Ressentiments gegenüber Migrant*innen bei Kirchgänger*innen (Gottesdienstbesuch mindestens einmal im Monat) und „nicht-praktizierenden Christ*innen“ (die sich als solche identifizieren, aber nur ein paar Mal im Jahr in den Gottesdienst gehen) nach.

An diese Untersuchungen anknüpfend möchte der vorliegende Artikel zur aktuellen Erforschung der Zusammenhänge zwischen Religion und den in Deutschland zunehmend wichtiger werdenden migrationsbezogenen Bedrohungsgefühlen beitragen. Hierfür werden nachfolgend die Variablen möglichst differenziert konzeptualisiert, um der paradoxen Rolle der Religion Rechnung zu tragen. Generell erfolgt ein empirischer Zugang zu den Variablen. Das bedeutet, dass jeweils verschiedene Dimensionen herausgearbeitet werden, die sich empirisch erfassen lassen. Sie sind als analytisch unterscheidbare Idealtypen zu verstehen, während in der Realität die Grenzen oftmals verschwimmen. Die Konzeptspezifikation basiert primär auf der fundierten Theoretisierung und Systematisierung von Heath et al. (2015), da diese auch der später verwendeten Datenbasis des ESS zugrundeliegt. Auf diese Weise lassen sich alle konzeptualisierten Dimensionen entsprechend empirisch untersuchen, wodurch eine Kongruenz bei der theoriegeleiteten empirischen Analyse erzielt wird.

2.2 Konzeptspezifikation: „Migrationsbezogene Bedrohungsgefühle“

Migrationsbezogene Bedrohungsgefühle können definiert werden als „die Antizipation negativer Konsequenzen im Zusammenhang mit der Ankunft und Präsenz von Migrant*innen in der Aufnahmegesellschaft“ (Green und Staerklé 2013, S. 864; Übers. durch d. Verf.). Die Aufnahmegesellschaft in der vorgenommenen Analyse ist Deutschland und die outgroup stellen Zuwanderer*innen anderer (nicht-deutscher) Herkunft dar.Footnote 4 Mit Blick auf die Systematisierungen in der ITT (s. Abschn. 2.1) liegt der Fokus auf den kollektiven Bedrohungswahrnehmungen (nur diese werden im ESS abgefragt). Dabei wird zwischen realistischen und symbolischen Bedrohungsgefühlen differenziert. Um nochmals mögliche Unterschiede für diverse inhaltliche Bereiche erfassen zu können, werden die realistischen, sozio-ökonomischen Befürchtungen in drei Kategorien unterteilt: „Wirtschaft“, „Wohlfahrtsstaat“ und „Sicherheit“. Für die symbolischen Bedrohungsgefühle bzgl. der Lebenswelt lassen sich folgende drei Kategorien ausmachen: „allgemeines Leben“, „kulturelles Leben“ und „religiöses Leben“ (Arzheimer 2016, S. 74 f.; Heath et al. 2015, S. 5 f.).

2.3 Konzeptspezifikation: „Religion“

Religion stellt ein komplexes Konstrukt dar, für das es kein einheitliches Begriffsverständnis gibt (Pickel 2011; Pollack 2017).Footnote 5 Für den spezifischen Forschungszweck dieses Artikels liegt der Fokus auf der Mikroebene von Religion (als Merkmal von Individuen). Wie in der Vorurteilsforschung üblich (s. Abschn. 2.1), erfolgt ein empirischer, dimensionaler Zugang. Aus der Religionsforschung werden drei zentrale Dimensionen hergeleitet: belonging, believing und behaving (Basedau et al. 2017; Doebler 2014; Olson und Warber 2008; Schnabel und Grötsch 2014).Footnote 6 Die belonging-Dimension bezieht sich auf die selbst zugeschriebene „Religionszugehörigkeit“ eines Menschen (zum Islam, Christentum, usw.). Die believing-Dimension betrifft die „Stärke der Religiosität“ bzw. „Glaubensintensität“ (für wie religiös sich jemand einschätzt). Diese kann als Proxy für intrinsische Religiosität angesehen werden. Die behaving-Dimension – im engeren religiösen Sinne – schließt einerseits den „Gottesdienstbesuch“ einer Person mit ein, welcher auch als Indikator für extrinsische Religiosität erachtet wird. Andererseits fällt darunter die „private Gebetspraxis“ (Basedau et al. 2017, S. 6–8; Küpper 2010, S. 7; Schnabel und Grötsch 2014, S. 384–386; Traunmüller 2012, S. 21/55–68).

Tab. 1 Operationalisierung der Variablen

2.4 Wirkungszusammenhänge und Hypothesen

Im Folgenden werden die Arbeitshypothesen differenziert nach den Religionsdimensionen hergeleitet, um die ambivalente Wirkung von Religion erfassen zu können. Da es bislang an starken theoretischen und empirisch überprüften Aussagen über den Zusammenhang von Religion und migrationsbezogenen Bedrohungsgefühlen im Speziellen mangelt, lehnt sich die Argumentationsstruktur an die Literatur zu Religion und Vorurteilen im Allgemeinen anFootnote 7. Dies lässt sich zudem aufgrund der theoretischen Nähe dieser beiden Konzepte rechtfertigen, weil Bedrohungsgefühle als wesentlicher Mediator für Vorurteile gelten (s. Abschn. 2.1). Auch wenn sich oftmals Argumente sowohl für die eine als auch für die andere Wirkungsrichtung finden lassen, wird sich literaturbasiert auf eine Richtung fokussiert entschieden und diese empirisch getestet. Auf alternative Erklärungsmuster bei anderer empirischer Evidenz wird in der Diskussion (s. Abschn. 4.4) eingegangen.

Beginnend mit der belonging-Dimension, kann es bei der Zugehörigkeit zu einer bestimmten religiösen Gruppe gemäß der Social Identity Theory (SIT) zu in- vs. outgroup-Dynamiken kommen. Religionsgemeinschaften würden Bindung, Zusammengehörigkeit und Identität für ihre Anhänger*innen bieten und eine starke innere Kohäsion erzeugen, z. B. über Semantiken wie „heilige Gemeinschaft, Schwestern/Brüder, auserwähltes Volk“. So kämen vor allem die Mitglieder*innen der eigenen Gruppe in den Genuss der von der Religion proklamierten pro-sozialen Werte. Laut SIT geht eine ausgeprägte Eigengruppenidentität mit einer Kategorisierung „Wir“ vs. „die Anderen“ einher und durch die Abwertung der Anderen wird im sozialen Vergleich ein positives Selbstwertgefühl erzielt. So könne die religiöse Sozialisation bzw. Identifikation mit einer religiösen Gruppe (unbewusst) die Tendenz steigern, eine positive in- vs. einer negativen outgroup zu schaffen, was generell als Schablone für Abwertungen variierender „Anderer“ diene. Beispielsweise könnten Angehörige religiöser Gruppen ihre als heilig erachteten Weltanschauungen, Praktiken und Werte durch andere kollektive Identitäten gefährdet sehen, was Bedrohungsgefühle gegenüber den „Fremden“ auslöse (Altemeyer 2003, S. 20; Hall et al. 2010, S. 127 f.; Hunsberger und Jackson 2005, S. 818 f.; Klein et al. 2018, S. 27 f.; Küpper 2010, S. 31 f.). Daraus folgt:

H1)

Religionsangehörige haben stärkere migrationsbezogene Bedrohungsgefühle als Konfessionslose.Footnote 8

In Bezug auf die believing-Dimension lässt sich argumentieren, dass der Religiosität und den Bedrohungsgefühlen jeweils ähnliche sozial-kognitive Motive zugrundeliegen. Religion stelle ein Set an in der Regel überlieferten Glaubensüberzeugungen und -praktiken dar, das soziale Normen begründe. Folglich gehe Religiosität oft mit einem dogmatischen, autoritären Glaubenssystem sowie mit Respekt vor Tradition, Konservatismus und Konventionalismus einher. So könne sich das Bedürfnis eines Gläubigen, Altes zu bewahren, in weniger Offenheit für Wandel sowie Angst vor Neuem bzw. Fremdem äußern. Auf diesen Motiven und Werten würden auch Bedrohungsgefühle beruhen, da ein Bestreben nach Bewahrung alter Traditionen und Konventionen zu Vorbehalten gegenüber Veränderungen führe, die z. B. durch die Ankunft oder Präsenz „Anderer“ antizipiert werden. Des Weiteren könnten sowohl für die Religiosität als Weltanschauung als auch für Bedrohungsgefühle ähnliche Prozesse wie Kategorisierung und Stereotypisierung mit dem Ziel der Komplexitätsreduktion ausgemacht werden. Religionen würden ein einheitliches Weltbild vermitteln, worunter immer auch Kategorisierungen und Vereinfachungen fallen. Ebenso würden Bedrohungsgefühle auf Pauschalisierungen und simplifizierenden Zuschreibungen basieren, während die Realität komplexer und differenzierter ist. Folglich liege eine Verbindung beider Phänomene nahe (Hall et al. 2010, S. 126 f.; Hunsberger und Jackson 2005, S. 615 f./817; Klein et al. 2018, S. 27 f.). Somit lässt sich als nächste Hypothese formulieren:

H2)

Personen, die religiös sind, haben stärkere migrationsbezogene Bedrohungsgefühle.

Mit Blick auf die behaving-Dimension wird der Gottesdienstbesuch oft als extrinsische Religiosität interpretiert, d. h., dass externe Faktoren wie sozialer Status oder Netzwerke Beweggründe dafür darstellen. Statusdenken und Streben nach Konformität würden auch Bedrohungsgefühle begründen, weil durch vermeintlich „Andere“ Gefährdungen des „Status Quo“ sowie Veränderungen z. B. der sozialen Hierarchie und Ordnung befürchtet werden. Aufgrund dieser ähnlichen zugrundeliegenden Muster wird die extrinsische Religiositätsform mit stärkeren Bedrohungsgefühlen in Verbindung gebracht (Hall et al. 2010, S. 127; Hunsberger und Jackson 2005, S. 816). Daraus leitet sich ab:

H3a)

Personen, die häufiger den Gottesdienst besuchen, haben stärkere migrationsbezogene Bedrohungsgefühle.

Die private Gebetspraxis – die für den Kontext der Bedrohungsgefühle bislang am wenigsten untersucht ist – könnte als Ausdruck für eine starke Frömmigkeit und einem Gefühl von Angst bzw. Unsicherheit oder Suche nach Halt bzw. Hilfe im Leben gedeutet werden (Traunmüller 2012, S. 57–66). Somit würden wiederum die oben angeführten Bedrohungsgefühle-stärkenden Wirkungsweisen der Religion greifen. Demnach lautet die letzte Hypothese:

H3b)

Personen, die viel privat beten, haben stärkere migrationsbezogene Bedrohungsgefühle.

3 Forschungsdesign: Daten, Operationalisierung und Methode

Nachfolgend werden die Datengrundlage, die Operationalisierung der Variablen sowie die Methode zur Hypothesenprüfung dargelegt.

3.1 Datengrundlage

Der European Social Survey (2014) wurde als Datensatz ausgewählt, denn er genießt eine große wissenschaftliche Reputation für seine qualitativ hochwertige Messungen von Einstellungen in Europa (Fitzgerald 2017, S. 2). Hierfür werden seit 2002 in mehr als 30 europäischen Ländern alle zwei Jahre computergestützte, persönliche face-to-face Interviews durchgeführt (in der Regel mindestes 1500 pro Land) (ESS 2020). Als explizites Messinstrument birgt es den Vorteil, dass Menschen selbst über ihre Einstellungen Auskunft geben können. Als Schattenseite sind Antwortverzerrungen zu beachten, z. B. durch Phänomene wie soziale Erwünschtheit (Gehring und Weins 2009, S. 71 f.; Kinder 2013, S. 823–825). Die Stichproben basieren auf strikten Zufallsverfahren und sind jeweils repräsentativ für alle, die älter als 15 Jahre sind und innerhalb eines Landes in einem Privathaushalt leben (ESS 2020). Neben dem aus Kernmodulen bestehenden Hauptfragebogen gibt es Wechselmodule zu spezifischen Themen. Für das Spezialmodul „Immigration“, welches die im vorliegenden Artikel untersuchten Variablen valide und differenziert misst, liegen die aktuellsten Daten aus der siebten Welle (ESS 2014) vor. Für das zugrundeliegende Erkenntnisinteresse wird der deutsche Datensatz mit insgesamt 3045 Fällen verwendet.

3.2 Operationalisierung

Für die Variable migrationsbezogene Bedrohungsgefühle wird auf Seite der realistischen Bedrohungsgefühle die Kategorie „Wirtschaft“ mit zwei Items erfasst. Diese werden zu einem Index aufsummiert.Footnote 9 Es wird gefragt, ob Zuwanderer*innen gut oder schlecht für die deutsche Wirtschaft sind und ob sie den Deutschen die Arbeitsplätze wegnehmen oder zur Schaffung neuer Arbeitsplätze beitragen (ESS 2017, S. 13/21). Die zweite Kategorie „Wohlfahrtsstaat“ wird mit der Frage gemessen, ob Zuwanderer*innen vom Sozialsystem mehr bekommen als sie geben und die dritte Kategorie „Sicherheit“ mit dem Item, ob Deutschlands Probleme mit der Kriminalität durch Zuwanderer*innen zu- oder abnehmen (ebd., S. 21). Bei den symbolischen Bedrohungsgefühlen lässt sich der erste Bereich „allgemeines Leben“ mit der Frage operationalisieren, ob Deutschland durch Zuwanderer*innen zu einem schlechteren oder besseren Ort zum Leben wird (ebd., S. 13). Der zweite, kulturelle Bereich wird mit dem Item erfasst, ob das kulturelle Leben in Deutschland durch Zuwanderer*innen untergraben oder bereichert wird, und die dritte, religiöse Kategorie mit der Frage, ob religiöse Überzeugungen und Bräuche in Deutschland durch Menschen aus anderen Ländern geschwächt oder bereichert werden (ebd., S. 13/23). Alle Variablen werden so kodiert, dass höhere Werte stärkere Bedrohungsgefühle anzeigen (analog zum Wortlaut der Hypothesen in Abschn. 2.4).

In Bezug auf die Variable Religion eignet sich für die belonging-Dimension die Frage, welcher Religion bzw. Konfession sich jemand zugehörig fühlt. In dem hier verwendeten Datensatz wurden dazu Antworten in sieben Kategorien gegeben: 0) Keine Religion (Referenzkategorie), 1) Katholik*in, 2) Protestant*in (EKD, ohne Freikirchen), 3) Andere christliche Konfession, 4) Jude/Jüdin, 5) Muslim*a, 6) Östliche Religion (Buddhismus, Hinduismus, u. ä.), 7) Andere, nicht-christliche Religion (ESS 2017, S. 15 f.). Für die believing-Dimension ist das Item passend, bei dem die Befragten die Stärke ihrer Religiosität auf einer Likert-Skala einschätzen (ebd., S. 16). Im Hinblick auf die behaving-Dimension wird zum einen das Item herangezogen, wie oft jemand den Gottesdienst besucht. Zum anderen ist die Frage einschlägig, ob bzw. wie oft jemand betet (außerhalb von Gottesdiensten) (ebd., S. 17). Die Religion-Variablen werden so kodiert, dass ein höherer Wert stärkere Religiosität bedeutet.

Darüber hinaus werden literaturbasiert Kontrollvariablen aufgenommen. Mit Blick auf den Zusammenhang von Religion und Vorurteilen bzw. Bedrohungsgefühlen wird in der prominenten Kontakttheorie der Intergruppen-Kontakt als relevante Größe angeführt (Allport 1954; Allport und Ross 1967; Dovidio et al. 2003).Footnote 10 Kontakt zu Mitglieder*innen anderer Gruppen (vor allem positiver, freundschaftlicher Art) führe zu geringerer outgroup-Abwertung (Pettigrew und Tropp 2006). Der ESS erlaubt eine Differenzierung unterschiedlicher Kontaktquantität und -qualität. Die „Häufigkeit des Intergruppen-Kontakts“ wird mit dem Item erfragt, wie oft jemand Kontakt mit Menschen einer anderen Volksgruppe/ethnischen Gruppe hat (auf der Straße, beim Einkauf, o. ä.) (ESS 2017, S. 24). Mit der daran anschließenden Frage, wie gut/schlecht die Befragten diese Kontakte empfinden, wird das Ausmaß des „positiven Intergruppen-Kontakts“ bestimmt (ebd., S. 24). Zusätzlich werden „Intergruppen-Freundschaften“ mit dem Item abgefragt, ob bzw. wie viele enge Freund*innen einer anderen Volksgruppe/ethnischen Gruppe jemand hat (ebd., S. 23).

Für die Betrachtung der Verbindung zwischen Religion und Bedrohungsgefühlen wird als weiterer Drittfaktor der Right-Wing Authoritarianism (RWA) in der Autoritarismusforschung genannt (Adorno et al. 1950; Allport und Ross 1967; Altemeyer 1981; Cohrs und Stelzl 2010). Der Autoritarismus gilt als starker Prädiktor für negative Einstellungen gegenüber outgroups und könne auch mit höherer Religiosität eines Menschen einhergehen (ebd.). Deshalb wird ein Index für „Autoritarismus“ aus drei ESS-Items gebildet, die seine drei Kernaspekte umfassen: 1) „Konventionalismus“ wird mit der Frage nach korrektem Verhalten gemessen, 2) „Autoritäre Unterwürfigkeit“ mit dem Item nach Regelkonformität und Gehorsam, 3) „Autoritäre Aggression“ mit der Frage nach einem starken Staat (ESS 2017, S. 66 f.; Spier 2010, S. 143 f.).Footnote 11

Des Weiteren wird angenommen, dass die politische Orientierung mit den Bedrohungsgefühlen sowie der Religion einer Person zusammenhängt. Religiöse Menschen seien konservativer eingestellt, und konservative, politisch rechts orientierte Menschen gelten als fremdenfeindlicher (Gorodzeisky und Semyonov 2016; Pickel 2018). Deshalb dient die Likert-Skala zur „Links-Rechts-Einstufung“ als weitere Kontrollvariable (ESS 2017, S. 10). Ein zusätzlicher Faktor, der sowohl mit der Religion als auch mit den Bedrohungsgefühlen einer Person interagiert, ist ihr sozialer Status (Gorodzeisky und Semyonov 2016; Pickel und Hidalgo 2013; Pollack et al. 2018). Sozial schlechter Gestellte würden sich stärker in Konkurrenz mit Migrant*innen um knappe Ressourcen sehen, was existentielle Bedrohungsgefühle auslöse (Rippl und Baier 2005; Winkler 2003).Footnote 12 Deshalb wird für das „Bildungsniveau“, die „Arbeitsmarktposition“ und die „eingeschätzte Einkommenssituation“ einer Person kontrolliert (ESS 2017, S. 41/48 f./51). Daran anknüpfend nennt die Theorie der Gruppenbedrohung (Blalock 1967; Quillian 1995) nochmals zwei Faktoren, welche dieses Gefühl der Bedrohung seitens einer Fremdgruppe verschärfen könnten: eine als schlecht eingeschätzte wirtschaftliche Lage sowie eine als groß wahrgenommene Minderheitengruppe. Dementsprechend werden „Zufriedenheit mit der deutschen Wirtschaft“ und „empfundener Ausländeranteil“ in Deutschland als weitere Kontrollvariablen herangezogen (ESS 2017, S. 10/22).

Schließlich wird für sozio-demographische Merkmale kontrolliert, für welche einschlägige Studien (Gorodzeisky und Semyonov 2016; Küpper 2010; Pickel und Hidalgo 2013; Wagner et al. 2003) Beziehungen zu Religion und Bedrohungsgefühlen festgestellt haben: „Alter“, „Geschlecht“ (männlich/weiblich), „Herkunft“ (deutsch/nicht-deutsch) und „Wohnort“ (West-/Ostdeutschland) (ESS 2017, S. 38/41/77). Ein Überblick der Operationalisierung aller Variablen, inklusive vorgenommener Kodierung, findet sich in Tab. 1.

3.3 Methode

Die Rolle der Religion für migrationsbezogene Bedrohungsgefühle in Deutschland wird im Rahmen einer multivariaten Regressionsanalyse untersucht, sodass relevante Drittvariablen kontrolliert und die jeweiligen Religionseffekte isoliert werden können. Damit soll ein Forschungsbeitrag neben den bislang überwiegend deskriptiven, bivariaten Analysen geleistet werden. Literaturbasiert werden „migrationsbezogene Bedrohungsgefühle“ als „Abhängige Variable“ (AV) und „Religion“ als „Unabhängige Variable“ (UV) konzeptualisiert und lineare Zusammenhänge zwischen ihnen angenommen (Allport und Ross 1967; Herek 1987; Küpper und Zick 2010; Laythe et al. 2002; McLaren 2003). So werden lineare Regressionen nach der Methode der kleinsten Quadrate durchgeführt. Dabei wurde die Verletzung wesentlicher Grundannahmen der Regressionsanalyse überprüft. Da sich Heteroskedastizität (inkonstante Varianz des Fehlerterms) zeigte, wurden jeweils die diesem Problem Rechnung tragenden, robusten Standardfehler geschätzt. Bedenkliche Multikollinearität konnte bei allen Modellen über den Variance Inflation Factor (VIF) ausgeschlossen werden (Kohler und Kreuter 2012, S. 284–287). Zur Erzielung robuster Ergebnisse wurden mehrere Regressionsmodelle berechnet. Auf Seite der AV wurden sowohl die einzelnen Dimensionen getrennt als auch Modelle mit einem additiven Index der Bedrohungsgefühle insgesamt getestet.Footnote 13 Auf Seite der UV wurden jeweils zwei Untermodelle berechnet: 1) mit den vier Religion-Variablen, 2) mit den vier Religion-Variablen und allen Kontrollvariablen.

4 Empirische Analyse: Die Rolle der Religion für migrationsbezogene Bedrohungsgefühle in Deutschland

In der empirischen Analyse werden nach einem kurzen Abriss der deskriptiven Statistiken zu den Variablenverteilungen die Ergebnisse der multivariaten Regressionsanalyse präsentiert und abschließend diskutiert.

4.1 Deskriptive Statistiken: Verteilungen der zentralen Variablen

Wie ist es um die migrationsbezogenen Bedrohungsgefühle in Deutschland bestellt? Gibt es Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland? Abb. 1 zeigt, dass die Bedrohungsgefühle je nach Kategorie unterschiedlich verteilt sind. Sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland sehen die Menschen am stärksten die Sicherheit durch Migration bedroht, dann den Wohlfahrtsstaat. Daraufhin folgen in Westdeutschland Bedrohungswahrnehmungen bzgl. des religiösen und des allgemeinen Lebens – in Ostdeutschland genau umgekehrt.Footnote 14 Daran schließen sich jeweils Befürchtungen bzgl. der Wirtschaft an, und das kulturelle Leben wird am wenigsten als bedroht erachtet. Für Ost- und Westdeutschland zeigen sich also ähnliche Muster. Nur ist das Niveau der Bedrohungsgefühle bei den in Ostdeutschland lebenden Menschen generell höher. Im Gesamt-Bedrohungsindex (Skala von 0 bis 10) ergibt sich für Ostdeutschland ein Mittelwert von 5,19 und für Westdeutschland von 4,61. Je nach Kategorie liegen die Bedrohungsgefühle in Ostdeutschland um 0,4 bis 0,7 Skalenpunkte höher.

Abb. 1
figure 1

Verteilung der Bedrohungsgefühle in Ost- und Westdeutschland. (Quelle: ESS 2014. Es sind Durchschnittswerte (arithmetische Mittel) dargestellt. Die Skala geht jeweils von 0 bis 10.)

Für die Verteilungen der Religion-Variablen und die anschließende multivariate Analyse wird mit einem Datensatz für Gesamtdeutschland weiter gerechnet. Mit zwei getrennten Datensätzen für Ost- vs. Westdeutschland wären die Fallzahlen wesentlich geringer (vor allem was die Religionsgruppen betrifft)Footnote 15, mit entsprechend negativen Auswirkungen auf die Inferenzstatistik (Kohler und Kreuter 2012). Deshalb wird sich für die Alternative entschieden, Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland anhand einer Kontrollvariable bei den multiplen Regressionen zu erfassen (s. Abschn. 4.2).

Abb. 2
figure 2

Verteilung der Religionsdimensionen in Deutschland. (Quelle: ESS 2014)

Für Gesamtdeutschland zeigt Abb. 2, dass sich knapp die Hälfte aller Befragten (n = 1372; entspricht 45 %) keiner Religion zugehörig fühlt. Die größten Religionsgruppen sind die Protestant*innen (27 %) und Katholik*innen (23 %). Darüber hinaus können nur noch die Gruppen „andere christliche Konfession“ (n = 56; entspricht ca. 2 %) und „Muslim*a“ (n = 53; entspricht ca. 2 %) inferenzstatistisch sinnvoll interpretiert werden. Für „östliche Religionen“ (n = 20), „Juden/Jüdinnen“ (n = 5) sowie „andere, nicht-christliche Religionen“ (n = 5) ist dies nicht der Fall, weil ihre Stichproben unter der im zentralen Grenzwertsatz genannten Zahl 30 liegen, ab welcher annähernd von einer Normalverteilung ausgegangen werden kann (Weigand 2009, S. 221–225). Mit Blick auf die Glaubensintensität bezeichnet sich knapp ein Viertel als nicht religiös, während sich der Rest über die Religiositätsskala hinweg ähnlich einer Normalverteilung mit einem höheren Niveau in der Mitte verteilt. Hinsichtlich der religiösen Praxis geben über 40 % an, weder den Gottesdienst zu besuchen noch zu beten. Während beim Gottesdienstbesuch die Häufigkeit über die Skala hinweg relativ konstant abnimmt, sind die Ausprägungen beim privaten Gebet in der Mitte geringer und nehmen eher an den Rändern wieder zu.Footnote 16

4.2 Multivariate Regressionsanalyse

Die Regressionstabellen der multivariaten Analyse sind den Tabellen 2, 3 und 4 zu entnehmen. Es zeigt sich wie erwartet ein ambivalentes Bild, das einen differenzierten Blick lohnt. In Bezug auf die realistischen Bedrohungsgefühle bzgl. der „Wirtschaft“ findet sich bei den Religion-UVs nur ein negativer Effekt der „Glaubensintensität“, der jedoch unter Hinzunahme der Kontrollvariablen nicht robust bleibt. Bessere PrädiktorenFootnote 17 sind „Zufriedenheit mit der deutschen Wirtschaft“ mit der größten Effektstärke (im Vergleich zu den anderen (quasi-)metrischen Variablen)Footnote 18, dann „positiver Intergruppen-Kontakt“, „Bildungsniveau“, „politische Links-Rechts-Einstufung“, „Arbeitsmarktposition“, „Autoritarismus“, „Einkommenssituation“, „Intergruppen-Freundschaften“, „empfundener Ausländeranteil“ und „Alter“. Bei den kategorialen Variablen wird das „Geschlecht“ statistisch hoch und der „Wohnort“ schwach signifikant.Footnote 19 Personen, die zufriedener mit der deutschen Wirtschaft sind, ihren Kontakt zu outgroup-Mitglieder*innen als positiv wahrnehmen, sich politisch eher links einordnen, einen höheren sozialen Status besitzen, geringe autoritäre Einstellungen sowie mehr Freund*innen anderer Herkunft haben, den Ausländeranteil in Deutschland niedriger einschätzen und ältere sowie in Westdeutschland lebende Menschen und Männer haben weniger migrationsbezogene Bedrohungsgefühle die Wirtschaft betreffend (diese Wirkungsrichtung der Kontrollvariablen bleibt im Folgenden jeweils gleich – wenn nicht anders erwähnt).

Tab. 2 Multivariate Regressionen zur Schätzung der Effekte von Religion auf realistische Bedrohungsgefühle
Tab. 3 Multivariate Regressionen zur Schätzung der Effekte von Religion auf symbolische Bedrohungsgefühle
Tab. 4 Multivariate Regressionen zur Schätzung der Effekte von Religion auf Bedrohungsgefühle (Index)

Bei der Kategorie des „Wohlfahrtsstaates“ findet sich ein Religionseffekt nur für Protestant*innen, die auf dem 5 %-Niveau signifikant niedrigere Bedrohungsgefühle aufweisen. Der negative Effekt der „Glaubensintensität“ bleibt wieder nicht robust im vollständigen Modell. Hinsichtlich weiterer relevanter Faktoren sind abermals „Zufriedenheit mit deutscher Wirtschaft“ und „positiver Intergruppen-Kontakt“ die stärksten Einflüsse, gefolgt von „Links-Rechts-Skala“, „Bildungsniveau“, „Autoritarismus“, „empfundener Ausländeranteil“, „Alter“ und „Intergruppen-Freundschaften“. Frauen sowie Menschen in Ostdeutschland sehen den Wohlfahrtsstaat wieder mehr bedroht durch Einwanderer*innen.

Für die „Sicherheit“ existieren mehr Religionseinflüsse. Religiöse Menschen erachten die Sicherheit weniger stark durch Migration bedroht (mindestes auf dem 5 %-Signifikanzniveau). Personen, die regelmäßiger in den Gottesdienst gehen, haben jedoch leicht signifikant stärkere Bedrohungswahrnehmungen. Der negative Effekt bei den Angehörigen anderer christlicher Konfessionen bleibt hingegen nicht robust. Mit Blick auf die Kontrollvariablen sind die Bedrohungsgefühle-mindernden Effekte der „wirtschaftlichen Zufriedenheit“ und des „positiven Intergruppen-Kontakts“ wieder am stärksten, gefolgt von den positiven Einflüssen der „Links-Rechts-Einstufung“ und des „Autoritarismus“. Danach lässt sich von der Stärke her der Religiositätseffekt einordnen. Auf ihn folgt der positive Effekt des „empfundenen Ausländeranteils“ sowie der negative des „Bildungsniveaus“. Schwach signifikant werden „Wohnort“ und „Intergruppen-Freundschaften“.

Für die symbolischen Bedrohungsgefühle zeigt sich ein etwas anderes Bild. Im Vergleich zu Konfessionslosen sehen Katholik*innen (5 %-Niveau) und Angehörige anderer christlicher Konfessionen (10 %-Niveau, nur im vollständigen Modell) das „allgemeine Leben“ stärker durch Zuwanderer*innen bedroht. Die „Glaubensintensität“ hingegen weist wieder einen hochsignifikant negativen Effekt auf – religiöse Menschen nehmen weniger Bedrohung wahr. Der positive Effekt des „privaten Gebets“ bleibt nicht robust. Die stärksten Prädiktoren sind auch hier „Zufriedenheit mit deutscher Wirtschaft“, „positiver Intergruppen-Kontakt“, „politische Links-Rechts-Skala“, „Bildungsniveau“ und „Autoritarismus“. Dann kommen die Effekte der „Glaubensintensität“, „Intergruppen-Freundschaften“, des „empfundenen Ausländeranteils“ sowie der „Einkommenssituation“.

Beim „kulturellen Leben“ fühlen sich Katholik*innen wieder leicht signifikant stärker bedroht. Hier hat der „positive Intergruppen-Kontakt“ den stärksten Effekt, gefolgt von „politischer Links-Rechts-Einstufung“, „Zufriedenheit mit deutscher Wirtschaft“, „Bildungsniveau“, „Autoritarismus“, „Intergruppen-Freundschaften“, „empfundener Ausländeranteil“, „Alter“ sowie „Arbeitsmarktposition“. Ostdeutsche und dieses Mal Männer fühlen sich stärker bedroht.

Das „religiöse Leben“ sehen Protestant*innen leicht signifikant weniger bedroht (nur im vollständigen Modell). Sich religiös einschätzende Menschen empfinden Migration als geringere Bedrohung für das religiöse Leben – häufig betende Personen hingegen als stärkere (jeweils robuster Effekt mindestens auf dem 5 %-Niveau). Weitere Einflüsse üben „positiver Intergruppen-Kontakt“ (stärkster Effekt), „Zufriedenheit mit deutscher Wirtschaft“, „Links-Rechts-Skala“, „Bildungsniveau“, „Autoritarismus“ sowie „Intergruppen-Freundschaften“ (schwächster Effekt) aus. Die Effektstärke der „Glaubensintensität“ lässt sich zwischen „Autoritarismus“ und „Intergruppen-Freundschaften“ einordnen, danach kommt der Effekt des „privaten Gebets“. Wiederum erachten Männer das religiöse Leben stärker bedroht.

Im Gesamtbild des Bedrohungsindex ergibt sich Folgendes: Während der Bedrohungsgefühle-verstärkende Effekt des „privaten Gebets“ nicht robust bleibt, findet sich ein robuster, mindestens auf dem 5 %-Niveau signifikanter Bedrohungsgefühle-vermindernder Einfluss der „Glaubensintensität“. Religiösere Menschen nehmen Migration als weniger bedrohlich wahr. Darüber hinaus fühlen sich Menschen, die zufrieden mit der deutschen Wirtschaft sind (stärkster Effekt), die den Intergruppen-Kontakt positiv bewerten, sich politisch eher links einordnen, ein höheres Bildungsniveau, weniger autoritäre Einstellungen und mehr Freund*innen anderer Herkunft haben, den Ausländeranteil im Land geringer einschätzen, eine höhere Arbeitsmarktposition und Einkommenssituation aufweisen, die älter sind (schwächster Effekt) und in Westdeutschland leben, weniger bedroht.

Ein abschließender Blick auf die jeweilige Erklärungskraft der Modelle macht deutlich, dass diejenigen mit nur den Religion-Variablen lediglich 0,4 bis 0,9 % der Varianz der migrationsbezogenen Bedrohungsgefühle aufklären können. Die Religion scheint also eine untergeordnete Rolle zu spielen. Die Güte der vollständigen Modelle ist dagegen wesentlich besser. Je nach Bedrohungskategorie können 12,6 bis 36 % der Varianz der AV erklärt werden.

4.3 Zusammenfassende Hypothesenprüfung

Für die Arbeitshypothesen lässt sich Folgendes resümieren: Im Hinblick auf die belonging-Dimension finden sich nur vereinzelt signifikante, robuste Einflüsse spezifischer Religionsgruppen. Die Richtung ist nicht eindeutig (z. B. weniger Bedrohungsgefühle der Protestant*innen beim „Wohlfahrtsstaat“ – mehr Bedrohungsgefühle der Katholik*innen beim „allgemeinen und kulturellen Leben“). Damit kann die erste Hypothese (H1) nicht bestätigt werden, laut der Religionszugehörige stärkere migrationsbezogene Bedrohungsgefühle als Konfessionslose haben. Vielmehr scheint die reine Religionszugehörigkeit kaum einen Unterschied zu machen.

Anders verhält es sich mit der believing-Dimension. Religiöse Menschen haben signifikant geringere Bedrohungswahrnehmungen, was sich in den Bereichen „Sicherheit“, „allgemeines und religiöses Leben“ sowie im Gesamt-Bedrohungsindex konstant und bzgl. „Wirtschaft“ sowie „Wohlfahrtsstaat“ inkonstant zeigt. Dieser eigenständige Religiositätseffekt kann auch mit den Effektstärken der anderen relevanten Größen mithalten. Nach den jeweils stärksten Effekten (s. Abschn. 4.2) ist er oft ähnlich groß wie der Einfluss der Intergruppen-Freundschaften und des empfundenen Ausländeranteils. Mit diesen Befunden lässt sich eine – entgegen der Annahme in H2) – Bedrohungsgefühle-schwächende Wirkung von Religiosität festhalten.

In Bezug auf die behaving-Dimension ergeben sich für regelmäßige Gottesdienstgänger*innen nur bzgl. der „Sicherheit“ – für die private Gebetspraxis nur beim „religiösen Leben“ robust stärkere Bedrohungsgefühle. Die Effektstärken sind jeweils geringer als bei der Glaubensintensität. Das zeigt wenig empirische Evidenz für H3a) und H3b), wonach eine stärkere religiöse Praxis mit höheren migrationsbezogenen Bedrohungsgefühlen einhergeht.

4.4 Diskussion der Ergebnisse

„Auf der Grundlage der vorhandenen Forschung ist die Antwort sehr klar: Ungeachtet dessen, was die Religionen über universale Geschwisterlichkeit predigen, ist ein Individuum umso intoleranter, je religiöser sie/er ist.“ (Batson 2013, S. 89; Übers. durch d. Verf.)

Diese weit verbreitete „religiöse Intoleranzthese“ findet in der vorliegenden Studie zumindest für Deutschland keine Bestätigung. Vielmehr scheint die „selektive Intoleranzthese“ plausibel, laut der Religion zwar bestimmte Vorurteile (z. B. gegenüber Homosexuellen) befördern, andere hingegen (z. B. gegenüber Migrant*innen) abmildern kann (Doebler 2015; Rowatt et al. 2009; Streib und Klein 2018). Das verweist nochmals auf die Relevanz, möglichst spezifisch und differenziert vorzugehen. Deshalb wurde in diesem Artikel der Nexus zwischen Religion und migrationsbezogenen Bedrohungsgefühlen im Speziellen betrachtet, der für Deutschland bislang wenig untersucht ist. Hierbei erweisen sich die Religionsanhänger*innen nochmals in sich komplex und polarisiert. Analog zu den Konfessionslosen scheint sich ein breites Spektrum von toleranten bis zu fremdenfeindlichen Positionen zu finden. Um mögliche Trennlinien zu identifizieren, wären beispielsweise genauere Untersuchungen der konkreten Glaubensinhalte oder anderer (z. B. u‑förmiger) Zusammenhangsformen sinnvoll (Pickel 2018, S. 294).Footnote 20

Mit Blick auf die diversen religiösen Gruppierungen wären Studien aufschlussreich, welche die einzelnen Gruppen differenziert und mit ausreichend großer, repräsentativer Stichprobe erfassen – z. B. auch bzgl. neuerer religiöser Phänomene wie spirituelle Bewegungen, Pfingstler*innen oder Evangelikale. Für Deutschland liegt der Fokus meist auf den beiden großen christlichen Denominationen (Küpper 2010, S. 32 f.). Der vorliegende Beitrag konnte zumindest noch Angehörige „anderer christlicher Konfessionen“ (leider nicht nochmals disaggregiert) und Muslime integrieren – wenn auch die Fallzahlen geringer ausfielen als bei den Katholik*innen und Protestant*innen. Im Zuge einer zunehmend multireligiöseren deutschen Gesellschaft (Pickel und Hidalgo 2013; Stoldt 2016) wären weitergehende Analysen zu den vielfältigen religiösen Strömungen und möglichen outgroup-Abwertungen gewinnbringend. Diesbezüglich gilt es zu beachten, welche Religion jeweils die Minder- bzw. Mehrheit in einem Kontext bildet, weil dies unterschiedliche in- vs. outgroup-Dynamiken mit sich bringen kann (Doebler 2014; Tausch et al. 2009).

Vor dem Hintergrund überwiegend bivariater Studien kann der vorliegende Artikel durch die Kontrolle relevanter Drittfaktoren (Intergruppen-Kontakt, Autoritarismus, Bildung, u. ä.) einen ergänzenden Beitrag zum aktuellen Forschungstand leisten. Dadurch konnten die Religionseffekte isoliert werden. Besonders auffällig ist der relativ robuste negative Zusammenhang zwischen Glaubensintensität und migrationsbezogenen Bedrohungsgefühlen. Warum gerade diese religiöse Variable (im Vergleich zu den anderen Religionsdimensionen) relevant zu sein scheint und welche Begründungs- bzw. Wirkungsmuster diesen Zusammenhang erklären können, impliziert weiteren Forschungsbedarf. Mögliche Erklärungsmuster hierfür werden im Folgenden angerissen und sollen zu weitergehenden Analysen anregen.

Ein Aspekt betrifft die tiefere Analyse der individuellen Religiosität bzw. persönlichen Glaubensbeziehung. Religiöse Menschen könnten sich beispielsweise aufgrund ihrer Vertrauensbeziehung zum Glaubenssubjekt (Gott) gehalten fühlen, Geborgenheit und Sicherheit spüren. Dank dieses Fundaments könnten sie generell stärkeres Vertrauen und geringere Angst entwickeln, sich also weniger von externen Gegebenheiten bedroht fühlen. Eine rein formale Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft allein kann dieses Sicherheitsgefühl vielleicht noch nicht vermitteln, sondern erst eine starke persönliche Glaubens‑/Gottesbeziehung. Damit sich diese aber tatsächlich in universaler Toleranz ausdrückt, sollte sie auf einem inklusiven, auch Menschen anderer Gruppen integrierenden Verständnis aufbauen. Dies gilt es im Einzelnen zu untersuchen (Meuleman und Billiet 2011, S. 177–179; Traunmüller 2012, S. 57–64).

Ein zweiter Aspekt betrachtet den religiösen und sozialen Kontext, in den die individuelle Religiosität eingebettet ist und in Wechselbeziehung steht. Der Zusammenhang von Religion und outgroup-Abwertung kann sich verändern, wenn sich der Kontext wandelt (Hunsberger und Jackson 2005, S. 817 f.; Klein et al. 2018, S. 30). Diese Dynamiken sind bislang wenig untersucht, scheinen aber vor allem mit Blick auf die deutsche Situation vielversprechend. Beispielsweise könnten die zunehmenden Integrationsbemühungen und Pro-Migrations-Initiativen der Kirchen in Deutschland (vor allem im Zuge der Flüchtlingskrise) (DBK 2020; Drieschner 2018; EKD 2020) wohlwollendere Einstellungen gegenüber Zuwanderer*innen unter den religiösen Menschen bewirkt haben. So bieten die sich verändernden Positionen der Kirchen sowie die konkreten Inhalte der religiösen Botschaften und die Art ihrer Vermittlung Raum für weitere Forschung. Darüber hinaus könnten Interaktionen mit dem gesellschaftlichen Umfeld und sich wandelnden kulturellen Einstellungen bzw. Mentalitäten betrachtet werden (z. B. Stichwort „Willkommenskultur“). Für den deutschen sozialen Kontext erscheint die ursprüngliche Unterscheidung zwischen in- bzw. extrinsischer Religiosität und der Indikator des Gottesdienstbesuchs für letztere immer weniger plausibel. Angesichts einer zunehmenden Säkularisierung in Deutschland und eines Statusverlusts der Kirchen (z. B. aufgrund des Missbrauch-Skandals) (Klask 2019; Lehming 2017) scheint der Kirchgang weniger mit extrinsischen Motiven wie sozialem Ansehen und Status verbunden zu sein. Weitergehend könnte geprüft werden, inwieweit die klassische Differenzierung von in-/extrinsischer-/Quest- und fundamentalistischer Religiosität in unterschiedlichen Kontexten zutreffend bleibt bzw. wie sich diese Religiositätsformen in der heutigen Zeit empirisch ausdrücken.

Abschließend wird auf zentrale Grenzen der erfolgten Analyse und sich daraus ergebende Forschungsperspektiven hingewiesen. Bei der hier angewandten multivariaten Regressionsanalyse werden lineare, gerichtete Zusammenhänge literaturbasiert angenommen. Streng genommen können jedoch nur Korrelationen, nicht aber Kausalitäten nachgewiesen werden. Hierzu wären z. B. Längsschnitt- oder Prozessanalysen aufschlussreich. Zudem kann trotz Aufnahme wesentlicher Drittvariablen nie für alle potentiellen Einflüsse kontrolliert werden (Gehring und Weins 2009; Kohler und Kreuter 2012). Daneben zeigt sich der generelle Nachteil einer Sekundäranalyse, dass die Daten aus anderen Forschungsprojekten stammen, die nicht exakt dem eigenen Forschungszweck entsprechen. Das ESS-Modul „Immigration“ ist zwar auf Seite der AV sehr detailreich, aber besonders für den Faktor Religion wäre eine noch differenzierte Messung wünschenswert. So begrenzt sich die Analyse des komplexen Phänomens „Religion“ auf Selbsteinschätzungen von Individuen und quantitativen Auswertungen (Küpper 2010, S. 3). Ferner könnten weitere Ebenen von Religion einbezogen werden, wie die Mesoebene (z. B. religiöse Gemeinschaften) oder Makroebene (z. B. der religiöse Kontext in einem Land und Staat-Religion-Beziehungen). Hierfür würden sich beispielsweise auch Methoden aus dem qualitativen Bereich oder ein Mixed-Methods-Design anbieten (mit Expert*innen-Interviews, teilnehmenden Beobachtungen, Diskursanalysen, u. ä.). Zudem könnten mögliche Interaktionseffekte des Länderkontextes im Rahmen von statistischen Mehrebenenmodellen untersucht werden (Pollack et al. 2018; Traunmüller 2012). All dies könnte generell zur weiteren Theoretisierung des spezifischen Zusammenhangs zwischen Religion und Bedrohungsgefühlen sowie zur Identifizierung zugrundeliegender Wirkungsmechanismen beitragen. Schließlich ist zu bedenken, dass im vorliegenden Beitrag zwar Daten zum möglichst aktuellen Zeitpunkt ausgewertet wurden, aber auch diese Erhebung zum Verfassungszeitpunkt des Artikels gut fünf Jahre zurückliegt. So könnten die hier diskutierten Ergebnisse in weitergehenden Analysen mit neueren Daten angereichert und verglichen werden. Dabei würde sich auch eine länder- und kulturvergleichende Forschung anbieten, insbesondere mit Blick auf bisher wenig berücksichtigte Weltregionen wie der globale Süden, wo Religion eine bedeutsame Rolle spielt (Hopkins et al. 2013).

5 Fazit

Welche Rolle spielt die Religion für migrationsbezogene Bedrohungsgefühle in Deutschland?

Zur Beantwortung dieser Fragestellung erfolgte eine theoriegeleitete empirische Analyse auf Basis des European Social Survey (2014). Realistische Bedrohungsgefühle (Kategorien: Wirtschaft, Wohlfahrtsstaat und Sicherheit) wurden von symbolischen Bedrohungsgefühlen (Kategorien: Allgemeines Leben, Kulturelles Leben, Religiöses Leben) unterschieden. Religion wurde mit drei Dimensionen erfasst: belonging (Religionszugehörigkeit), believing (Stärke der Religiosität) und behaving (Gottesdienstbesuch und private Gebetspraxis). Anhand der Ergebnisse der multivariaten Regressionsanalyse lässt sich die Forschungsfrage wie folgt beantworten: In Deutschland weisen Religionszugehörige (Katholik*innen, Protestant*innen, Angehörige anderer christlicher Konfessionen, Muslime) nicht generell höhere migrationsbezogene Bedrohungsgefühle im Vergleich zu Konfessionslosen auf. Auch der Gottesdienstbesuch und die private Gebetspraxis einer Person scheinen kaum einen Unterschied für deren Bedrohungswahrnehmungen zu machen. Vielmehr nehmen Menschen, die sich als religiös bezeichnen, Migrant*innen als geringere Bedrohung wahr, vor allem was die Sicherheit, das allgemeine sowie religiöse Leben betrifft. Dieser Effekt ist robust – auch unter Kontrolle weiterer Einflussfaktoren, die sich als relevant erwiesen, wie Intergruppen-Kontakt, Zufriedenheit mit deutscher Wirtschaft, Autoritarismus, politische Links-Rechts-Einstufung, sozialer Status, empfundener Ausländeranteil, Wohnort (Ost‑/Westdeutschland) sowie Alter und Geschlecht.

Anknüpfend an diesen Artikel könnte sich weitere Forschung mit zusätzlichen Datenquellen und Methoden anschließen, z. B. um den religiösen und gesellschaftlichen Kontext in einem Land mit zu berücksichtigen, ländervergleichende Analysen vorzunehmen (vor allem unter Einbeziehung des bislang wenig untersuchten globalen Südens) oder um spezifische Glaubensinhalte sowie neue Religiositäts- und Spiritualitätsformen der Menschen näher zu betrachten. Entsprechende Untersuchungen erscheinen auch gesellschaftspolitisch sehr relevant – angesichts wachsender Bedrohungswahrnehmungen, Polarisierungen und Spannungen, welche den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das dauerhafte friedliche Zusammenleben in Vielfalt gefährden.