1 Einführung ins Thema

Religiöse Akteure sind als Mitgestalter von Wohlfahrtsstaaten und ihrer Sozialpolitik in vielen Ländern von großer Bedeutung. Dies zeigt sich in doppelter Weise, zum einen in den ideellen Grundlagen der Wohlfahrtsstaaten und zum anderen in den Aktivitäten, mit denen religiöse Akteure zum Angebot wohlfahrtsstaatlicher Dienstleistungen beitragen. Erstens geht es also um Leitideen und Semantiken, die in der politischen Auseinandersetzung zur Begründung sozialpolitischer Forderungen und Entscheidungen herangezogen werden und die teilweise religiöse Begründungen erfahren haben bzw. weiterhin erfahren. Religiöse Weltbilder beinhalten Vorstellungen von „guter“ Gemeinschaft und Gesellschaft, von Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit, von sozialen Strukturierungen und Unterscheidungen von Positionen. Damit verbundenen sind Zuschreibungen von Rechten und Pflichten im sozialen Miteinander, die mit religiösen Prämierungen und Ethisierungen verknüpft sind. Von der Thematik her ist es naheliegend, dass in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Gestaltung des Wohlfahrtsstaates immer wieder auch religiöse Überzeugungen geltend gemacht wurden und bis heute werden.Footnote 1 Grund dafür ist, dass in solchen Debatten die Legitimation von und der Umgang mit sozialen Ungleichheiten berührt sind. In Anlehnung an Max Weber (1980, S. 291–299) geht es um die Beziehung zwischen positiv und negativ privilegierten Schichten in der Gesellschaft. Dieses Verhältnis wurde schon in vormodernen Gesellschaften von religiöser Seite ethisch aufgeladen, indem den stärkeren und mächtigeren Gesellschaftsmitgliedern Verantwortung und Verpflichtungen gegenüber den schwächeren (Armen, Kranken, Behinderten, Alten, Kindern, Witwen und Waisen) auferlegt sowie Empathie und Hilfeleistung eingefordert und religiös prämiert wurden (vgl. Tyrell 2017, S. 365 ff.; Weber 1980, S. 351, 355, 380).Footnote 2 Die religiösen Soziallehren wurden davon ausgehend zu Grundlagen kirchlicher Positionierungen. Sie werden von religiösen Akteuren genutzt, um ihre Positionen und Forderungen in den Auseinandersetzungen um den Sozialstaat zu begründen.

Die religiösen Wurzeln von Wohlfahrtsstaatsregimen haben in der sozialwissenschaftlichen Forschung zumindest in historischer Perspektive Aufmerksamkeit gefunden. So wurde in (kritischer) Auseinandersetzung mit der Typologie Esping-Andersens (1990) und mit deren weiterer Ausarbeitung das Interesse auf religiöse Ideen gerichtet (z. B. Manow 2002, 2008; van Kersbergen 1995; Kahl 2005; vgl. auch schon Kaufmann 1988).Footnote 3 Die genannten Arbeiten machen deutlich, dass die jeweiligen konfessionellen Soziallehren zur Entwicklung unterschiedlicher Systeme sozialer Sicherung in Europa beitrugen, in die religiöse Akteure in unterschiedlichem Ausmaß und in variierenden Formen eingebunden sind. Während katholisch und calvinistisch bzw. durch freikirchliche Gemeinschaften geprägte Länder nur einen „rudimentären“ Wohlfahrtsstaat ausbildeten, findet sich in von lutherischen Staatskirchen geprägten Ländern (v. a. in Skandinavien) ein großzügiger universaler Sozialstaat, wo der Staat für soziale Leistungen jeder Art Verantwortung trägt. Der deutsche Wohlfahrtsstaat wird dagegen von Esping-Andersen bekanntermaßen dem konservativen Typus zugerechnet (1990, S. 27, 224). Bei seiner Entwicklung waren Korporativismus und Subsidiarität die leitenden Prinzipien (Gabriel und Reuter 2013).

Zweitens trugen religiöse Akteure in den Nationalstaaten als Anbieter sozialer Dienstleistungen zur Entstehung der wohlfahrtsstaatlichen Infrastruktur bei und gestalten diese bis zur Gegenwart mit. In Deutschland entstanden erste diakonische und karitative Initiativen seit dem frühen 19. Jahrhundert als Reaktionen auf den Pauperismus und auf die mit der Industrialisierung verbundene Soziale Frage. Zu nennen sind beispielsweise die von Johann Hinrich Wichern gegründete „Innere Mission“ im Bereich des Protestantismus sowie der von Adolph Kolping gegründete „Katholische Gesellenverein“. Auch die Krankenpflege war schon früh ein karitatives Arbeitsfeld. Dabei wurde die Verbesserung der Situation in den Hospitälern mit einer Professionalisierung der Pflege verbunden, die zugleich Möglichkeiten von Berufsarbeit und Absicherung der eigenen Existenz für unverheiratete Frauen bot (Berndt 1987). Beispiele dafür sind das von Fliedner gegründete Kaiserswerther Diakonissenmutterhaus oder die von den katholischen Kongregationen gegründeten Einrichtungen der Krankenfürsorge. Neben diesen beiden Feldern der Fürsorge ließen sich vielfältige weitere Beispiele nennen, etwa Kinder‑, Jugend- und Altenheime sowie Schulen und Ausbildungseinrichtungen, die im 19. Jahrhundert aus den beiden Kirchen heraus gegründet wurden. Konfessionelle Initiativen dieser Art wurden während der Weimarer Republik rechtlich und finanziell in den Wohlfahrtsstaat integriert, den sie infrastrukturell bis heute prägen. Die Bedeutung der Freien Wohlfahrtspflege, zu der neben den konfessionellen Verbänden (Caritas, Diakonie sowie die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland) die Arbeiterwohlfahrt, der Paritätische Wohlfahrtsverband und das Deutsche Rote Kreuz gehören, zeigt sich an der Zahl der Einrichtungen und der darin hauptamtlich Beschäftigten. So arbeiteten im Jahr 2016 in 118.623 Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege in den Bereichen Gesundheits‑, Jugend‑, Familien‑, Alten- und Behindertenhilfe sowie der Hilfe für Personen in besonderen sozialen Situationen usw. insgesamt 1.912.665 Menschen in Voll- oder Teilzeitbeschäftigung (BAGFW 2018, S. 7). Darunter ist ein großer Anteil in konfessionellen Einrichtungen tätig: Laut den von Schroeder (2018, S. 511) präsentierten Daten gab es im Jahr 2014 in Deutschland bei der Caritas 617.193 und bei der Diakonie 464.828 Beschäftigungsverhältnisse.

Durch die Einflüsse religiöser Leitideen und Akteure entwickelten sich in den europäischen Gesellschaften jeweils spezifische Pfadabhängigkeiten wohlfahrtsstaatlicher Strukturen, die – trotz vereinheitlichender Tendenzen, insbesondere durch die europäische Integration – bis in die Gegenwart ihre Wirkung entfalten. Die international vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung analysiert solche Konstellationen. Fallstudien aus verschiedenen Ländern (wie z. B. die Beiträge in Gabriel und Reuter 2013; Molokotos-Liederman et al. 2017; Manuel und Glatzer 2019; zudem Manow 2008; Powell 2017) führen vor Augen, auf welch unterschiedlichen rechtlichen, politischen und ökonomischen Grundlagen religiöse Akteure sozialpolitisch tätig werden und welche Implikationen und Auswirkungen das für sie selbst, für HilfeempfängerInnen und für die jeweiligen Wohlfahrtsstaaten als Ganze hat.

Trotz der starken Prägung von Wohlfahrtsstaatlichkeit durch religiöse Ideen und Akteure bleiben darauf bezogene Analysen in der Soziologie bisher eher randständig. Dafür sind vermutlich mehrere Faktoren verantwortlich. So wird die Fragestellung durch ganz unterschiedliche (Sub‑)Disziplinen bearbeitet, wobei jeweils spezifische Perspektiven eingenommen und heterogene fachliche Akzente gesetzt werden. Innerhalb der Soziologie liefern insbesondere Arbeiten aus der Sozialpolitikforschung und der Religionssoziologie sowie aus der politischen Soziologie und Organisationssoziologie aufschlussreiche Erkenntnisse. Zudem befassen sich Geschichts‑, Politik‑, Erziehungs- und Wirtschaftswissenschaften sowie Religionswissenschaft und (katholische und evangelische) Theologie mit der Erforschung des Verhältnisses von Religion und Wohlfahrtsstaat. Offenbar legt der Gegenstandsbereich interdisziplinäre Zugänge nahe (z. B. in Gabriel und Reuter 2013; Gabriel 2017; Molokotos-Liederman et al. 2017). Gleichzeitig wird das Feld dadurch unübersichtlich, und die Forschungsergebnisse erscheinen in soziologischer Hinsicht bisweilen als bloß deskriptiv oder theoriebezogen wenig gehaltvoll. Spezifisch soziologische Beiträge befassten sich bislang insbesondere mit den Einflüssen konfessioneller Traditionen auf den Wohlfahrtsstaat (z. B. Kaufmann 1988, 2003; Rieger und Leibfried 2004; Manow 2008). Darüber hinaus hat sich die Sozialpolitikforschung – wie die Soziologie als Ganze – möglicherweise auch deshalb lange Zeit kaum für religiöse Aspekte interessiert, weil man von einem gesellschaftlichen Bedeutungsverlust von Religion als Folge von Säkularisierungsprozessen ausgegangen war. Allerdings finden dementsprechende Themen infolge der veränderten öffentlichen und sozialwissenschaftlichen Aufmerksamkeit für Religion seit einigen Jahren zunehmende Beachtung.

Auch in der Sozialpädagogik und der Sozialarbeitswissenschaft (also in Disziplinen, die sich schwerpunktmäßig mit sozialen Dienstleistungen befassen) gerieten religiöse Akteure als Anbieter – ungeachtet ihrer empirischen Bedeutung – kaum in den Blick. So konstatieren Ehlke et al. eine Tradition der „De-Thematisierung religiöser Dimensionen“, die aufgrund einer unterstellten „generalisierte(n) Säkularisierungstendenz“ (2017, S. 273) dazu geführt habe, dass sich die vielfältige Relevanz von Religion „in den entsprechenden sozialpädagogischen Fachdiskursen nicht annähernd widerspiegelt“. Dadurch seien „Religion und Religiosität als spezifische Ressource der Lebensführung im Kontext Sozialer Arbeit noch völlig unterbelichtet“ (Ehlke et al. 2017, S. 274). Erst in jüngster Zeit hat sich das Forschungsinteresse in Sozialpädagogik und Sozialarbeitswissenschaft diesbezüglich etwas gewandelt. So sind etwa – auch angetrieben durch ein Interesse an migrationsbezogenen Themen – mittlerweile Sammelbände zu religionssensibler Sozialarbeit erschienen (Nauerth et al. 2017; Lutz und Kiesel 2016), in denen vorrangig pädagogische Perspektiven verfolgt werden, während organisationale und sozialpolitische Aspekte im Hintergrund bleiben. Auf ökonomische und politikwissenschaftliche Fragen beziehen sich dagegen die Beiträge in dem Schwerpunktheft „Ökonomisierung und Konfession: Was bleibt?“ der Zeitschrift Sozialer Fortschritt (Hien und Schroeder 2018).Footnote 4

Nun wäre angesichts vielschichtiger gesellschaftlicher Veränderungsprozesse eine erhöhte sozialwissenschaftliche Aufmerksamkeit für die Mitwirkung religiöser Akteure an der Bereitstellung sozialer Dienstleistungen durchaus angezeigt. Denn sowohl das Feld der Religion als auch das Feld sozialer Dienstleistungen sind jeweils für sich bereits seit Jahrzehnten von tiefgreifenden Umbrüchen betroffen. Diese Dynamiken wirken sich jeweils auf die religiösen bzw. religionsgemeinschaftlichen Anbieter sozialer Dienstleistungen aus. Die Veränderungen betreffen einerseits sozialpolitische Strukturen in Deutschland, andererseits die religiöse Lage als Basis und Hintergrund der sozialen Dienstleistungen konfessioneller Organisationen. Kneip und Hien sprechen in diesem Zusammenhang von einer „doppelten Modernisierungsherausforderung“ (Kneip und Hien 2017, S. 4).

Erstens ist das Feld wohlfahrtsstaatlicher Dienstleistungen verstärkt seit den 1990er Jahren von vielfältigen Veränderungen, neuen Problemlagen und Herausforderungen gekennzeichnet und erscheint zunehmend als unübersichtlich. Dies betrifft einerseits den Umbau der Sozialversicherungen und andererseits die korporativen Strukturen im deutschen Wohlfahrtsstaat. So wurde in den 1990er Jahren die soziale Pflegeversicherung eingeführt, durch die ein mit dem demographischen Wandel drängendes Problem abgesichert werden sollte; zugleich wurden damit finanzielle Ressourcen für soziale Dienstleistungen in der Pflege bereitgestellt, an denen verschiedene (nun auch private) Anbieter partizipierten. Die „Hartz“-Reformen der Schröder-Regierung in den 2000er Jahren betrafen in grundlegender Weise die Leistungen für Arbeitslose bzw. allgemeiner und genauer gesprochen: für Menschen, die durch Erwerbsarbeit ihren Lebensunterhalt nicht finanzieren können. Die Reformen propagierten und förderten einerseits eine „Aktivierung“ von arbeitsmarktfernen LeistungsempfängerInnen. Sie führten andererseits durch die Einführung des Arbeitslosengelds II zu einem Abbau statussichernder Elemente und der Schutzfunktion in der Arbeitslosenversicherung. Der Subsidiaritätsgedanke wurde in spezifischer Weise verstärkt, indem durch das Konstrukt der „Bedarfsgemeinschaft“ Unterstützungsleistungen an die Bedürftigkeit des jeweiligen Haushalts (und nicht der einzelnen Person) gebunden wurden (dazu Sammet und Weißmann 2010). Als Folge davon wurde das Modell des männlichen Familienernährers und damit das ihm zugrundeliegende traditionelle (auch religiös fundierte) Familienbild zunehmend ausgehöhlt. Dadurch geht das konservative Moment im deutschen Wohlfahrtsstaat immer mehr zurück.

Das korporatistische Moment des deutschen Wohlfahrtsstaats dagegen entwickelt sich in gegensätzliche Richtungen. In Hinblick auf generelle Entwicklungstendenzen des deutschen Wohlfahrtsstaats in der Nachkriegszeit konstatiert Leisering (2000) unter anderem Prozesse der „Korporatisierung“, wodurch korporative „Verhandlungssysteme“ „auf neue Bereiche ausgedehnt“ (ebd., S. 101) worden seien. Dazu gehören Fragen der Pflege, der Rehabilitation oder der Versorgung mit Arzneimitteln. Zugleich wurde das Feld sozialer Dienste (z. B. in der Pflege) für private Anbieter geöffnet und damit ihre „Vermarktlichung“ und die „politisch gewollte Verbetriebswirtschaftlichung der Wohlfahrtsverbände“ (Schroeder 2018, S. 504) durchgesetzt. Die Folgen dieser Transformationen für die konfessionellen Anbieter sieht Schroeder als eine Schwächung des Korporatismus an: „Neben konkreteren staatlichen Vorgaben und Kontrollen ist ein Kernelement dieser Politik die Auflösung korporatistischer Strukturen und die Einführung von Markt- und Wettbewerbsmechanismen im Sozial- und Pflegebereich. Dies geht mit einem Privilegienverlust der traditionellen Wohlfahrtsverbände zugunsten privater Anbieter sozialer Dienstleistungen einher“ (Schroeder 2018, S. 518).

Zweitens – das betrifft die religiöse Lage – sind in Deutschland seit den 1960er Jahren verstärkt Prozesse der religiösen Individualisierung und Säkularisierung zu beobachten, die widersprüchliche Auswirkungen auf die Arbeit konfessioneller Anbieter von sozialen Diensten haben. Der Rückgang der individuellen Gläubigkeit, der Partizipation (z. B. in Form des Gottesdienstbesuchs) und der Mitgliederzahlen (durch Kirchenaustritte und die demographische Entwicklung) sowie die nachlassende Bedeutung religiöser Überzeugungen für die alltägliche Lebensführung führe – so Schroeder – zu einem „konfessionellen Paradox“: die „Expansion der konfessionellen Wohlfahrtsaktivitäten – bei gleichzeitiger Erosion der Kirchenmitgliedschaft“ (Schroeder 2018, S. 510; vgl. Lührs 2006). Allerdings sehen viele Mitglieder der beiden Kirchen – und zwar auch und gerade die der Kirche eher fernstehenden – und sogar Konfessionslose die Hilfe für die Schwachen in der Gesellschaft als eine wichtige Aufgabe der Kirchen an. So fand in der vierten Untersuchung der EKD zur Kirchenmitgliedschaft bei der Frage nach den Erwartungen an die Kirche die Vorgabe, dass sie Alte, Kranke und Behinderte betreuen solle, die höchste Zustimmung.Footnote 5 Der 2010 publizierte „Trendmonitor Religiöse Kommunikation“ kam zu dem analogen Ergebnis, dass unter den KatholikInnen die Zustimmung zu den karitativen Aktivitäten und Positionen der Kirche signifikant hohe Werte erreichte.Footnote 6

Die religiöse Landschaft in Deutschland ist in den letzten Jahrzehnten jedoch nicht nur durch zunehmende Säkularisierung gekennzeichnet, sondern auch durch eine wachsende religiöse Vielfalt, die insbesondere durch Zuwanderung bedingt ist. Die religiöse Pluralisierung als Herausforderung für Sozialpolitik und Freie Wohlfahrtspflege wurde jüngst in mehreren Publikationen diskutiert (Ceylan und Kiefer 2017; Ehlke et al. 2017; Jähnichen et al. 2016). Insbesondere für die konfessionellen Wohlfahrtsverbände stellt sich die Frage, wie eine für die Versorgung der gesamten Bevölkerung notwendige sowie fachlich und vom „kirchlichen Selbstverständnis her geboten“ (Wiemeyer 2016, S. 83) erscheinende interkulturelle Öffnung ihrer Dienste umgesetzt und mit der eigenen organisationalen Identität sowie dem kirchlichen Arbeitsrecht vereinbart werden kann. Die Analysen zu den Veränderungen kirchlicher Arbeitsbeziehungen infolge gesellschaftlicher Pluralisierungs- und Säkularisierungsprozesse von Kneip und Hien (2017) zeigen, dass die katholische Caritas und die evangelische Diakonie von einer wachsenden Zahl arbeitsrechtlicher Konfliktfälle betroffen sind, weil ihre weltanschaulichen Orientierungen unter den Mitarbeitenden zunehmend weniger geteilt werden. Die Kirchen könnten – so die Einschätzung – ihre Sonderstellung aber dennoch weitgehend behaupten, weil ihnen bislang weder von politischer Seite noch durch die Rechtsprechung grundsätzliche Veränderungen abverlangt werden (vgl. dazu auch Nagel 2016; Schneiders 2016).Footnote 7 Eine zweite, nicht minder wichtige Frage, die sich aus der religiösen Pluralisierung in Deutschland ergibt, zielt darauf, in welcher Form neue religiöse Akteure – etwa Muslime oder christliche Gemeinschaften jenseits der beiden großen Kirchen – beim Angebot öffentlich geförderter sozialer Dienstleistungen beteiligt werden können bzw. sollen. Auch zu diesem Gegenstand sind in den letzten Jahren Bücher und Aufsätze publiziert worden (z. B. Ceylan und Kiefer 2017), und sie wurde auch im Rahmen der Deutschen Islam Konferenz diskutiert.

2 Beiträge und verbindende Linien

Die Beiträge zu diesem Special Issue sind im gerade skizzierten Spannungsfeld einzuordnen. Sie nehmen sich unterschiedlicher Aspekte, Bereiche und Gegenstände an. Die ersten beiden Texte analysieren, wie wohlfahrtsstaatliche Leitbegriffe von religiösen Akteuren herangezogen oder auch geprägt werden.

  1. 1.

    Zunächst zeigt Karl Gabriel, dass der Begriff der „Subsidiarität“ seit dem frühen 20. Jahrhundert von katholischen Akteuren genutzt wurde, um einerseits Ordnungsvorstellungen des Katholizismus im deutschen Wohlfahrtsstaat zu verankern und andererseits die damals bereits bestehenden katholischen Sozialeinrichtungen und Verbände in den Wohlfahrtsstaat zu integrieren. Als Subsidiarität wird seither ein zentrales Strukturprinzip der Freien Wohlfahrtspflege bezeichnet, welches die Bereitstellung sozialer Dienstleistungen weitgehend in die Hände konfessioneller und weltanschaulicher Akteure legt. Ohne die früheren Bedeutungen ganz abzustreifen, findet sich der Begriff seit den 1990er Jahren zudem in Form einer „neuen Subsidiarität“, womit die wohlfahrtsstaatlichen Reformen hin zu einer aktivierenden Sozialpolitik legitimiert werden. Die Analyse zeigt insgesamt die Wandelbarkeit und Anpassungsfähigkeit religiöser Soziallehren (und daraus abgeleiteter Begriffe) ebenso wie die Prägekraft der Mitwirkung religiöser Akteure für die Genese und Struktur des Wohlfahrtsstaates und der Sozialpolitik.

  2. 2.

    Der von Gerhard Wegner verfasste Beitrag beschäftigt sich mit dem Konzept der Sozialraumorientierung, das in den letzten Jahren sowohl in der evangelischen als auch in der katholischen Kirche an Bedeutung gewann. Damit übernehmen beide Kirchen ein Konzept, das in der professionellen Sozialarbeit seit den 1990er Jahren zunehmend rezipiert und umgesetzt wurde und dort nicht zuletzt als Antwort auf die sozialpolitischen Reformen und Neuorientierungen verstanden wird. Bei den Kirchen steht die Sozialraumorientierung im Zusammenhang mit einem Relevanzgewinn sozialer Dienstleistungen in der Gesamtheit der kirchlichen Aktivitäten, während gleichzeitig die Partizipation an religiösen Ritualen abnimmt. Deutlich wird, dass nicht alleine die Kirchen ihre Wohlfahrtsverbände über ihre religiösen Lehren prägen, sondern auch umgekehrt die Kirchen als religiöse Organisationen von ihren Wohlfahrtsverbänden beeinflusst werden.

Die folgende Gruppe von Beiträgen betrifft heterogene Dienstleistungsarten, die von religiösen Akteuren erbracht werden.

  1. 3.

    Rainer Schützeichel spricht mit der Seelsorge einen Bereich an, der als genuin religiös verstanden wird. In den evangelischen und katholischen Kirchen erfuhr Seelsorge demnach als Handlungsformat seit dem 19. Jahrhundert eine Professionalisierung und wurde zu einer der Kernaufgaben der pastoralen Arbeit. Im 20. Jahrhundert entstand mit der säkularen, von SozialarbeiterInnen und PsychologInnen verantworteten psycho-sozialen Beratung ein weiteres professionelles Feld, das sich in analoger Form auf die Ermöglichung individueller Handlungsfähigkeit bezieht. Während wohlfahrtsstaatliche Beratungsangebote – so Schützeichel – eine fortlaufende Differenzierung erfahren, sehen sich religiöse Professionelle (zumindest diejenigen, die in lokalen Gemeinden tätig sind) einer zunehmenden Deprofessionalisierung ausgesetzt, da sie generalistisch arbeiten müssten.

  2. 4.

    Alexander-Kenneth Nagel untersucht das Engagement religiöser Akteure in der Flüchtlingshilfe. Mithilfe von Inhaltsanalysen der Selbstbeschreibungen religiöser Akteure sowie von Interviews mit Ehrenamtlichen und über quantitative Daten zeigt der Beitrag, dass vielfältige christliche, jüdische und muslimische Religionsgemeinschaften sich gleichermaßen intensiv in der Flüchtlingshilfe engagieren. Nicht zuletzt religiösen Migrantenorganisationen, darunter Moscheegemeinden und Freikirchen, gelang es demnach, Geflüchteten eine niedrigschwellige Unterstützung beim Ankommen in der deutschen Gesellschaft zu geben, die sich häufig vorrangig an Angehörige der eigenen Religionsgemeinschaft richtete. Dabei waren allerdings vor allem muslimische Organisationen mit hohen Hürden beim Zugang zu den Flüchtlingseinrichtungen konfrontiert. Die Unterstützungsmaßnahmen der großen Kirchen seien dagegen stärker universalistisch ausgerichtet und erreichten vielfach auch Adressaten außerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft.

  3. 5.

    Der Beitrag von Marc Breuer thematisiert Dienstleistungen der Altenhilfe, insbesondere der Pflege, die sich auf ältere Menschen mit muslimischer Religionszugehörigkeit beziehen. Gezeigt wird, wie in den Diskussionen der Deutschen Islam Konferenz (DIK) zum einen Moscheegemeinden und zum anderen ein muslimischer Wohlfahrtsverband als mögliche Träger von Einrichtungen der Pflege konzipiert wurden. Dabei wandte sich die DIK-Debatte gegen das traditionelle Deutungsmuster, wonach die Pflege älterer Musliminnen und Muslime vorrangig in Familien zu verorten sei. Während Religionszugehörigkeiten als Kriterien der Altenpflege ansonsten kaum thematisiert werden, wirkte die DIK daran mit, die spezifisch muslimische Identität eines zukünftig wachsenden Anteils der Pflegebedürftigen als relevant für die Pflege zu erachten und zudem diskursiv „muslimische Träger“ als eine neue religionsgemeinschaftliche Trägergruppe (neben vielen kirchlichen und einzelnen jüdischen Einrichtungen) vorzusehen.

  4. 6.

    Während sich die bisher genannten Beiträge auf Deutschland beziehen, nimmt Rainer Gehrig die Arbeit der katholischen Caritas in Spanien in den Blick. Im Unterschied zur deutschen Einbindung der Caritas in die Freie Wohlfahrtspflege sind die Einrichtungen dort als Nonprofit-Organisationen tätig, deren Aktivitäten vorrangig auf freiwilligem Engagement sowie – in deutlich geringerem Umfang – auf Spenden und staatlichen Zuschüssen beruhen. Der Beitrag analysiert die Auswirkungen der Wirtschaftskrise in den Jahren 2008 bis 2016 auf die spanische Caritas mithilfe qualitativer Interviews sowie im Rückgriff auf Sekundäranalysen. Dabei zeigt sich einerseits eine Zunahme der Unterstützungsbedarfe in der Bevölkerung und andererseits eine Stärkung der Caritas-Organisationen, die unter den Bedingungen der Krise in höherem Maße private Spenden und freiwillige Mitarbeit mobilisieren konnte. Im Gegensatz zu den hochgradig professionalisierten Caritasverbänden in Deutschland sind die Aktivitäten der spanischen Caritas überwiegend in die Pfarreien eingebunden und dort stärker von einer organisationalen Hybridisierung betroffen, d. h. religiöse, sozialarbeiterische, ökonomische und politische Relevanzen bleiben im Verhältnis zueinander stärker unbestimmt und müssen fortlaufend neu ausbalanciert werden.

Die Beiträge belegen exemplarisch die beständige Relevanz von Religionsgemeinschaften als Anbieter sozialer Dienstleistungen im Wohlfahrtsstaat. Der Einfluss religiöser Akteure macht sich über Begriffe und Konzepte geltend, wie die Beiträge von Gabriel und Wegner zeigen; er realisiert sich über vielfältige Aktivitäten und Hilfeformen, wie am Beispiel von Seelsorge (Schützeichel), Flüchtlings- (Nagel) und Altenhilfe (Breuer) deutlich wurde, und er nimmt aufgrund der länderspezifischen Wohlfahrtsstaatsregime jeweils verschiedene Formen an, wie der abschließende Beitrag von Gehrig erkennen lässt.

In vergleichender Betrachtung wird sichtbar, dass Religionsgemeinschaften offenbar gleichermaßen vielfältige soziale Dienstleistungen anbieten und sich darum bemühen, an den jeweiligen wohlfahrtsstaatlichen Strukturen mitzuwirken. Neben den etablierten Akteuren, in Deutschland v. a. den beiden großen Kirchen mit ihren WohlfahrtsverbändenFootnote 8, treten zunehmend neue Akteure auf. Wenn man die Aktivitäten dieser kleineren, vorrangig migrantisch geprägten Religionsgemeinschaften mit denen der beiden großen Kirchen vergleicht, dann fällt eine Insider/Outsider-Problematik ins Auge. Die kleineren Religionsgemeinschaften haben, wie die Beiträge von Nagel, Breuer und auch Schützeichel zeigen, zu den Kooperationsstrukturen, die für die lokalen Angebotsstrukturen und die Zusammenarbeit der etablierten Akteure wesentlich sind, bisher nur begrenzten oder keinen Zugang. Zudem gelingt es den etablierten Akteuren stärker, sich als gemeinwohlorientierte „Wohlfahrtserbringer“ zu positionieren. Die kleineren Religionsgemeinschaften werden dagegen eher als Vertreter spezifischer, vorrangig migrationsbezogener Milieus wahrgenommen.

Die Religionsgemeinschaften selbst erklären ihre Aktivitäten in erster Linie aus ihren Sozialethiken: Die Dienstleistungen der katholischen Caritas und der evangelischen Diakonie werden von den Kirchen traditionell als Umsetzung des biblischen Auftrags beschrieben, Menschen zu helfen, die unter Armut leiden oder in anderer Form Hilfe und Unterstützung benötigen (siehe z. B. die Beiträge in Eurich et al. 2011). Islamische Theologen legitimieren die Mitwirkung von Moscheegemeinden und ihren Verbänden an der Wohlfahrtspflege analog über die Lehre des Koran und darauf aufbauende Traditionen (z. B. Badawia 2017). Daneben bieten sich allerdings auch gesellschaftstheoretische Erklärungen an. Gerhard Wegner und Marc Breuer verweisen im Schlussteil ihrer Beiträge gleichermaßen auf die Untersuchung von Detlef Pollack und Gergely Rosta (2015). Mithilfe eines quantitativ angelegten Ländervergleichs zeigt diese Studie, dass traditionelle Religionsgemeinschaften unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung in der Regel mit nachlassender Partizipation und Gläubigkeit sowie rückläufiger Mitgliedschaft konfrontiert sind, was als Säkularisierung bezeichnet wird. Dieser Zusammenhang sei allerdings nicht zwangsläufig. Insbesondere dort, wo es Religionen gelinge, genuin nichtreligiöse Aktivitäten in die Kontexte ihrer religiösen Gemeinschaften und in ihre Organisationen einzubeziehen, seien auch gegenläufige Effekte möglich: Funktionale Entdifferenzierung bedinge einen „Relevanzgewinn des Religiösen“ (ebd., S. 469), weil die religiöse Beteiligung unter diesen Umständen für die Individuen mit außerreligiösen Anreizen versehen wird. Möglicherweise eignet sich dieses Argument besonders gut, um das intensive soziale Engagement von Religionsgemeinschaften sowie die Relevanz der Religion z. B. bei individuellen Orientierungsbedarfen, bei der Unterstützung von Flüchtlingen oder der Pflege alter Menschen zu erklären. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass den Religionsgemeinschaften auf diese Weise eine Umkehr von Säkularisierungseffekten zwangsläufig gelänge. Im Gegenteil könne eine „Überidentifikation mit anderen gesellschaftlichen Bereichen“ auch zur „tendenziellen Auflösung des Religiösen im Nichtreligiösen führen“ (ebd., S. 234). Solange die Religionsgemeinschaften es nicht schaffen, soziale Dienstleistungen als vorrangig religiöse Leistungen auszuweisen, führt die Bereitstellung sozialer Dienstleistungen auch nicht zu dem Bedeutungsgewinn von Religion, den sich manche Akteure davon versprechen mögen.

Viele der skizzierten Entwicklungen und Debatten stehen noch am Anfang, weisen aber auch einen großen Bedarf an empirischer Forschung und theoretischer Reflexion hin. Dazu will dieses Special Issue der ZRGP beitragen.