1 Einleitung und Motivation

Angesichts globaler Krisen wie dem Klimawandel, der Covid-19-Pandemie und geopolitischer Spannungen steht die heutige Welt vor großen Herausforderungen. Die Forderung nach einer höheren Nachhaltigkeit und Resilienz von Systemen hat nun über die Politik auch massiv die Forschung und Entwicklung erreicht. Beispiele dafür sind Arbeitssysteme in der Produktion, aber auch in Verkehrs‑, Gesundheits‑, Bildungs- und in Verteidigungssystemen. Dabei wird Nachhaltigkeit nicht nur auf die Umwelt bezogen, sondern auch als soziale Nachhaltigkeit in der Gesellschaft gedacht. Ein Beispiel dafür ist Japan, wo mittlerweile über Industrie 4.0 hinaus von „Society 5.0“ gesprochen wird (Government of Japan 2022).

Die zunehmende Forderung nach mehr Nachhaltigkeit und Resilienz sollte die wissenschaftliche Fachgemeinde dazu motivieren, auch arbeitswissenschaftliche Forschungsmethoden kritisch zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Das Titelbild des Programmhefts des vergangenen GfA-Frühjahrskongresses 2023 stellt provokant die Frage, warum wir trotz vieler Erfolge Gefahr laufen, das Wesentliche – unseren Planeten – zu verlieren (Abb. 1).

Abb. 1 Fig. 1
figure 1

Motivationsbild der GfA Frühjahrskonferenz 2023

Motivational picture of the GfA Spring Conference 2023

Ein möglicher Erklärungsansatz könnte in der Ausrichtung von Modellen und Methoden liegen. Jahrzehntelang dominierten in der Gestaltung von Arbeitssystemen die Optimierung von Details bezüglich Faktoren wie Zeit, Kosten, Qualität und Funktionalität, was in Methoden wie dem magischen Dreieck, dem Teufelsquadrat und dem erweiterten Teufelsquadrat zum Ausdruck kommt (Sneed 1987; Flemisch et al. 2019).

Gerade weil diese Entwicklung hin zu einer möglichst frühzeitigen Berücksichtigung des Menschen und dessen Anforderungen bei der Gestaltung von Arbeitssystemen noch nicht abgeschlossen ist, sollten Forschungsmethoden entwickelt werden, die sowohl menschliche Anforderungen als auch Nachhaltigkeitsaspekte gleichermaßen in die ganzheitliche Gestaltung von Arbeitssystemen einfließen lassen. Nach einer begrifflichen Einordnung der Nachhaltigkeit wird zunächst die bestehende Forschungsliteratur im Hinblick auf die Forschungsfrage, wie die Betrachtung der Nachhaltigkeit effektiv in die Systemgestaltung integriert werden kann, analysiert. Basierend auf einer kritischen Auseinandersetzung, werden im Anschluss zwei Modelle entwickelt, welche einen integrativeren Ansatz für die Berücksichtigung der Nachhaltigkeit liefern können: Der „Engelsdiamant“ und das „holistische Bow-Tie-Modell“. Beide Modelle zielen darauf ab, Nachhaltigkeitsaspekte systematisch und ganzheitlich in die Gestaltung und Entwicklung von Arbeitssystemen zu integrieren.

Da die Wirkung auf die Nachhaltigkeit von Arbeitssystemen erst zeitverzögert auftritt, ist die Integration von Nachhaltigkeitsaspekten zu Beginn der Entwicklung eines Arbeitssystems am relevantesten (Nielsen und Bauer 2019). Entscheidend ist es daher, Methoden bereitzustellen, die bereits früh in der Gestaltung und Entwicklung zum Einsatz kommen können und so eine ganzheitliche Bewertung von Arbeitssystemen ermöglichen.

2 Facetten der Nachhaltigkeit

Der weitgefasste Begriff der Nachhaltigkeit und das dieser Arbeit zugrunde gelegte Verständnis im Hinblick auf die Entwicklung des nachhaltigen Engelsdiamanten und des holistischen Bow-Tie-Modells werden nachfolgend kurz erläutert. Das Prinzip der Nachhaltigkeit zielt auf eine effiziente Verteilung begrenzter Ressourcen und das Bewahren der Tragfähigkeit der Ökosysteme der Erde ab. Geprägt durch den Report der Brundtland-Kommission der Vereinten Nationen (UN) aus dem Jahr 1987, strebt Nachhaltigkeit nach einer Entwicklung, „die den Bedürfnissen der Gegenwart entspricht, ohne die Fähigkeit zukünftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen“ (Vereinigte Nationen 1987). Dieser initiale Definitionsansatz der UN entspricht dem, was in dem zeitlich später entwickelten „Drei-Säulen-Modell“ als ökonomische Nachhaltigkeit bezeichnet wird. Zusätzlich definiert das Modell zwei weitere Säulen, die ökologische und soziale Nachhaltigkeit, welche gleichrangig und in direkter Wechselwirkung zur ökonomischen Nachhaltigkeit stehen (Deutscher Bundestag 1998):

  • Ökologische Dimension: Schutz der Erde, Nutzung ihrer Ressourcen und Vermeidung von Überbelastung

  • Ökonomische Dimension: Effiziente Ressourcennutzung zur Förderung der Lebensqualität, ohne zukünftige Generationen zu beeinträchtigen.

  • Soziale Dimension: Förderung von Humanität, Chancengleichheit, gesellschaftlichem Zusammenhalt, kultureller Identität und demokratischen Institutionen.

Ergänzend zu den oben beschriebenen Säulen der Nachhaltigkeit hat die UN im Jahr 2015 die Sustainable Development Goals (SDGs) als Teil der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung formuliert (Vereinigte Nationen 2015). Die 17 SDGs sind breit angelegt und spezifizieren eine Vielzahl von sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Herausforderungen. Diese Herausforderungen sind eng mit den drei Säulen der Nachhaltigkeit verknüpft: Sie fördern die ökologische Nachhaltigkeit durch Ziele wie Klimaschutz und den Erhalt der Ozeane und Landökosysteme; die ökonomische Nachhaltigkeit durch Ziele wie anhaltendes, inklusives und nachhaltiges Wirtschaftswachstum; und die soziale Nachhaltigkeit durch Ziele wie Gleichstellung der Geschlechter, Bildung und die Reduzierung von Ungleichheiten. Die SDGs bieten einen umfassenden Rahmen und ein Leitbild für die Weltgemeinschaft, um gemeinsam an einer nachhaltigeren Zukunft zu arbeiten.

Darüber hinaus haben die SDGs durch die zugenommene Globalisierung und die damit verbundenen internationalen Verflechtungen auch sicherheitspolitische Relevanz. Klimawandel, Umweltschäden, Pandemien und damit verbundene Gesundheitsrisiken und staatliche Fragilität sind zunehmend relevante Aspekte der Sicherheitspolitik. Aus diesem Grund wird inzwischen auch vermehrt der Begriff der vernetzten Sicherheit genutzt, der diese zusätzlichen Herausforderungen, neben militärischen und zwischenstaatlichen Risiken, miteinschließt. Gerade die sich hieraus ergebenden militärischen, gesellschaftliche, ökonomischen, ökologischen und kulturellen Bedingungen sollen in globale Nachhaltigkeitsbetrachtungen mit einbezogen werden (Kronenberg et al. 2023; Wörner und Schmidt 2022). Darüber hinaus sollte eine sicherheitspolitische Nachhaltigkeit gleichrangig zu ökologischer, ökonomischer und sozialer Nachhaltigkeit berücksichtigt werden.

3 Stand der Forschung

Nachfolgend werden ausgewählte Ansätze aus der Forschungsliteratur vorgestellt, die auf die wertebasierte Gestaltung von Systemkonzepten ausgerichtet sind. Um die Technikbewertung zu operationalisieren, wird das Konzept von Spannungsfeldern und Zielkonflikten eingeführt. In diesem Zusammenhang wird untersucht, inwiefern diese Ansätze auch die Integration der Nachhaltigkeit als grundlegenden Wert der Systemgestaltung vorsehen bzw. ermöglichen.

Die Idee menschliche Werte als Grundlage von Entscheidungen in Gestaltungs- und Entwicklungsprozessen technischer Systeme zu nutzen, hat schon eine lange Tradition. Der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) beschäftigt sich bereits seit Gründung im 19. Jahrhundert mit technikphilosophischen und technikethischen Fragen. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg reflektierten Ingenieure intensiver über die gesellschaftlichen und politischen Kontexte ihrer Arbeit. Die Erfahrungen aus dem Krieg und dem Nationalsozialismus motivierten zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit ethischen Fragen, was zu einem interdisziplinären Austausch mit Vertretern anderer Disziplinen, insbesondere der Philosophie, führte. Ein Ergebnis dieses Austauschs ist die Institutionalisierung des Themenfeldes in der VDI-Hauptgruppe „Mensch und Technik“ im Jahr 1956. In den 1970er-Jahren reagierte der VDI auf Diskussionen über Wertewandel und die Verantwortung von Ingenieuren. Es entstand die Idee, eine Richtlinie zur Technikbewertung zu entwickeln, die ethische Aspekte und Werte berücksichtigt (König 2013).

Mit der VDI-Richtlinie 3780 liefert der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) eine Quasi-Norm zur Technikbewertung, die, wie in Abb. 2 dargestellt, auf ein wertegeleitetes Vorgehen in der Produkt- und Systementwicklung abzielt (Verein Deutscher Ingenieure 2000). Sie beschreibt die Terminologie, Konzepte und Grundlagen der Technologiebewertung und legt Grundprinzipien und Methoden für eine umfassende Technologiebewertung fest, die auf die Bewertung der unmittelbaren und mittelbaren technischen, wirtschaftlichen, gesundheitlichen, ökologischen, humanen und sozialen Folgen einer Technologie und möglicher Alternativen abzielt. Die Technikbewertung adressiert die Verantwortung, verschiedene Aspekte technologischer Entwicklungen zu erörtern und dabei entstehende Zielkonflikte aufzuzeigen. Dabei ist es notwendig, mögliche negative Effekte präventiv zu bewerten und diese mit den angestrebten Vorteilen zu vergleichen.

Abb. 2 Fig. 2
figure 2

Übersicht über Werte der Technikbewertung nach VDI 3780

Overview of technology assessment values according to VDI 3780

Die Richtlinie VDI 3780 gibt Empfehlungen für die Technikbewertung und berücksichtigt hierbei auch unterschiedliche Nachhaltigkeitsaspekte. Sie unterstreicht, dass bei der Bewertung einer Technologie nicht nur die technischen und wirtschaftlichen Aspekte betrachtet werden sollten, sondern auch die Auswirkungen auf Gesellschaft, Umwelt und Gesundheit. Die ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit wird durch den Wert Umweltqualität adressiert. Trotz Veränderungen durch Technik und menschliche Eingriffe gilt es, einen verantwortungsvollen Umgang mit natürlichen Ressourcen zu fördern, Umweltschäden zu minimieren und die Biodiversität zu bewahren. Dies erfordert einen sparsamen Ressourcenverbrauch, effektives Recycling und die Reduktion von Umweltbelastungen, um die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen nicht zu gefährden. Die soziale Nachhaltigkeit wird durch zusätzliche Werte wie die Gesellschaftsqualität und individuelle Persönlichkeitsentfaltung ausgedrückt.

Historisch noch nicht so alt aber international bekannter ist der Ansatz des Value Sensitive Design (VSD), der ebenfalls darauf abzielt, menschliche und ethische Werte systematisch in den Entwicklungsprozess zu integrieren. Dieser Ansatz wurde in den 1980er-Jahren von Friedman und Kahn entwickelt, ursprünglich angewandt auf die Entwicklung von Informationssystemen (Friedman et al. 2013) sowie im Bereich der Mensch-Computer-Interaktion von (Borning und Muller 2012). VSD stellt einen methodologischen Rahmen zur Verfügung, um die Werte von verschiedenen Stakeholdern zu definieren und im Gestaltungsprozess zu berücksichtigen (Friedman et al. 2002). Van de Poel beschreiben in diesem Zusammenhang ein Vorgehen, wie Werte von Stakeholdern über zugrundeliegende Normen spezifiziert werden können, die dann wiederum als Anforderungen in den Gestaltungsprozess einfließen (van de Poel 2013). Umbrello und van de Poel beschreiben, dass das wertebasierte Vorgehen auch für die Berücksichtigung von SDGs in Entwicklungsprozessen für Informationssysteme genutzt werden kann (Umbrello und van de Poel 2021) (Abb. 3).

Abb. 3 Fig. 3
figure 3

Anforderungen an die Gestaltung im Value Sensitive Design, adaptiert von (van de Poel 2013)

Design requirements for value-sensitive design, adapted from (van de Poel 2013)

Die Integration von Nachhaltigkeitswerten kann im VSD durch die Übersetzung in konkrete Normen erfolgen. Normen beschreiben spezifische und messbare Ziele bzw. Standards. In Bezug auf einen Wert Umweltschutz kann beispielsweise eine Norm formuliert werden, die eine bestimmte Recyclingquote von Produkt- oder Systemkomponenten sicherstellt. Diese Norm kann dann wiederum als Anforderung in den Gestaltungsprozess integriert werden. In dem gewählten Beispiel kann die Erfüllung der Anforderung beispielsweise dazu führen, dass ein Produkt entworfen wird, welches recyclingfähig ist, indem beispielsweise verschiedene Wertstoffe voneinander getrennt werden.

Die Untersuchung und Analyse von wertegeleiteten Gestaltungs- und Entwicklungsansätzen zeigt, dass ein methodologischer Rahmen für die Integration von Nachhaltigkeitsprinzipien in Gestaltungs- und Entwicklungsprozesse durch Ansätze, wie die VDI 3780 oder VSD bereits beschrieben ist. Sie offenbart jedoch auch, dass es bisher nur wenig konkrete Ansätze gibt, welche potenzielle Zielkonflikte, wie sie z. B. auch durch die VDI 3780 beschrieben werden, bei der Gestaltung soziotechnischer Systeme identifizieren und auflösen können. Konkrete Ansätze zur Auflösung von Zielkonflikten und Spannungsfeldern kommen aus anderen Domänen, v. a. aus dem Projektmanagement, die im Hinblick auf die Gestaltung soziotechnischer Systeme modifiziert wurden. Die zugrundeliegende Metapher vom Spannungsfeld kann bis zur Dialektik von Hegel (z. B. Flemisch et al. 2021) zurückverfolgt werden.

Über viele Jahrzehnte hinweg bestand das dominierende Spannungsfeld aus Zeit, Kosten und Qualität. Dieses Spannungsfeld, dass auch als magisches Dreieck bekannt ist, bezeichnet dabei die grundlegenden Faktoren, die ein System beeinflussen (siehe Abb. 4, links). Die Zeitdimension beinhaltet dabei sämtliche zeitlichen Aspekte, die bis zum Abschluss der Entwicklung erfolgen müssen. Hier sind für eine planmäßige Bearbeitung, vor allem das Identifizieren von möglichen Engstellen sowie die Festlegung einer Bearbeitungsreihenfolge relevant. Die Kostendimension definiert bereits zu Beginn die zur Verfügung stehenden finanziellen sowie sonstige Ressourcen (z. B. Sachmittel, Räume, Gehälter). Die dritte Dimension Qualität bzw. Leistung definiert den Umfang des Projekts mit den zentralen Bestandteilen der zu erledigenden Aufgaben und Meilensteinen. Anpassungen der Qualitätsdimension haben dabei fast immer einen Einfluss auf die Dimensionen Zeit und Kosten.

Abb. 4 Fig. 4
figure 4

„Magisches Dreieck“, links; Teufelsquadrat (Sneed 1987), mittig; Erweitertes Teufelsquadrat (Flemisch et al. 2019), rechts

”Magic triangle“, left; Devil’s square (Sneed 1987), center; Extended devil’s square (Flemisch et al. 2019), right

Da gerade die Qualitätsdimension häufig unpräzise und mit deutlichen Überschneidungen zu Leistung und Funktionalität genutzt wurde, entwickelte Sneed (1987) das Magische Dreieck zum Teufelsquadrat weiter (siehe Abb. 4, Mitte). Hierbei trennte er die Dimensionen Qualität und Funktionalität klar voneinander, mit dem Ziel auch zwischen diesen Dimensionen häufig auftretende Spannungsfelder aufzeigen zu können, die häufig bei gleichbleibenden Rahmenbedingungen hinsichtlich Zeit und Kosten auftreten. Ein Beispiel für ein solches Spannungsfeld sind Produkte mit vielen Funktionen, die schlechter umgesetzt sind, im Vergleich zu Produkten mit weniger Funktionen, die dafür besser umgesetzt sind.

Historisch noch nicht so alt ist die Idee, zusätzlich produkt- und produktionsbezogener Systemqualitäten zu berücksichtigen, um auch deren Einfluss auf eventuelle Spannungsfelder zwischen den Dimensionen zu verdeutlichen. Ein Vorreiter für diesen Ansatz ist das erweiterte Teufelsquadrat (Flemisch et al. 2019, siehe Abb. 4 rechts). Hier wird die Dimension Qualität des Teufelsquadrats um Systemqualitäten (z. B. Joy of Use, Usability, Security, Safety und Performance) ergänzt, um auch hier angestrebte Entwicklungsziele deutlich definieren zu können. Des Weiteren werden Systemqualitäten zweiter Ordnung mit aufgenommen (Freiheit vs. Disziplin, Kooperation, Resilienz, Kontrollierbarkeit und Vertrauen).

Trotz der Erweiterung traditioneller Ansätze wie dem magischen Dreieck zum Teufelsquadrat und darüber hinaus, bleibt die explizite Integration von Nachhaltigkeitsprinzipien beim Auflösen von Spannungsfeldern in der soziotechnischen Systemgestaltung eine Herausforderung. Während das erweiterte Teufelsquadrat durch die Aufnahme von zusätzlichen Systemqualitäten wie Usability, Security und Performance einen Fortschritt darstellt, wird die Nachhaltigkeit oft nur implizit behandelt, als eine Dimension, die in andere Qualitäten einfließt, statt als eigenständige, gleichberechtigte Dimension. Eine explizite Betrachtung der Nachhaltigkeit würde jedoch nicht nur die Dringlichkeit und Bedeutung dieses Themas unterstreichen, sondern auch einen Rahmen bieten, um Zielkonflikte und Spannungsfelder zwischen Nachhaltigkeitszielen und anderen Dimensionen direkt zu adressieren.

4 Konzeptionierung der Modelle

Grade in den letzten Jahren haben globale Herausforderungen und Krisen erneut das Albert Einstein nachgesagte Zitat in Erinnerung gerufen, dass „Probleme nicht mit den gleichen Methoden gelöst werden können, die sie geschaffen haben“. Gerade weil die Entwicklung hin zu einer möglichst frühzeitigen Berücksichtigung des Menschen und dessen Anforderungen bei der Gestaltung von Arbeitssystemen noch nicht abgeschlossen ist, sollten Forschungsmethoden entwickelt werden, die sowohl technische und menschliche Anforderungen als auch Nachhaltigkeitsaspekte gleichermaßen in die ganzheitliche Gestaltung von Arbeitssystemen einfließen lassen.

4.1 Vom Teufelsquadrat zum nachhaltigen „Engelsdiamant“

Im Hinblick auf die Forschungsfrage, wie Nachhaltigkeit effektiv in die soziotechnische Systemgestaltung integriert werden kann, liefert der Engelsdiamant einen ersten, qualitativen Ansatz. Inspiriert durch Sneed (1987) und weiterentwickelt von Flemisch et al. (2019), hebt der Engelsdiamant Nachhaltigkeit als eine zentrale Dimension neben Zeit, Kosten, Funktionalität und Qualität hervor.

Diese Neuausrichtung ermöglicht eine tiefere Integration von Nachhaltigkeitsprinzipien in die Systemgestaltung, indem sie explizit als gleichwertige Zieldimension behandelt wird. Dabei wird die (onto-)logische Konsistenz, dass Nachhaltigkeit ja auch eine Qualität sein könnte, abgewogen mit dem pragmatischen Argument, dass Nachhaltigkeit von Anfang an auf höchster Ebene mitgedacht werden muss. Einen verwandten Ansatz zur Erweiterung des magischen Dreiecks hin zu einer Pyramide, welche die Nachhaltigkeit in die dritte Dimension adressiert, liefert bereits Hinke (2022). Der Engelsdiamant greift dies auf und ist in diesem Zusammenhang als bildliche Metapher zu verstehen. Die Metapher zielt darauf ab, dass die oben genannten Dimensionen als einzelne Facetten des Diamanten integriert werden können und erst der richtige Schliff, die ausbalancierte Systemgestaltung, den Diamanten zum Leuchten bringt. Gleichzeitig kann dieses komplexere Bild des Diamanten auch wieder in die einfachere Abbildung auf die Fläche gebracht werden.

Wie in Abb. 5 dargestellt, spiegelt sich die zentrale Bedeutung der Nachhaltigkeit auch direkt im Modell des nachhaltigen Engelsdiamanten wider. Von der Nachhaltigkeit kann eine direkte Verbindung zu den übrigen Dimensionen hergestellt werden. Hierüber können die zusätzlichen Spannungsfelder zwischen Nachhaltigkeit und Qualität, Funktionen, Zeit, oder Kosten dargestellt werden. In der Analyse, Gestaltung und Entwicklung von nachhaltigen Arbeitssystemen können so wechselseitige Abhängigkeiten berücksichtigt und ausbalanciert werden.

Abb. 5 Fig. 5
figure 5

Nachhaltiger Engelsdiamant, basierend auf dem Teufelsquadrat (Sneed 1987), dem Erweiterten Teufelsquadrat (Flemisch et al. 2019) und dem Pyramidenmodell von Hinke (2022)

Sustainable angels diamond, based on the devil’s square (Sneed 1987), the extended devil’s square (Flemisch et al. 2019) and Hinke’s pyramid model (2022)

Durch dieses Instrument kann ein Zugewinn an Qualität oder Funktionalität des Arbeitssystems mit dem resultierenden Einfluss auf die ökonomische, ökologische oder soziale Nachhaltigkeit abgewogen werden. Eine solche Abwägung kann zum Beispiel bedeuten, dass eine Verbesserung der Qualität oder Funktionalität des Arbeitssystems kurzfristig zu höheren Kosten führen kann, aber langfristig zu Einsparungen bzw. zu einer höheren Nachhaltigkeit beitragen kann. Beispielsweise kann die Beschaffung energieeffizienter Maschinen zunächst teurer sein, aber auf lange Sicht zu Einsparungen bei den Energiekosten führen. Auch soziale Aspekte wie die Förderung der Life-Domain-Balance (manchmal auch irreführend Work-Life-Balance genannt, siehe z. B. Ulich (2021), der Mitarbeitenden können auf den ersten Blick teurer erscheinen, aber langfristig zu einer verbesserten Zufriedenheit und damit zu einer höheren Produktivität und ökonomischen Nachhaltigkeit beitragen. Eine mögliche Konkretisierung des Engelsdiamanten zeigt Abb. 6. mit exemplarisch angetragenen Dimensionen. Diese Dimensionen dienen als „Facetten“, die – metaphorisch – geschliffen werden können, um von einem Status Quo (Is) einer Lösung, einen gewünschten Zielzustand (Should) zu erreichen. So kann die Kategorie „Qualität“ in Einzelqualitäten wie Performanz, Sicherheit, Usability etc. aufgeschlüsselt werden. Nachhaltigkeit kann in Einzeldimensionen wie ökonomische, ökologische und soziale Nachhaltigkeit aufgeschlüsselt werden. Die Wichtigkeit des jeweiligen Aspekts kann durch den überstrichenen Winkel deutlich gemacht werden.

Abb. 6 Fig. 6
figure 6

Mögliche Konkretisierung des Engelsdiamanten, anhand einiger exemplarisch angetragenen Dimensionen

Possible specification of the angels diamond, based on some exemplary dimensions

Eine Herausforderung bei diesem Ausbalancieren der Spannungsfelder des Engelsdiamanten ist es, dass v. a. die Nachhaltigkeit ein komplexes Thema ist, bei dem es bereits erkenntnistheoretisch unmöglich erscheint, alle Auswirkungen mit einer ähnlichen Präzision vorherzusagen, wie dies bisher wissenschaftlich für „kleinere“ Sachverhalte angestrebt wird. Ein Nicht-Handeln wegen einer vermeintlich schwierigeren Datenlage kann jedoch ebenso gefährlich oder noch gefährlicher sein als ein Handeln hin zur falschen Seite. Hierzu sollte das im Ingenieurs-Bereich bewährte Prinzip der Sicheren Seite durch ein Prinzip der Nachhaltigen Seite ergänzt werden: Sind die Auswirkungen auf die Nachhaltigkeit nicht ausreichend sicher abzuschätzen, ist die Systemauslegung bzw. die Maßnahmen zu wählen, die eine höhere Wahrscheinlichkeit auf höhere Nachhaltigkeit versprechen.

Der Engelsdiamant bildet eine Verbindung zwischen etablierten Ansätzen wie dem Value Sensitive Design (VSD) und der VDI 3780 ab, indem er die wachsende Rolle der Nachhaltigkeit im Gestaltungs- und Entwicklungsprozess hervorhebt. Indem dieses Modell potenzielle Zielkonflikte visualisiert, wie sie etwa durch die VDI 3780 aufgezeigt werden, bietet es einen ersten qualitativen Ansatz zur Auflösung dieser Konflikte. Durch die Anwendung von Konzepten aus dem Projektmanagement, wie dem Teufelsquadrat, und die gleichzeitige Integration der Nachhaltigkeit als eigenständige Dimension, fördert der Engelsdiamant dabei eine gezielte Auseinandersetzung mit den Spannungsfeldern zwischen Nachhaltigkeit und anderen Schlüsseldimensionen der soziotechnischen Systemgestaltung.

4.2 Holistisches Bow-Tie-Modell für die Analyse und Gestaltung von soziotechnischen Systemen

Denkt man über Nachhaltigkeit wissenschaftlich nach, ist neben dem Spannungsfeld Mensch – Technik – Natur das Spannungsfeld zwischen dem Lokalen und Globalen bzw. zwischen Detail und Ganzem, sowie das zeitliche Spannungsfeld zwischen Gegenwart und Zukunft (Jetzt und Später) prägend. Diese Aspekte sind insbesondere im arbeitswissenschaftlichen Kontext von Bedeutung, wie unter anderem Flemisch et al. (2021) diskutieren. Ein frappierendes Beispiel ist die drohende Klimakatastrophe, bei der immer noch häufig lokale Optimierungen auf Kosten globaler Aspekte durchgeführt werden. Hier setzt das holistische Bow-Tie-Modell an, das ergänzend zum Engelsdiamanten einen Lösungsansatz bietet, um die genannten Spannungsfelder durch einen holistischen Gestaltungsansatz zu adressieren.

Das holistische Bow-Tie-Modell unterstützt die Analyse und Gestaltung der Wechselwirkungen und Rückkopplungsschleifen zwischen dem lokalen Arbeitssystem und globalen Um-Systemen. Einen Hinweis, wie dies ermöglicht werden kann, gibt die Kybernetik und die Systemtheorie, in der Arbeitssysteme in globale Um-Systeme, wie die Gesellschaft oder die Umwelt, eingeordnet werden, um Wechselwirkungen und Rückkopplungsschleifen zwischen den Teilsystemen bereits frühzeitig im Analyse‑, Gestaltungs- und Entwicklungsprozess zu berücksichtigen (Diesner 2015; Haberfellner et al. 2015). Um diese systemischen Wechselwirkungen besser darstellen zu können, wird in diesem Beitrag ein vom Bow-Tie-Modell der Risikoforschung abgeleitetes, holistisches Modell von Arbeitssystemen skizziert. Das ursprünglich für die Kontrolle von sicherheitskritischen Systemen entwickelte Modell (Flemisch et al. 2023, in press) ermöglicht, die Wechselwirkungen zwischen lokal und global sowie zwischen kurz- und langfristigen Folgen effizient darzustellen (Abb. 7).

Abb. 7 Fig. 7
figure 7

Holistisches Bow-Tie-Modell für sicherheitskritische Systeme (Flemisch et al. 2023, in press)

Holistic bow-tie model for safety-critical systems (Flemisch et al. 2023, in press)

Dabei fokussiert das holistische Bow-Tie-Modell auf die für das jeweilige Arbeitssystem bestimmenden Nutzungssituationen und die wichtigsten Beziehungen zu den übergeordneten Systemen wie dem System of Systems, der Organisation, Gesellschaft und Umwelt. Zusätzlich stellt das Modell eine Schicht für den Weltraum als Übersystem bereit, um mögliche Wechselwirkungen zwischen Erde und Weltraum, wie beispielsweise Informationsaustausch über Satelliten, Energieeintrag durch die Sonne oder Raumfahrt, zu berücksichtigen. Abb. 8 zeigt, wie das holistische Bow-Tie-Modell als Rahmen für die ganzheitliche Betrachtung von Nachhaltigkeit in Bezug auf die Um-Systeme genutzt werden kann.

Abb. 8 Fig. 8
figure 8

Holistisches Bow-Tie-Modell für die nachhaltige Analyse, Gestaltung und Entwicklung von Arbeitssystemen

Holistic bow-tie model for the sustainable analysis, design and development of work systems

Kybernetisch betrachtet, können die im Modell abgebildeten Rückkopplungsschleifen als Beeinflussungs- und Regelkreise interpretiert werden, die an Bewertungs- und Entscheidungspunkten initiiert werden und somit die Analyse, Gestaltung und Entwicklung von Arbeitssystemen durch einen ganzheitlichen Betrachtungsansatz unterstützen. Das Feedback aus der ganzheitlichen Betrachtung der Nachhaltigkeit kann im Rahmen der Analyse, Gestaltung und Entwicklung von Arbeitssystemen als Entscheidungsgrundlage dienen.

Für die Forschungs- und Entwicklungsgemeinschaft, insbesondere in der Arbeitswissenschaft, ist es nun entscheidend, bestehende, kurzfristig und lokal orientierte Rückkopplungsschleifen („Durch diese Aktion wird das lokale Mensch-Maschine System schneller, leistungsfähiger, günstiger“) durch langfristige und globale Rückkopplungsschleifen zu ergänzen. Dabei könnte eine wesentliche Chance darin bestehen, Innovationen und die Entwicklung von Arbeitssystemen über mehrere Rückkopplungsschleifen in den Um-Systemen laufen zu lassen, die auf einem gemeinsamen Verständnis aufbauen.

In der Analyse, Gestaltung und Entwicklung von Arbeitssystemen sollte ein mehrstufiger Entscheidungs- und Bewertungsprozess verknüpft werden, der die Beziehungen zu den Um-Systemen berücksichtigt. Dieser Prozess erfordert ein gemeinsames Verständnis von den anzufordernden und anzustrebenden Systemqualitäten. Der nachhaltige Ansatz des holistischen Bow-Tie-Modells und des Engelsdiamanten manifestiert sich darin, dass bei der Analyse, Gestaltung und Entwicklung von nachhaltigen Arbeitssystemen die kurzfristigen und langfristigen Folgen für alle Um-Systeme bereits früh genug, nach Möglichkeit von Beginn an berücksichtigt werden. Dieser Prozess ermöglicht ein tieferes Systemverständnis und eine systematische Analyse der Risiken und Chancen.

5 Anwendung und Diskussion des Engelsdiamanten und des holistischen Bow-Tie-Modells

Im Rahmen eines Expertenworkshops des NATO Human Factors and Medicine Panels (NATO-HFM-Panel 366) wurde das Modell des Engelsdiamanten erstmals praktisch für die Identifizierung konkreter Aspekte innerhalb der zuvor beschriebenen Dimensionen angewendet. Der Ende 2023 in London durchgeführte Workshop verfolgte dabei das Ziel, anhand eines konkreten Beispiels der Entwicklung eines auf KI basierenden Sicherheitssystems verschiedene Methoden zu explorieren, anhand derer die relevanten Stakeholder und deren Bedürfnisse und Anforderungen identifiziert werden. In einem partizipativen Ansatz wurden so die Dimensionen des Engelsdiamanten aus den verschiedenen Blickwinkeln den zuvor identifizierten Stakeholder betrachtet und die unterschiedlichen Facetten dieser Dimensionen dokumentiert. Die Dokumentation der Workshop-Ergebnisse ist in Abb. 9 dargestellt.

Abb. 9 Fig. 9
figure 9

Beispiel für den Engelsdiamanten bei einem Stakeholder-Workshop zu einem KI-basierten Entscheidungsunterstützungssystem (NATO-HFM-Panel 366)

Example of the angel diamond at a stakeholder workshop on an AI-based decision support system (NATO HFM Panel 366)

Zunächst wurden so aus der Perspektive eines fiktiven Kommandanten jede Dimension in weitere Facetten oder Attribute unterteilt. Dazu wurden als wichtigste „Qualitäten“ eines solchen Systems Legalität, Zuverlässigkeit, Erklärbarkeit, Genauigkeit und Sicherheit identifiziert. Hinzu kamen dann noch die Wahrung der Privatsphäre und mögliche Voreingenommenheit des Systems als Konsequenz aus fehlenden oder falschen Datensätzen (Bias).

In der Dimension der „Nachhaltigkeit“ wurden zunächst die Langlebigkeit, Robustheit und die ökologische Verträglichkeit notiert. Insbesondere letzteres ist im Kontext eines sehr rechenintensiven KI-basierten Systems und somit hinsichtlich auf die benötigte Rechenleistung, die nur in großen Rechenzentren zur Verfügung steht, eine immer wichtiger werdende Facette neuer Systeme.

Die Dimension der „Kosten“ wurde zunächst in die nahliegenden Facetten der Herstellungs- und Betriebskosten sowie der Ausbildungskosten unterteilt. Hinzu kamen jedoch ebenso wichtige, jedoch häufig seltener betrachteten Facetten wie die Kosten, die durch den Verlust von Wissen und Selbstwert verursacht werden. Bei einem KI basierten Sicherheitssystem müssen jedoch auch die potenziellen „Kosten“, die durch eine Veränderung der Moralität und Empathie in einer Gesellschaft verursacht werden mit einbezogen werden. Diese, sind zusammen mit den nur bedingt quantifizierbaren „Kosten“ eines potenziell verlorenen Lebens, nur unzureichend quantifizierbar, jedoch eine sehr wichtige Facette, die bei der Gestaltung und Anwendung eines solchen Systems mit einbezogen werden muss.

In der Dimension „Zeit“ wurde zunächst die Zeit notiert, die es bedarf, bis ein solches System entwickelt, aufgebaut und antrainiert wurde. Darauf folgte die Zeitspanne, für die ein solches System eingesetzt wird. Weitere wichtigen Attribute sind die Aspekte Reaktionszeit des Systems und wie diese sich auf diese auf das Gesamtsystem Operator-Software-Hardware auswirkt.

Bewusst zuletzt wurde die Dimension der „Funktionen“ diskutiert und dabei zunächst nur zwei generell anwendbare Attribute notiert; Erfüllung ethischer Prinzipien und die Abschirmung von unautorisierten Zugriffen. Grund dafür war der frühe Zeitpunkt, zu dem diese Methode eingesetzt wurde, an dem noch kein konkretes Systemkonzept bestand. So stellt diese Auflistung keine allumfassende Liste von Attributen dar, sondern eine erste Einschätzung aus der Perspektive eines Kommandanten, welche dann mit weiteren Aspekten aus der Perspektive eines Ingenieurs ergänzt wurde. Dabei wurde deutlich, dass dabei zum Teil sehr unterschiedliche Interpretationen der Attribute bestehen. Diese resultieren aus der Verwendung anderer Begrifflichkeiten in den verschiedenartigen Berufsfeldern und Ausbildungshintergründen, und sollten so bald wie möglich harmonisiert werden.

Im Anschluss an die Identifizierung der Attribute wurde eine erste Gewichtung durchgeführt. Dabei wurden die Repräsentanten der Stakeholder dazu aufgefordert, für jedes Attribut eine individuelle Bewertung durchzuführen und diese auf der Attributachse entsprechend der jeweiligen Achsenbeschriftung (Besser-Schlechter/Mehr-Weniger/Schneller-Langsamer/Teurer-Günstiger) mit einem farbigen Punkt zu markieren. Diese wurden dann miteinander verknüpft, um eine Visualisierung zu schaffen, inwiefern die Einschätzungen der unterschiedlichen Stakeholder sich gleichen oder voneinander abweichen. Diese Spannungsfelder sind wichtige Informationen für jeden Abschnitt der Systementwicklung und des Einsatzes. So wurde in diesem Fall zum Beispiel ein Spannungsfeld zwischen Präzision, Bias und Erklärbarkeit identifiziert. So kann angenommen werden, dass ein KI-System, das mit bewusst vorselektierten Datensätzen trainiert wurde, eine höhere Präzision aufweist, jedoch durch die Selektion auch eine Tendenz bzw. Ausrichtung hat, die möglicherweise die Ergebnisse verfälscht. Dadurch wird jedoch auch eine höhere Erklärbarkeit der Ergebnisse erreicht, da diese der Vorselektion logisch folgen. Ohne eine solche Selektion sind die Ergebnisse gegebenenfalls weniger präzise, umfassen jedoch mögliche Fälle, die zuvor nicht in Betracht gezogen wurden.

In der erstmaligen Anwendung des Engelsdiamanten als Methode wurde deutlich, dass mögliche zeitliche Veränderungen in diesem Format noch nicht erfasst werden. Zur Dokumentation dieser zeitlichen Veränderungen könnten weitere Engelsdiamanten, die weitere Zeitpunkte der Systementwicklung oder -Nutzung darstellen, erstellt werden, bei denen die Gewichtung der Facetten neu bewertet werden. Diese könnten dann über- oder nebeneinandergelegt und somit verglichen werden. Eine Herausforderung dabei ist, dass bei einer großen Anzahl von Stakeholdern diese unabhängig voneinander verglichen werden müssen, damit die Lesbarkeit der Grafik und der innere Zusammenhang erhalten bleibt. Eine weitere Fragestellung, die bei der Anwendung identifiziert wurde, war die Dimensionen der Ethik und des Rechts. Es wurde erörtert, ob bestimmte übergeordnete Aspekte, ähnlich wie Nachhaltigkeit, als Ergänzung auf der höchsten Ebene des Teufelsquadrats diskutiert werden sollten, oder ob sie schon durch verschiedene Elemente des Engelsdiamanten abgedeckt sind. Dies wäre auch möglich, da der Engelsdiamant bewusst nicht auf fünf Dimensionen beschränkt ist, sondern beliebig erweiterbar.

Neben dem Engelsdiamanten wurde in dem Workshop ebenfalls das holistische Bow-Tie-Diagramm zur Identifizierung der relevanten Stakeholder eingesetzt (siehe Abb. 10). Dabei wurde in einer partizipativen Herangehensweise mit einer Gruppe von Experten die grundlegende Grafik mit Informationen ergänzt. Ziel war es dabei aus den unterschiedlichen Perspektiven die Stakeholder zu benennen und innerhalb der verschiedenen Um-Systeme zu verorten.

Abb. 10 Fig. 10
figure 10

Beispiel für das holistische Bow-Tie-Modell bei einem Stakeholder-Workshop zu einem KI-basierten Entscheidungsunterstützungssystem (NATO-HFM-Panel 366)

Example of the holistic bow-tie model at a stakeholder workshop on an AI-based decision support system (NATO HFM Panel 366)

Begonnen wurde mit dem zentralen Element „System aus Mensch und KI“, in dem eine Wache als Endnutzer und ein Eindringling als Stakeholder identifiziert wurden. Dabei kann ein Eindringling in verschiedenen Formen auftreten: Das System kann direkt physisch angegriffen werden oder durch einen virtuellen Hackerangriff, zusätzlich sind hier auch die in der Organisationsebene lokalisierten Personen zu betrachten, die ein generelles Interesse an einem Angriff auf das System haben.

Im direkten Umfeld, im System of Systems wurden weitere Stakeholder notiert, hier befinden sich Wachposten, Techniker und Datenanalysten sowie ein Kommandant, der gegebenenfalls durch einen Berater unterstützt wird. Sowohl der Kommandant als auch die Wachposten sind Bestandteil einer Organisation, die durch Trainings- und Betriebsabläufe und deren Führung beeinflusst werden und sind somit auch als Stakeholder zu betrachten. Im militärischen Kontext sind parallel dazu auch die lokalen Organisationen wie zum Beispiel die Polizei als Stakeholder zu betrachten. Auch der Hersteller eines solchen Systems wurde der Organisationsebene zugeordnet. Innerhalb dieser Organisation wurden dann weitere Stakeholder wie die Besitzer, Entwickler, Rechtberater und interne Zertifizierer identifiziert. Häufig sind hier weitere Unternehmen als z. B. Zulieferer für Hardware oder Daten involviert und stellen somit weitere Stakeholder auf der Organisationsebene dar.

In einer darüber angeordneten Ebene „Gesellschaft“ wurden die zuständigen Ministerien und andere Verteidigungsverbünde angesiedelt. Ein weiterer wichtiger Stakeholder ist hier das Parlament als direkter Vertreter der Bevölkerung. Für alle Stakeholder sollte auch der kulturelle Hintergrund und die persönlichen Voreinnahmen als ein wichtiger Faktor betrachtet werden.

Das Bow-Tie-Modell bewährte sich im Workshop insbesondere bei der Identifizierung und Strukturierung der vielfältigen Stakeholder eines komplexen Systems. Besonders hervorzuheben ist, dass das holistische Bow-Tie-Diagramm die partizipative Methodik, hier die Einbindung einer Expertengruppe, unterstützt. Diese Herangehensweise stellte sicher, dass ein breites Spektrum an Perspektiven und Fachwissen in den Prozess einfloss, was für die Analyse eines so komplexen Systems von entscheidender Bedeutung ist. Die Anwendung des Modells ermöglichte eine umfassende Identifizierung der Stakeholder auf verschiedenen Ebenen des holistischen Bow-Tie-Modells. Von den direkten Nutzern bis hin zu höheren Organisationsebenen wie dem zuständigen Ministerium und Bürgerorganisationen konnte das Modell eine detaillierte und strukturierte Darstellung der verschiedenen Stakeholder und ihrer Beziehungen zum Gesamtsystem liefern.

6 Limitationen

Die in diesem Beitrag beschriebene theoretische Modellentwicklung und exemplarische Anwendung geht mit einer Reihe von Limitationen einher, die nachfolgend zusammengefasst werden. Die Bewertung einzelner Dimensionen des Engelsdiamanten erfolgt zunächst rein qualitativ, was die praktische Anwendung der Modelle zwar erleichtert, eine nachhaltige Kredibilität der Methode jedoch behindern würde. Ähnlich wie die zunächst nur qualitativen Modelle der VDI oder des Teufelsquadrats sollte auch das Modell des Engelsdiamanten soweit wie möglich quantitativ unterfüttert werden. Auch hier sollten die Grundprinzipien der sicheren und der nachhaltigen Seite gelten: Ist aus Zeitgründen noch keine vergleichende Quantifizierung möglich, z. B., weil Nachhaltigkeit erst in der Zukunft wirkt und damit epistemologisch per se weniger quantifizierbar sein könnte als derzeitige Sachverhalte, darf nicht zur quantifizierbareren Seite hin gehandelt werden, sondern muss zur nachhaltigen Seite hin gehandelt werden.

Obwohl die bisherige Anwendung der Modelle zeigt, dass ihre besondere Stärke in der Anschaulichkeit von Verbindungen und Spannungsfeldern insbesondere in der Verbindung von Theoretikern und Praktikern liegt, kann bei der Anwendung der Modelle, insbesondere des holistischen Bow-Tie-Modells, eine zu hohe Komplexität die Nutzerfreundlichkeit einschränken und den Zugang für Praktiker ohne tiefergehende theoretische Kenntnisse behindern. Hier ist auf das richtige Maß zu achten, insbesondere darauf, dass nicht nach Vollständigkeit gestrebt wird, sondern vor allem die wichtigsten Zusammenhänge erfasst werden. Im Zweifelsfall können Schaubilder unterschiedlichen Auflösungsgrades erzeugt werden, die für den jeweiligen Anwendungsfall Verständlichkeit versus Vollständigkeit/Genauigkeit balancieren.

Beide Modelle stehen erst am Anfang ihrer Entwicklung, die noch hohe Freiheitsgrade hat. Wie bei den meisten qualitativen Modellen ist eine der naturwissenschaftlichen Modellierung vergleichbare Validierung bei Einführung der Modelle epistemologisch noch nicht möglich, sondern wird erst Schritt für Schritt, „on the job“ sinnvoll. Wünschenswert ist eine entwicklungsbegleitende Validierung, die im Dialog zwischen Theorie und Praxis die Validität und Gebrauchstauglichkeit hinterfragt.

7 Zusammenfassung und Ausblick

Der Artikel eröffnet mit der Bedeutung von Nachhaltigkeit und Resilienz in Arbeitssystemen angesichts globaler Krisen wie Klimawandel, Covid-19 und geopolitischer Konflikte. Um Nachhaltigkeitsaspekte in der Gestaltung und Entwicklung von Arbeitssystemen besser zu integrieren, werden basierend auf ausgewählten Ansätzen aus der Literatur zwei zentrale Modelle, der „Engelsdiamant“ und das „holistische Bow-Tie-Modell“ eingeführt.

Der Engelsdiamant erweitert das bekannte „Teufelsquadrat“ um die Dimension der Nachhaltigkeit. Er dient als Metapher, um die Bedeutung von Nachhaltigkeit neben den traditionellen Dimensionen von Zeit, Kosten, Qualität und Funktionalität zu verdeutlichen. Er soll dabei unterstützen, die Auswirkungen von Entscheidungen auf die Nachhaltigkeit (ökologisch, ökonomisch, sozial oder sicherheitspolitisch) von Arbeitssystemen zu bewerten und mit konkurrierenden Systemqualitäten zu balancieren.

Das holistische Bow-Tie-Modell ermöglicht die Analyse und Gestaltung von Wechselwirkungen und Rückkopplungsschleifen zwischen lokalen Arbeitssystemen und globalen Um-Systemen. Es fokussiert sich auf die für das Arbeitssystem bestimmenden Nutzungssituationen und veranschaulicht Wechselwirkungen und Interaktionen zu übergeordneten Systemen wie Organisation, Gesellschaft und Umwelt. Vor dem Hintergrund zunehmender globaler Herausforderungen ist ein solches Vorgehen unerlässlich, um nachhaltige Entscheidungen zu unterstützen, welche den individuellen Nutzer, die Organisation, die Gesellschaft und die Umwelt auf lange Sicht begünstigen.

Die mögliche Anwendung des Engelsdiamanten und des holistischen Bow-Tie-Modells wurde am Beispiel eines konkreten, im November 2023 durchgeführten NATO Workshops zu auf künstlicher Intelligenz basierenden Sicherheitssystemen illustriert. Dabei schlagen sich beide Modelle weder auf die eine noch auf die andere Seite der Diskussion, sondern versuchen eine Brücke zwischen verschiedenen Perspektiven zu bauen: Wie lassen sich das Ganze und das Detail, das Jetzt und Später, die ökonomischen, ökologischen, sozialen und sicherheitspolitischen Dimensionen von Arbeitssystemen zusammen so denken, dass gemeinsames Handeln unterstützt wird?

Der Engelsdiamant und das holistische Bow-Tie-Modell bieten erste Ansätze, um diese Herausforderungen anzugehen. Ihre Anwendung in anderen Kontexten, wie im Rahmen von Workshops und Projekten, sollte weiter erforscht und verfeinert werden, um ihre Wirksamkeit in der Praxis zu bewerten und potenzielle Verbesserungen zu identifizieren. Die Forschung sollte sich darauf konzentrieren, diese Modelle für verschiedene Arten von Arbeitssystemen anzupassen und zu testen, um ihre Universalität und Anwendbarkeit zu überprüfen. Dies würde auch dazu beitragen, ein breiteres Verständnis für die Integration von Nachhaltigkeit in die Systemgestaltung zu entwickeln und effektivere, resilientere und nachhaltigere Arbeitssysteme für die Zukunft zu schaffen.

Der vorliegende Beitrag zeigt: Beide Modelle stehen vergleichsweise noch am Anfang, noch ohne Garantie, aber bereits mit ersten Hinweisen auf Wirksamkeit und Anwendbarkeit. Das Prinzip der nachhaltigen Seite gilt auch hier. Wir sind entschlossen, die Modelle „on the job“ weiterzuentwickeln, und freuen uns über Anregungen und Ermutigungen, aber auch über konstruktive Kritik.