1 Einleitung – Vorurteile und religiöse Identitäten

Religion hat seit 2015 in der öffentlichen Debatte an Brisanz gewonnen. Allerdings ist dieser Bedeutungsgewinn überwiegend mit konfliktären bis negativen Zuschreibungsmodi verbunden. Vor allem eine Religion rückte in den Fokus der Diskussionen – der Islam. So häufig, wie das Thema muslimische Zuwanderung in den letzten Jahren aufgerufen wurde, so häufig war dies mit Problembeschreibungen, Bedrohungsgefühlen und kultureller Abgrenzung konnotiert (Adida et al. 2016; Huntington 1996; Pickel et al. 2016, 2020; Zick und Küpper 2009). Die Diskurse hinterließen dabei nicht den Eindruck, dass in Europa bereits eine „postmigrantische Gesellschaft“ (Foroutan 2019; Foroutan et al. 2018) erreicht wäre. Vielmehr drängten nationalistische Äußerungen, Stereotype, Ressentiments, Vorurteile und abwertende Einschätzungen von muslimischen Migrant*innen in den Blick. Selbst vor rassistischen Aussagen wurde in bestimmten politischen Kreisen nicht zurückgeschreckt. Bei genauer Ansicht zeigt sich, dass weniger der Status als Migrant*in, denn die religiöse Zugehörigkeit das entscheidende Identifikations- und Kategorisierungsmerkmal für die Vorurteile ist (Nussbaum 2014, S. 12–26). So wird die Zugehörigkeit der seit 2015 nach Europa migrierenden Geflüchteten zum Islam zum Kern ihrer Einschätzung – und dessen Angehörige zur Zielscheibe von Ablehnung, Abwertung und Vorurteilen (Hidalgo und Pickel 2019).

Diese „Gruppenfeindschaft“, wird von rechtspopulistischer und rechtsradikaler Seite in der Bevölkerung mit Verweis auf deren „gefährliche Religionszugehörigkeit“ oder per se nicht demokratiefähige religiöse Identität aktiviert und zur Mobilisierung für eigene Wahlerfolge eingesetzt (Hambauer und Mays 2018; Liedhegener 2019; Pickel und Yendell 2016; Rippl und Seipel 2018; Pickel, S. 2019). Und nicht allein Muslim*innen, auch Jüd*innen werden (wieder) verstärkt Ziel von verbaler bis tätlicher Diskriminierung (RIAS 2019). Nicht von ungefähr hat die Auseinandersetzung mit dem (neuen) Antisemitismus (Blume 2019; Chernivsky und Wiegemann 2017; Decker et al. 2018a; Heilbronn et al. 2019; Lipstadt 2019) einen Schub erfahren.Footnote 1 Zwar kann man die derzeitigen Diskussionen zur Zunahme von antisemitischen Ressentiments und Vorurteilen vom religiösen Antijudaismus früherer Zeiten unterscheiden, gleichzeitig wird auch heute eine „Feindgruppe“ über ihre religiöse Zugehörigkeit bestimmt (Beller 2015, S. 1; Runnymede Trust 1997). Die Vorurteile inkludieren eine fremdzugeschriebene (ethnisierte) religiöse Identität als Referenzpunkt für Vorurteile. So bestehen Annahmen, wie Muslim*innen und Jüd*innen sind und es werden (angenommene) Differenzen aufgezeigt. Da stellen sich die Fragen, wie ob es besonders gegenüber religiösen Gruppen Vorurteile gibt und warum es zu den Vorurteilen kommt? Da sich Vorurteile (Allport 1979; Tajfel 1982) vor allem gegen Minderheiten richten, wird im vorliegenden Ansatz eine Perspektive auf religiöse Minderheiten, Muslim*innen und Jüd*innen gelegt und religiöse Mehrheiten erst einmal ausgespart.

Wird religiöse Zugehörigkeit im obigen Fall als abhängige Variable der Untersuchung gesehen, so steht eine zweite Frage im Raum: Können religiöse Haltungen und Positionen Vorurteile befördern? Ergebnisse der PEW-Studie Being Christian in Western Europe (PEW 2018, S. 21–24, 66) scheinen diese Annahme mit Blick auf die Haltung von Christ*innen zu muslimischen Migrant*innen zu stützen. Gleichwohl gibt es widersprüchliche Ergebnisse (Pickel 2018, S. 302–303; Pickel und Yendell 2018, S. 223; SVR 2016), welche einerseits höhere Anfälligkeiten von religiösen Menschen für Vorurteile bestätigen, andererseits aber auch in die Richtung einer positiven, pro-sozialen Wirkung von Religiosität und damit Vorurteilsreduktion deuten (Yendell und Huber 2019). Berücksichtigt man Debatten um den Antijudaismus des Christentums, wie auch die zunehmenden Verweise auf muslimischen Antisemitismus, dann stellt sich die Frage, inwieweit Religionszugehörigkeit, Religiosität oder eine selbstverstandene religiöse Identität Einfluss auf gruppenbezogene Vorurteile besitzen.

In beiden Fällen tritt allerdings ein Aspekt in den Vordergrund – der einer religiösen Identität. So scheint es oft weniger die simple Religiosität zu sein, welche Vorurteile oder Haltungen zu anderen sozialen Gruppen bedingt. Viele Ergebnisse der Forschung erbrachten immer wieder keine oder zumindest ambivalente Effekte von Religionszugehörigkeit und in Teilen Religiosität auf Vorurteile und Ressentiments (Pickel 2018; Streib und Klein 2018). Ein Grund könnte sein, dass Mitglieder von Religionsgemeinschaften plural sind, wie eben auch eine demokratische Gesellschaft eine Pluralität mit Unterschieden aufweist. Aus unserer Sicht geht es dabei um die Relevanz, welche Religion für das Leben des Individuums besitzt und die inhaltliche Ausdeutung von Religiosität. Die erfolgt immer in Relation zur Umwelt. Entsprechend scheint uns die religiöse soziale Identität entscheidend für unterschiedliche Haltungen zur Umwelt – und damit auch zu Vorurteilen (Liedhegener et al. 2019).Footnote 2 Dies gilt für die eigenen Vorurteile von Gläubigen, wie für Fremdzuschreibungen einer vermeintlichen kollektiven religiösen Identität.

Unser Interesse an der Bedeutung von religiösen Identitäten und Vorurteilsstrukturen beinhaltet vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zwei Blickrichtungen: Es stellt sich die Frage: Warum werden religiöse Minderheiten zum Zielobjekt von gruppenbezogenen Vorurteilen? Hierfür kann es unterschiedliche Gründe geben, wie z. B. strategische Überlegungen der Aktivierung einer Feindgruppe, ökonomische Verlustängste, Ängste vor Kontrollverlust verbunden mit Projektionen, soziale Dominanzbestrebungen, Bedrohungsgefühle sowie eine vermutete Konkurrenz durch andere Religionen. Eine (zugewiesene) religiöse Identität wird hiermit zur „abhängigen Variable“ (auch Müller 2011). Der Antijudaismus oder muslimische Antisemitismus öffnen als Beispiele den Weg zu einer zweiten Frage: Führen spezifische religiöse Identitäten oder Verständnisse von Religiosität zu gruppenbezogenen Vorurteilen? Damit wird eine eigenbestimmte religiöse Identität zur „unabhängige Variable“. Vorurteile können sich dabei auf die Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften und auf die Abwertung anderer Gruppen, wie z. B. Menschen mit als abweichend erachteten Geschlechtsidentitäten, richten.

So lautet die Kernfrage unseres Aufsatzes: Finden sich Wechselbeziehungen zwischen religiösen Identitäten und gruppenbezogenen Vorurteilen? Unsere Ausgangsvermutungen sind:

  1. 1.

    Religionsgemeinschaften und ihre Mitglieder werden in jüngerer Zeit vermehrt zum Ziel gruppenbezogener Vorurteile. Sie eignen sich gut für Abwertungsprozesse und politische Mobilisierung seitens von Populist*innen (Pickel 2018, S. 289–291).

  2. 2.

    Spezifische religiöse Identitäten fördern gruppenbezogene Vorurteile, andere religiöse Identitäten stehen diesen Vorurteilen entgegen. Insgesamt gehen wir von einer ambivalenten Wirkung von religiöser Identität aus (Liedhegener et al. 2019).

Diese Fragen – in denen Religion sowohl als abhängige als auch als unabhängige Variable wirken – wollen wir mithilfe des KONID Survey 2019 für die Schweiz und Deutschland vergleichend untersuchen.Footnote 3 Aufgrund der binationalen Erhebung tritt eine kulturell-vergleichende Frage hinzu: Finden sich in einem Vergleich zwischen Deutschland und der Schweiz ähnliche Bezüge zwischen religiöser Identität, Religiosität und gruppenbezogenen Vorurteilen? Wäre dies so, hätte man Hinweise auf generelle, länderübergreifende Effekte, welche entlang theoretischer Annahmen verlaufen. Insgesamt bewegen wir uns mit dem vorliegenden Aufsatz zwischen verschiedenen Forschungsbereichen. So wie die Bedeutung der religiösen Identität in Relation zu Religiosität und religiöser Zugehörigkeit gleichzeitig Fragen der Religionssoziologie als auch der Identitätsforschung tangiert, bewegen sich die meisten kausalen Fragestellungen des Aufsatzes im Feld der Vorurteilsforschung und der Politikwissenschaft. Uns ist bewusst, dass diese Spannbreite eine klare Zuordnung zu einem Fachgebiet erschwert, gleichzeitig denken wir nur durch diese interdisziplinäre Verzahnung Fortschritte in der differenzierten Betrachtung der ja existierenden Phänomene erreichen zu können.

2 Konzeptionelles: Religiöse Identitäten in Deutschland und der Schweiz

2.1 Soziale Identitäten und kollektive Identitäten

Was haben Vorurteile mit sozialen Identitäten und kollektiven Identitäten zu tun? Und was sind überhaupt soziale Identitäten? Hier ist es einerseits wichtig das Verhältnis von kollektiven und sozialen Identitäten zu bestimmen, andererseits relevant den abgrenzenden Kern von Identität zu beachten. Für diese Abgrenzungsvermutung spricht z. B. die Art der Differenzbetonung von kollektiven Zugehörigkeiten, wie sie sich insbesondere in nationalistischen Äußerungen Bahn brechen (Anderson 1983; Fukuyama 2018, S. 105–123; Triandafyllidou 1998). Doch beginnen wir mit dem Identitätsbegriff. Bezeichnet man Identität generell als eine innere Einheit der Person und ihr Wissen von sich selbst, konstituiert sie sich eigentlich immer auch als soziale Identität – und damit in Bezug auf die Umwelt (Keupp 2008; Tajfel 1982). Die Sozialität bedarf spezifischer und sie differenzierender Zugehörigkeitsverständnisse (Straub 2019, S. 71), die sich auf der Ebene der Gruppe oder von übergeordneten Kollektiven widerspiegeln. Kollektive Identität kann zu einem zentralen Bezugselement der sozialen Identität werden und einfache Gruppenunterschieden zu individuell übernommenen Ausgrenzungen wie Zugehörigkeiten machen (Jenkins 2004). Wichtig ist dabei nicht die objektive Zugehörigkeit, sondern das Wissen um und das Gefühl der Identifikation mit dem Kollektiv.Footnote 4 Im extremsten Fall bilden Individuum und Gruppe nahezu eine Einheit, die sonst unterschiedliche Rollen beinhaltende soziale Identität wird in überwältigender Form durch eine kollektive Identität geprägt. „Die soziale Identität ist somit „derjenige Bestandteil unseres Selbstkonzepts, der sich auf Gruppenmitgliedschaften und den Wert sowie die mit diesen Mitgliedschaften verbundene soziale Bedeutung gründet“ (Jonas et al. 2014, S. 530; Tajfel 1982). Kollektive Identitäten und eigentlich Identitäten überhaupt werden durch Differenzen in Relationen zur Umwelt und zueinander gesetzt. Darauf beruhende soziale Identitäten werden durch Abgrenzungen von der Umwelt konstruiert. Es wird also ein „Wir und die Anderen“ geschaffen (Tajfel 1982; Simon 2004). In dieser Unterscheidung liegt nun – so der Mentor der Theorien sozialer Identität Henri Tajfel (1982) – ein Potential der Abwertung anderer Gruppen und Personen, welches gesellschaftlich problematisch werden kann und Konfliktpotential birgt. So wird z. B. die Intergruppendifferenz betont (Hutnik 1985; Sherif et al. 1961, S. 96–148) und dadurch werden Kollektive zum Ausgangspunkt und zum Ziel von Vorurteilen und Abwertungen (Tajfel und Turner 1986).

Theoretisch wie empirisch stand und steht bei der Erfassung von sozialen Identitäten bislang die Makroebene im Mittelpunkt (Wetherell und Talpade Mohanty 2010; Schwartz 2011; Eickelpasch und Rademacher 2013, S. 68–103). So wurde soziale Identität lange Zeit mit kollektiver Identität und den Kollektiven „Nation“ oder „Ethnie“ in eins gesetzt. Umfragen wie die des International Social Survey Programmes zur „National Identity“ oder des European Social Survey liefern dann auch Belege für starke kollektive Identifikationen mit der Nation oder dem Land (z. B. Hjerm 2007; Westle 1999; Jones und Smith 2001). In spätmodernen Gesellschaften sind individuelle wie soziale Identitäten vielschichtiger geworden. Nicht nur Makrogruppen (Nation, Ethnie etc.) sind Gegenstand kollektiver Bezugnahme, sondern auch intermediale Sozialgruppen werden Bezugspunkt sozialer Identität, wie eine gewisse Renaissance lokaler oder regionaler Zugehörigkeiten belegt (Crul et al. 2012): Übergeordnete Großkollektive (Nation, Staat, Kirchen) als zentrale Referenzpunkte sozialer Identitäten durch kleinere soziale Vergemeinschaftungsformen ergänzt. Solche Identität stiftenden Vergemeinschaftungen beruhen in zivilen Gesellschaften immer häufiger auf Freiwilligkeit, Selbstzuordnung und Selbstzuschreibung (Putnam 2000). Hintergrund für diese Veränderungen sind Prozesse der Demokratisierung und die Zunahme von Selbstentfaltungswerten im Zuge des auf Modernisierungsprozessen beruhenden Wertewandels (Inglehart und Welzel 2005; Welzel 2013). Veränderungen finden sich nicht nur auf der Ebene der Kollektive: In konstruktivistischer Perspektive werden persönliche Identitäten zunehmend als vielfältige, multiple und stark individualisierte Muster aufgefasst (Eickelpasch und Rademacher 2013, S. 26; Bernhardt 2008; bzw. Coulmas 2019; Schultheiss 2003). Insbesondere in kulturwissenschaftlicher Perspektive ist hier von multiplen Identitäten die Rede (Burke und Stets 2009, S. 130–154; Keupp 2008). Diese Betrachtungsweise steht (auf den ersten Blick) in einem eigentümlichen Kontrast zu der Entwicklung der neuen öffentlichen bzw. politischen Bedeutung von kollektiven Identitäten.Footnote 5

2.2 Ansätze der Vorurteilsforschung

Will man die Haltungen gegenüber religiösen Gemeinschaften und ihren Mitgliedern erforschen, dann landen wir wieder bei der Social Identity Theory (SIT), welche über Jahrzehnte die Erforschung kollektiver sozialer Identitäten dominierte. Der bereits angesprochene, von Henri Tajfel (1982) und John Turner in der Sozialpsychologie entwickelte Forschungsansatz, geht davon aus, dass die subjektive, „gefühlte“ Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen ein wichtiger Bestandteil individueller Positionierung in der Gesellschaft ist. Die entscheidende Triebkraft ist das eigene Selbstwertgefühl. Gruppenbezogene Zuschreibungen des „Wir“ und des „Ihr“, des „Eigenen“ und des „Anderen“ sowie deren Bewertungen erzeugen Ingroups und Outgroups und werden als Erklärung für die Entstehung und Verbreitung von gruppenbezogenen Vorurteilen in der Gesellschaft angeführt. Die SIT sieht die Entscheidung eines Individuums, einer Gruppe beizutreten und sich ihr zugehörig zu fühlen, als Akt der Sicherung und vor allem Erhöhung der eigenen Identität und des eigenen Selbstwertgefühls. Die Identifikation mit der Gruppe bietet eine Möglichkeit, ein stärkeres Selbstwertgefühl zu erlangen. Dieses steigt an, je loyaler man der Gruppe gegenüber ist. Gleichzeitig setzt die Steigerung des Selbstwertgefühls eine gute oder erhöhte Position der Gruppe in der Gesellschaft voraus. Diese Position kann sie durch – auch konzertierte – eigene Leistung erreichen, oder aber durch die Abwertung anderer Gruppen und die damit verbundene relationale Erhöhung der eigenen Gruppe. Die Abwertung der anderen Gruppen, oft von Minderheiten, dient dann als Push-Faktor für die Erhöhung der eigenen Gruppe – und verbunden über diese soziale Identität auch des Selbst.

Es wurde bislang viel über die Abwertung des Anderen gesprochen. In der Sozialpsychologie wird bei solchen (meist negativen) Zuschreibungen von gruppenbezogenen Vorurteilen gesprochen (Jonas et al. 2014; Klein 2014): Imaginäre (Fremd)Gruppenkonstruktionen sind Adresse von Kategorisierung und damit oft verbunden von Abwertung. Wenn also Tajfel von Abwertung redet, meint er genau diese Bildung von Vorurteilen. Die zugeschriebenen (abwertenden) Vorurteile werden mit der Zeit von den Gruppenmitgliedern der Ingroup verinnerlicht. Einfach gesagt: Man glaubt selbst, was man über die anderen sagt. Unter gewissen Umständen wird das zugeschriebene Bedrohungspotential in der eigenen Wahrnehmung real und man stuft die abgelehnte Referenzgruppe als gefährlich ein. Hier schließt die Integrated Threat Theory an die Social Identity Theory an: Sie postuliert eine Steigerung gruppenbezogener Vorurteile unter Bedrohungswahrnehmungen (Stephan und Renfro 2002, S. 203–204; Blascovich et al. 2002; Gonzalez et al. 2008; Stephan et al. 2000; Uenal 2016). Trotz kritischer Anmerkungen hinsichtlich eines bestimmten notwendigen Framings der Intergruppenkontakte und der Gruppen, kann aus diesen Überlegungen eine Annahme für den Bezug zwischen Gruppen und gruppenbezogenen Vorurteilen abgeleitet werden, der später auch auf religiöse Gruppen übertragen werden kann.

A1

Die Einschätzung einer anderen Gruppe als bedrohlich verstärkt gruppenbezogene Vorurteile und Ressentiments gegenüber dieser Gruppe.

In Deutschland ist die Vorurteilsforschung durch die Studien von Wilhelm Heitmeyer geprägt worden. Seine Untersuchungen zu Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (kurz GMF), die er im Zeitraum von 2002–2011 durchführte, enthielten konzeptionell sieben Elemente (Heitmeyer 2002, S. 20–25), nämlich Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Heterophobie, Islamophobie, Etabliertenvorrechte und Sexismus (aktueller Zick et al. 2019, S. 55–68). Folgende Definition liegt seinen Untersuchungen zugrunde: „Werden Personen aufgrund ihrer gewählten oder zugewiesenen Gruppenzugehörigkeit als ungleichwertig markiert und feindseligen Mentalitäten der Abwertung und Ausgrenzung ausgesetzt, dann sprechen wir von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.“ (Heitmeyer 2005, S. 6). Seine Analysen – und auch Analysen in neueren Studien seines Nachfolgers Andreas Zick (Zick et al. 2016, 2019) – verweisen darauf, dass den einzelnen, konkreten Vorurteilen ein gemeinsames Syndrom der Ungleichwertigkeit zugrunde liegt. Es wird jeweils durch unterschiedliche Kontextfaktoren aktiviert und auf unterschiedliche, letztlich beliebige Gruppen projiziert. Die zentrale Annahme ist, „dass feindselige Einstellungen nicht nur gegen eine, sondern vielfach gegen mehrere Gruppen gerichtet sein können“ (Heitmeyer 2002, 2010). Aktivierende Kontextfaktoren sind nicht zwangsläufig objektive Verhältnisse, wie Arbeitslosenquoten oder Migrationsanteil, sondern oft tieferliegende Einstellungen, Gefühle oder Verschwörungstheorien. Gerade Gefühle der persönlichen Bedrohung spielen eine Rolle als Kontextfaktor, aber auch als Mediator (z. B. Verstärker) für die Ablehnung anderer sozialer Gruppen. Insgesamt wird ein übergreifendes Syndrom angenommen. Dieses müsste sich dann allerdings auch in den Daten, auch kulturübergreifend in Deutschland und der Schweiz wiederfinden.

A2

Bei gruppenbezogenen Vorurteilen handelt es sich um stark miteinander verbundene Phänomene, die ein tieferliegendes Syndrom gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit herleiten.

Weitere wichtige Referenzkonzepte in der Erklärung gruppenbezogener Vorurteile sind Theorien sozialer Deprivation sowie das Konzept des Autoritarismus (Adorno 1973; Decker und Türcke 2019). Im Konzept des Autoritarismus behauptet man (in Anlehnung an Adorno 1973) einen weitreichenden Effekt von Persönlichkeitsmerkmalen auf soziale Tatbestände, nämlich autoritären Einstellungen. Diese bewegen sich, über eine „autoritäre Dynamik“ von einer autoritären Unterwerfung unter eine, für die Steigerung des eigenen Selbstwertgefühls vielversprechend angesehene, Autorität hin zu einer autoritären Aggression. Die Aggression schlägt sich in der Abwertung anderer Menschen und Sozialgruppen nieder (Adorno 1973, S. 314–338).Footnote 6 Autoritäre Dynamiken werden in der Sozialisationsphase angelegt und sind für ihre Auslebung an soziale und historische Kontexte gebunden. So wächst die Bereitschaft zur Unterordnung, Autoritätsglaube, Gehorsamkeitsinternalisierung und Gruppenidentifikation z. B. in unsicheren Zeiten und Wirtschaftskrisen, aber auch unter dem Gefühl einer kulturellen Bedrohung durch andere soziale Gruppen.Footnote 7

A3

Personen mit autoritären Einstellungen richten ihre autoritäre Aggression – in Form von gruppenbezogenen Vorurteilen – in stärkerem Maß gegen andere Sozialgruppen, als Menschen ohne autoritäre Einstellungen.

Alle Deprivationskonzepte gehen von einem Zusammenhang zwischen sozialer Benachteiligung und fremdenfeindlichen Einstellungen aus. Vor allem in Zeiten wirtschaftlicher Rezession sind Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft im Kampf um knappe ökonomische Ressourcen besonders anfällig dafür, konkurrierende Gruppen von z. B. Zuwanderern mit Vorurteilen und unter Umständen sogar mit Gewalt zu begegnen, weil sie diese als Ursache für ihre ökonomische Benachteiligung ausmachen (vgl. Becker 2007). Bei den Theorien der Deprivation wird davon ausgegangen, dass die steigende Konkurrenz in der Gesellschaft in Verbindung mit einer eigenen deprivierten Position zu einer stärkeren Abwertung anderer Gruppen beiträgt. Insbesondere die Wahrnehmung einer eigenen relativen Deprivation, also das Gefühl hinter anderen in der Gesellschaft (zu Unrecht) zurückstehen zu müssen, treibt Menschen dazu, andere Personen abzuwerten (Stouffer et al. 1949a, 1949b).Footnote 8 Die „Theorie der Gruppenbedrohung“ ist eine für unsere Fragestellung passförmige Deprivationstheorie. Sie führt fremdenfeindliche Vorurteile auf die Zuwanderung von Minderheiten bei gleichzeitig schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen zurück (vgl. Blumer 1958; Blalock 1967; Quillian 1995). Xenophobe Einstellungsmuster sind nach dieser Theorie eine Reaktion der dominanten Gruppe auf eine wahrgenommene Bedrohung ihrer Gruppenposition durch eine untergeordnete Minderheit. Je größer die Bedrohung ist, desto wahrscheinlicher würde die untergeordnete Gruppe abgewertet“ (Quillian 1995, S. 588). Die wahrgenommene Bedrohung hängt von zwei Faktoren ab: der Größe der Minderheitengruppe im Verhältnis zur Größe der Mehrheitsgruppe und der aktuellen wirtschaftlichen Lage. Eine ungünstige Wirtschaftslage fördert Bedrohungsgefühle und die Suche nach „Sündenböcken“, die für die ökonomische Misere verantwortlich gemacht werden können. Da grundsätzliche Abwertungen positive Effekte auf der kollektiven Ebene des Selbstwertgewinns versprechen, kommt es zu gruppenbezogenen Vorurteilen gegenüber Fremdgruppen. Die Vorurteile können sich gegen Eliten richten, von denen man sich abgewertet fühlt, oder – quasi als Kompensation – gegen Minderheiten, die man in einer Gesellschaftshierarchie unter sich einordnet. Selbst wenn mittlerweile die eine oder andere Kritik an der Theorie der Gruppenbedrohung vorliegt (Triandafyllidou 1998; Pettigrew 1998; Sigelman und Welch 1993), erfreut sie sich speziell in öffentlichen Deutungen von Vorurteilen und Ressentiments immer noch großer Beliebtheit.

A4

Menschen mit gefühlter (relativer) Deprivation neigen stärker zu Vorurteilen als Menschen ohne Deprivationsgefühle – auch gegenüber religiösen Gemeinschaften.

Neben diesen aus grundsätzlichen Ansätzen der Vorurteilsforschung ableitbaren Annahmen, die als Kontrolle für die Effekte religiöser Identitäten notwendig sind, ist es möglich spezifische Zugänge einer Wechselbeziehung zwischen religiösen Identitäten und Vorurteilen ausmachen.

2.3 Religiöse Identitäten und Religiosität als Prädiktor für Vorurteile

Die Konstruktion von Kollektiven und gemeinsamer Identität über Religionszugehörigkeit (Fukuyama 2018, S. 89; Liedhegener 2016) zählt historisch gesehen zu den ältesten Formen der Eigen- und Fremdgruppenkonstruktion (Brubaker 2004, 2015). So waren es gerade der Religionen innewohnenden sozialen Vergemeinschaftungsprozesse, welche – neben dem Angebot der Kontingenzbewältigung – ihren Erfolgszug begründeten. Hatte man im Rahmen fortschreitender Säkularisierungsprozesse in Europa (Bruce 2002; Pickel 2017; Pollack 2016) diese Differenzierungen als abnehmend erachtet, erfolgte im Rahmen der modernisierungs- und globalisierungsbedingten religiösen Pluralisierung eine Zunahme an religiösen Identitätsobjekten. Diese Erweiterung der Identitätsobjekte gilt somit auch für Religion als gefühlte Religionszugehörigkeit. Man könnte sagen, es handele sich um eine religiöse kollektive Identität, welche Lebenspraxen und soziale Einbindung mit prägt, wenn nicht gar steuert. Anders aber als im Zusammenhang der Individualisierungsprozesse der Moderne (Beck 1988) angenommen, sieht es heute nach einer Reaktivierung der sozialen Rolle von Religionen für die soziale Identität der Individuen aus. Ausgehend von Wahlfreiheiten, gewährt die Pluralität neuer Möglichkeiten auch neue Abgrenzungsmöglichkeiten.

Hier schließen die bereits angesprochenen gruppenbezogenen Vorurteile an, werden doch religiöse Gruppen Ziel von Fremdkategorisierung und Abwertung.Footnote 9 Vor allem zwei Gruppen sind für diesen Aufsatz von Relevanz: Jüd*innen und Muslim*innen.Footnote 10 Beim Antisemitismus nutzt man aufgrund seiner (in Deutschland wie in Teilen auch in der Schweiz besonderen historischen und) konzeptionellen Weite meist den Begriff des Ressentiments. Dieser Begriff verbindet eine historische Verankerung der Ablehnung einer sozialen Gruppe mit einer ideologischen Ausrichtung (Decker et al. 2018b, S. 181–183).Footnote 11 Bei der Abwertung von Muslim*innen werden Begriffe wie „Islamophobie“ (im englischsprachigen Raum), Muslimfeindlichkeit und antimuslimischer Rassismus aufgerufen, welche ebenfalls in Teilen gut als Ressentiments bezeichnet werden können. Unabhängig davon, wie man diese Ausdrucksformen Ungleichwertigkeitseinschätzungen anderer Sozialgruppen bezeichnet, die Zugehörigkeit zu einer Religion scheint für Menschen mit Vorurteilen ein beliebter Orientierungspunkt und sozialer Marker für Abwertungen zu sein (Allport und Ross 1967; Hunsberger und Jackson 2005). Nun handelt es sich bei Jüd*innen und Muslim*innen nicht um die einzigen Gruppen, die Vorurteile erfahren und Abwertungen erleiden müssen. Allerdings verdienen Jüd*innen und Muslim*innen (aus unserer Sicht) eine besondere Aufmerksamkeit.

In Teilen der Forschung wird nun konstatiert, dass Religion im Hinblick auf Vorurteile, Ressentiments und Diskriminierung zu den negativen, Phänomene der sozialen Abwertung und Ausgrenzung verstärkenden Faktoren zählt (Allport und Ross 1967; Hunsberger und Jackson 2005). Religion verlange vom Gläubigen starke Überzeugungs- und Werthaltungen, die sie oder ihn in Kontrast zu anderen Religionsgemeinschaften, aber oft auch zu säkularen Bürger*innen setzt (Yendell und Huber 2019). Die Idee der religiösen Wahrheit berge in sich den Kern zur Intoleranz – speziell zur Gruppenintoleranz. So entsteht die Annahme, soziale und politische Konflikte um Religion und religiöse Zugehörigkeiten seien kaum oder gar nicht vermittelbar und ihre Entschärfung nur durch die Überwindung der individuellen wie sozialen Mächtigkeit von Religion zu erreichen. Dieses Konzept der Eindämmung von Religion durch eine konsequente politische Säkularisierung hat speziell in Europa eine große Anhängerschaft. Ysseldyk et al. (2010) behaupten beispielsweise, dass die besonderen Eigenschaften von Religion den religiösen sozialen Identitäten von vornherein eine Sonderstellung gegenüber Gender, „Rasse“ oder ethnischer Herkunft verleihen: Religion gehe stets einher mit dem Anspruch auf absolute Wahrheit, weshalb das religiöse Individuum dieser sozialen Identität, sofern vorhanden, eine Sonder- bzw. Vorrangstellung einräume (Ysseldyk et al. 2010, S. 61–62). In der Politikwissenschaft hat Huntington (1996) eine ähnliche Position hinsichtlich der potentiellen Konflikthaftigkeit von Religion vertreten. Er propagiert, dass nach dem Ende des Ost-West-Konflikts Religion (bei ihm als zentraler Bestandteil von Kultur) die Konfliktursache Nummer eins in den internationalen Beziehungen geworden sei, denn es gehe im 21. Jahrhundert um starke kollektive Identitäten und deren Behauptung im zwischenstaatlichen Machtkampf. Dabei verweist Huntington sowohl auf Konfliktlinien zwischen Staaten als auch innerhalb der Staaten, welche entlang der kulturellen – und dann auch spezifisch religiösen – Linien verlaufen. Selbst wenn die Thesen Huntingtons in der Folge oft ausgesprochen kritisch diskutiert wurden (zusammenfassend Fox 2004), setzte sich seine gerade mit Religionen verbundene Metapher vom „Kampf der Kulturen“ nicht nur in den Köpfen vieler Bürger*innen, sondern in vielen Bereichen des öffentlichen Sprachgebrauchs fest. Wenn diese Konfliktträchtigkeits- bzw. Intoleranzthese der Religion stimmt, sollte dies auch für Deutschland und die Schweiz gelten:

A5

Mit der Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft bzw. einer starken kollektiven religiösen Identität, steigen die Vorurteile gegenüber anderen religiösen Gruppen.

Dabei sind religiöse Gemeinschaften gleichzeitig Träger, wie Adressat von Vorurteilen. Nicht nur führe der Wahrheitsanspruch der Religionen zu einer Abgrenzung gegenüber Nichtmitgliedern der eigenen Gemeinschaft, gerade andere religiöse Gruppen werden auch zum Ziel der Ablehnung und -abwertung. Speziell die Einschätzung von anderen Religionsgemeinschaften als Konfliktfaktor befördert das Auftreten und die Konstruktion von Vorurteilen. Mit Bezug auf die Überlegungen Huntingtons konzentrieren sich viele empirische Studien vorrangig auf das Selbstbild der Mehrheitsgesellschaft und deren Wahrnehmung von religiösen Minderheiten (Danaci 2012, S. 58–66, 118–130; McDaniel 2011; Ysseldyk et al. 2010, S. 63–65; Pollack et al. 2014). Vor dem Hintergrund der zunehmenden religionspolitischen Debatten um die soziale Stellung und die Rechte islamischer Minderheiten in Europa, wird die Frage der religiösen Identitäten oft als Konflikt zwischen der nationalen Identität der Mehrheit und der „des Islam“ aufgefasst (z. B. Werkner und Hidalgo 2016; Yendell 2013, 2014). Nach Befunden steht eine große Zahl der Europäer*innen Muslim*innen skeptisch bis ablehnend gegenüber (Pollack et al. 2014; Pickel 2013, 2019). Es scheint so als würde gerade, noch verstärkt durch die als muslimisch angesehenen Fluchtbewegungen der Jahre 2014–2016 (Pickel und Pickel 2019), „der Islam“ und „die Muslime“ im Sinne einer religiösen Kategorisierung als vorrangiges Ziel der Abwertung dienen. Dies führt teilweise auch zu einem weiterem Strang der Forschung, welcher statt von Vorurteilen weiter greifend die Abwertungen rassismuskritisch als antimuslimischen Rassismus behandelt (z. B. Shooman 2014).

A6

Gruppenbezogene Vorurteile und Ressentiments sind unter Christ*innen gegenüber Muslim*innen stärker ausgeprägt, als gegenüber anderen sozialen Gruppen.

Doch nicht nur auf der Seite der von Vorurteilen Betroffenen kommt Religion eine Bedeutung zu. Religiöse Identitäten werden auch als Auslöser für gruppenbezogene Vorurteile ausgemacht. Als Problem erweist sich hier, dass Religionszugehörigkeit und religiöse Identität häufig in eins gesetzt wird, d. h. man unterstellt mit der (formalen) Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft umstandslos und per se einen Schluss auf Zugehörigkeitsgefühle, Einstellungen und Werthaltungen von Mitgliedern religiöser Gruppen (Liedhegener und Odermatt 2018, S. 14–17).Footnote 12 Zwar ist die formale Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft ein Verweis auf solche kollektiven Effekte, die über Sozialisationserfahrungen vermittelt sein bzw. nachwirken sollten. Sie dürfte aber in ihrer Differenziertheit (z. B. Frömmigkeitsstilen) darüber hinausgehen. Die Forschungsergebnisse zum Zusammenhang von Religion und Vorurteilen variieren allerdings teilweise beachtlich (Allport und Ross 1967; PEW 2018; Pickel 2018; Rebenstorf 2018; Küpper und Zick 2010). Es liegt nahe zu vermuten, dass die Mitglieder von Religionsgemeinschaften, insbesondere wenn sie in der Gesellschaft Mehrheiten stellen, weitgehend gemischt sind. Bereits Allport (1979, S. 451–453) identifizierte zumindest zwei unterschiedliche Effektrichtungen, was darauf hindeutet, dass spezifische religiöse Identitäten unterschiedliche Wirkungen entfalten. Z. B. dogmatische bzw. konservative Verständnisse von Religion könnten zu Ressentiments beitragen, während eine liberal geprägte religiöse Identität diesen entgegenwirkt. Dabei ist es plausibel, dass die Art und Weise der vertretenen religiösen Positionen innerhalb einer Glaubensrichtungen Relevanz besitzt, kennt doch fast jede Religionsgemeinschaft große Spielräume. Diese reichen historisch – etwa im Christentum – vom Gebot der Gottes- und Nächstenliebe bis zur Legitimation von „heiligen Kriegen“ (etwa in der Kriegstheologie von 1914 in Deutschland).

A7

Ein dogmatisches und exklusives Verständnis der eigenen Religion (dogmatische religiöse Identität) erhöht die Vorurteile gegenüber Mitgliedern anderer Religionen, ein liberales und offenes Verständnis reduziert die Vorurteile (offene religiöse Identität).

Nun wurde bereits anfangs auf die potentielle Ambivalenzen der Wirkung von Religion auf Vorurteile hingewiesen. Entsprechend steht zu erwarten, dass auch Phänomene im religiösen Sektor existieren, welche Vorurteilen entgegenwirken.

2.4 Kontakte und Sozialkapital als Hemmfaktor für Vorurteile

Und in der Tat, Studien zum religiösen Sozialkapital, zeigen, dass sich, je nach Konstitution der religiösen Gruppierungen, für die Gesellschaft sowohl positives allgemeines und gruppenbezogenes Vertrauen belegen lässt als auch negative Abgrenzungshaltungen nachweisbar sind. Hintergrund ist der Ansatz des Sozialkapitals von Robert Putnam (2000; Putnam und Campbell 2011). Putnam konnte belegen, dass unterschiedliche Gruppenkonstitutionen zu einem unterschiedlichen Output für die Gesellschaft führen. Soziale Gruppierungen mit einer hohen Gruppenidentität, die durch unterschiedliche Elemente wie gemeinsam geteilte Inhalte und Werte oder Homogenität der Gruppenmitglieder entsteht, verfügen zwar über ein hohes gruppeninternes Vertrauen, produzieren aber oft kein allgemeines Vertrauen in Menschen außerhalb der Gruppe. Andere Gruppen hingegen konstituieren sich eher über gemeinsames Engagement oder als Kontaktfläche zwischen heterogenen Menschen, so dass das gruppeninterne Vertrauen auch auf Nichtgruppenmitglieder übertragen wird. Putnam bezeichnet dies als bridging social capital. Religiöse Gemeinschaften besitzen in der Regel starke kommunale Qualitäten in dem Sinne, dass sie als konkrete Gemeinschaften mit einer strukturellen Einbindung funktionieren. Einfach gesagt: In Religionsgemeinschaften bestehen besonders häufig dem Zusammenhalt förderliche Gelegenheitsstrukturen in Form von Orten oder auch Personen. Dies drückt sich in einem erhöhten sozialem Vertrauen aus (wie Studien belegen; Pickel 2015) und lässt entsprechend eher eine Reduktion von Vorurteilsstrukturen erwarten. Nun ist die Gruppenstruktur entscheidend dafür, ob es einen bridging Effekt oder nur einen bonding Effekt – das Vertrauen steigert sich nur innerhalb der Gruppe – gibt. Im zweiten Fall wären Vorurteile gegenüber anderen Gruppen naheliegend. Putnam sieht allerdings einen Überhang der positiven Wirkungen: Das aus freiwilligem Engagement resultierende Sozialkapital auf der Ebene des sozialen Vertrauens übersteigt seiner Ansicht nach bonding Effekte. Damit steht Annahme 8 im Widerspruch zu vorherigen Annahmen, welche eher eine Vorurteile befördernden Struktur von Religion formulieren. Hier kann es zu kontrastierenden Wirkungen kommen, je nachdem, welche der Annahmen und der dahinter stehenden Ansätze später eine stärkere empirische Gültigkeit oder Wirkung für sich beanspruchen kann. Zudem ist darauf zu verweisen, dass die Sozialkapitaltheorie sich auf die Mitglieder einer Religionsgemeinschaft bezieht, welche in engen Austausch- und Kontaktsituationen stehen – nicht auf alle Mitglieder der Religionsgemeinschaft an sich.

A8

Ein in religiösen Gemeinschaften erworbenes Sozialkapital, bzw. intersoziales Vertrauen reduziert gruppenbezogene Vorurteile gegenüber Mitgliedern anderer Religionsgemeinschaften.

Damit verbunden ist die Annahme, dass die in Gruppen stattfindenden, sich wiederholenden Kontakte Vorurteile abbauen. Diesen Zusammenhang hat, in noch stärker generalisierter Form, bereits recht früh die sogenannte Kontakthypothese behauptet (Allport 1979; Sherif et al. 1961, S. 150–187). In ihr wird davon ausgegangen, dass Kontakte zwischen Personen unterschiedlicher Gruppen zu einem Abbau von wechselseitigen Vorurteilen beitragen. Selbst wenn diese pauschalisierte Annahme mittlerweile deutlich kontextualisiert wurde (Notwendigkeit eines positiven Klimas der Umfeld und des Umfeldes, positive Kontakterfahrungen usw.) und immer noch Kritik an ihrer pauschalen Aussage vorherrscht, finden sich doch immer wieder Belege für ihre Gültigkeit (Pettigrew 1998). So konnten Pettigrew und Tropp (2006) in einer viele Studien umfassenden Metaanalyse die überwiegend positive Wirkung von Kontakten herausarbeiten.

A9

Je mehr über die eigene Gruppe hinausreichende Kontakte zu Mitgliedern anderer Religionsgemeinschaften jemand besitzt, umso niedriger fallen seine Vorurteile aus.

Auch die individuelle Religiosität, kann einen Einfluss auf Vorurteile besitzen. Es ist denkbar, dass spezifische Inhalte des Glaubens beim Individuum eine besondere Bedeutung gewinnen und seine Haltung gegenüber Referenzgruppen prägen. Dabei wirken sie dann abgrenzend, weil Exklusivität beanspruchend (Allport und Ross 1967). Ein zentraler Punkt jeder Form organisierten Glaubens sind die Vorstellungen und Glaubensausprägungen des Transzendenten. Das personale Gottesbild kann damit auch eine Quelle der Empathie-Steigerung sein, denn in der personalen Verantwortung eines als DU gedachten und erfahrenen Gottes gewinnt erst z. B. das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe seine Verbindlichkeit. Bezieht man sich auf das zweite Argument, dann kann man die folgende Annahme ableiten:

A10

Je deutlicher die Transzendenz- bzw. Gottesvorstellung sich auf einen personal gedachten Gott bezieht, desto geringer sind Vorurteile gegenüber anderen en Religionen und Menschen.

Diese Annahmen werden im Folgenden unter Nutzung des KONID Survey 2019 empirisch im deutsch-schweizer Vergleich untersucht.

3 Operationalisierungen und Datengrundlage

3.1 Allgemeine Datengrundlage

Die im Beitrag verwendeten Daten entstammen dem quantitativen Teilprojekt (KONID) eines größeren Forschungsvorhabens zum Thema „Religiöse und soziale Identitäten in ziviler Gesellschaft“ (kurz RESICFootnote 13), das in einem binationalen Forschungsverbund der Universität Leipzig und Göttingen und der Universität Luzern durchgeführt und von der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) und vom Schweizerischen Nationalfond (SNF) gefördert wird. Der KONID Survey 2019 besitzt ein ausdifferenziertes, an die Möglichkeiten der Stichprobenziehung in Deutschland und der Schweiz ausgerichtetes Erhebungsdesign. Ziel ist, die empirische Erfassung individueller und kollektiver Identitäten unter besonderer Berücksichtigung religiöser Identitäten. Dies geschieht mithilfe eines mixed-method-Ansatzes und zweier binationaler Teilprojekte. Das quantitative Teilprojekt KONID stützt sich auf zwei repräsentative Bevölkerungsumfragen, für Deutschland (n = 2363) und eine Sonderstichprobe für türkische und iranische Muslim*innen (n = 580), für die Schweiz eine bevölkerungsrepräsentative Gesamtstichprobe (n = 3019), in die eine gewichtete Überquotierung von Muslimen (n = 486) bereits eingeflossen ist, sowie je eine weitere kleinere Spezialstichprobe zu kroatischen Katholik*innen und bosnischen Muslim*innen in Deutschland und der Schweiz. Die in diesem Aufsatz zur Analyse verwendeten quantitativen Daten (ohne die Sonderstichproben zu kroatischen Katholik*innen und bosnischen Muslim*innen) wurden von kommerziellen Meinungsforschungsinstituten (aproxima in Deutschland, Demoscope in der Schweiz) nach Vorgaben und im Auftrag der Autor*innen erhoben. Beide Länderdatensätze des KONID Survey 2019 sind ein repräsentatives Abbild der jeweiligen Bevölkerung ab 16 Jahren.

3.2 Die Abbildung gruppenbezogener Vorurteile im Datensatz

Neben der detaillierten Erfassung persönlicher, sozialer und kollektiver Identitäten wurden im KONID Survey 2019 verschiedene gruppenbezogene Vorurteile erhoben.Footnote 14 Sie entstammen dem Konzept der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, sind aber zum Teil auch Neuentwicklungen. So besteht eine hohe Vergleichbarkeit mit anderen Studien (vgl. Decker und Brähler 2018; Pickel et al. 2019; Pickel 2019; Zick et al. 2019), sowie Innovationen. Aufgrund des primären Forschungsziel des KONID Surveys 2019 – die Erforschung sozialer bzw. religiöser Identitäten – bleibt die Zahl der Vorurteilsitems auf soziale Deklassierung, Homophobie, Autoritarismus, primärer und sekundärer Antisemitismus, Muslimfeindlichkeit, Xenophobie, Antiziganismus, Rassismus und Abwertung von Geflüchteten begrenzt.Footnote 15 Zudem handelt es sich aus Platzgründen häufig um 1‑Item-Messungen. Allerdings wurden auf Basis von Skalen in Vergleichsstudien, diejenigen Variablen ausgewählt, die als Kennzeichnungsvariable die Dimension der entsprechenden Vorurteile am besten repräsentieren. Die deskriptiven Verteilungen der Vorurteile sind überwiegend deckungsgleich mit den direkten Vergleichsstudien. Um die Seite der Betroffenen zu berücksichtigen, wurden zudem Diskriminierungserfahrungen abgefragt. Die Befragten hatten die Möglichkeit ihre Diskriminierungserfahrung auf Grund der eigenen, jeweils spezifischen Nationalität, der Religionszugehörigkeit, der politischen Einstellung und auf Grund des Geschlechts anzugeben.

3.3 Religiöse Identitäten als Akteur gruppenbezogener Vorurteile

Eine zentrale Stärke des KONID Surveys 2019 liegt auf der Ebene der unabhängigen, erklärenden Faktoren sowie der Ausdifferenzierung religiöser Identitäten. Dabei wird versucht die Wichtigkeit sowie inhaltliche Ausdifferenzierung der unterschiedlichen religiösen Identitäten mit mehreren Fragekomplexen zu erfassen – und dadurch den Ansprüchen an eine differenzierte Identitätsmessung gerecht zu werden (Brady und Kaplan 2009). Im Detail erlaubt die Studie, Menschen mit jeweils einem dogmatischen, liberalen oder konservativen Verständnis von Religion voneinander zu unterscheiden. Um den Anschluss an die oben herangezogenen sozialpsychologischen Theorien herzustellen, wurden außerdem Bedrohungsgefühle in Bezug auf andere religiöse Gruppen erfasst. Will man ein empirisch zutreffenderes Bild vom Zusammenhang von Stereotypen bzw. Vorurteilen und Religion gewinnen, scheint das Konzept der religiösen Identität hilfreich, nimmt sie doch die Relevanz der eigenen Religiosität für die eigene Identitätskonstruktion (siehe Emcke 2000; Keupp 2008; Schwartz 2011) auf. Eine religiöse Identität benötigt dabei eine affektive Bindung an eine religiöse Gemeinschaft oder Gruppe – und sie ist inhaltlich (versehen mit einem Bild, wie die Religion auszusehen hat) ausgerichtet.

Die Relevanz der religiösen Identität wird im KONID Survey 2019 unter anderem über eine Eigeneinschätzung, in der das Individuum religiöse Identität für sich selbst als wichtig einstuft, erfasst. Zu einer religiösen Identität gehört auch die Eigeneinschätzung der subjektiven Religiosität wie das subjektive Gottesbild. Speziell die Bejahung der Vorstellung, in Gott ein persönliches Du zu erfahren, besitzt als starke Gottesbindung ein Potential zur Selbstbeschreibung. Am wichtigsten für Vorurteile erscheint uns allerdings die Art und Weise der vertretenen religiösen Positionen innerhalb einer Glaubensrichtung oder einer religiösen Gruppe. Wir operationalisieren diese inhaltliche Ausrichtung des Religionsverständnisses bzw. der religiösen Identität hier mit drei Variablen: Die erste Variable ist eine allgemeine Selbsteinstufung der eigenen Religiosität auf einer liberal-konservativ Skala. Die Befragten sollen angeben, ob sie ihre Religiosität als liberal oder konservativ einschätzen. Die zweite Variable hebt auf eine fundamentalistische Schriftauslegung ab. Gefragt wird nach dem Verständnis bzw. der Interpretationsbedürftigkeit der heiligen Schriften. Eine Positionierung gegen eine historisch-kritische Bibel- bzw. Koranexegese mit einem Festhalten an einer wortwörtlichen Geltung der heiligen Schriften, wird als Biblizismus – und erweitert als Indikator für Fundamentalismus (Riesebrodt 2001) interpretiert. Fundamentalismus wird in diesen Überlegungen als ein exklusiver Rückbezug auf die ursprünglichen Heilsschriften verstanden. Fundamentalistische Haltungen (und die propagierte Konfliktträchtigkeit von Religion abbildende) werden zudem über die Einschätzung einer exklusiven Stellung der eigenen Religion („Es gibt nur eine wahre Religion“) gemessen.Footnote 16 Ergänzt wird dieser Zugriff über den Grad der Gemeindebindung des Individuums. In Tab. 1 sind die verwendeten Operationalisierungen – um ergänzende Kontrollvariablen ergänzt – den aufgeführten Konzepten zugeordnet.Footnote 17 Nun ist es die Frage inwieweit besitzen die Variablen religiöser Identität nun unter Kontrolle alternativer Erklärungsfaktoren einen Einfluss auf gruppenbezogene Vorurteile? Und: Stehen religiöse Gemeinschaften in besonderem Maße unter Vorurteilsgefahr?

Tab. 1 Operationalisierungen. (Quelle: Eigene Zusammenstellung)

4 Ergebnisse zu Gruppenbezogenen Vorurteilen in Deutschland und der Schweiz 2019

4.1 Gruppenbezogene Vorurteile in Deutschland und der Schweiz

Mit dem KONID Survey 2019 besteht erstmalig die Möglichkeit, gruppenbezogene Vorurteile in Deutschland und in der Schweiz vergleichend zu messen. Werden diese in Deutschland regelmäßig im Rahmen von Studien mit Bezug auf das Konzept Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit erhoben und – teilweise kontrovers – diskutiert, liegen für die Schweiz bislang noch keine vergleichbaren Zahlen vor. Werfen wir zuerst einen Blick auf die deskriptiven Ergebnisse: Die Zustimmungsraten der KONID-Studie in Deutschland liegen zuerst einmal auf einem ähnlichen Niveau wie in anderen Studien zu gruppenbezogenen Vorurteilen (Zick et al. 2019, S. 70–73; Decker und Brähler 2018).Footnote 18

Am stärksten ausgeprägt ist die Angst vor kultureller Überfremdung – und Fremdenfeindlichkeit. Fremdenfeindliche Aussagen erfahren Befürwortung bei jeder dritten Deutschen. Auf ähnliche Zustimmungswerte kommen Ablehnungen von Antidiskriminierungsmaßnahmen sowie die im KONID Survey 2019 verwendete Aussage zur sozialen Deklassierung. Allerdings findet keines der abgefragten gruppenbezogenen Vorurteile eine mehrheitliche Zustimmung unter den Bundesbürger*innen. Muslimfeindlichkeit bzw. antimuslimische Ressentiments sowie der sekundäre Antisemitismus finden sich bei jeder fünften Befragten in Deutschland (Tab. 2).Footnote 19 Angesichts der öffentlichen Debatten zu diesem Thema sind dies fast moderate Werte. Gleichwohl sind gruppenbezogene Vorurteile gegenüber Muslim*innen und Jüd*innen bei einem Fünftel der Deutschen keine Lappalie. Dies gilt speziell für die antisemitischen Einstellungen, wenn man die langen Bemühungen der Bekämpfung von Antisemitismus und die Problematik der deutschen Historie berücksichtigt (Decker und Brähler 2018; Salzborn 2014). Sowohl antisemitische als auch antimuslimische Ressentiments liegen allerdings unterhalb der ebenfalls gemessenen Homophobie und dem Antiziganismus.Footnote 20 Dies kann an der Konzentration auf ein einzelnes Statement, in diesem Fall noch dazu ein deutlich formuliertes Item, für antimuslimische Ressentiments liegen. Weichere Statements in anderen Studien erreichen teils höhere Zustimmungswerte (Decker und Brähler 2018, S. 102). Doch auch in den Vergleichsstudien stehen das Ressentiment des Antisemitismus wie auch die Muslimfeindlichkeit nicht an der Spitze der gruppenbezogenen Vorurteile, wenn auch nicht am Ende. So abhängig die Ergebnisse von den eingesetzten Frageformulierungen sind, der oft aufscheinende Eindruck einer besonderen Ablehnung von Muslim*innen lässt sich an dieser Stelle mit den KONID Daten nur begrenzt belegen. Zwar sind Vorurteile gegenüber religiösen Gemeinschaften ohne Frage relevant (siehe z. B. mit Bezug auf Muslim*innen bei Pickel und Yendell 2018; Pickel und Öztürk 2019; Strabac und Listhaug 2007), sie stechen aber aus der generellen Verbreitung von Vorurteilen nicht wirklich heraus.Footnote 21

Tab. 2 Gruppenbezogene Vorurteile in Deutschland und der Schweiz im Vergleich. (Quelle: KONID Survey 2019 D und CH)

Diese Interpretation stützt auch der Vergleich mit den Befunden in der Schweiz. Das wichtigste Ergebnis am Anfang: Die Ergebnisse in der Schweiz sind strukturell den deutschen Ergebnissen sehr ähnlich. Sowohl bei der Neigung zu autoritären Einstellungen als auch gegenüber Antidiskriminierungsmaßnahmen herrschen in beiden Ländern die stärksten gruppenbezogenen Vorurteile vor – zudem auf exakt dem gleichen Antwortniveau. Die Ablehnung von Geflüchteten, Antiziganismus sowie der sekundäre Antisemitismus sind in der Schweiz um Nuancen höher als in Deutschland, ohne allerdings die Mehrheitsverhältnisse zu verändern. Auch in der Schweiz gibt es keine soziale Gruppe, die mehrheitlich Ziel von Vorurteilen ist. Signifikant niedriger als in Deutschland fällt in der Schweiz die soziale Deklassierung aus. Fremdenfeindliche Vorurteile sind in der Schweiz ebenfalls etwas niedriger als in Deutschland, während der israelbezogene Antisemitismus leicht höher ausfällt. Ob man daraus eine höhere innergesellschaftliche Solidarität in der Schweiz ableiten kann, muss an dieser Stelle offen bleiben. Auf den ersten Blick scheinen die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Deutschland und der Schweiz die Unterschiede in einzelnen Vorurteilen zu überwiegen. So ist dann die Einordnung der gegen religiöse Gruppen gerichteten Vorurteile in der Schweiz wie in Deutschland im Mittelfeld der Zustimmungen. Annahme 5, dass religiöse Gruppen stärker Ziel gruppenbezogener Vorurteile ist, können wir mit unseren Daten somit für beide Länder nicht bestätigen.

Nun sind Zustimmungsraten das eine, Strukturen das andere. Wir haben für beide Länder Analysen hinsichtlich der Komposition der Vorurteilsstrukturen durchgeführt. Vor dem Hintergrund der Überlegungen zur Syndromhaftigkeit gruppenbezogener Vorurteile (Heitmeyer 2002) im Konzept der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit wäre eine starke Bündelung zwischen den Vorurteilen zu erwarten (Zick et al. 2019, S. 58). In der Tat konstituiert sich bei (nicht gesondert ausgewiesenen) Faktorenanalysen mit den verschiedenen Abwertungen in Deutschland ein eindimensionales Syndrom.Footnote 22 In den Schweizer Daten ist dies allerdings nicht der Fall. Hier spaltet sich in einer am Eigenwert 1 scheidenden Analyse, der Antisemitismus von anderen Aussagen ab.

Eine Korrelationsmatrix zwischen den verschiedenen gruppenbezogenen Vorurteilen zeigt, dass bei genauerer Ansicht auch in Deutschland die Vorurteile unterschiedlich aneinander gebunden sind. Muslimfeindlichkeit, Ausländerfeindlichkeit, Ablehnung von Geflüchteten und Antiziganismus korrespondieren sehr stark, während – bei durchweg signifikanten Zusammenhangsstrukturen – die Beziehungen dieser Vorurteile zu anderen Vorurteilen, wie zwischen anderen Vorurteilen, statistisch schwächer sind (Tab. 3). Ebenfalls wenig überraschend ist der enge Zusammenhang zwischen primärem und sekundärem Antisemitismus, was belegt, dass auch sekundärer Antisemitismus ein Antisemitismus ist. Dieses Muster kann in den Schweizer Daten reproduziert werden. Wenn man in die Faktorenanalysen zurückgeht und versucht gezielt Substrukturen aufzudecken, dann finden sich in Deutschland ebenfalls empirische Unterschiede zwischen (1.) den Abwertungen verschiedener sozialer Gruppen und (2.) der Abwertung aufgrund von Geschlechtsidentitäten, während (3.) der Antisemitismus sich diesen Unterstrukturen kaum bis gar nicht zuordnen lässt. Erweitert man die Struktur auf drei Faktoren, dann bilden die Items des Antisemitismus in den Faktorenanalysen die zusätzliche Dimension eines antisemitischen Ressentiments aus.Footnote 23 In der Schweiz ist das Ergebnis bei einer gleichen Vorgehensweise klarer konturiert, und kommt faktisch zur gleichen Struktur (Tab. 4). Die Kombination antimuslimische Ressentiments, Fremdenfeindlichkeit, Antiziganismus und Ablehnung von Geflüchteten tritt mit einer Einfachstruktur als Dimension neben die Abwertung von Geschlechtsidentitäten sowie den (ebenfalls eigenständigen) Antisemitismus.Footnote 24 Inhaltlich bedeutet dies: Es gibt einige Menschen in Deutschland und der Schweiz, welche gruppenbezogene Vorurteile besitzen, diese richten sich aber nicht auf alle anderen Sozialgruppen in gleicher Weise. Diese Diversifizierung stützt ein Blick auf eine Kombinatorik von Vorurteilen (Tab. 5).

Tab. 3 Korrelationsmatrix zwischen gruppenbezogenen Vorurteilen (Deutschland). (Quelle: KONID Survey 2019 D und CH; hier Deutschland)
Tab. 4 Korrelationsmatrix zwischen gruppenbezogenen Vorurteilen (Schweiz). (Quelle: KONID Survey 2019 D und CH; hier Schweiz)
Tab. 5 „Mehrfachscorer“ gruppenbezogener Vorurteile in Deutschland und der Schweiz. (Quelle: KONID Survey 2019 D und CH)

So wie ein knappes Drittel der Deutschen wie Schweizer*innen nur ein oder zwei Vorurteile aufweist, finden sich bei einem weiteren Drittel der Deutschen und 28 % der Schweizer*innen gar keine gruppenbezogenen Vorurteile. Lapidar gesagt besitzt fast jeder Vorurteile gegenüber einer Gruppe, aber selten ist man ein vollständiger Menschenfeind. Da unterscheiden sich Deutsche wenig von den Schweizer*innen. Entsprechend dieser Feststellung macht es Sinn die Überlegungen der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit als Orientierungsrahmen weiter zu verfolgen. Es macht allerdings gleichzeitig Sinn, sich durch die Denkweise eines Syndroms nicht den Blick auf Diversifizierungen von gruppenbezogenen Vorurteilen zu verstellen. So muss unsere zweite Annahme, dass es sich bei gruppenbezogenen Vorurteilen um ein gemeinsames Syndrom handelt, mit Blick auf die Ergebnisse der zwei Untersuchungsländer (vorsichtig) in Frage gestellt werden.

4.2 Diskriminierungserfahrungen in Deutschland und der Schweiz

Nun werden gruppenbezogene Vorurteile weitgehend auf der Seite der Verurteilenden gemessen. Vorurteile und Ressentiments gegenüber Muslim*innen sowie antisemitische Einstellungen werden aus den Haltungen der Muslimfeinde und Antisemiten rekonstruiert. Diese Betrachtungsweise kann einen dazu führen, die Problematik der Situation manchmal zu unterschätzen. Gerade aus Sicht einer angemessenen Beschäftigung mit den Betroffenen, ist es angebracht die Seite einmal zu wechseln und Mitglieder der Gruppen selbst nach ihren Diskriminierungserfahrungen fragen. Dies ist angesichts der geringeren Zahl der im Fokus von Vorurteilen stehenden Personen, handelt es sich doch in der Regel um Minderheiten, methodisch schwierig, aber eigentlich ein angemessener Weg die Relevanz von gruppenbezogenen Vorurteilen aufzuzeigen. In der KONID-Studie haben wir Diskriminierungserfahrungen aufgrund unterschiedlicher Merkmale abgefragt (Tab. 6). Die Befragten konnten äußern, inwieweit sie Diskriminierung erfahren haben – und was ihrer Meinung nach der Grund dafür war. Diese Einschätzungen sind natürlich subjektiv und blenden teilweise intersektionale Diskriminierung etwas aus. Gleichzeitig ist die Eigeneinschätzung eine beachtliche Triebkraft für das eigene Handeln, wie z. B. einem erfolgenden Rückzug aus der Gesellschaft und sozialen Beziehungen aufgrund von Unsicherheit, Sorge und Angst vor Diskriminierung. Unserer Umfrage nach (Tab. 6), besteht im Großen und Ganzen keine starke Verbreitung von Diskriminierungserfahrungen in der deutschen und der Schweizer Bevölkerung.

Tab. 6 Diskriminierungserfahrungen in Deutschland und der Schweiz. (Quelle: KONID Survey 2019 D und CH)

Allerdings existieren Gruppenunterschiede, die durch die geringen Diskriminierungserfahrungen der meisten Bürger*innen mit Blick auf die Gesamtbevölkerung verdeckt werden. Speziell Muslim*innen fühlen sich in der Schweiz und in Deutschland aufgrund ihrer nationalen Zugehörigkeit und ihrer religiösen Zugehörigkeit deutlich öfter diskriminiert als der Bevölkerungsdurchschnitt. In der Schweiz ist die Differenz zur Gesamtbevölkerung etwas stärker ausgeprägt als in Deutschland. Immerhin äußert jeder Vierte der in der Schweiz ansässigen Muslim*innen häufige Diskriminierungserfahrungen, drei von Fünf berichten diese zumindest gelegentlich erfahren zu haben. Letztere (gelegentliche Diskriminierung) bekunden fast die Hälfte der in Deutschland lebenden Muslim*innen (auch Schönfeld 2018). Ein ähnliches Phänomen zeigt sich für die Diskriminierung aufgrund der Geschlechtsidentität. Diskriminierungserfahrungen realisieren sich den Aussagen nach ungleich häufiger bei Frauen als bei Männern.

Leider war die Gruppe der jüdischen Mitbürger*innen in beiden Stichproben zu klein, um belastbare statistische Aussagen aus dieser Gruppe selbst zu erhalten. Trotzdem ist es berichtenswert, dass die wenigen Deutschen und Schweizer*innen jüdischen Glaubens in extrem hohem Maße Diskriminierung bekundeten. Dieses Ergebnis deckt sich in Deutschland mit Ergebnissen einer bundesweiten Antidiskriminierungsbefragung (Beigang et al. 2017), welche Diskriminierungserfahrungen bei bis zu 90 % der Juden in Deutschland feststellen konnte (RIAS 2019). Auffällig ist: Religiöse Zugehörigkeiten sind ein beliebter Zielpunkt von Diskriminierung und Vorurteilen. Selbst wenn die gruppenbezogenen Vorurteile gegenüber Muslim*innen und Jüd*innen sich im mittleren Bereich unterschiedlicher gruppenbezogener Vorurteile bewegen, sie scheinen beachtliche Teile der Gesellschaften – in der Schweiz etwas mehr wie in Deutschland – zu treffen. Religiöse Zugehörigkeit ist als eine Referenz für Abwertung so nicht zu unterschätzen, speziell, wenn sie mit einem nationalen Minderheitenstatus einhergeht. Dann kommt es zu intersektionalen Diskriminierungen, zu denen bei Musliminnen, die Kopftuch tragen, die Geschlechtsidentität noch hinzutritt. Aufgrund der oft erfolgenden Ethnisierung religiöser Zugehörigkeit, als scheinbar kaum veränderbare kulturelle Eigenschaft, entsteht eine „unheilsame“ Interdependenz zwischen Identitätszuschreibung, Diskriminierung und Vorurteilen (vgl. Shooman 2014), die zu einer besonders starken Diskriminierungslage für die davon betroffenen Personen führt.

5 Religiosität und/oder religiöse Identität als Wirkfaktor gruppenbezogener Vorurteile

5.1 Vorurteile in Religionsgemeinschaften

Bisher haben wir unser Augenmerk auf die Relevanz von Vorurteilen für religiöse Gemeinschaften gerichtet. Diese ist nicht unerheblich. Nun wollen wir die Perspektive in Teilen wechseln und zur Frage nach der Erklärung von Vorurteilen und Ressentiments gegenüber Muslim*innen und Jüd*innen auch die Frage nach den Effekten von Religiosität und religiöser Identität stellen. Wie wirkt sich nun die religiöse Identität auf Vorurteile aus? Über den Einfluss, den Religion auf Vorurteile besitzt, wird breit diskutiert und spekuliert. So bekundete erst 2018 das PEW-Institut in einer Umfrage, dass christliche Kirchgänger*innen Migrant*innen und Migration deutlich ablehnender gegenüberstehen und deutliche Vorurteile äußern würden (PEW 2018, S. 21–24).Footnote 25 Umgekehrt herrscht, zumindest in kirchlichen Kreisen, immer noch die Wahrnehmung einer mit Blick auf Vorurteile zivilisierenden und Toleranz hervorrufenden christlichen Religion. Nun können verschiedene gruppenbezogene Vorurteile in bestimmten religiösen oder nichtreligiösen Gruppen unterschiedlich verankert sein. Dass dies so ist, zeigt bereits eine einfache Häufigkeitsverteilung entlang unterschiedlicher Religionsgemeinschaften (Tab. 7). So finden sich in den deutschen Daten Hinweise auf den öffentlich thematisierten muslimischen Antisemitismus, fallen doch die Zustimmungsraten zu den antisemitische Einstellungen messenden Items unter Muslim*innen signifikant höher aus. Nun muss man hier bei der Interpretation vorsichtig sein. Zum einen weisen selbst bei erhöhter Zustimmung nur ein Drittel der Muslim*innen in Deutschland den Daten nach solche Vorurteile auf (siehe Pickel et al. 2019). Zum anderen ist es offen, ob es die religiöse Identität der Muslime ist, die unter ihnen eher antisemitische Einstellungen hervorruft. Häufig resultieren Wertemuster und Haltungen, aus sozialisatorischen Erfahrungen und Einstellungslagen in den Herkunftsländern der eingewanderten Muslim*innen. Dort brechen sich über eine stark verinnerlichte Abwehrhaltung gegenüber Israel auch antisemitische Vorurteile Bahn, speziell beim sekundären, israelbezogenen Antisemitismus, welche sich auch nach der Migration nach Deutschland biographisch und in den Familien halten.

Tab. 7 Gruppenbezogene Vorurteile nach Religionszugehörigkeit in Deutschland und der Schweiz. (Quelle: KONID Survey 2019)

Allerdings sind religiöse Aspekte als Triebfaktor nicht ausgeschlossen, selbst wenn man sie aus dem vorliegenden Ergebnis nicht stringent ableiten kann. So kann es eben sein, dass eine rigidere oder dogmatischere und speziell exklusivistische religiöse Identität Wirkung auf Vorurteile entfalten (siehe auch Allport und Ross 1967). Eine Interpretation in diese Richtung legen die höheren antisemitischen Einstellungen unter den Mitgliedern von Freikirchen nahe. Bei ihnen ist ein stärkeres exklusives Verständnis der eigenen religiösen Zugehörigkeit zu finden und häufiger als in den beiden großen christlichen Kirchen ein dogmatisches Religionsverständnis zu erwarten. Ob es schlussendlich die besondere Problematik der Haltung von Muslim*innen zu Israel und zu Jüd*innen ist oder ein exklusiveres Religionsverständnis, bedarf multivariater Analysen. Die Daten zeigen allerdings zwischen Muslim*innen und Angehörigen der Freikirchen noch eine weitere Nähe: Diese äußert sich in der unter ihren Mitgliedern stärker ausgeprägten Homophobie und einer erhöhten Gegnerschaft gegenüber Antidiskriminierungsmaßnahmen. Ein entspannter Umgang mit Homosexualität in der Gesellschaft ist für beide Gruppen – wohl wirklich aus religiöser Sicht – nicht so einfach. Dies gilt für Deutschland und die Schweiz (Tab. 7). Dabei stechen die Werte unter den Schweizer*innen Mitgliedern von Freikirchen hervor, von denen eine deutliche Mehrheit im Konflikt mit nicht-binären Geschlechteridentitäten stehen (82 %). In Deutschland sind dies unter den Muslim*innen die Hälfte der Befragten, unter den Freikirchen immerhin 41 %. Auch autoritäre Einstellungen sind in beiden Gruppen etwas stärker als in den Bevölkerungen verbreitet, wenn auch nicht mehrheitlich auftretend. Zwar sind die Mitglieder der Freikirchen bei den Haltungen zu anderen sozialen Gruppen ebenfalls etwas distanzierter, allerdings handelt es sich im Vergleich zur Homophobie, wo deutliche Differenzen gegenüber den Mitgliedern anderer Religionsgemeinschaften bestehen, um Nuancen.

In der vergleichenden Perspektive ähneln sich die Zustimmungsraten zu den Statements zu gruppenbezogenen Vorurteilen in Deutschland und der Schweiz in beachtlichem Umfang. Weder findet man Verschiebungen in Zustimmungs- oder Ablehnungsmehrheiten, noch finden sich massive Unterschiede in den strukturellen Zustimmungsraten – sieht man einmal von dem nach oben abweichenden Antwortverhalten der Angehörigen der Freikirchen in der Schweiz ab. Die Deckungsgleichheit ist verblüffend, hätte man doch aufgrund der unterschiedlichen historischen und religionspolitischen Entwicklungen stärkere Unterschiede zwischen den Ländern erwartet.

Diese strukturelle Ähnlichkeit wird mit Blick auf dogmatische oder fundamentalistische Einstellungen deutlich (Tab. 8). So unterscheiden sich religiöse Verständnisse, die als ein wesentlicher Bestandteil religiöser Identitäten anzusehen sind, zwischen den Religionsgemeinschaften stärker als zwischen den Ländern. Zwar ist die Zahl der Gläubigen mit exklusivistisch argumentierenden fundamentalistischen Haltungen in den meisten Untersuchungsgruppen recht niedrig, allerdings nicht unter Muslim*innen und Mitgliedern der Freikirchen. Dort erreichen sie bis zur Hälfte der Befragten – in der Schweiz unter Freikirchler*innen sogar Dreiviertel.Footnote 26 So sieht jede Zweite von ihnen die Regeln der eigenen Religion als wichtiger als die Verfassung an, immerhin jede Dritte in Deutschland äußert sich in gleicher Weise. Bemerkenswert: Unter den in dieser Hinsicht häufig unter Verdacht stehenden Muslim*innen stimmt der letzten Aussage nur jede*r vierte Muslim*in zu (vgl. ähnliche Ergebnisse bei Koopmans 2015, 2017, 2020). Fundamentalismus ist (nach eigenen Aussagen) durchaus verbreitet – und unter freikirchlich organisierten Christ*innen und Muslim*innen erheblich über den Mitgliedern des Katholizismus und des (Main-Stream‑)Protestantismus (Tab. 8). Auffällig sind die Deckungsgleichheiten in den Verteilungsmustern zwischen Deutschland und der Schweiz, die an einer Stelle sogar auf identische Zustimmungsraten kommen.

Tab. 8 Fundamentalismus in Deutschland und der Schweiz. (Quelle: KONID Survey 2019)

Neben der in den meisten Religionsgemeinschaften geringen Verteilung fundamentalistischer Einstellungen, ist die verschwindend geringe Präsenz, diese mit Gewalt durchzusetzen auffällig. Selbst unter den beiden religiösen Gruppen, die eine höhere Zahl von Mitgliedern mit fundamentalistischer oder dogmatischer Prägung aufweisen, ist der Hang zu deren gewaltsamer Durchsetzung gering. In der Schweiz ist er noch etwas seltener als in Deutschland. Große Ängste vor einer gewaltsamen „Islamisierung des Abendlandes“ oder einer christlichen Missionswelle sind also nicht angebracht. Gleichzeitig wird die Vermutung eines „religiösen Effektes“ auf Vorurteile bei Angehörigen der Freikirchen und Muslim*innen bestärkt. So dürfte der unter Mitgliedern dieser beiden Religionsgemeinschaften weiter verbreitete religiöse Dogmatismus Auswirkungen auf Haltungen zu Mitgliedern anderer Religionsgemeinschaften und insbesondere Geschlechteridentitäten besitzen. Dies deckt sich mit einer höheren subjektiven Religiosität in beiden Gruppen und einer selbst geäußerten höheren Bedeutung ihrer Religion für ihr Leben. Die bei Muslim*innen und Freikirchler*innen zum Zuge kommende Haltung ist dabei oft konservativ bis dogmatisch, exklusivistisch oder fundamentalistisch. Somit scheint die religiöse Identität, gerade, wenn sie durch ein eher dogmatisches Verständnis der eigenen Religion geprägt ist, eine Rolle für Vorurteile zu spielen (auch Liedhegener et al. 2019, S. 25–26).

5.2 Erklärungen von antimuslimischen Vorurteilen in Deutschland und der Schweiz

Aus den bisherigen Ausführungen wird deutlich, dass die obigen Tabellen der Deskription, die einen Zusammenhang zwischen gruppenbezogenen Vorurteilen und Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft erkennen lassen, hochgradig kontextualisierungsbedürftig sind. So verstecken sich hinter den einfachen Zusammenhängen unterschiedliche Verständnisse der eigenen Religiosität. Zudem ist es notwendig, einen potentiellen Effekt der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft in Relation zu anderen Erklärungsmustern für Vorurteile zu setzen. Hier zu nennen sind die in Abschn. 2 angesprochenen Aspekte, wie rechtsextremistische Einstellungen, gemessen über die Positionierung auf der ideologischen Links-rechts-Positionierung, das Gefühl sozialer Abwertung, eine durch eine Religion gefühlte Bedrohung (Integrated Threat Theory) (Stephan et al. 2000), autoritäre Einstellungen (Adorno 1973; Decker und Brähler 2018), relative Deprivation (Stouffer et al. 1949a, 1949b), Kontakte (Kontakthypothese) (Pettigrew 1998) und das Gefühl einer Benachteiligung der eigenen Gruppe in der Gesellschaft. Zusätzlich sind Bildungs- und Generationeneffekte zu berücksichtigen. Um dieser Erklärungsvielfalt gerecht zu werden, integrieren wir diese unterschiedlichen Erklärungsfaktoren in ein multivariates statistisches Erklärungsmodell. Dies tun wir für drei gruppenbezogene Vorurteile: Zum ersten zur Erklärung des primären Antisemitismus, zum zweiten zur Erklärung antimuslimischer Ressentiments und zum dritten zur Erklärung dreier weiterer Vorurteile, wie die Ablehnung von Antidiskriminierungsmaßnahmen, Homophobie und Antiziganismus. Ausgehend von unseren eingangs geäußerten Forschungsfragen vermuten wir in allen Fällen Effekte religiöser Identitäten.

Beginnen wir mit dem Effektmodell auf antimuslimische Vorurteile (Tab. 9 und 10). Das lineare OLS-Regressionsmodell erreicht eine hohe statistische Gesamterklärungskraft. Die von uns ins Modell einbezogenen Faktoren können scheinbar in beachtlichem Umfang Auskunft über das Zustandekommen von antimuslimischen Vorurteilen geben. Von herausragender Bedeutung ist – entlang der Integrated Threat Theory – die gefühlte Bedrohung durch „den Islam“ (Halliday 1999; Uenal 2016). Die Angst vor Islamismus hat scheinbar tiefgreifende Folgen in der deutschen wie Schweizer Bevölkerung hinterlassen (Hafez und Schmidt 2015; Helbling 2012; Pickel und Yendell 2016; Rapp 2014, S. 151–159; Yendell und Pickel 2020). Für viele ihrer Bürger*innen heißt Islam „Islamismus“ – und damit Gefahr. Somit ist die Deutung antimuslimischer Vorurteile als „Islamophobie“ teilweise nicht einmal so weit hergeholt, ohne ihre teils auch innewohnende rassistische und mit Ressentiments belastete Komponente herunterspielen zu wollen (Allen 2010; S. 123–138). Ebenfalls einen starken (unabhängigen) Einfluss besitzen autoritäre Einstellungen. Ganz im Sinne des Konzeptes des Autoritarismus (Adorno 1973; auch Decker und Türcke 2019) neigen Menschen mit autoritären Einstellungsmustern deutlich eher zu einer Abwertung von Muslim*innen. Die Effekte dieser beiden Indikatoren sind wesentlich stärker als die aller anderen Erklärungsfaktoren. Sie sind in dem multivariaten Modell so dominant, dass es lohnend erscheint zwei weitere Modell zu formulieren, in denen auf diese beiden Variablen verzichtet wird.Footnote 27 Auf diese Weise kann ermittelt werden, welche Erklärungskraft des Bedrohungsgefühls und der autoritären Einstellungen andere Erklärungen „aufsaugt“ – und welche eigenständig ist und bei Weglassen des Bedrohungsgefühls als erklärende Variable verloren geht. Die Modelle 2 und 3 zeigen dann auch einen Anstieg alternativer Einflussfaktoren. Gleichzeitig belegt die absinkende Gesamtgüte des Modells (R-Quadrat), dass die substantielle Erklärungskraft der beiden genannten unabhängigen Variablen eigenständig – und nicht „geliehen“ ist. Bedrohungsgefühle wie autoritäre Einstellungen entfalten eine eigenständige Dynamik hinsichtlich der Ausbildung von gruppenbezogenen Vorurteilen. Nimmt man den Gedanken auf, dass autoritäre Einstellungen weitgehend ein Produkt der Sozialisation ist, dann kann man über tiefer in der Persönlichkeit integrierte Ressentiments sprechen.

Tab. 9 Regression antimuslimische Vorurteile (Deutschland). (Quelle: Eigene Berechnungen auf der Basis des KONID Surveys 2019)
Tab. 10 Regression Antimuslimische Ressentiments (Schweiz). (Quelle: Eigene Berechnungen auf der Basis des KONID Surveys 2019)

Konsequenz für die Interpretation ist: Persönlichkeitsmerkmale, Angst und autoritäre Einstellungen prägen die Vorurteile und Ressentiments gegenüber Muslim*innen unter verschiedenen Erklärungsprädiktoren bei weitem am stärksten. Auch andere Faktoren entwickeln eine eigenständige Bedeutung für die Existenz antimuslimsicher Ressentiments. So erzielt in jedem der ausgeführten Modelle die Platzierung auf der Rechts-Links-Abfrage, also die politisch-ideologische Stellung, einen Effekt: Menschen, die sich eher als Rechts einstufen neigen signifikant stärker zu muslimfeindlichen Aussagen, wie in diesem Fall einem Zuwanderungstop für Muslim*innen. Dabei bestehen Überschneidungen zwischen einer rechten Orientierung und dem Hang zu Autoritarismus, nimmt doch bei Exklusion des Letzteren aus dem Modell, der Einfluss einer rechten politischen Orientierung zu. Das Gefühl eine Verlierer*in der Gesellschaft zu sein – soziale Deprivation – steigert, ganz im Sinne der Social Identity Theory, die Wahrscheinlichkeit Muslim*innen gegenüber Vorurteile zu besitzen. Gleiches gilt für eine ungünstige ökonomische Lage (in der Selbstwahrnehmung) und das Gefühl relativer Deprivation. Allein soziales Vertrauen (Sozialkapitalansatz), Kontakte zu Muslim*innen (Kontakthypothese), und (in der Schweiz in ausgesprochen geringem Umfang) eine gute persönliche wirtschaftliche Lage, wirken gruppenbezogenen Vorurteilen gegenüber Muslim*innen entgegen.Footnote 28

Wie sieht es nun mit den uns besonders interessierenden religiösen Faktoren und der religiösen Identität aus? Diese können, der Kontrolle aller weiteren Erklärungsmodelle zum Trotz, in allen Modellen in der Schweiz und in Deutschland eine eigenständige Wirkung erlangen. Das von uns als Marker der religiösen Identität präferierte religiöse Selbstbild erreicht zwar erst mit den Externalisierungen der gefühlten Bedrohung und des Autoritarismus einen Einfluss – und die subjektive Religiosität alleine erzeugt in keinem Modell einen signifikanten Zusammenhang. Allerdings fördern eine konservative religiöse Identität, biblizistischer Dogmatismus wie religiöser Fundamentalismus antimuslimische Vorurteile und Ressentiments. Dabei schaffen es sogar verschiedene der miteinander statistisch verwandten Indikatoren unabhängig voneinander antimuslimische Ressentiments zu steigern, was ihre Tragfähigkeit stützt. Bemerkenswert ist der gegenläufige Effekt des persönlichen Gottesbildes. Anders als gemeinschaftsbezogene Aspekte des Religiösen, welche in Deutschland keinen und in der Schweiz nur einen geringen eigenständigen Einfluss auf antimuslimische Ressentiments erzielen, wirkt ein persönlicher Gottesglaube in beiden Ländern signifikant vorurteilshemmend. Gottesgläubige Deutsche und Schweizer*innen, die keine Fundamentalist*innen oder Dogmatiker*innen sind, neigen zu geringeren antimuslimischen Vorurteilen. Die religiöse Identität und Religiosität besitzt somit variierende und vielfältige Effekte, was die Annahme einer generellen Integrationsproblematik von Muslim*innen in christliche Gesellschaften in Frage stellt (Adida et al. 2016; Koopmans 2020). Vielmehr scheint Religiosität positiv zu wirken, ist sie einem dogmatischem Verständnis beraubt. Dies bestätigen auch Ergebnisse von Yendell und Huber (2019, S. 10), in denen ein positiver Effekt der Religiosität negativen Effekten von religiösem Fundamentalismus gegenübersteht.

Wie sieht es mit den Unterschieden zwischen Deutschland und der Schweiz aus? Sie sind in den Modellen wiederum gering bis kaum vorhanden. Erneut gleichen sich die Strukturen der Erklärungsmuster – mit Nuancen von Abweichungen – für antimuslimische Ressentiments. Zwar ist die wirtschaftliche Komponente wie die relative Deprivation oder das Gefühl fehlender Anerkennung in Deutschland erklärungstechnisch etwas zugkräftiger als in der Schweiz (bemessen an den beta-Koeffizienten). Dominantes Ergebnis der Regressionsanalysen bleibt die Ähnlichkeit der Struktur der Erklärungsmodelle, die Dominanz von Persönlichkeitsmerkmalen – und die eigenständige Relevanz religiöser Identitäten in all ihren Differenzen.

5.3 Erklärungen von antisemitischen Ressentiments in Deutschland und der Schweiz

Betrachten wir nun in der Folge wie es mit dem Antisemitismus aussieht? Und wiederum bekommen wir ein sehr ähnliches Bild. Eine Einschätzung der (hier jüdischen) Religion als Bedrohung, autoritäre Einstellungen und eine rechte politische Ideologie verstärken die Wahrscheinlichkeit antisemitischer Ressentiments. Die Muster sehen an vielen Stellen fast deckungsgleich zum Muster der Erklärungsfaktoren für antimuslimische Vorurteile aus (siehe Tab. 9 und 10). Wirkungen aus dem Bereich der politischen Einstellungen und wahrgenommene Deprivation steigern den Antisemitismus auf der Einstellungsebene. Besitzt man das Gefühl, keinen Einfluss auf das zu haben, was Politiker*innen und Parteien tun, dann setzt sich dies in Abwehr, Ablehnung und Abwertung auch von Jüd*innen um (Tab. 11 und 12). Diese gefühlte Einflusslosigkeit wird nur begrenzt, zumindest aber signifikant nachweisbar, durch Gefühle der eigenen Abwertung sowie gefühlter relativer Deprivation ergänzt.

Tab. 11 Regression antisemitische Ressentiments (Deutschland). (Quelle: Eigene Berechnungen auf der Basis des KONID Surveys 2019)
Tab. 12 Regression Antisemitische Ressentiments (Schweiz). (Quelle: Eigene Berechnungen auf der Basis des KONID Surveys 2019)

Aus unserer Sicht wichtig: Selbst bei Kontrolle aller Erklärungsfaktoren zeitigen religiöse Überzeugungen – oder die jeweiligen religiösen Identitäten – auch bei antisemitischen Ressentiments eine eigenständige Wirkung. So befördert religiöser Dogmatismus, sei es bei Christ*innen oder Muslim*innen, antisemitische Einstellungen und Antisemitismus. Das gleiche Wirkungsmuster gilt für biblizistischen Fundamentalismus. Eine dogmatische bis fundamentalistische religiöse Haltung stützt antisemitische Ressentiments. Es bestätigt sich aber auch die Relevanz einer Unterscheidung unterschiedlicher religiöser Identitäten. Wie schon bei den antimuslimischen Vorurteilen wirken gruppenbezogene Effekte, wie der Gottesdienstbesuch, und ein persönlicher Gottesglauben Antisemitismus entgegen. Dabei entfaltet die öffentliche Praxis einen stärkeren Effekt als der persönliche Gottesglaube. In der Schweiz fallen die Wirkungen im Durchschnitt ein wenig schwächer als in Deutschland aus, die Erklärungsstruktur ist allerdings faktisch in beiden Ländern deckungsgleich.

Nur eine geringe Relevanz besitzen Kontakte zu Menschen anderer Religion. Diese sind aufgrund der geringen Zahl an Jüd*innen in Deutschland und der Schweiz auch eher selten. Damit fallen aber diese positiven Kontakteffekte als Korrektor gruppenbezogener Vorurteile weitgehend aus und die Meinungsbildung erfolgt über alternative Kanäle. Im KONID Survey 2019 nicht vertieft abgefragte Verschwörungstheorien (vgl. Decker und Brähler 2018, S. 123) könnten an dieser Stelle greifen und die gruppenbezogenen Vorurteile und Ressentiments zusätzlich bestärken. Eingedenk der beachtlichen Erklärungsverluste zwischen den drei Modellen, muss davon ausgegangen werden, dass sowohl die vermutlich verschwörungstheoretisch angereicherte Bedrohungswahrnehmung wie autoritäre Persönlichkeitsmerkmale die entscheidenden Treiber für antisemitische Einstellungen sind (Jonas und Fritsche 2013). Zudem dürfte die Relevanz eines Bedrohungsgefühls gegenüber Jüd*innen eine andere Form als die gegenüber Muslim*innen besitzen. Werden Muslim*innen von nicht wenigen Menschen als bedrohlich aufgrund einer echten Angst eingestuft (z. B. aufgrund ihrer Mediendarstellung), dürfte es sich beim antisemitischen Einstellungen oft um Rationalisierungen der eigenen Ablehnung von Jüd*innen handeln. Spezifische religiöse Identitäten (konservativ, dogmatisch, biblizistisch, fundamentalistisch) erhöhen die Neigung zu antisemitischen Einstellungen. Da liegt es nicht fern, auch ältere antijudaistische Vorstellungen zu vermuten.

5.4 Wirkungen von Religiosität auf andere Vorurteile in Deutschland und der Schweiz

Stellt sich die Frage, ob religiöse Identitäten auch andere gruppenbezogene Vorurteile beeinflussen. Hierzu wurden drei Regressionsanalysen (auf Homophobie, Ablehnung von Gleichstellungsmaßnahmen sowie Antiziganismus) vorgenommen – allerdings ohne Umsetzung mehrerer Modellvarianten. Während die Erklärungskraft für homophobe Vorurteile sowie Antiziganismus beachtlich ausfallen – und in etwa an die Erklärungskraft für antisemitische und antimuslimische Ressentiments heranreichen, fällt diese für die Ablehnung von Gleichstellungsmaßnahmen deutlich ab. Die Ablehnung von Gleichstellung, welche im vorliegenden Wortlaut Aspekte einer Transphobie in sich trägt, ist mit den in den Modellen verwendeten Variablen nur unzureichend zu erklären (sichtbar über die geringe Erklärungskraft des Gesamtmodells, R‑Quadrat). Dies drückt sich analog in der schwierigen Identifizierbarkeit des relational stärksten Erklärungsfaktors in diesem Modell aus. Es ist nicht abschätzbar, ob die schwache Erklärungskraft ein Effekt der Frageformulierung, die Nichtberücksichtigung wirklich funktionierender Erklärungsvariablen oder ein Resultat von Unklarheiten in der inhaltlichen Einschätzung von weitreichenden Gleichstellungsmaßnahmen durch die Bevölkerungen ist. In der Grundstruktur gruppieren sich die Erklärungsfaktoren wieder mit einer Dominanz der autoritären Einstellungen. Religiöse Identitäten scheinen hier nur nachrangig bedeutsam.

Deutlicher als für die Gleichstellungsmaßnahmen sind die Befunde für Antiziganismus und Homophobie. Gerade für die Abwertung zu Homosexualität (und vermutlich auch Transsexualität) erweisen sich religiöse Identitäten und religiöse Vorstellungen als bedeutend. Religiöser Fundamentalismus steigert die Einschätzung, dass sexuelle Beziehungen zwischen zwei Personen des gleichen Geschlechtes unnatürlich seien, in beachtlichem Umfang. In der Schweiz übertrifft der Einfluss religiös-fundamentalistischer Einstellungen sogar den bislang immer – und in Deutschland weiterhin – dominanten Effekt autoritärer Einstellungen. Letztere erweisen sich als starke Triebkraft für Homophobie. Gleiches gilt für den Antiziganismus. Der Homophobie-befördernden Wirkung einer fundamentalistisch geprägten religiösen Identität sowie einer biblizistischen Haltung steht ein moderierender Einfluss einer liberal-religiösen Identität entgegen. Anders gesagt: Religiöse Menschen und Kirchenmitglieder, welche nicht die eigene Religion als die exklusive Wahrheit verkündende ansehen, die für die historisch-kritische Bibelexegese offen sind und sich selbst als religiös eher liberaler einstufen, sind in der Bevölkerung unterdurchschnittlich homophob, während eine fundamentalistische religiöse Identität Homophobie stark steigert. Es kommt damit auf die inhaltliche Ausrichtung der religiösen Identität an, welche ihre Existenz als bedeutsam voraussetzt (Tab. 13 und 14). Geschlechtsidentitäten und Vorurteile ihnen gegenüber sind unseren Ergebnissen zufolge ein zentraler Scheidepunkt für unterschiedliche religiöse Identitäten.

Tab. 13 Regression auf gruppenbezogene Vorurteile im Vergleich (Deutschland). (Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis des KONID Surveys 2019)
Tab. 14 Regression auf gruppenbezogene Vorurteile im Vergleich (Schweiz). (Quelle: Eigene Berechnungen auf der Basis des KONID Surveys 2019)

Die einfache Annahme, dass Mitglieder von Religionsgemeinschaften mehr Vorurteile als andere Gruppen in der Bevölkerung besitzen, ist angesichts dieser Ergebnisse nicht haltbar. Insbesondere bei der Homophobie zeigt sich eine Differenzierung, wenn nicht gar Polarisierung zwischen Menschen mit unterschiedlichen religiösen Identitäten. Es sind nicht allein säkulare Personen, welche gegen vorurteilsbehaftete religiöse Menschen stehen, es sind noch viel stärker liberale und nicht-fundamentalistische Gläubige, die fundamentalistisch denkenden Gläubigen entgegenstehen. Gerade die Haltung zu nicht-binären Geschlechteridentitäten stellt einen Scheidefaktor für Menschen mit unterschiedlicher religiöser Identität dar. Hier findet sich zum wiederholten Male in unseren Berechnungen ein vorurteilsreduzierender Effekt des Kirchgangs. Es gibt allerdings eine Ausnahme: In der Schweiz steigert der Kirchgang die Homophobie merklich.

Eine fundamentalistische und eine autoritäre Einstellung sind auch für die Haltung gegenüber Sinti und Roma – also Antiziganismus – ungünstig.Footnote 29 Dies deckt sich mit Überlegungen, welche den Antiziganismus als tief liegende ideologische Abwertung, also ein Ressentiment, erachten (End 2014, S. 88). Hinzu tritt die Wahrnehmung von Personen mit Vorurteilsbelastung, selbst gegenüber anderen in der Gesellschaft benachteiligt zu sein. Diese Einschätzungen – nicht soziale Positionen selbst – befördern Antiziganismus genauso, wie eine rechte politisch-ideologische Einstellung. Hierbei handelt es sich um ein Muster, welches in der Schweiz sogar noch deutlicher zum Tragen kommt als in Deutschland. Generell sind die Strukturen in der Schweiz und in Deutschland wieder sehr ähnlich. Auffällig ist, dass beim Antiziganismus – ein Vorurteil, welches man auf den ersten Blick nur begrenzt mit Religiosität und religiöser Identität in Bezug gebracht hätte – die religiöse Identität eine Bedeutung besitzt. Während der Glaube an einen persönlichen Gott, der Gottesdienstbesuch und besonders ein liberales Verständnis von Religion entsprechende Einstellungen reduziert, werden sie durch eine fundamentalistisch-exklusivistische Religionsvorstellung befördert.

6 Exkurs: Politisch-kulturelle Wirkungen von Vorurteilen gegen religiöse Gruppen

Mit Blick auf den kontextuellen Zusammenhang von Vorurteilen und Ressentiments stellt sich die nicht unrelevante (Neben)Frage, welche Wirkungen diese Vorurteile auf der Ebene der politischen Kultur oder für die Demokratie besitzen. Diesem Pfad können wir im vorliegenden Beitrag nicht in Tiefe nachgehen, gleichzeitig scheint uns zumindest ein Hinweis auf die Relevanz von Vorurteilen gegenüber religiösen Gemeinschaften angebracht. Zu diesem Zweck korrelieren wir die beiden für unseren Artikel wichtigsten Ressentiments gegenüber religiösen Gruppen mit Indikatoren für eine demokratische politische Kultur, oder civic culture (Almond und Verba 1963). Neben Fragen nach der Legitimität der Demokratie, werden die Zufriedenheit mit der aktuellen Demokratie, ein Indikator, der in der politischen Kulturforschung als Indikator für Systemzufriedenheit verwendet wird (Pickel und Pickel 2006, 2020; Lipset 1981), sowie die Befürwortung einer Diktatur, ein Item aus der Populismusmessung und das Messinstrument Chauvinismus zur Erweiterung der Perspektive herangezogen.Footnote 30 Die Ergebnisse sind eindeutig: Mit Muslimfeindlichkeit und Einstellungsantisemitismus geht in Deutschland eine schlechtere Einschätzung des politischen Systems und der Demokratie einher (Tab. 15). Am höchsten ist die Korrelation zwischen den beiden Ressentiments und der Befürwortung einer Diktatur. Bei der Stärke der Korrelation ist es nicht überraschend, dass gerade antisemitische Einstellungen seit längerer Zeit als eine Dimension von Rechtsextremismus verwendet wird (Decker und Brähler 2018a, S. 72–76). Passenderweise besteht auch ein hochsignifikanter Zusammenhang zwischen nationalem Chauvinismus und antisemitischen wie antimuslimischen Ressentiments.Footnote 31

Tab. 15 Vorurteile und politische Kultur in Deutschland und der Schweiz (bivariate Korrelationen). (Quelle: Pearsons R‑Korrelationen)

Die beachtlichen Individualkorrelationen belegen die antidemokratische Relevanz dieser Vorurteile. In der Schweiz finden wir strukturell ähnliche Ergebnisse, nur fallen die Zusammenhänge im Durchschnitt niedriger aus (Tab. 16). Vorurteile wirken sich in der Schweiz in begrenzterer Form auf die Legitimität der Demokratie und die Haltung zu ihrer Gegenwartsform aus. Ein Grund dürften die in der Schweiz hohen Zustimmungsraten zur Demokratie, als Regierungsform oder in ihrer existierenden Form sein. Dort besteht scheinbar eine größere Resistenz gegen antidemokratische Einstellungen. Eine demokratische politische Kultur und Vorurteile gegenüber einzelnen sozialen Gruppen sind für viele Schweizer*innen relativ problemlos vereinbar. In Deutschland ist die Verbindung zwischen demokratischen Einstellungen und Vorurteilen stärker. Dies soll nicht heißen, Vorurteile und antidemokratische Haltungen seien völlig voneinander geschieden – auch in der Schweiz finden sich entsprechende Bezüge. Speziell ein nationalistischer Chauvinismus verbindet sich in der Schweiz eng mit der Abwertung von Muslim*innen und Jüd*innen. Hier, wie in Deutschland, besteht die im Vergleich stärkste Individualkorrelation unter den untersuchten Beziehungen.

Tab. 16 Indikatoren zu politischer Kultur in Deutschland und der Schweiz. (Quelle: KONID-Datensatz D und CH 2019)

Zusammengefasst heißt dies: Vorurteile sind in Deutschland bedeutsamer für die Ausprägung einer demokratischen politischen Kultur als in der Schweiz. In beiden Gebieten sind die antidemokratischen Effekte nicht zu leugnen. Nimmt man die Werte ernst, dann sind Vorurteile sogar weit stärker gegen die Demokratie an sich, als nur gegen eine gegenwärtige Ausprägung oder Regierung gerichtet. Sie können damit nicht als einfache divergierende Meinungen in einer Gesellschaft angesehen werden, sondern reichen tiefer und reflektieren bei vielen der Vorurteilsträger*innen eine grundlegende Ablehnung von Demokratie und speziell dem ihr innewohnenden Pluralismus.Footnote 32 Vorurteile oder Ressentiments gegenüber religiösen Gemeinschaften und ihren Mitgliedern spielen eine Rolle. Speziell die Verbindung von Geflüchteten, Fremden und Muslim*innen führt zu sozialer Distanz und zu Vorurteilen (Pickel und Pickel 2018). Antisemitismus ist weder in Deutschland, noch in der Schweiz ausgestorben – auch wenn er keine Mehrheitsmeinung darstellt.

7 Fazit – Religiöse Identitäten sind bedeutsam, unter anderen Einflussfaktoren

Unsere Analysen zu gruppenbezogenen Vorurteilen und religiöse Identitäten zeigen im deutsch-schweizer Vergleich sowohl Differenzen als auch Ähnlichkeiten. Dabei überwiegen die strukturellen Ähnlichkeiten, welche auf die Existenz grundlegender Problemlagen hindeuten, welche dann kontextuell nur leicht variieren. Spezifische gruppenbezogenen Vorurteile sind in Deutschland wie der Schweiz nur bei einer Minderheit der Bürger*innen aufzufinden, allerdings teilweise bei beachtlichen Minderheiten. Nimmt man sie zusammen, dann weisen zwei Drittel der Schweizer*innen und zwei Drittel der Deutschen zumindest ein Vorurteil auf. Muslimfeindlichkeit und Antisemitismus sind – entgegen unserer Erwartungen – zumindest in der vorliegenden Messung nicht die Vorurteile mit den höchsten Zustimmungsgraden. Dies steht Annahme 7 entgegen. Eher rücken vehemente Ablehnungen von Gleichstellung und generelle fremdenfeindliche Effekte in den Vordergrund. Die Abwertungen unterschiedlicher sozialer Gruppen verbinden sich bei den Träger*innen der Vorurteile. Allerdings handelt es sich nur bedingt um ein generelles Syndrom sozialer Ungleichwertigkeit, wie es etwa das Konzept der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit aufschlüsselt (Annahme 2). Es existieren unterhalb der generellen Ablehnung statistisch zu identifizierende Subdimensionen, welche Abwertungen aufgrund von Fremdheit und kultureller Distanz von Abwertungen aufgrund moderner Geschlechtsidentitäten unterscheiden. Insgesamt wird keine soziale Gruppe mehrheitlich abgelehnt und abgewertet – weder in Deutschland noch in der Schweiz. Dies darf einen nur begrenzt beruhigen, berücksichtigt man, dass die Diskriminierungserfahrungen in den Fokusgruppen der Vorurteile stärker ausfallen als die Vorurteilsmessungen sie darstellen.Footnote 33

Effekte von Religionszugehörigkeit und „Frömmigkeitsstilen“ besitzen – auch in Relation zu anderen Einflussfaktoren – einen wesentlichen Einfluss auf Vorurteile. Zwar findet sich (wie in anderen Studien) kein belastbarer Effekt von Religionszugehörigkeit auf gruppenbezogene Vorurteile (Annahme 5, dass mit der Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft die Bereitschaft, Vorurteile gegenüber anderen Gruppen zu hegen, steigt, wird also widerlegt), allerdings sind solche Einflüsse undifferenziert und zu pauschal in der Annahme. Dies ist auch ein Grund, warum einfache Berechnungen zwischen Religionszugehörigkeit und Vorurteilen bislang zumeist kaum brauchbare Ergebnisse erbrachten. Religiöse Effekte tarieren sich in der Gesamtheit der Gruppe wechselseitig aus. Analysiert man detailgenauer, so besitzen religiös-dogmatische und eine religiös-liberale Einstellung eine in die jeweils entgegengesetzte Richtung wirkende Bedeutung für gruppenbezogene Vorurteile. Dies trifft für alle Vorurteile zu. Das religiöse Selbstverständnis und die religiöse Identität des Einzelnen lenkt, neben weiteren Faktoren, die individuelle Haltung zu anderen sozialen Gruppen. Religiöser Dogmatismus, Fundamentalismus oder Biblizismus steigern Vorurteile, während eine liberale religiöse Identität Vorurteilen entgegenwirkt (Annahme 7). Die Wirkung des persönlichen Gottesglaubens bestätigt, im austarierten multivariaten Modell, Annahme 10: Subjektive Religiosität wirkt als Puffer gegen Vorurteile, isoliert man die Dogmatiker*innen und Fundamentalist*innen. Dabei ist ebenfalls bedeutsam: Die Effekte der religiösen Identität bleiben bei Hinzunahme anderer Erklärungsfaktoren signifikant. Die religiöse Identität einer Person oder einer Gruppe besitzt eine eigenständige Auswirkungen auf Vorurteile und Ressentiments, die auch beim Einbezug hochrelevanter Kontrollfaktoren erhalten bleibt.

Die religiösen Effekte treten allerdings in allen Modellen hinter das Gefühl der Bedrohung durch die jeweilige Religion und grundsätzliche autoritäre Einstellungen zurück. Beide Indikatoren besitzen fast durchweg, sei es in Deutschland, sei es in der Schweiz, den stärksten Einfluss auf die untersuchten Vorurteile. Sieht man in Menschen einer anderen Religionsgemeinschaft eine Bedrohung, dann erhöht sich die Ablehnung dieser Gruppe und führt mittelfristig häufig zu deren sozialer Abwertung und zu Vorurteilen. Dieses Ergebnis passt in das Argumentationsmuster der Integrated Threat Theory (Annahme 1). Die Relevanz von Persönlichkeitsmerkmalen entspricht dagegen gut der Vorstellung, dass Ablehnungs- und Abwertungshaltungen aus der sozialen Identität des „Wir“ heraus resultieren. Die Internalisierung autoritärerer Einstellungen bestärkt diese Abwertungshaltungen (Annahme 3). Dem wirken nur soziale Kontakte sowie die Existenz eines Sozialvertrauen, welches ja wieder auf engere und wiederholte soziale Kontakte zurückgreift, entgegen. Diese Verhaltens- und Kontextelemente sind voraussetzungsvoll, was sich nicht zuletzt in ihren relativ zurückhaltenden statistischen Einflüssen auf die Vorurteile ausdrückt: Zwar helfen Sozialkapital und Kontakte gegen eine Ausbreitung von Vorurteilen, doch ist dies ein „mühsames Geschäft“ (Annahme 8 und Annahme 9). Aspekte der relativen Deprivation oder gefühlter fehlender sozialer Anerkennung besitzen in Deutschland einen stärkeren Effekt auf antimuslimische Ressentiments, in der Schweiz sind sie eher nachgeordnet – und bei einigen anderen Vorurteilen in beiden Untersuchungsgebieten ebenfalls (Annahme 4). Da erweist sich die jeweilige religiöse Identität als tragkräftiger für die Erklärung.

Kommen wir zurück zur Ausgangsfrage unseres Aufsatzes: Finden sich Wechselbeziehungen zwischen religiösen Identitäten und gruppenbezogenen Vorurteilen? Diese kann man nur mit einem starken Ja beantworten. Anders, als in unseren Thesen angenommen, sind Mitglieder von Religionsgemeinschaften zwar Ziel gruppenbezogener Vorurteile, aber durchaus nicht das Hauptziel. Sie eignen sich gut für Abwertungsprozesse und politische Mobilisierung, gerade auf der rechten Seite des politischen Spektrums. Andere soziale Gruppen sind oft sogar stärker Ziel von gruppenbezogenen Vorurteilen. Gleichzeitig sind Diskreditierung und Diskriminierung von Muslim*innen und Jüd*innen weit verbreitet – und stehen mit antidemokratischen Haltungen in Zusammenhang. Auch als unabhängige Variable ist Religion relevant: Spezifische religiöse Identitäten (dogmatische, biblizistische, fundamentalistische, und konservative) fördern gruppenbezogene Vorurteile, während andere religiöse Identitätskonfigurationen (offene und liberale) diesen Vorurteilen entgegenstehen. Es ist also weder die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft an sich, noch eine einheitliche Religiosität, welche Vorurteile hemmt oder befördert, sondern es sind spezifische religiöse Identitäten.

Ach hinsichtlich des Kontextes können wir Aussagen treffen. Bei den Ergebnissen handelt es sich nur begrenzt um lokale oder regionale Phänomene. Wie unsere Vergleichsanalysen in Deutschland und der Schweiz zeigen, existieren strukturelle, übergreifende Zusammenhänge, bei verschiedenen Nuancen eines regionalen Flairs. Die Ergebnisse besitzen Relevanz für die Zukunft des Religiösen in Deutschland und in der Schweiz. Die Mitglieder der Volkskirchen unterscheiden sich von den Angehörigen der Freikirchen und muslimischer Glaubensgemeinschaften. Der Blick auf die religiöse Gemeinschaft ist nur der erste Schritt bei der Berücksichtigung religiöser Gemeinschaften und ihrer Identitäten. Geht man davon aus, dass sich in beiden Ländern aufgrund der Kondensierungsprozesse der Säkularisierung der Anteil der konservativen, dogmatischen und biblizistischen Christen in Relation erhöht (und sich analog der Anteil der liberalen Christen reduziert), wird zukünftig der Effekt von christlicher Religionszugehörigkeit auf Vorurteile wohl eher steigen als fallen.