Das Material der vorliegenden Untersuchung dokumentiert, dass die alltäglich erfahrenen kleinen und großen stereotypisierenden Fremdidentifizierungen bei Musliminnen zu einer Verunsicherung und einem Reflexiv-Werden der eigenen Handlungen im öffentlichen Raum führen. Zudem werden sie als schmerzlich erlebt und erzeugen Ohnmachtsgefühle, was sich auch daran zeigt, dass sich immer dann der Ton der Gespräche verändert, wenn die Interviewten auf den medialen bzw. gesellschaftlichen Diskurs über den Islam zu sprechen kommen, insbesondere aber wenn es um die Verknüpfung des Islam mit Terror und Gewalt geht. Sie erleben ihre gesellschaftliche Position als äußerst prekär. Die Darstellungen werden emotionaler, aufgeregter, Gefühle wie Ärger, Traurigkeit und Frust brechen sich Bahn, aber auch existenzielle Zukunftsängste angesichts der von ihnen beobachteten wachsenden gesellschaftlichen Islamophobie werden deutlich, etwa wenn Johanna sagt: „also natürlich ich ich versuche immer positiv zu denken aber .. keine Ahnung, ich mache mir schon Gedanken. So werde ich einen Job finden später/?:Ja./.. werde ich überhaupt noch .. ähm .. auf die Straße gehen können.“ (GD Teil 2, Z 1083–1087). Gleichzeitig haben die Musliminnen verschiedene Strategien entwickelt, der permanenten Erfahrung von stigmatisierenden Fremd(heits)zuschreibung und den Diskreditierungen zu begegnen bzw. diese umzudeuten und zu entkräften. Es lassen sich idealtypisch zwei systematisch zu unterscheidende Umgangsweisen identifizieren, die wir im Folgenden detaillierter darstellen: 1) Strategien, die als Formen der Selbstermächtigung beschrieben werden können und das Potenzial haben, die erfahrenen Diskreditierungen zu brechen bzw. abzuwehren und 2) eher defensive Formen des Umgangs mit den Fremdidentifizierungen und Diskriminierungen, die zu einer Identifikation mit der Opferrolle, Rückzug und auch auf Seiten der Muslima zu Polarisierungen tendieren.
Strategien der Selbstermächtigung
Verschiedene, im Material herausgearbeitete Formen des Umgangs mit den erlebten Fremdheitszuschreibungen und Diskreditierungen können als Strategien der Selbstermächtigung beschrieben werden, als Wege, mit Alltagsrassismus und einem islamophoben Diskurs umzugehen, die davor bewahren, eine Opferidentität auszubilden bzw. sich auf diese Rolle festzuschreiben. Das geschilderte Beispiel von Johannas Reaktion auf die Anfeindungen im Bus steht hierfür exemplarisch, ist aber insofern gleichsam spezifisch, als darin in direkter Interaktion ein konkretes Gegenüber adressiert werden kann. Viele der im Material beobachtbaren Selbstermächtigungsstrategien adressieren über konkrete Situationen hinaus allgemeiner den islamophoben medialen und gesellschaftlichen Diskurs mit seinen stigmatisierenden Zuschreibungen. Im Folgenden werden anhand besonders markanter Interviewauszüge ausgewählte Strategien, die sich im Material an verschiedenen Stellen rekonstruieren lassen, vorgestellt.
Ironische Brechung der Zuschreibungen
Eine Strategie, die schmerzhaften Zurechnungen abzuwehren und sich von ihnen nicht vereinnahmen zu lassen, bietet die humorvolle Übersteigerung und Aneignung der diskreditierenden Zuschreibungen, wie sie exemplarisch in nachstehender Sequenz aus der Gruppendiskussion zum Ausdruck kommt. Luisa ist gerade dabei, die Bedeutung sozialer Medien für ihren Alltag zu beschreiben, als mehrere Polizisten im Umfeld der Bäckerei erscheinen, in der das Gespräch stattfindet:
Parallel zu Luisas Darstellung kommentiert Aydan das erhöhte Polizeiaufkommen. Die von ihr aufgeworfene Frage nach der Ursache wird zunächst sachlich von Johanna beantwortet und auf Aydans Nachfrage hin nochmals von Luisa bestätigt. Das Thema scheint abgeschlossen, die Frage geklärt. Doch Johanna greift die Frage nochmals auf und bringt eine alternative Deutung in Spiel, wohlwissend, dass sie und ihre Freundinnen als Gruppe mit ihren weiten langen Kleidern und dem eher streng getragenen Kopftuch in der Bäckerei bzw. im Stadtbild optisch durchaus herausstechen. Johannas Kommentar wird von allen intuitiv als Scherz interpretiert. Ganz offenkundig wird hier ein geteilter Erfahrungshintergrund angesprochen, nämlich im Alltag von Fremden als Bedrohung oder Gefahr wahrgenommen und als Muslimas mit Terror und Gewalt in Verbindung gebracht zu werden. Im Wissen darum, dass das Polizeiaufkommen offenkundig anders begründet ist und die Terrorismuszuschreibung absurd ist, kokettieren sie spielerisch mit diesen Zuschreibungen und eignen sie sich auf diese Weise an. Es bleibt jedoch nicht beim Scherz an sich, sondern dieser wird – möglicherweise auch auf die Gegenwart der Interviewerin und ihre starke Reaktion auf das Gesagte reagierend – als solcher metakommunikativ kenntlich gemacht und legitimiert als Bewältigungsstrategie der stigmatisierenden Fremdzuschreibungen („Man muss das ja auch mit Humor nehmen /Johanna: Ja muss./“).
Es folgt die Schilderung einer weiteren Situation, in der der Terrorismusverdacht ad absurdum geführt wird, deren Abschluss wieder eine metakommunikative Einordnung der Handlung als ironische Brechung bildet, die im Dienste der Bewältigung von ungerechtfertigten Diskreditierungen steht. Nicht zufällig wird eine Geschichte erzählt, in der ein befreundeter junger Mann, der explizit kein Moslem ist, dem dies aufgrund seines Bartes und in Gesellschaft von sich bedeckenden Muslimas aber möglicherweise durchaus zugeschrieben wird, die stereotypen Fremdidentifizierungen durch Überhöhung ironisch bricht. Das Beispiel führt deutlich vor Augen, wie grotesk die Terrorismusunterstellung ist, insbesondere, wenn sie rein auf äußeren Merkmalen gründet, die keinerlei Aufschluss über innere Orientierungen erlauben. Der scherzhafte Umgang mit diesen Fremdidentifizierungen stellt eine Strategie dar, Deutungshoheit zurückzuerlangen und aktiv handelndes Subjekt zu bleiben. Gleichzeitig bleibt eine Ambivalenz erkennbar: So sind die Schilderungen zwar allesamt lachend vorgetragen und von allgemeinem Gelächter gerahmt, Formulierungen wie „@?Verhaltet euch ganz normal“, Johannas „@woah@“ als Emil sie scherzhaft als Terroristenbraut vereinnahmt oder auch Aydans „@Bitte net.@“ lassen allerdings durchaus Unsicherheit und Unbehagen erkennen – ganz so, als hätten sie Sorge, ihre scherzhafte Aneignung der Terrorismusverdachtszuschreibung könnte von Außenstehenden nicht als Scherz, sondern als Bestätigung des Verdachts aufgefasst werden.
Offensive Demonstration von Normalität
Die eigene Lebenspraxis ist durch den islamophoben Diskurs der Mehrheitsgesellschaft reflexiv geworden. Alltagspraktisch bedeutet dies, dass die Interviewten sich nicht mehr authentisch im öffentlichen Raum bewegen, sondern stets ihre Wirkung auf ihre Umwelt mitdenken und versuchen, keinen Verdacht zu erwecken. Auch hierzu eine Sequenz aus der Gruppendiskussion:
Bei alltäglichen Handlungen werden immer schon die Fremdzuschreibungen von islamistischer Gefahr und Bedrohung antizipiert und die eigenen Handlungen in einer Logik des Vorauseilens/Zuvorkommens darauf abgestimmt. Es geht schon auf der Ebene der (Körper‑)Sprache um die Demonstration von Normalität und Ungefährlichkeit, darum, möglichst wenig Verdacht zu erregen und nicht als fremd und bedrohlich wahrgenommen zu werden. Freundlichkeit auszustrahlen und die Sprache der Mehrheitsgesellschaft zu sprechen, werden hierfür zu zentralen Markern erklärt. Die interaktive Dichte der Sequenz, das gegenseitige vervollständigen der Sätze und die Bestätigungen verweisen darauf, dass hier eine zentrale Erfahrung der jungen Frauen zum Ausdruck gebracht wird, die ihnen aber gleichzeitig in ihrer Strukturlogik paradox erscheint: Obschon sie wissen, dass die Angst der anderen und ihre Zuschreibungen unbegründet sind, werden sie handlungsleitend. Es genügt nicht, sich einfach „normal“ zu verhalten, sondern Normalität ist etwas, dass betont bzw. demonstriert werden muss.
Eine andere Variante im Umgang mit der Reflexivierung muslimischer Lebenspraxis ist die offensive, selbstbewusste Inanspruchnahme der Religionsfreiheit im Zusammenhang mit einer Zurückweisung einer muslimischen Opferrolle bzw. der Entdramatisierung struktureller Diskriminierungen von Muslimen/innen in Deutschland. Als Yeliz über ihre religiöse Praxis spricht und darüber, wie sie diese in den Alltag integriert, wird ihre Position deutlich, die sie in Abgrenzung zur Haltung anderer Muslimas präsentiert:
Es gibt Leute zum Beispiel, die sagen „Ich trag das Kopftuch, ich werde zwar jetzt studieren, aber danach nicht arbeiten“. Und damit komme ich nicht klar, weil ich mir denke, es gibt für alles eine Lösung und es wird vielleicht schwer sein in Zukunft einen guten Job zu finden, aber es ist nicht unmöglich und ich werde vielleicht irgendwann Leuten begegnen, die das ehm und denen es eh egal ist. (I: Hmhm) Also ähm ich bin da einfach etwas offener sage ich mal. (I: Hmhm) Ich ziehe mich da nicht zurück, (I: Hmhm) weil also wenn ich jetzt zum Beispiel auch nachfrage, ob ich irgendwo beten kann, dann frage ich einfach direkt und eh frage nicht „Hey, kann ich kurz irgendwo hin“, weil ehm für mich ist das was Selbstverständliches, dass es erlaubt sein sollte, eh so frei zu handeln (BI Yeliz, Z. 198–207)
Ihre Darstellung weist eine ähnlich paradoxe Struktur auf, wie die Schilderung der Gruppendiskussionsteilnehmerinnen: Die Selbstverständlichkeit, die Yeliz hier für die Ausübung ihrer Religionspraxis in Anspruch nimmt, ist gerade nicht selbstverständlich, sondern Programm. Auch Yeliz’ Überlegungen zeigen, dass gesellschaftliche Islamdiskurse – hier in Kombination mit einem innermuslimischen Opferdiskurs – die Lebenspraxis von Menschen, die sich zum Islam bekennen, reflexiv werden lassen. Allerdings spricht Yeliz diesen Diskursen ihre Substanz ab und setzt ihnen ein selbstbewusstes Praktizieren des Islams entgegen. Sie denkt gesellschaftliche Partizipation nicht als unvereinbar mit religiöser Praxis und grenzt sich damit von pessimistischeren Positionen ab, die eher resignativ erscheinen, und entweder die eigene muslimische Identität verbergen (hierfür steht das Beispiel des verklausulierten Rückzugs zum Gebet) oder sich aus zentralen gesellschaftlichen Bezügen (etwa der Arbeitswelt) zurückziehen und sich in eine Opferrolle fügen.
Übernahme einer Vorbildrolle
Eine weitere Möglichkeit, negativen Stereotypen und einem generalisierten latenten Terrorismusverdacht zu begegnen, ist stärker als die beiden zuvor thematisieren Strategien auf die Mehrheitsgesellschaft gerichtet. Viele der Interviewten beschreiben, dass sie sich im öffentlichen Bild als Muslime/innen erkennbare Menschen in einer besonderen Verantwortung sehen. Über verschiedene Interviews hinweg zeigt sich, dass die jungen Muslimas sich in der Pflicht sehen, als Repräsentantinnen des Islams eine Vorbildrolle einzunehmen und sich und den Islam zu erklären, um das negative Islambild zu revidieren und Vorurteile abzubauen. Als im Interview mit der 16-jährigen Yeliz das Thema des islamistischen Terrors aufkommt, wird dies deutlich:
Ich will nicht weinen, aber das geht mir echt nahe, also man will den Leuten zeigen, dass man damit nichts zu tun hat und man sucht jede Möglichkeit, also gerade seitdem ich das Kopftuch trage, zeige ich ja auch öffentlich, dass ich Muslima bin. Davor hat man es vielleicht gar nicht so gemerkt. (I: Hmhm) Und ich hab jetzt zum Beispiel angefangen, wenn ich in die Schule laufe und älteren Leuten begegne, dass ich ihnen einen guten Morgen wünsche. Und davor hatte ich das nie gemacht, weil ich auch nicht das Bedürfnis hatte, mich zu zeigen (I: Hmhm) oder den Leuten meine Lebensgeschichte zu erklären. (I: Hmhm) Aber jetzt ist es mir wichtig, weil ich weiß, man kann diese Vorurteile zum Beispiel nur .. klären, wenn man mit den Leuten spricht, (I: Hmhm) wenn man erklärt, was eigentlich Sache ist, (I: Hmhm) wenn man sich öffentlich, wenn man zeigt, dass man damit nichts zu tun hat. (BI Yeliz, Z. 588–598)
Yeliz’ Strategie ist es, negative Islambilder in der unmittelbaren Repräsentation durch die eigene Person zu revidieren.Footnote 4 Das Kopftuch bringt sie erst in die Position, stellvertretend als Muslima zu handeln und die damit verbundenen erwarteten Fremdidentifizierungen umzucodieren, indem sie ein positives Beispiel abgibt. Gerade in dem Moment, wo der Islam in der Kritik steht und mit Gewalt und Terror verknüpft wird, wird es wichtig, sich „zu zeigen“, den negativen Stereotypen positive Islambilder entgegenzusetzen und den eigenen Islam zu vermitteln und zu erklären. Die durch das Kopftuch produzierte öffentliche Sichtbarkeit und Exposition eröffnet für sie Chancen, gesellschaftlichen Dialog anzustoßen und Vorurteile abzubauen, verpflichtet aber auch, denn im Umkehrschluss wird in dieser Logik negatives Verhalten genauso generalisierend dem Islam zugerechnet wie positives.
Kommt in den Interviews das Thema des islamistischen Terrors auf, grenzen sich die Interviewten einerseits scharf ab und zeigen sich betroffen angesichts der Taten. Es wird aber auch sehr deutlich, wie sehr die darauf regelmäßig folgenden islamkritischen Debatten und Schuldzuweisungen, sie als Muslime/innen unter Rechtfertigungsdruck bringen. Diese undifferenzierten Vermischungen von Islam und Islamismus wühlen durchaus emotional auf, nerven und produzieren Frust, wie die nachstehende Aussage der 24-jährigen Konvertitin Sophie exemplarisch illustriert: „Und jedes mal wenn ’n neuer Anschlag ist, denk ich so okay Sophie mach dich auf die nächste Diskussion gefasst, .. @bleib am Boden@“ (BI Sophie Z. 1875–1877). Auch wenn die gesellschaftliche Diskussion das Potenzial birgt, so adressiert sprichwörtlich ‚an die Decke zu gehen‘ und die Nerven zu verlieren, ist die Strategie, mit diesen Zuschreibungen umzugehen, sich zunächst selbst zu beruhigen und für die Diskussion zu wappnen, anstatt sich ihr zu entziehen oder der eigenen Wut über den unsachlichen Diskurs Raum zu geben (und damit gegebenenfalls Vorurteile eher noch zu bestärken). Sophie sieht sich, wie viele der anderen Interviewten, in der Verantwortung „zu zeigen, guck mal der Islam ist was Schönes“ (BI Sophie, Z. 1885–1886). An anderer Stelle spricht sie ganz in diesem Sinn auch von einer „Vorbild-Funktion für die Gesellschaft“ (BI Sophie, Z. 2061), die sie als Muslima habe. Diese Vorbildrolle wird zum Teil auch dezidiert islamisch abgeleitet, wie etwa von Silke, einer 33-jährige Konvertitin, die seit sieben Jahren einen Gesichtsschleier trägt: „Die beste Da’wa ist die stumme Da’wa. Das heißt, dass man einfach durch sein gutes Benehmen, durch sein (2) vorzügliches Vorbild (1) die Menschen zum Islam bringt. (I: Hmhm)“ (BI Silke, Z. 1116–1119). Durch die eigene Lebensweise ein gutes Vorbild zu sein, wird als bevorzugte Form der „Da’wa“ bezeichnet. Die Verwendung des da’wa Begriffs sowie der moralische Charakter der Formulierung verdeutlichen, dass die Argumentation religiös aufgeladen wird. In Silkes Formulierung klingt dabei jedoch auch an, dass es ihr um mehr geht, als allein um eine Revision negativer Islambilder. Wenn sie den Begriff der da’wa verwendet und davon spricht, andere zum Islam zu „bringen“, kann dies nicht nur als Bemühen um eine Annäherung an den Islam im Sinne von Verständigung und eines Abbaus von Vorurteilen gelesen werden, sondern durchaus auch als Missionierungsabsicht.
Aktivismus
Gerade in Zeiten in denen der Islam gesellschaftlich in der Kritik steht und Islamophobie und Muslimfeindlichkeit zunehmen und bis weit in die Mitte der Gesellschaft zu finden sind (Pickel und Yendell 2018; Zick et al. 2016; Decker et al. 2018), produziert dies Legitimationsdruck. Praktizierende Muslimas sehen sich vor diesem Hintergrund heraus- und aufgefordert, für ihren Glauben offensiv einzustehen und den negativen Stereotypen aktiv etwas entgegenzusetzen. Die Teilnahme der jungen Frauen an der vorliegenden Studie ist Ausdruck dessen. Ein paar von ihnen sind zudem auf verschiedenen Social Media Plattformen präsent und verhandeln dort Themen rund um den Islam sowie muslimisches Leben und richten sich dabei sowohl an eine muslimische Community als auch an die Mehrheitsgesellschaft. Dieser Aktivismus und die daraus resultierende positive Resonanz dienen dabei nicht nur der diskursiven Einflussnahme, sondern auch der Selbstermächtigung und Selbstvergewisserung. Johanna beispielsweise, für die ihr Instagram Profil zunächst vor allem Tagebuch-Charakter hatte, fühlt sich durch ihre hohe Reichweite bestärkt und nutzt sie inzwischen auch gezielt als Möglichkeit, auf den öffentlichen Diskurs Einfluss zu nehmen. So rief sie beispielsweise Muslime/innen vor den Bundestagswahlen 2017 dazu auf, wählen zu gehen: „ich bin auch froh, dass ich dann auch dann in solchen Situationen viele Leute hab, die mir folgen, dass ich da auch viele Leute erreichen kann“ (BI Johanna, Z. 1163–1165). Dabei hatte ihr Wahlaufruf zwei Stoßrichtungen: Einerseits nahm sie damit eine konträre Position zu der in den sozialen Medien durchaus stark präsenten Position beispielsweise salafistischer Akteure ein, die Muslime/innen aufriefen, sich nicht an den Wahlen zu beteiligen. Zum anderen dokumentiert er die Stoßrichtung ihres gesellschaftlichen Engagements: sich für eine plurale Gesellschaft einzusetzen und über eine starke Präsenz – etwa auch bei Wahlen – islamfeindlichen Positionen und Akteuren nicht den Diskurs zu überlassen.
Damit sind die zentralen Linien bereits angesprochen, entlang derer das aktivistische Engagement der jungen Muslimas insgesamt verläuft: Sie engagieren sich 1) gegen eine Vereinnahmung des Islam durch islamistische Akteure, 2) für eine Stärkung der innermuslimischen Gemeinschaft und 3) für Anerkennung des Islam innerhalb der Mehrheitsgesellschaft.
Dabei stellt die muslimische Community angesichts von Fremdheitszuschreibungen eine wichtige Ressource dar, was sich auch an anderen Stellen im Material sehr deutlich zeigt. So äußert sich Johanna beispielsweise in der Gruppendiskussion mit Blick auf die Bedeutung der Moscheegemeinschaft: „Das gibt einem voll Kraft“ und Aydan bestätigt dies emphatisch „Ja .. mega, mega:: .. Man weiß halt okay ich bin nicht alleine“ (GD Teil 1, Z. 605–606). Dabei geht es ausdrücklich nicht um einen Rückzug in diese Gemeinschaft oder um eine Abschottung von der Mehrheitsgesellschaft. Die muslimische Community wird vielmehr als Ort der Selbstvergewisserung beschrieben, um so gestärkt wieder in die Mehrheitsgesellschaft hinein zu wirken und zugewandt und geduldig eigene Positionen zu erklären.
Identifikation mit der Opferrolle, Resignation und Rückzug
Anders als die oben beschriebenen emanzipativen Umgangsweisen mit Diskriminierungen und Fremdheitszuschreibungen, die auf eine muslimische Selbstermächtigung bzw. über Dialog, Austausch und Aktivismus auf eine Veränderung der Mehrheitsgesellschaft und ihrer Vorstellung von ‚deutscher Normalität‘ zielen, zeigt dieser zweite Typus, dass das Erleben von Diskriminierung und stigmatisierenden Fremdheitszuschreibungen auch zu Resignation und Rückzug führen kann. Er unterscheidet sich vom Selbstermächtigungstypus auch dadurch, dass ersterer eine muslimische Opferrolle dezidiert zurückweist, wohingegen letzterer zur Übernahme einer Opferidentität tendiert. Im Material der vorliegenden Untersuchung ist dieser zweite Typus weniger prominent vertreten, was auch daran liegen kann, dass sich der Forschung zu öffnen eher mit der Strukturlogik des ersten Typs korrespondiert. Er scheint aber immer wieder als Gegenhorizont und Kontrastfolie im ersten Typus auf, etwa wenn betont wird, „nicht den Kopf einzuziehen“ oder sich „nicht zurückzuziehen“. Hinweise auf ihn finden sich darüber hinaus beispielswiese in einer an das Forschungsteam gerichteten Instagram-Nachricht einer 24-jährigen Muslima, die sich als „Kurdin aus der Türkei“ beschreibt, die seit ihrer frühen Kindheit in Deutschland lebt. Sie schreibt, dass sie das für sie identitätsstiftende Kopftuch aufgrund negativer Erfahrungen mittlerweile abgelegt hat:
Deutschland ist für mich mein Zuhause.
Aber ich war nicht immer willkommen, nicht wenn ich ich sein wollte.
Ich hab noch vor kurzem einen Kopftuch getragen, den hatte ich fast vier Jahre auf.
Durch bestimmte Situationen habe ich mein Kopftuch abgelegt.
Ich schätze, was mir dieses Land bietet und gibt aber es gibt auch Situationen und bestimmte Sachen, die ich weder verstehe noch damit klarkommen kann …
In ihrer Darstellung dokumentiert sich sichtbar Enttäuschung und Resignation. Die Entscheidung, das Kopftuch abzulegen, wird sehr deutlich als Reaktion auf erfahrene Ablehnungen bezogen. Sie erscheint als unbefriedigendes Resultat einer dilemmatischen Situation: Sich entscheiden zu müssen, entweder mit Kopftuch authentisch zu leben („ich sein“), aber dadurch immer wieder Ablehnung und Benachteiligung zu erfahren, oder das Kopftuch abzulegen, sich äußerlich den gesellschaftlichen Normalitätsstandards anzugleichen und damit als Muslima weniger exponiert zu sein. Die junge Frau entscheidet sich für die zweite Option. Diese äußerliche Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft geht jedoch mit innerlichen Differenzerfahrungen einher. Dies wird deutlich, wenn sie schreibt, sich in Deutschland nicht immer „willkommen“ gefühlt zu haben und Deutschland distanzierend als „dieses Land“ bezeichnet. Gerade die Erfahrung, dass ihre muslimische Identität nicht Teil einer deutschen Identität sein kann, produziert Spannungen und eigene Fremdheitsgefühle. Sie führt in der Tendenz dazu, dass muslimisches Leben und die deutsche Gesellschaft als miteinander schwer vereinbar gedacht werden.
Weitere empirische Evidenz und Kontur gewinnt dieser zweite Typus zudem dort, wo die jungen muslimischen Frauen – unabhängig davon ob es sich um Konvertitinnen oder gebürtige Muslimas der zweiten bzw. dritten Generation handelt – über ihr Leben in Deutschland sprechen und dabei mit Differenzkategorien (Muslime/innen vs. deutsche Gesellschaft) operieren. Einer stark identitätsstiftenden muslimischen Gemeinschaft wird tendenziell pauschalisierend eine abstrakte deutsche (nicht-muslimische) Mehrheitsgesellschaft mit ihren islamophoben Diskursen gegenübergestellt, verbunden mit der Tendenz, sich Begegnungen und diskursiven Auseinandersetzungen mit Nicht-Muslimen/innen resigniert zu entziehen. Das Beispiel Ayla steht für diesen Typus. Die junge Deutsche mit türkischem Migrationshintergrund studiert islamische Theologie und Erziehungswissenschaften. Wenn sie über ihr Studium spricht, fällt auf, wie sehr sie sich im Studiengang der islamischen Theologie aufgehoben und integriert fühlt, im Zusammenhang mit dem Erziehungswissenschaftsstudium hingegen thematisiert sie immer wieder Essentilisierungserfahrungen. Diese entindividualisierenden Erfahrungen führen bei ihr, anders als bei den Interviewten im ersten Typus, nicht zu einem aktiven Eintreten für ihre Position. Sie gehen vielmehr mit einer verstärkten Sensibilität hinsichtlich negativer Reaktionen bzw. einer generalisierten Unterstellung stereotyper Zuschreibungen einher. Im Ergebnis führt dies dazu, dass Ayla sich selbst aus Diskussionen im nicht-muslimischen Umfeld eher heraushält:
Und da ist es dann natürlich schwierig mich zu äußern, weil es dann weil es dann direkt heißen würde, ach das ist die Muslimin, das ist doch eh klar, was sie denkt. (BI Ayla, Z. 1462–1464)
Die den anderen aufgrund zahlreicher vorausgegangener realer Erfahrungen des othering unterstellten stereotypen Erwartungen und Zurechnungen führen bei Ayla zu einer ausgeprägten Sprachlosigkeit, die mit dem dominanten Gefühl der Entpersonalisierung und Entmündigung korrespondiert. Egal was sie sagt, so Aylas Überzeugung, die Deutungshoheit über ihre Äußerungen liegt stets bei den Anderen. Indem sie stumm bleibt, fügt sie sich situativ gleichsam in die Passivität und übernimmt damit tendenziell eine Opferrolle. Diese Tendenz der Identifikation mit der Opferrolle findet sich auch an anderen Stellen im Interview, besonders ausgeprägt etwa in der nachstehenden Passage, in der sie die Situation von Muslimen/innen in Deutschland mit der Situation der Juden zu Zeiten des Nationalsozialismus vergleicht:
das ist das ist einfach das alte Thema und ich denke mir so, Alter, warum warum lernst du nicht aus deiner Vergangenheit? Ich meine, sorry, dass ich das so sage, aber irgend also früher ne früher hat man ne also in der deutschen Kultur ist es also, in der Geschichte ist es ja so, dass ne also die Judenverfolgung und so (I: Hmhm) was hat ja auch mal stattgefunden und jetzt langsam so, dass die AfD jetzt auch eh seine Plätze bekommen hat im im Bundestag und so was, da denke ich mir so Alter, wird das jetzt noch mal stattfinden (I: Hmhm) oder lernt man denn gar nicht aus der Geschichte? Dass das einmal stattgefunden hat mit einer Religion, dass man dass man Juden ver eh ver eh vertrieben hat, wollt ihr das Gleiche jetzt mit Muslimen machen? (BI Ayla, Z. 1513–1521)
Ayla wirkt in dieser Sequenz emotional betroffen und aufgewühlt, wie sich insbesondere an den zahlreichen Abbrüchen und Wortwiederholungen sowie der Häufung rhetorischer Fragen an ein imaginiertes Gegenüber ablesen lässt. Es sind die deutsche Gesellschaft anklagende, mahnende und zugleich verzweifelt klingende Fragen, die die Verantwortung für die gesellschaftlichen Entwicklungen klar in der deutschen Gesellschaft verorten. Das imaginierte Gegenüber („du“/„man“/„ihr“) wird als aktiv handelndes Subjekt beschrieben, wohingegen Muslime/innen in einer passiven Position verortet werden. Unabhängig davon, wie angebracht der Holocaust-VergleichFootnote 5 ist, deutlich wird, dass Ayla sich als Muslima in der deutschen Gesellschaft in der Defensive und als Opfer fühlt. Das hier formulierte Opfer-Narrativ kehrt den islamfeindlichen Diskurs um und birgt damit die Gefahr, gesellschaftliche Polarisierungen wechselseitig zu verstärken und zu einer Radikalisierung des Diskurses beizutragen. Das heißt allerdings nicht, dass damit auch individuelle Radikalisierungsprozesse verbunden sind. So lässt sich beispielsweise bei Ayla zwar ein resignativer Rückzug in die muslimische Community beobachten, ihr Islamverständnis ist jedoch sehr differenziert. Auch sie grenzt sich im Interview explizit vom „Schwarz-Weiß-Denken“ salafistischer Strömungen ab, „die dann sagen ‚Nein, es gibt nur eine einzige Antwort und unsere Antwort ist die richtige Antwort (I: Hmhm) und ihr seid alle auf dem falschen Weg und ihr seid keine richtigen Muslime, ihr seid Abtrünnige und ihr gehört nicht mehr zum Islam‘“ (BI Ayla, Z. 824–827). Die hier sichtbar werdenden Dynamiken verweisen vielmehr auf die schwerwiegenden Folgen eines stigmatisierenden Islamdiskurses und eines gesellschaftlich strukturell verankerten antimuslimischen Rassismus.