1 Einleitung

Psychische Störungen sind in der Allgemeinbevölkerung weit verbreitet (Robert Koch-Institut 2015; Jacobi et al. 2016; Gerdau-Heitmann et al. 2017) und auch im erwerbsbezogenen Kontext werden psychische Stressoren und Störungen zunehmend wahrgenommen (Rothe et al. 2017). In der Vergangenheit ließen sich vermehrt psychische Diagnosen sowohl im Arbeitsunfähigkeitsgeschehen als auch im Rentenzugang wegen verminderter Erwerbsfähigkeit feststellen (Robert Koch-Institut 2015). Kennzeichnend sind hierbei relativ lange Arbeitsunfähigkeitsdauern bei psychischen Störungen (Grobe und Bessel 2020). Damit weisen diese eine besondere gesundheitsökonomische Krankheitslast auf.

Mehrere Studien konnten zeigen, dass das Vorliegen einer psychischen Belastung mit einem vermehrten Auftreten von verschiedenen Symptomen und Erkrankungen, wie z. B. Schlafstörungen (Yang et al. 2018), Herz-Kreislauferkrankungen (Dragano et al. 2017; Eddy et al. 2017), depressiven Episoden (Wege et al. 2018; Araujo et al. 2019) und sogar Krebserkrankungen (Blanc-Lapierre et al. 2017) einhergehen kann.

Die Erwerbsarbeit ist für die meisten Erwachsenen nicht nur aus zeitlicher Hinsicht ein zentraler Bestandteil ihres Lebens. Die psychische Gesundheit und mit ihr auch die psychische Belastung sollten daher auch im Hinblick auf eine humane Arbeitsgestaltung in den Blick genommen werden (Mümken et al. 2016; Rothe et al. 2017). Obwohl das Thema psychische Gesundheit im betrieblichen Kontext in den vergangenen Jahren mehr Aufmerksamkeit erfährt, besteht bei vielen Betrieben große Unsicherheit im Umgang mit dem Thema (Ahlers 2016; Lenhardt 2017; Rothe et al. 2017; Gilbert et al. 2020). Für viele Unternehmen ist insbesondere die psychische Gesundheit etwas, wofür sich diese nicht verantwortlich zeigen oder womit sie sich überfordert fühlen (Lenhardt 2017). Diese Missstände behindern auf betrieblicher Ebene die Förderung der psychischen Gesundheit. Zudem scheinen viele Arbeitgeber:innen u. a. nicht ausreichend über ihre eigenen und externen Möglichkeiten in der Prävention und Gesundheitsförderung psychischer Faktoren informiert zu sein (Beck et al. 2012; Wulf et al. 2017).

Der Gesetzgeber hat zur Beurteilung von Arbeitsbedingungen mittels Gefährdungsbeurteilung das „Gesetz über die Durchführung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit“ am 25. Oktober 2013 novelliert und den § 5, Absatz 3 um „psychische Belastungen bei der Arbeit“ ergänzt (Arbeitsschutzgesetz, Bundesgesetzblatt 2013; Artikel 8, S. 3847). Mit der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung steht bereits ein Instrument zur Verfügung, um psychische Belastung zu erkennen und einzudämmen, aber auch, um Ressourcen sowie ressourcenstärkende Gestaltungsmöglichkeiten und -erfordernisse im Betrieb zu ermitteln (Beck et al. 2014). Doch obwohl die Gefährdungsbeurteilung gesetzlich vorgeschrieben ist, erfüllen nur wenige Unternehmen diese Forderung (Beck und Schuller 2020). Aber nicht nur die Unternehmen haben im Bereich der psychischen Gesundheit einen gesetzlichen Auftrag, sondern auch die Sozialversicherungsträger sollen die Unternehmen bei der betrieblichen Gesundheitsförderung und Prävention unterstützen. Diese Hilfsangebote beziehen sich sowohl auf die verpflichtende Gefährdungsbeurteilung unter Berücksichtigung der psychischen Aspekte, als auch für die betriebliche Gesundheitsförderung im Allgemeinen, die für Arbeitgeber:innen grundsätzlich ein freiwilliges Angebot darstellt. Die Gefährdungsbeurteilung bildet das Fundament der betrieblichen Gesundheitsförderung und Prävention, da sie ein systematisches Vorgehen ermöglicht.

Im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung sind insbesondere die staatlichen Arbeitsschutzbehörden und Unfallversicherungsträger zu nennen, deren maßgebliche Aufgabe in der Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren besteht. Ihnen obliegt unter anderem die Kontrolle der Umsetzung der Gefährdungsanalyse. In der „Leitlinie Beratung und Überwachung bei psychischer Belastung am Arbeitsplatz“, die von der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie herausgegeben wurde, heißt es zum Rollenverständnis der Aufsichtspersonen der staatlichen Arbeitsschutzbehörden und Unfallversicherungsträger, diese sollen als „Generalisten“ beratend eine „Lotsenfunktion“ einnehmen, „ohne jedoch die betriebliche Bearbeitung des Themas in den einzelnen Phasen zu begleiten“ (Geschäftsstelle der Nationalen Arbeitsschutzkonferenz 2018, S. 7). Psychische Belastung sei „gleichwertig neben den technischen, chemischen, biologischen und ergonomischen Fragestellungen im täglichen Routinehandeln des Aufsichtspersonals zu etablieren“ und Unternehmen dahingehend zu sensibilisieren (Geschäftsstelle der Nationalen Arbeitsschutzkonferenz 2018, S. 7). Die beratende Funktion der Unfallversicherungsträger betrifft sowohl die Analyse entsprechender Gefährdungen im Betrieb, als auch die Wahl geeigneter Maßnahmen und Verfahren zu deren Reduktion. Zudem ist die Qualifizierung von betrieblichen Multiplikator:innen eine mögliche Unterstützungsleistung.

Die Krankenkassen haben insbesondere nach Verabschiedung des Präventionsgesetztes eine wichtige unterstützende Funktion in der betrieblichen Gesundheitsförderung. Zur Inanspruchnahme dieser Hilfe können sich die Unternehmen entweder direkt an eine Krankenkasse wenden oder sie wählen den Kontakt zu einer regionalen Einrichtung für betriebliche Gesundheitsförderung, kurz BGF-Koordinierungsstelle, welche sie kassenartübergreifend informiert. Über eine erste Informations- und Beratungsleistung hinaus, bieten Krankenkassen den Unternehmen Hilfe beim Aufbau von Strukturen zur betrieblichen Gesundheitsförderung und Prävention an. Die Moderation beispielsweise von Gesundheitszirkeln oder ähnlichen Arbeitsgruppen gehört ebenfalls zum Leistungsspektrum der Krankenkassen. Zur innerbetrieblichen Bedarfsermittlung können die Krankenkassen den Betrieb bei der Analyse ebenfalls unterstützen. So können beispielsweise Analysen der Arbeitsunfähigkeitsdaten darüber Aufschluss geben, inwiefern psychische Störungen eine Rolle im Unternehmen spielen. Außerdem bieten Krankenkassen spezifische Maßnahmenangebote zur Stressbewältigung und Ressourcenstärkung, Suchtbewältigung oder Schulungen von Führungskräften und anderen Multiplikator:innen an. Überdies ist ihre Mitarbeit bei der Dokumentation und Wirksamkeitskontrolle gesundheitsförderlicher Elemente denkbar (GKV-Spitzenverband 2021).

Die Rentenversicherungsträger bieten den Betrieben ebenfalls eine Beratung an, allerdings konzentriert sich diese eher auf die Bereiche betriebliches Eingliederungsmanagement oder Rehabilitation. Ihre Präventionsangebote sind eher an individuelle Einzelbedarfe ausgerichtet. Dennoch sollen auch die Rentenversicherungsträger wie auch die Krankenkassen auf die Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung hinwirken und bei Beratungsbedarf auf die Unfallversicherungsträger verweisen (Die Träger der Nationalen Präventionskonferenz 2018).

Insgesamt sind die Sozialversicherungsträger angehalten, Betriebe auch „auf jeweils ergänzende Leistungen der anderen Sozialversicherungsträger“ (Die Träger der Nationalen Präventionskonferenz 2018, S. 24) hinzuweisen und im Bedarfsfall „sollten Absprachen getroffen werden, wie sich die Beteiligten entsprechend ihrer gesetzlichen Zuständigkeiten, Kompetenzen und Ressourcen in gemeinsame Aktivitäten einbringen“ (Die Träger der Nationalen Präventionskonferenz 2018, S. 24) können. „Dies erfordert Transparenz und Information über die grundlegenden Leistungen der Sozialversicherungsträger und eine entsprechende Qualifizierung ihrer betrieblichen Beraterinnen und Berater“ (Die Träger der Nationalen Präventionskonferenz 2018, S. 24), wie in den Bundesrahmenempfehlungen zutreffend gefolgert wird. In diesem Zusammenhang ist auch die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales in ressortübergreifender Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Gesundheit sowie dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Jahr 2020 gestartete „Offensive Psychische Gesundheit“ zu nennen, die ebenfalls zur Vernetzung der einzelnen Akteur:innen beitragen will und deren jeweilige Präventionsangebote bekannter machen will (BMG 2020).

Neben den Sozialversicherungsträgern sind darüber hinaus auch die Beschäftigten sowie Arbeitgeber:innen selbst zu nennen. Auf institutionalisierter Ebene werden die Interessen dieser Parteien jeweils beispielsweise durch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände vertreten. Des Weiteren gibt es auch zahlreiche private Anbieter sowie diverse Organisationen und Verbände denen die Förderung und Prävention im Bereich psychischer Gesundheit bzw. Belastung potenziell ein Anliegen sind.

Insgesamt ist die Landschaft der Akteur:innen durchaus vielfältig. Interessant ist nun, inwiefern Betriebe in der Praxis tatsächlich deren Angebote nachfragen und wahrnehmen, welche Hürden in der Zusammenarbeit genommen werden müssen und ob die geforderte Transparenz im Leistungsangebot gegeben ist, sodass ein optimales Ineinandergreifen der Angebote gewährleistet ist.

2 Fragestellung

Für diese Studie wurden zwei Branchen – der ambulante Pflegebereich und der IT-Sektor – ausgewählt, die sich beide durch interaktive Dienstleistungsarbeit auszeichnen, also Arbeit die häufig am und mit Menschen stattfindet. In beiden Branchen werden z. T. hohe Flexibilitätsforderungen bei der Arbeitsdurchführung, wie z. B. der räumlichen und zeitlichen Mobilität und der Beschäftigungsform gestellt, was ebenfalls eine besondere Herausforderung an eine gesundheitsförderliche Arbeitsgestaltung darstellt. Häufig kommt es zu unvollständigen Arbeitsaufgaben, die sich auch aus der Interaktion mit den Kund:innen oder Klient:innen ergeben (Böhle et al. 2015). Daneben wird Arbeit zunehmend unter Technikeinsatz gestaltet, welcher eine besondere Strukturierung der Tätigkeitsinhalte erfordert. Es ist nicht klar, welche Auswirkungen diese Umgestaltung der Arbeit und der Einsatz von Technik langfristig haben werden (Böhle und Weihrich 2020).

Die beiden Branchen Pflege und IT-Dienste weisen auch Unterschiede auf, so arbeiten in den ambulanten Pflegediensten mit 87 % überwiegend Frauen (GPR 2017a; eigene Berechnung) und mit einem Anteil von 69 % sind Beschäftigungsverhältnisse mit reduziertem Stundenumfang (GPR 2017b; eigene Berechnung) die Regel. Der Anteil der geringfügig Beschäftigten liegt mit 18 % (GPR 2017b; eigene Berechnung) weit über dem Durchschnitt. Offensichtlich scheinen diese vom Normalarbeitsverhältnis abweichenden Beschäftigungsformen kompatibel mit den flexiblen Anforderungen zu sein, die oftmals auch einen variablen zeitlichen Einsatz erfordern. In der IT-Branche arbeiten dagegen mehrheitlich Männer und anders als im ambulanten Pflegesektor ist Beschäftigung in Vollzeit die Regel. Allerdings ist der Anteil der Solo-Selbständigen hier überdurchschnittlich hoch (Brenke und Beznoska 2016).

Im Rahmen der hier vorliegenden Studie wurden Expert:innen aus den Einrichtungen befragt, die als mögliche Anlaufstellen für Unternehmen in Betracht kommen, wie z. B. den Sozialversicherungsträgern, Arbeitnehmervertretungen und anderen Leistungserbringern für betrieblichen Arbeitsschutz und Gesundheitsförderung. Ziel ist es zu klären, inwiefern Betriebe externe Unterstützungsangebote bezüglich psychischer Belastung von Beschäftigten nachfragen und nutzen. Zu diesem Zweck wurde erhoben, welche Unterstützungsangebote jeweils vorliegen, wie diese angenommen werden und wo möglicherweise Änderungsbedarfe hinsichtlich der Zusammenarbeit, sowohl mit den Unternehmen als auch untereinander, gesehen werden.

3 Material und Methode

Für die qualitative Interviewstudie wurden Personen ausgewählt, die als Beratungs- und/oder Anlaufstelle für Unternehmen und Beschäftigte aus den oben geschilderten Branchen oder branchenübergreifend in Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen fungieren. Auf die gestellten zwölf Interviewanfragen kamen elf Zusagen zu einem Interview. Die Rekrutierung fand über direkte Interviewanfragen per E‑Mail statt. Die für die Experteninterviews rekrutierten Personen sollten als Unternehmensvertreter:innen über Erfahrungen im Umgang mit psychischer Belastung bei flexibler Dienstleistungsarbeit sowie Kenntnisse regionaler Vernetzung der Einrichtungen, die Unterstützungsangebote vorhalten, verfügen. Die Anzahl der Interviews ist in der Angemessenheit des Samples für die Bearbeitung der Fragestellung sowie die Einholung der Expertise regionaler Akteur:innen (als Anliegen des o. g. Projektes) begründet. Für die Erhebung wurde ein Interviewleitfaden für ein induktiv-deduktives Vorgehen erarbeitet. Ein Datenschutzkonzept und eine Einverständniserklärung zur Teilnahme am Interview lagen vor, diese wurden den Interviewpartner:innen im Voraus zugesandt und vor dem eigentlichen Interview bei Bedarf besprochen und anschließend unterzeichnet.

Es wurden im Zeitraum April bis Juli 2019 elf Interviews mit zwölf Personen (zehn Einzelinterviews, ein Zweierinterview) geführt (n = 12; 5w, 7m). Drei interviewte Personen waren tätig bei Gewerkschaften, zwei bei Berufsgenossenschaften, eine bei einer Krankenkasse, zwei bei der Deutschen Rentenversicherung, eine bei einer Koordinierungsstelle für Betriebliche Gesundheitsförderung, eine bei einer öffentlichen Einrichtung für Beschäftigtenvertretung, eine bei einer Interessenvertretung von Arbeitgebern sozialer Dienstleistungen sowie eine bei einem BVMWFootnote 1-Projekt für betriebliche Gesundheitsförderung. Eine Übersicht ist Tab. 1 zu entnehmen:

Tab. 1 Table 1 Übersicht des Samples nach Institutionen und Bereich der befragten Akteur:innenOverview of the sample by institution and field of the interviewed agents

Die Zuständigkeitsbereiche der interviewten Personen sind überwiegend regional und teilweise branchenspezifisch definiert. Neun Interviews wurden persönlich und zwei als Telefoninterviews geführt. Alle Interviews wurden audioaufgezeichnet, es liegen etwa neun Stunden Interviewmaterial vor. Die Interviews wurden als Fließtext transkribiert und Personennamen anonymisiert (außer Namen von Personen der Öffentlichkeit, z. B. solche, die politische Ämter bekleiden). Die Interviews wurden in einem mehrstufigen Verfahren mittels qualitativer Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) ausgewertet.

4 Ergebnisse

Bei der Auswertung der Interviews wurden acht Kategorien mit Unterkategorien zur Identifikation der leitenden Aspekte zur Situation und zu Änderungsbedarfen hinsichtlich psychischer Arbeitsgesundheit gebildet. Diese betrafen zum einen Problembereiche und Belastungen sowie Ressourcen und Potenziale, die in der Arbeit der genannten Branchen gesehen werden. Darüber hinaus wurden vorhandene und unzureichende Unterstützungsangebote identifiziert und es konnten regionale und institutionelle Vernetzungsaspekte herausgestellt werden. Außerdem ließen sich Forderungen und Wünsche an Unternehmen und die Politik finden. Die Kategorien lauten namentlich: Belastung/Problemfelder, Ressourcen/Potenziale, Vorhandene Angebote, Desiderate, Kooperationen, Regionale Aspekte, Wünsche an die Politik und Unternehmen, Sonstige Aspekte. Die Auswertung wurde unter Einhaltung von Gütekriterien (Mayring 2015; Steinke 2005) durchgeführt, so ist Gültigkeit durch die Angemessenheit der Methodenwahl, eine transparente Dokumentation, argumentative Interpretationsabsicherung in Verbindung mit Regelgeleitetheit sowie durch die explizite Nähe zum Gegenstand gegeben.

Im Folgenden werden die Ergebnisse der Erhebung unter den befragten Akteur:innen vorgestellt und exemplarisch mit Zitaten aus den Interviews belegt. Zunächst werden die Problemfelder und (potenziellen) Ressourcen, die von den Befragten benannt wurden, zusammengefasst. Sodann werden die vorhandenen Unterstützungsangebote im Bereich psychischer Gesundheit und deren Nachfrage, anschließend die Zusammenarbeit der beteiligten Akteur:innen beleuchtet und im Anschluss anstehende Herausforderungen dargestellt.

4.1 Belastungssituation und Ressourcen in den Branchen ambulante Pflege und IT-Dienste

Die von den Interviewten geschilderten Belastungssituationen brachten vielseitige Problemfelder zutage. Wiederkehrende Kernthemen waren Zeitdruck, Entgrenzung, Personalmangel, Schnelllebigkeit und Arbeitsunterbrechungen. Auch Führungsprobleme (z. B. mangelhafte Erreichbarkeit oder Unterstützung der Vorgesetzen in schwierigen Situationen), die im Bereich der flexiblen Interaktionsarbeit eine besondere Rolle spielen, wurden wiederholt genannt; Arbeitsverdichtung und mangelhafte Kommunikation verschärfen die Schieflage weiter. Die Belastungen bringen eine Reihe von Herausforderungen für Unternehmen im Dienstleistungsbereich mit sich und können zu Beanspruchungen auf Seiten der Arbeitnehmer:innen sowie der Arbeitgeber:innen führen. Auffällig ist, dass sich, aus Sicht der befragten Akteur:innen, die IT-Dienste und die ambulante Pflege mit ähnlichen Problemfeldern konfrontiert sehen und die Befragten der Berufsgenossenschaften und Krankenkassen dazu kohärente Einschätzungen liefern. Alle befragten Personen haben zudem geäußert, dass ein Unterstützungsangebot erst aufgesucht werde, wenn sich die jeweiligen Probleme derart manifestiert haben, dass die Not erheblich ist. Eine besondere Bedeutung kommt der Flexibilisierung in den hier behandelten Branchen zu. Die flexible Interaktionsarbeit in Dienstleistungsunternehmen zeichnet sich zunehmend durch die beiden Pole Selbst- und Fremdsteuerung aus. Spezielle Probleme, die sich durch die Besonderheiten von Interaktionsarbeit ergeben, liegen zum einen in der Natur der Interaktion selbst (also Arbeit an und mit Menschen, begrenzte Planbarkeit) und zum anderen in der Ausgestaltung der Arbeitsabläufe. Sowohl die Arbeitsabläufe, die zunehmend technisiert werden, als auch die Themen Flexibilität, Digitalisierung sowie Selbst- und Fremdsteuerung werden ambivalent dargestellt. Ein Teil der interviewten Personen (Expert:innen im Bereich der ambulanten Pflege: Interessenvertretung, Beschäftigtenvertretung und Berufsgenossenschaft) sehen in diesen Entwicklungen das Potenzial zur Ermöglichung einer positiv konnotierten, selbstbestimmten Arbeitsweise, andere (Gewerkschaften und in der IT auch die Berufsgenossenschaft) sehen die Themen eher als negative Entwicklung und betonen die Gefahr der Isolation und des fehlenden kollegialen und fachlichen Austausches bis hin zum Ausbleiben einer adäquaten Führung und Anleitung. In diesem Zusammenhang wird von den Expert:innen der IT-Dienste kritisiert, dass zu viel Fremdsteuerung und Fremdpriorisierung auch eine Einschränkung der Entscheidungs- und Handlungsspielräume bedeutet und dieses Übermaß an Autonomie und mangelhafter Führung zur Verschiebung der Verantwortung vom Unternehmen zum Beschäftigten führt, sodass, nach Einschätzung einer:s Gewerkschaftssekretär:in, „Belastungssituationen entstehen, weil durch die Verlagerung der Unternehmerpflichten auf die Beschäftigten in immer größerem Ausmaße um sich greift und dadurch der einzelne Kundenberater für Fehltritte des Unternehmens sofort angegriffen wird“, was dazu führt, „dass die Beschäftigten, ich sage mal, auch sämtliche Arbeitgeberpflichten auf ihren Schultern haben“ (06: 305ff./464f.). Führungs- und Managementprobleme bestätigen auch die anderen Befragten beider Branchen als wichtiges Problemfeld, das sich vor allem in einer fehlenden fachlich-inhaltlichen Vorbereitung sowie Einarbeitungszeit der Beschäftigten in neue Systeme (bspw. neue Software oder Dokumentationsrichtlinien) zeigt. Dass die Beschäftigten mit der Einführung neuer Systeme allein gelassen werden, führe ebenfalls zu einer Verlagerung der Verantwortung von der Führungskraft zu den Beschäftigten, was bei den Letztgenannten eine Erhöhung der Arbeitsbelastung bedeutet.

Des Weiteren ist in den Branchen von einer allgemeinen Schnelllebigkeit, aber auch von hoher Fluktuation die Rede. Die Interessenvertretung von Arbeitgebern sozialer Dienstleistungen berichtet: „das ist schon lange bei denen im Fokus, dass die darauf achten müssen, dass ihre Mitarbeiter immer bei der Stange bleiben. Ansonsten sind sie eben halt, wie gesagt, auch weg […] das Unternehmen muss ja in sich eine Kultur entwickeln oder auch pflegen, in der die Menschen einfach sagen, die Mitarbeiter sagen, hier fühle ich mich wohl, hier kann ich auch Stress ertragen, weil ich auf einer anderen Seite meinetwegen andere Entlastung kriege, ja, insgesamt ist mir das deutlich wichtiger, kriegen wir oft zu hören, als Geld.“ (01: 611ff./95ff.). Die hohe Fluktuation habe nach Aussage einer:s Gewerkschaftssekretärs:in zwei Gründe. Sie:Er erklärt einerseits: „wenn man sich nicht um die Leute kümmert, dann bleiben sie nicht“, weil „die IT-Konzerne […] verkannt haben, dass die Leute für sich erst mal Optionen bezogen auf ihre persönliche Entwicklung machen und die Verbindung zu dem Unternehmen oder Konzern nicht als Identifikationsmerkmal haben.“ (02: 173f./177ff.) und andererseits: „Da gibt es gar kein Interesse daran, jemand von der Ausbildung bis in die Rente zu begleiten und im Unternehmen als wesentlichen Player zu haben, dem respektvoll zu begegnen, sondern da wird davon ausgegangen, unsere Leute kriegen wir schon irgendwie von der Uni oder abgeworben von anderen Unternehmen und wenn wir sie nicht mehr brauchen, dann finden wir sie halt ab und dann sind wir auch nicht mehr zuständig. Diese Hire- and Fire-Kultur oder Un-Kultur, die ist in der IT-Welt schon sehr breit verankert.“ (02: 159–166). Die hohe Fluktuation gehe in der IT-Branche also mit mangelnder Identifikation mit dem Arbeitsplatz und Arbeitsplatzunsicherheit von Beschäftigten einher, welche von den Unternehmen gewissermaßen geschürt wird. Dies zeigt deutlich, dass die Unternehmenskultur eines Betriebes und die Identifikation mit dem Arbeitsplatz eine nicht zu unterschätzende Rolle in Bezug auf Arbeitszufriedenheit und die Vermeidung von Arbeitsbelastung bei Beschäftigten spielen.

Neben der inhaltlichen Arbeitsebene wird zudem der zeitliche Aspekt der Arbeitsgestaltung von den Expert:innen der ambulanten Pflegedienste im Zusammenhang mit zunehmendem Technikeinsatz kritisch gesehen: „Also in der Digitalisierung wird ja ein großer Hoffnungsträger gesehen. Klar, also da kann man sich ja noch ein paar Zeitquäntchen rausquetschen, aber ich denke, das macht nicht den qualitativen Wandel. […] Also was ich wahrnehme, […] kurzfristig ist natürlich die Hoffnung da, also auf gewerkschaftlicher Seite, dass eine Entlastung von den Kollegen und Kolleginnen geschieht im Zuge von Zeitgewinnung. Aber meine schwere Vermutung ist eben, dass das doch schnell wieder eingeplant wird, zur weiteren Belastung. Also dass dann wieder andere Fälle dann mit beauftragt werden von Pflegenden, die dann doch ein bisschen mehr Entlastung erfahren haben. Also dass da ganz schnell wieder die Überlastung da ist.“ (09: 292ff./241/243ff.). Es zeigt sich, dass aus Sicht der Befragten die flexiblen Arbeitsmodelle eine Gratwanderung darstellen können und bislang kein probates Maß zu deren Bewertung und damit umzugehen gefunden ist.

Es wurden neben den Problemfeldern auch Ressourcen genannt, diese reichen von Teamtagen mit sportlichen Aktivitäten bis zur Schaffung gemeinsamer Werte und schließen auch und vor allem die Möglichkeiten der Einflussnahme im Rahmen von betrieblichen Arbeitsschutzstrukturen mit ein. Ein:e Gewerkschaftssekretär:in erläutert dazu: „[d]as Unternehmen wird nur funktionieren, wenn ich auch ausgeglichen und zufrieden mich den Aufgaben stellen kann und das kann ich eben nur, wenn ich auch Freiräume habe und nicht ausgebrannt werde“ (02: 241ff.). Ein:e Mitarbeiter:in einer Krankenkasse erklärt in diesem Zusammenhang, dass das Präventionsgesetz durchaus dafür gesorgt habe, dass Betriebe mit Maßnahmen betrieblichen Gesundheitsmanagements vermehrt in die Gesunderhaltung ihrer Beschäftigten investieren. Er:Sie sieht im Kontext der psychischen Arbeitsgesundheit aber auch, dass die Umsetzung einer Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung oft ein Zeitproblem in den Betrieben sei, obwohl „die Gefährdungsbeurteilung eigentlich ein phantastisches Instrument ist“ (04: 610f.).

Ein:e Gewerkschaftssekretär:in berichtet von einem neuen digitalen System in einem Betrieb der IT-Branche, das die eigenständige Eingabe von Urlaubs- und anderen personalbezogenen Angelegenheiten erlaube, was den Personaler:innen mehr Zeit für ihre eigentliche Beratungstätigkeit, beispielsweise zum Finden neuer Tätigkeitsfelder im Unternehmen oder Qualifikationen für Beschäftigte einräume und sehr positiv laufe. In den oft kleinen Betrieben der ambulanten Pflege beobachtet ein:e Mitarbeiter:in einer öffentlichen Beschäftigtenvertretung Entwicklungstendenzen, die Möglichkeiten zur Gestaltung im Rahmen einer gewerkschaftlichen Organisation oder betrieblichen Interessenvertretung biete, z. B. über die gemeinschaftliche Schaffung von Unterstützungsstrukturen für die Tourenplanung; bemängelt allerdings gleichzeitig eine gewisse Lähmung aufseiten der Beschäftigten, Veränderungen anzugehen – Ressourcen und Positivbeispiele würden teils zu wenig als solche wahrgenommen, sodass Potenziale ungenutzt blieben.

4.2 Unterstützungsangebote

Die Möglichkeiten, psychischer Belastung mit institutioneller Beratung und Unterstützung zu begegnen, sind vielseitig. Die Angebote der Interviewteilnehmenden reichen von der Bereitstellung von Informationen bis hin zu Schulungsangeboten und aufsuchender Hilfestellung im Betrieb. Die Berührungspunkte der Akteur:innen mit Problemfeldern der psychischen Gesundheit sowie die Offenheit gegenüber Themen der psychischen Arbeitsgesundheit stellen sich sehr divers dar, dazu gibt es eine Reihe von unterschiedlichen Herangehensweisen und Unterstützungsangeboten. Die verschiedenartigen Angebote lassen sich hinsichtlich Art und Umfang der Unterstützung einteilen (s. Tab. 2). Sie umfassen die Bereitstellung von Informationen, wie z. B. die Herausgabe von Handreichungen sowie die Durchführung von Informationsveranstaltungen oder Vorträgen, was alle befragten Expert:innen leisten. Die Erstberatung, die ebenfalls von allen Befragten angeboten wird, umfasst auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlicher Intensität eine Erfassung und Einschätzung der Situation der Ratsuchenden sowie das Aufzeigen von möglichen nächsten Schritten. Die Vermittlung der ratsuchenden Unternehmen richtet sich nach der jeweils vorhandenen Problemlage und wird von der Beschäftigtenvertretung, einer Krankenkasse und der Deutschen Rentenversicherung angeboten. Beratungs- und Begleitungsangebote werden von verschiedenen Akteur:innen der Berufsgenossenschaften, den Gewerkschaften und der Interessenvertretung auf sehr unterschiedlichen Ebenen offeriert. Die berufs- und gesundheitspolitische sowie arbeitspsychologische Beratung von Betrieben und Einzelpersonen schließt Aufklärung, Sensibilisierung und Krisenintervention mit ein, die Begleitung bezieht sich auf die Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung, die Implementierung eines betrieblichen Gesundheitsmanagements und auf die Möglichkeit für Beschäftigte, sich zu organisieren. Diese Begleitung wird ebenfalls von Berufsgenossenschaften und Gewerkschaften, aber auch von Interessenvertretung und Krankenkasse geleistet. Die Angebote der Weiterbildung umfassen vielfältige Themen wie Änderung von Arbeitsprozessen, Vermeidung von Burnout und Sucht, Führung, Mitarbeiterbindung, Teamentwicklung sowie Arbeits- und Gesundheitsschutz.

Tab. 2 Table 2 Unterstützungsangebote aus den Einrichtungen der befragten Akteur:innenThe interviewed agents’ supply of support in the institutions

Gerade die Angebote von Information, Erstberatung und Vermittlung haben mit der Schaffung von Koordinierungsstellen für betriebliche Gesundheitsförderung die Situation für Ratsuchende aus Dienstleistungsunternehmen verbessert und die Zugangsmöglichkeit für Unternehmen erleichtert. Ein:e Mitarbeiter:in einer solchen Koordinierungsstelle erklärt: „Also ich glaube, dass es gut ist, dass es mal eine Anlaufstelle gibt, wo sich zumindest mal die Sozialversicherungsträger auf etwas geeinigt haben und ich glaube, das ist auch gut, dass diese Anlaufstelle auch neutral informiert und neutral eine Lotsenfunktion in diesem Dschungel dann einfach auch wahrnimmt und vor allem das Sprachrohr ist für das Thema, das, glaube ich, ist ganz wichtig und das sollte man auch beibehalten. Aber es ist eben auch nicht mehr. Also die Erwartung der Politik, dass nun alle klein- und mittelständischen Unternehmen auf uns loslaufen […] und sagen, ich brauche eine Beratung, das ist Utopie und auch großes Wunschdenken. Es ist einer von ganz vielen Zugangswegen und das ist ein Netzwerk von ganz vielen Netzwerken, die in dem Bereich tätig sind.“ (08: 531ff.). Jedoch verspricht die bloße Vielzahl von Netzwerken, wie Koordinierungsstellen, nicht, dass diese Einrichtungen und deren Unterstützungsangebote den Unternehmen bekannt sind und in Anspruch genommen werden, wie nachstehend gezeigt werden soll.

4.3 Nachfrage von Unterstützung im Bereich psychischer Gesundheit

Die Berührungspunkte mit und die Thematisierung von psychischer Gesundheit werden unterschiedlich sichtbar: Vereinzelte Betriebe fragen nach Unterstützung bei psychischer Belastung, dies sei aber eher die Ausnahme, da das Thema immer noch sensibel ist und tabuisiert wird. Wenngleich ein:e Befragte:r geäußert hat, das Thema sei, nicht auf dem Lande, aber zumindest in den Städten, „gesellschaftsfähig“ (08: 170) geworden, findet ein:e andere:r Befragte:r, dass psychische Gesundheit bei einzelnen Personen bzw. in einigen Betrieben und Branchen vermeintlich keine Rolle spielt: „Also es ist immer noch ein Tabu-Thema, sowohl bei den einzelnen wie auch bei den Betrieben und es ist auch in bestimmten Branchen völlig außen vor“ (04: 656f.). Ein:e Krankenkassenvertreter:in sagt, dass direkte Anfragen zu psychischer Belastung eher seltener vorkämen: „Es gibt vereinzelt Betriebe, die konkret nach Unterstützung bei psychischen Belastungen fragen, aber das ist wirklich eher die Ausnahme. Es ist immer noch ein sensibles Thema“ (04: 280ff.). Grundsätzlich sei zu beobachten, dass die Haltung zur Bedeutung gesunder Beschäftigter gestärkt werde, ebenso hinsichtlich einer „guten“ Unternehmenskultur. Jedoch sei im Gros kein offener Umgang mit psychischer Gesundheit zu verzeichnen. So heißt es vonseiten der Krankenkasse: „Vielleicht in einzelnen Bereichen, wo es offensichtlich bzw. schon öffentlich ist, dass es dort ein Mehr an psychischen Belastungen gibt wie beispielsweise in der Pflegebranche […] also man kann viel fordern als Betrieb, dass man ständig lächelt bzw. versucht, den Kunden gerecht zu werden. Wenn allerdings die Unterstützung vom Betrieb nicht dahintersteht, dann ist das mehr oder weniger eine Totgeburt.“ (04: 286f./296ff.).

Sowohl aus Reihen der ambulanten Pflege (Interessenvertretung, Gewerkschaft) und der IT-Branche (Gewerkschaften), als auch aus Sicht der Krankenkasse, geben die Befragten an, dass bei Unternehmen das Bewusstsein zur Bedeutung zufriedener und gesunder Mitarbeiter:innen zunehmend vorhanden sei. Gleichzeitig stellt sich die Situation bei den Hilfegesuchen jedoch so dar, dass die befragten Personen aller Bereiche geäußert haben, dass Unterstützungsangebote jedweder Art von den Unternehmen (resp. Einzelpersonen) praktisch immer erst genutzt werden, wenn die jeweiligen Problemfelder so ausgeprägt sind, dass der Hilfebedarf enorm ist. Dieser Tatsache könnte vor allem begegnet werden, indem Arbeitgeber:innen sowie Arbeitnehmer:innen mehr über die Schaffung gesundheitsförderlicher Arbeitsbedingungen erfahren, in Bezug auf psychische Belastung sensibilisiert, aber auch zielgerichtet über Unterstützungsangebote informiert werden. In diesem Zusammenhang wird vonseiten der Gewerkschaften und der öffentlichen Einrichtung einer Beschäftigtenvertretung gewünscht, dass Beschäftigte ihrerseits bestehende Mitbestimmungsmöglichkeiten stärker wahrnehmen. Ein:e Gewerkschaftssekretär:in aus dem Bereich der IT-Dienste versucht, über die organisierten Beschäftigten für das Thema psychische Belastung zu sensibilisieren. Zwar mache sie:er die Erfahrung, dass „das Thema Gesundheit und Arbeitsschutz bei den Betriebsräten eine weit untergeordnete Rolle“ (06: 82f.) spiele und „unbeliebt“ (06: 86) sei, jedoch verweise er:sie dabei insbesondere auf die Rolle der Beschäftigten bei diesem Thema und zeige auf, dass hier in vielen Bereichen die Mitbestimmung unerlässlich sei. Aus Sicht der Beschäftigtenvertretung beschreibt ein:e Mitarbeiter:in die ambulante Pflege als einen „schwierigere[n] Bereich, weil wir hier natürlich sehr, sehr niedrige Organisationsraten haben. Also in der ambulanten Pflege haben nur die großen Betreiber überhaupt Interessenvertretungen“ (03: 211ff.) und führt dies darauf zurück, „dass die Ansatzpunkte, also wo sich die Kolleginnen und Kollegen treffen und da austauschen können, eben immer sehr schwierig sind“ (03: 221ff.) und so laufen Versuche oder auch konkrete erste Schritte, sich zu organisieren, oft ins Leere.

Während die Befragten der Deutschen Rentenversicherung eher anhand von Einzelfällen und im Rahmen des betrieblichen Eingliederungsmanagements Zugang zum Thema psychische Gesundheit in den Unternehmen erhalten, sehen sich die Vertreter:innen der Berufsgenossenschaften und Gewerkschaften im Hinblick auf betriebliche Belange und Strukturen mit psychischer Belastung von Mitarbeiter:innen in Dienstleistungsunternehmen konfrontiert. Ein:e Mitarbeiter:in einer Berufsgenossenschaft berät entweder nach aktiver Anfrage der Unternehmen zum Umgang mit psychischer Belastung oder Unternehmen werden durch Kolleg:innen in überwachender Funktion an diese verwiesen, wenn bei der Kontrolle im Unternehmen festgestellt wird, dass eine Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung fehlt. Sie:Er berichtet von einem durchaus hohen Beratungsbedarf, den sie:er durch die Vermittlung konkreter Informationen, Handlungshilfen und Instrumente zu decken versucht. Die Umsetzung bleibe aber letztlich immer dem Unternehmen selbst überlassen.

4.4 Kooperation unter den Akteur:innen

Ein Desiderat wird in der Zusammenarbeit der Sozialleistungsträger untereinander gesehen. Ein:e Mitarbeiter:in einer Koordinierungsstelle für betriebliche Gesundheitsförderung schildert: „Eine Idee […] ist, dass wir im Prinzip mal alle Berater von Unfallkasse oder Unfallversicherung, Krankenkasse, Pflegekasse und so Rentenkasse zusammenholen und einfach mal uns selber mal austauschen über die Leistung, die wir selber machen können, damit wir einfach noch besser beraten können und unseren Prozess besser optimieren können. Und besser aufeinander abstimmen können. Aber selbst das ist schon schwierig, […] das ist ja wie beim Pokern, man lässt sich ja ungerne ins Blatt schauen.“ (08: 457ff./464f.). Hier zeigt sich, dass ein ausbleibender Austausch und fehlende Kooperationen ein ungenutztes Potenzial darstellen, der Situation branchen- und institutionsübergreifend zu begegnen. Ein:e Gewerkschaftssekretär:in führt weiter aus: „mir kommen die Möglichkeiten der Netzwerke, die da zum Tragen kommen, um psychische Belastungen in den Betrieben abzubauen, zu kurz. Wenn man sich das anguckt, was Krankenkassen, ein bisschen abgemildert, aber auf jeden Fall die großen Berufsgenossenschaften an Möglichkeiten haben, um betriebliche Akteure im Arbeits- und Gesundheitsschutz zu unterstützen. Das ist extrem schwierig, das aufzubrechen. […] also erst mal ist ja in Deutschland die gesetzliche Unfallversicherung eine rein arbeitgeberfinanzierte Veranstaltung […] und ich berate die Arbeitgeber immer und sage, warum nützt ihr das nicht? Ihr zahlt das mit jedem Euro Lohnsumme zahlt ihr eure Berufsgenossenschaft, die hat eine eigene Abteilung Prävention, die hat eine Forschungsabteilung, die hat unheimlich viel Informationsmaterial zu den unterschiedlichsten Belastungssituationen […] warum nutzt ihr das nicht? Das sind für die Arbeitgeber Externe, […] also eigentlich sind die genauso schlimm dran, wie Gewerkschaften. […] Aber warum das bei Berufsgenossenschaften so abläuft, die die Arbeitgeber komplett finanzieren, das kann man irgendwie ganz schwer aufbrechen.“ (06: 619ff./629ff./634ff./637ff.). So wird auch deutlich, dass die befragten, unterstützend tätigen Akteur:innen durchaus von den Angeboten anderer Akteur:innen wissen und darauf verweisen, diese aber dennoch nicht von den Unternehmen angenommen werden. Es ist davon auszugehen, dass Arbeitgeber:innen entweder nicht die Notwendigkeit sehen, von Unterstützungsangeboten für Maßnahmen der Arbeitsgesundheit Gebrauch zu machen oder dass sie nicht bereit sind, (personell oder finanziell) in solche Maßnahmen zu investieren. Möglicherweise haben Unternehmen auch Bedenken, auf Berufsgenossenschaften oder andere externe Einrichtungen zuzugehen und dort Unterstützung zu ersuchen.

Schließlich betonen die Befragten der Krankenkasse, der BGF-Koordinierungsstelle und des BVMW-Projektes für betriebliche Gesundheitsförderung die Herausforderung, dass ein höheres Maß an Vernetzung unter den Beratenden und Handelnden mit Berührungspunkten zu psychischer Arbeitsgesundheit sowie eine weitere Verbreitung und Bekanntmachung der Unterstützungsangebote notwendig ist, um die Unternehmen umfänglicher zu erreichen: „Es gibt ganz viele lokale, regionale Netzwerke […] Das sind alles ganz viele Zugangswege, man muss einfach nur voneinander wissen, das ist das Wichtige. Und ich meine, die Anzahl der Unternehmen [ist] endlich, die ist zwar riesengroß und die können wir auch jeder einzelne gar nicht bespielen. Also insofern ist ja auch für jeden genug Platz da. Aber man muss einfach nur mal sehen, es gibt einfach eine zentrale Anlaufstelle, das ist gut. Und die ist eigentlich so der allgemeine Kommunikator und der Wegbereiter für Politik und der Ansprechpartner für Politik und für Öffentlichkeitsarbeit und davon profitieren alle. Das muss eigentlich nur in alle Köpfe rein. Und auch in die Vorstandsköpfe der Einzelnen und Sozialversicherungsträger.“ (08: 544ff.).

4.5 Zentrale Herausforderungen

Die zentralen Herausforderungen, die die Interviews deutlich gemacht haben, liegen in der Thematisierung und dem Annehmen des Problems. Dabei ergibt sich ein besonderer Aspekt darin, dass die Unternehmen zunächst einmal von den Unterstützungsangeboten erfahren müssen, um diese dann in einem zweiten Schritt wahrnehmen zu können. Vor dieser Herausforderung sehen sich viele der Befragten, die betonen, dass sie stets umfangreich informieren und beraten (würden), jedoch wissen, dass sie nur schwerlich alle Unternehmen erreichen (können). Auf betrieblicher Ebene betonen die Expert:innen der Gewerkschaften und der Beschäftigtenvertretung, dass Mitbestimmungsorgane mehr genutzt werden und Beschäftigte sich organisieren sollten (was in der ambulanten Pflege aufgrund der Fragmentierung der Arbeit schwierig sei), räumen jedoch ein, dass Arbeits- und Gesundheitsschutz bei den betrieblichen Interessenvertretungen (die ihrerseits in beiden Branchen häufig noch fehlen) oft noch zweitrangig sei. Der partizipative Anspruch, der ein zentrales Element der Gesundheitsförderung sein sollte, passt zwar zum Grundverständnis von verschiedenen Arbeitnehmervertretungen, wird aber von diesen offenbar nicht ausreichend in den Vordergrund gestellt. Von Gewerkschaftsseite wird das Verhältnis der Unternehmen zu den Berufsgenossenschaften bemängelt, deren Angebote mitunter zurückhaltend angenommen werden.

Eine weitere Herausforderung wird darin gesehen, Transparenz und Vertrauen im Arbeitsumfeld (als wichtigen Teil zur Gesunderhaltung der Beschäftigten), durch proaktive Kommunikation durch Arbeitgeber:innen, herzustellen. Dazu scheint es nach Einschätzung einiger Expert:innen bislang an Verantwortungsgefühl auf Arbeitgeberseite zu fehlen. Ein:e Mitarbeiter:in einer Deutschen Rentenversicherung schildert: „wenn ich mich als Mitarbeiter mit meinem Unternehmen identifiziere, da auch zufrieden und glücklich bin. Dann werde ich weniger Schwierigkeiten mit psychischen Erkrankungen haben. Also da ist schon, kommen wir wieder zum Thema Wertschätzung, zum Thema Betreuung, da ist ein Arbeitgeber mehr gefordert und wenn er da mehr Kapazitäten hätte […] dann wäre da schon viel mit geholfen“ (07: 356ff.). Ein:e Angehörige:r einer Berufsgenossenschaft beklagt jedoch: „was wir in Deutschland für Führungskräfte haben. Das ist so schlimm zu sehen, also das geht gar nicht. Diese Arbeitsgestaltungskompetenzen, die ja auch bei digitaler Arbeit immer erforderlicher werden. Eine Führungskraft, egal, ob man das jetzt Lean-Management oder Scrum oder […] Teambesprechung nenn[t], der muss einfach wissen, wie man führt, wie man Informationen gibt und nimmt. Wie man ein Team gestaltet, wie man Kommunikation gestaltet“ und weiterhin zeigt sie:er aber auch auf, dass es Potenziale gibt, die vermehrt genutzt werden sollten. Er:sie sagt, dass beispielsweise „Software einem auch helfen kann, sich selbst zu organisieren […] Und eben nicht dafür sorgt, dass wenn man flexibel ist, dass man in Chaos und Anarchie rutscht, weil die Strukturen viel zu offen sind […] sondern da ’ne Rollenklarheit und Transparenz fürs ganze Team herstellt“ (05: 565ff./669ff.). Mangelhafte Führung in Verbindung mit Fehlen von Transparenz und Vertrauen stellen sich als Kernelement des Problems mangelnder Offenheit gegenüber persönlicher, allen voran psychischer, Belange von Beschäftigten dar. Eine offene Thematisierung psychischer Arbeitsgesundheit ist der erste Schritt, Unterstützungsangebote aufzusuchen – dieses stellt die befragten Akteur:innen vor die Herausforderung, an die Unternehmen heranzukommen, indem mit Aufklärung über psychische Arbeitsgesundheit versucht wird, den zweiten Schritt vor dem ersten zu tun. Die bloße Thematisierung müsse erst einmal ermöglicht werden, erst dann kann ein angemessener Umgang mit psychischer Belastung und/oder Beanspruchungen erlernt werden und Arbeitgeber:innen könnten die unternehmerischen Möglichkeiten zur Schaffung gesundheitsfördernder Arbeitsstrukturen mehr ausschöpfen. Ein:e Mitarbeiter:in einer Krankenkasse erklärt, dass beispielsweise die Implementierung eines betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) gerade in kleinen Betrieben aus finanziellen und Zeitgründen nur unzureichend verfolgt werden kann: „wenn wir beispielsweise über die ambulante Pflege sprechen, liegt es sicherlich so an der Größe bzw. dann auch den wirtschaftlichen Faktoren. Also weder zeitliche noch geldliche Ressourcen zur Verfügung stehen, um eben halt wirklich ein umfassendes BGM, ein ganzheitliches BGM zu unterstützen“ (04: 457ff). Expert:innen beider Branchen kritisieren, dass Unternehmen oft wenig bereit sind, in Veränderungen zu investieren und gesundheitsbezogene Maßnahmen anzugehen, angefangen bei der Gefährdungsbeurteilung, bis hin zur Implementierung eines betrieblichen Gesundheitsmanagements, „was natürlich aber bedeutet, dass sie auch Personal freistellen müssen für diese Qualifizierung und für diese Aktivitäten, das fällt denen halt häufig schwer“ (11: 191f.), berichtet ein:e Mitarbeiter:in einer Berufsgenossenschaft. Überdies wird beklagt, dass nach begonnenen gesundheitsbezogenen Maßnahmen oft zu wenig Ausdauer vorhanden sei: „was dann die Nachhaltigkeit der Maßnahmen angeht, da geht ihnen dann einfach manchmal die Luft aus.“ (11: 99f.).

Ein:e Mitarbeiter:in einer Krankenkasse findet, die:der Arbeitgeber:in selbst müsse auf einer politisch-strukturellen Ebene mehr Raum und Unterstützung für die Anleitung, Qualifikation und die Implementierung betrieblicher Gesundheitsförderung ermöglicht werden, schließlich sei betriebliche Gesundheitsförderung freiwillig für die Unternehmen, der betriebliche Rahmen und die Strukturen müssen aber gegeben sein. Gleichsam wird bei einer:m Mitarbeiter:in des BVMW-Projektes für betriebliche Gesundheitsförderung ein Appell an die Unternehmen zur sozialen Verantwortung laut. So wird vor allem die Gestaltbarkeit von Arbeitsprozessen betont. Hierfür seien ebenfalls Transparenz und Kommunikation notwendig, auch und erst recht über Erreichbarkeit und Abgrenzung. „Also für mich ist der Punkt, […] dass man den Geschäftsführern der IT-Unternehmen klarmacht, dass es hier um eine Haltung geht. Es geht um eine Haltung den Mitarbeitern gegenüber, wie wollen wir denn hier miteinander umgehen, wie können wir es schaffen, dass ihr gerne und gut euer Bestes geben könnt und dazu muss ich Rahmenbedingungen gestalten und das ist gestaltbar. […] und Umgang mit Belastungen, auch das ist gestaltbar.“ (10: 294/296ff./337). Die Vermittlung einer ebensolchen Haltung sieht der:die Befragte als eine zentrale Aufgabe im Rahmen der Unterstützungsangebote, (nicht nur) für jene Unternehmen, die mit psychischen Störungen von Beschäftigten konfrontiert sind.

5 Diskussion und Ausblick

Die Ergebnisse zeigen, dass sich die befragten Expert:innen mit verschiedenen Problemfeldern konfrontiert sehen. Auf übergeordneter Ebene sind die Problemfelder vor allem im Nicht-Wissen über und der (zurückhaltenden) Inanspruchnahme von Unterstützungsangeboten für Unternehmen lokalisiert, die mit psychischen Störungen ihrer Mitarbeitenden konfrontiert sind. Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, diesen Schwierigkeiten zu begegnen, so z. B. mittels frühzeitiger Information und Aufklärung der Arbeitgeber:innen, mittels Schulungen bis hin zu Kriseninterventionen. Bislang werden die vorhandenen Angebote jedoch zu wenig abgefragt.

Die Vielzahl an beteiligten Akteur:innen mit ihrem umfangreichen Unterstützungsangebot ist vielversprechend, eine verstärkte Vernetzung der unterstützend tätigen Akteur:innen (die über das bloße Wissen über die Angebote der anderen Akteur:innen hinausgeht) könnte und sollte jedoch verstärkt als Chance begriffen und weiter ausgebaut werden. Eine Abkehr von man wolle sich nicht in die Karten schauen lassen (s. oben) ist dafür dringend notwendig und könnte zu Synergieeffekten für alle beteiligten Institutionen führen, wenn Anreize für mehr Zusammenarbeit gestärkt und Bedenken der unterstützenden Akteur:innen abgebaut werden. Auf diese Weise könnten Unternehmen nicht nur ganzheitliche Unterstützung erhalten, sondern langfristig auch in der Selbstbefähigung zur Gestaltung gesunder Arbeitsbedingungen gestärkt werden, denn „Prozesse der gesundheitsgerechten Gestaltung sollten in den Betrieben weitgehend auch ohne externe Expertise ablaufen können. Den betrieblichen Gestaltern und den betrieblichen Sozialpartnern sollte ihre unmittelbare Wirksamkeit als Akteure stärker verdeutlicht werden.“ (Rothe et al. 2017, S. 81).

Herausforderungen könnten außerdem zielgerichteter bewältigt und Potenziale mehr genutzt werden, wenn erstens Arbeitgeber:innen sowie unterstützend tätige Personen mehr sensibilisiert, zweitens die Besonderheiten der Dienstleistungsarbeit beider Branchen berücksichtigt werden und drittens mehr Transparenz und Austausch zwischen den unterstützenden Einrichtungen vorhanden wäre (s. oben). Besonders das letztgenannte stellt sich jedoch als schwierig dar, da die einzelnen Akteur:innen zuweilen unterschiedliche Interessen verfolgen (exemplarisch kann hier das einzelfallorientierte Vorgehen der Deutschen Rentenversicherung oder der Partizipationsgedanke der Gewerkschaften genannt werden). Zwar gibt es zahlreiche Expert:innen mit einer Schlüsselfunktion in Beratung und Unterstützung von Unternehmen, die den Herausforderungen durch psychische Belastung im Kontext flexibler Interaktionsarbeit begegnen. Dennoch ist offenkundig vielen Unternehmen dieses Angebot nicht bekannt – oder sie fragen es nicht ab.

Das Bewusstsein für die bzw. die Haltung zur Bedeutung gesunder Mitarbeiter:innen ist zunehmend vorhanden, jedoch mangelt es oft an der praktischen Umsetzung von gangbaren Konzepten und Strukturen, um der Gesundheit von Beschäftigten angemessen Rechnung zu tragen. Dafür wünschen sich die interviewten Personen vor allem feste Arbeitsschutzstrukturen im Sinne von ganzheitlich gesundheitsförderlichen Arbeitsbedingungen. So ist mangelhafte Führung auf der inhaltlichen Arbeitsebene (z. B. fehlende Einarbeitung in neue Systeme) mit einem unachtsamen Umgang in Bezug auf die Arbeitsgesundheit der Beschäftigten verknüpft. Gesundheitsförderliche Führung als Ressource ist auch und vor allem in der Interaktionsarbeit ein wichtiger Aspekt (Tisch et al. 2020), der sich jedoch nur mit einem expliziten Bewusstsein für das Thema (Arbeits‑)Gesundheit erschließen lässt (nicht zuletzt durch das Instrument der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung). Den Arbeitnehmer:innen sollte in diesem Zusammenhang neben ihren Möglichkeiten der Mitbestimmung mehr Handlungssouveränität in der beruflichen Praxis eingeräumt und Abgrenzung (bzw. Entgrenzung entgegenwirken) ermöglicht werden, was eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben verspricht.

Handlungsspielräume, Emotionsarbeit und Arbeitsintensität sind im Kontext von Interaktionsarbeit von hoher Relevanz (Böhle et al. 2015; Tisch et al. 2020). In den letzten Jahren hat sich die Qualität und vor allem die Quantität der durchgeführten Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung unzureichend verbessert (Lenhardt 2017; Beck und Schuller 2020). Beck und Lenhardt gehen anhand ihrer Querschnittstudie davon aus, dass etwa nur jeder fünfte Betrieb (21 %) eine Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung durchführt. U. a. die Betriebsgröße, das Vorhandensein einer Fachkraft für Arbeitssicherheit oder einer Personalvertretung scheinen einen Einfluss auf die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung zu haben (Beck und Lenhardt 2019). Als Gründe, warum Unternehmen nur selten eine Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung durchführen, nennt Beck (2019) insbesondere mangelndes Fachwissen, unklare Zuständigkeiten aber auch eingeschränkte Gestaltungsspielräume der Akteur:innen. Fehlende Kontrollen machen es politisch zudem weiterhin unmöglich, diesen Status quo zu verbessern. Als Forderung an die Politik ist die Stärkung von bundesweiten Aufklärungskampagnen wie der „Offensive psychische Gesundheit“ zu nennen, welche Beschäftigte darin stärken soll, psychische Belastungen und Grenzen besser zu erkennen und Akteur:innen von Präventionsangeboten besser vernetzen soll (BMG 2020). Damit verbunden ist die Förderung eines überfachlichen und trägerübergreifenden Diskurses zu nennen, der die Thematisierung der psychischen Belastung weiter voranzubringen vermag.

Der aktuelle Zustand, dass es durch die Unternehmen zumeist erst zu einem Hilfegesuch kommt, wenn sich Probleme bereits in hohem Maße manifestiert haben – da derartige Themen in den Betrieben häufig verschwiegen und tabuisiert werden (Lenhardt 2017) –, ist nicht länger tragbar. In politischen Entscheidungen wie in Unternehmen sollte das Thema psychische Gesundheit immer wieder mitgedacht und vor allem den Arbeitgeber:innen der Mehrwert gesundheitsbezogener Maßnahmen vermittelt werden, die auf die psychische Arbeitsgesundheit der Beschäftigten abzielen. Wie aus den Interviews deutlich wurde, haben die befragten Akteur:innen durch ihren institutionellen Hintergrund jeweils einen eigenen spezifischen Zugang zu den Unternehmen. Die Vielfältigkeit im Zugang eröffnet die Möglichkeit, das Thema psychische Gesundheit bei der Arbeit in unterschiedlicher Form und zu unterschiedlichen Gelegenheiten sichtbar zu machen. Dies setzt jedoch voraus, dass die jeweiligen Akteur:innen diese Möglichkeit auch aktiv nutzen, um ihre Angebote zu dem Thema angemessen zu platzieren.

Die Gespräche mit den Expert:innen bestätigen, dass psychische Störungen in beiden betrachteten Branchen längst keine Seltenheit sind. Die befragten Personen schildern, dass das Thema psychische Störungen in vielen Unternehmen zwar ein „offenes Geheimnis“, aber mit einer gewissen Lähmung behaftet ist – diese betrifft den IT-Sektor dergestalt, dass Beschäftigte mitunter den Ernst ihrer eigenen Lage nicht erkennen; es betrifft die Beschäftigten der Pflegebranche, die eher um das Problem wissen, jedoch weder den Raum für Veränderung haben, noch die Unterstützung der Politik sehen; und es betrifft die Akteur:innen in beratender Funktion, die aufklären und vermitteln, sich aber oft machtlos fühlen.

Darüber hinaus braucht es für die Unternehmen auch direkte Unterstützung durch die Politik, um gesündere Unternehmen zu ermöglichen. So könnten zum Beispiel Unternehmen verstärkte finanzielle (und/oder personelle) Ausstattung erhalten, um gesundheitsfördernde Konzepte zu erarbeiten und/oder ein betriebliches Gesundheitsmanagement zu implementieren und so gesundheitsfördernde Arbeitsstrukturen für die Beschäftigten schaffen. Die Vielzahl an externen Unterstützungsangeboten zu psychischer Gesundheit bietet schon jetzt zahlreiche Zugangsmöglichkeiten, beispielsweise durch die Leistungen der Sozialversicherungsträger oder die Angebote von Organisationen und Verbänden. Würden diese Zugangswege mehr gebündelt, also vorhandenes Potenzial weiter genutzt werden, wäre viel gewonnen – schließlich verfolgen alle beteiligten Akteur:innen das Ziel der Stärkung der psychischen Arbeitsgesundheit. Initiativen wie die einleitend beschriebene „Offensive psychische Gesundheit“ oder auch das Deutsche Netzwerk für Betriebliche Gesundheitsförderung, welches das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und das Bundesministerium für Gesundheit zu seinen Partnern zählt (DNBGF o.J.), stellen wichtige Versuche dar, die Vernetzung unter den Akteur:innen der betrieblichen Gesundheitsförderung und Interessierten zu stärken. Durch einen vermehrten Austausch und sektorübergreifende Kooperationen, also mehr Zusammenarbeit und Vernetzung der Sozialleistungsträger und anderer relevanter Akteur:innen zum Thema psychische Gesundheit, würde der Weg für eine zielgruppengerechte Ansprache und Aufklärung der Unternehmen weiter geebnet werden. So können schließlich Kooperationen von Beratungseinrichtungen und Akteur:innen in den Unternehmen eine Grundlage für abgestimmte Prozesse der Sensibilisierung im unternehmerischen Kontext darstellen: Die Schaffung von Kooperationsnetzwerken wäre hierfür ein erster Schritt (Schütte und Rothe 2018), eine nachhaltige Zusammenarbeit dieser Netzwerke, ein zweiter. Dieses birgt das Potenzial, mehr Transparenz und Hilfen für Unternehmen bereitzustellen und langfristig psychische Belastung bei Beschäftigten zu reduzieren.

6 Limitationen

In der vorliegenden Studie wurden elf Interviews mit Expert:innen geführt, die im Bereich der ambulanten Pflege, der IT-Dienste oder übergeordnet als Ansprechpersonen für betriebliche Gesundheitsförderung tätig sind. Ihre Einrichtungen halten Unterstützungsangebote verschiedener Art bereit, um Betriebe bei Gefährdungsbeurteilungen psychischer Belastung zu unterstützen und/oder für den Umgang mit psychischer Belastung zu schulen. Bei einer für qualitative Erhebungen nicht unüblichen kleinen Fallzahl kann nur ein Teilbereich der bestehenden Situation erfasst werden, sodass Einschätzungen einzelner Personen immer nur die Erfahrungswerte und Berührungspunkte des jeweiligen Arbeitsumfeldes wiedergeben. Auf diese Weise kann es in manchen Fällen zu einem Unterschied zwischen der Sicht von Akteur:innen in leitenden Positionen und der Sicht derer, die mit den Hilfesuchenden im direkten Kontakt stehen, kommen. Die Durchführung von Experteninterviews und die qualitative Inhaltsanalyse sind für den Untersuchungsgegenstand angemessene Methoden. Lediglich eine kommunikative Validierung durch Rückspiegelung der Ergebnisse an die Befragten hat nicht stattgefunden, dennoch kann eine hohe Gültigkeit der Ergebnisse angenommen werden.

Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass die Akteur:innen in „Lotsenfunktion“ ein unvollständiges Bild von der Situation der Ratsuchenden gewinnen und wiedergeben, da sie unmittelbar nach einem Erstgespräch zu anderen Institutionen mit weiterführenden Unterstützungsangeboten vermitteln.

Ferner bleiben jene Problematiken von Beschäftigten und Unternehmen unbekannt, die kein Unterstützungsangebot aufsuchen, weil sie sich entweder nicht ihrer belastenden Arbeitssituation gewahr sind, Hemmungen bei der Wahrnehmung von Unterstützungsangeboten empfinden oder ihnen diese gar nicht bekannt sind.