1 Einleitung

Die zunehmende Fragmentierung der nationalen Parteiensysteme moderner Demokratien hat das Regieren in Koalitionen und damit in Kabinetten, die von mehr als einer Partei parlamentarisch getragen werden, zur Regel werden lassen. So bildeten sich selbst in Regierungssystemen, die aufgrund ihrer institutionellen Struktur bei fehlenden absoluten Mehrheiten für eine Parlamentsfraktion leicht Minderheitsregierungen ermöglichen, Koalitionen aus mehreren Parteien. Beispiele hierfür sind die Koalitionen zwischen Konservativen und Liberaldemokraten in Großbritannien 2010 bis 2015 oder die Koalition zwischen Sozialisten (PSOE) und Unidas Podemos (UP) in Spanien von 2020 bis 2023. In beiden Ländern waren – auf nationaler Ebene – formelle Koalitionen zwischen mehreren Parteien die absolute Ausnahme; in Spanien war die Koalition zwischen sozialistischer PSOE und UP das erste Mehrparteienkabinett auf nationaler Ebene überhaupt. Insgesamt betrachtet bestanden in Westeuropa im Zeitraum von 1945 bis 2019 mehr als zwei Drittel (68,3 %) aller Regierungen aus Koalitionskabinetten (Bergman et al. 2021a, S. 17), die ihre Zusammenarbeit zunehmend formalisierten, was in der anwachsenden Zahl von Koalitionsabkommen und deren zunehmenden Detailliertheit im Zeitverlauf deutlich wird (Bergman et al. 2021b, S. 706).

Aufgrund dieser Entwicklungen hat sich die Forschung zur Bildung von und zum Regieren in Koalitionen zu einem zentralen Bereich in der Vergleichenden Politikwissenschaft entwickelt, der sowohl neue theoretische Ansätze und Modelle wie auch neue empirisch Erkenntnisse, auch auf der Grundlage der Entwicklung innovativer statistischer wie textanalytischer Verfahren, hervorgebracht hat. In diesem Beitrag geben wir einen Überblick zum aktuellen Forschungsstand der Vergleichenden Koalitionsforschung und legen dabei insbesondere die Entwicklungen auf den Gebieten dar, in denen sich Theorie und Empirie in den letzten Jahren besonders fruchtbar weiterentwickelt haben. So ordnen wir im zweiten Abschnitt dieses Beitrags die jüngsten Entwicklungen im Bereich der theoretischen Modellierung in den Forschungsstand ein. Hierzu zählen insbesondere theoretische Arbeiten der Koalitionsforschung, die die Rolle des Formateurs während des Regierungsbildungsprozesses in den Vordergrund rücken. Im dritten Abschnitt legen wir die Ergebnisse der jüngsten Forschung zum Effekt von institutionellen Merkmalen politischer Systeme auf die verschiedenen Stufen des „coalition life cycle“ – Regierungsbildung, Regieren in Koalitionen und Beendigung von Koalitionen (Bergman et al. 2021a; Müller et al. 2024) – näher dar. In diesem Zusammenhang konzentrieren wir uns insbesondere auf die Effekte von Mehrebenenstrukturen und auf die Kompetenzen von Parlamenten, welche die Chancen auf Bildung von Minderheitsregierungen mitbeeinflussen. Der vierte Abschnitt stellt die jüngsten Erkenntnisse der Vergleichenden Koalitionsforschung in den Teilgebieten dar, die in den letzten Jahren besondere Beachtung erlangt haben. Der Fokus liegt hier auf den Forschungsergebnissen zur Perzeption von Koalitionspolitik durch die Wähler, zur Dauer von Koalitionsverhandlungen und zu den Funktionen und Inhalten von Koalitionsabkommen. Der letzte Abschnitt dieses Beitrags fasst knapp den Stand der Forschung zu Theorie und Empirie der Vergleichenden Koalitionsforschung zusammen und gibt einen Ausblick auf künftige Herausforderungen in der Analyse von Mehrparteienregierungen und ihren Effekten. Dies geschieht, indem insbesondere auf die Einbeziehung innerparteilicher Konfliktmuster und die Einstellungen der Wählerschaft in den verschiedenen Stadien des „coalition life cycle“ eingegangen wird, was dann detailliertere Daten und Analysetechniken notwendig macht.

2 Theoretische Zugänge

Moderne repräsentative Demokratien sind durch Akte der Delegation gekennzeichnet, mit denen die politischen Zielvorstellungen der Wähler als ultimative Prinzipale mittels Übertragung von Entscheidungskompetenz an Abgeordnete, Regierungen, Minister und Verwaltungen ihren Ausdruck finden (Müller 2000; Powell 2000, 2004). In diesem Prozess stellen das Verhandeln über, die Bildung von sowie die Arbeit in Regierungen zentrale Elemente in einer langen Kette von Delegationen dar. So sind Regierungsbildungen – insbesondere, aber nicht nur wenn mehrere Parteien beteiligt sind – das Ergebnis der Verhandlungen von in der Regel (inner‑)​parteilichen Akteuren, deren Verhandlungsmandat sich in letzter Konsequenz von der Wählerunterstützung herleitet. Andererseits bilden sie den Ausgangspunkt für das Regierungshandeln, das als Output im Sinne Eastons (1965) die Unterstützung und letztlich die Wiederwahlchancen der Regierung bzw. der sie tragenden Parteien maßgeblich beeinflusst. Will man die Interaktionen von Parteien und ihren Repräsentanten im Prozess der Regierungs- und Koalitionsbildung sowie das Handeln der Koalitionsakteure während der Legislaturperiode verstehen, dann kann dies schwerlich glücken, wenn nicht dieser dynamische Zusammenhang der Delegation von Handlungskompetenzen in den Blick genommen wird (Austen-Smith und Banks 1988; Diermeier und Krehbiel 2003). Die Forschung in diesem Bereich hat entsprechend der Abhängigkeit der eigentlichen Koalitionsbildung von einerseits den Randbedingungen der Regierungsbildung, etwa dem Wählerverhalten und dem strategischen Parteienwettbewerb, andererseits aber auch den Erwartungen von Wählern und politischen Akteuren an die zukünftige Performanz von Regierungen Rechnung getragen. So wurde beispielsweise untersucht, inwiefern die Koalitionspräferenzen von Wählern und Parteianhängern das Ergebnis des Regierungsbildungsprozesses bestimmen (Debus und Müller 2013), ob die Zuständigkeit einer Koalitionspartei für einen Politikbereich retrospektives Wählen beeinflusst (Angelova et al. 2016; Debus et al. 2014) und inwiefern programmatische Konflikte zwischen den Regierungsparteien strategisch im Laufe der Legislaturperiode und des Wahlkampfs betont werden, um Profil zu gewinnen und so mehr Unterstützung bei anstehenden Wahlen zu erzielen (Fortunato 2021).

Die bestehende Forschung identifiziert eine Vielzahl von Faktoren, die für die Bildung einer Regierung eine zentrale Rolle spielen. Hierzu zählen etwa die Erwartungen der Parteien bezüglich des langfristigen Outputs einer Koalition (Austen-Smith und Banks 1988), die Berücksichtigung der Koalitionspräferenzen der Parteien durch die Wähler in Form strategischen Koalitionswählens (Bargsted und Kedar 2009; Debus und Müller 2014; Meffert und Gschwend 2011; Meffert et al. 2011) oder der Implikationen für das Handeln und Entscheiden der Parteien im Koalitionsbildungs- wie späteren Regierungsprozess, die sich durch institutionelle Mehrebenenstrukturen ergeben können (Burkhart 2005; Dinkel 1977; Müller 2018).

In der klassischen Koalitionstheorie kommt zunächst der Anzahl der Regierungsparteien und ihrer Stärke – gemessen an ihrem Mandatsanteil im Parlament – eine zentrale Rolle zu. Zum einen muss eine Regierung, zumindest in parlamentarischen Systemen, Vertrauensabstimmungen gewinnen können, zum anderen stellt für die Parteien die Übernahme von Regierungsverantwortung selbst einen Gewinn dar, von dem Wettbewerber ausgeschlossen werden können. Entsprechend gehen sogenannte office-orientierte Ansätze der (kooperativen) Koalitionstheorie davon aus, dass sich minimale Mehrheits- oder Gewinnkoalitionen bilden (Von Neumann und Morgenstern 1944) bzw. Gewinnkoalitionen mit einer möglichst geringen Anzahl an Abgeordneten (Riker 1962) oder Parteien (Leiserson 1968), so dass die Verteilungsgewinne groß und die Verhandlungskosten gering ausfallen.

Auch in Ansätzen der nicht-kooperativen Koalitionstheorie kommt der Sitzstärke der Parteien eine wichtige Bedeutung zu, sowohl bei der Wahl des Formateurs oder Regierungsbildners als auch im Verhandlungsprozess selbst. In nicht-kooperativen Ansätzen wird die Koalitionsbildung als Verhandlungsprozess mit wechselseitigen Angeboten der Parteien betrachtet, was unmittelbar die Frage aufwirft, wer die Initiative zur Koalitionsbildung nach Wahlen übernimmt, ob dies einen Unterschied macht, und wenn ja, wer davon letztlich profitiert. Entsprechend werden in dieser Literatur die Auswahl und Verhandlungsmacht des Formateurs in den Blickpunkt gerückt, also der Partei bzw. Parteiführer, die bzw. den das Staatsoberhaupt mit der Bildung einer Regierung beauftragt. In den grundlegenden Modellen von Austen-Smith und Banks (1988) und Baron und Ferejohn (1989) erhalten die Parteien den Auftrag zur Regierungsbildung in der Reihenfolge ihrer Sitzstärke bzw. werden proportional zur Sitzstärke zufällig ausgewählt. Da Zeit ein knappes Gut darstellt, endet der Verhandlungsprozess schnell und der Formateur hat einen first mover advantage: Er kann seine Regierungsbeteiligung sicherstellen und erhält überproportional hohe Gewinne. So bildet beispielsweise in einem aus drei Fraktionen bestehenden Parlament die sitzstärkste Partei ein Bündnis mit der kleinsten Partei (ähnlich auch Baron und Diermeier 2001). Neuere Modelle differenzieren weiterhin zwischen unterschiedlichen Phasen der Koalitionsbildung: zunächst den Sondierungen, also der Bildung von Proto-Koalitionen, und den schließlich folgenden, eigentlichen Verhandlungen (Baron und Diermeier 2001; Bassi 2013; Breitmoser 2012). Durch diese sequenzielle Betrachtung und die in den verschiedenen Stadien unterschiedlich ausgestaltete Rolle des Formateurs kann dessen Verhandlungsmacht beschränkt werden.

Allerdings weisen parlamentarische Systeme auch erhebliche Unterschiede hinsichtlich der institutionellen Regeln in allen Phasen der Regierungsbildung auf, etwa bezüglich des Einflusses des Staatsoberhauptes bei der Auswahl eines Formateurs zu Beginn und während der Verhandlungen, die zudem selten in der Verfassung niedergelegt sind (z. B. Kang 2009; Bassi 2025). Für manche Systeme ist eher von einem free-style bargaining auszugehen, bei dem die Parteien nicht nur ohne formal-institutionelle Vorgaben, sondern auch weitgehend ohne Konventionen wechselseitig in Verhandlungen eintreten (z. B. Laver et al. 2011). So reklamiert in Deutschland zwar regelmäßig die nach den Wahlen sitzstärkste Partei den Anspruch zur Regierungsbildung, 2021 jedoch nutzen FDP und Grüne ihre pivotale Stellung, um in Vorsondierungen die Optionen für eine Ampel- und Jamaika-Koalition auszuloten. Cox (2021) und Gomes (2022) gehen in ihren Koalitionsmodellen von solchen free-style bargaining Protokollen aus, mit dem Ergebnis, dass der Formateur als erster Regierungsbildner keinen wirklichen Vorteil aus seiner Rolle ziehen kann. Beispielsweise ist eine Verteilung von Ämtern innerhalb der Koalition proportional zur Sitzstärke im Parlament zu erwarten – wie dies weitgehend auch empirisch der Fall ist (Gamson 1961).

Die klassische Koalitionstheorie hat sich des Weiteren auf die ideologische Ausrichtung von Parteien konzentriert und argumentiert, dass solche Parteien eher (und schneller) eine Koalition bilden und in ihr stabil regieren können, wenn sie aus ähnlich ausgerichteten Parteifamilien stammen und damit ein verwandtes programmatisches Profil besitzen. Die räumlichen, zunächst eindimensionalen Modelle der policy-orientierten Koalitionstheorie konzentrierten sich auf die programmatische Position von Parteien. Diese Positionen bilden sowohl die Grundlage für das issue voting der Wähler als auch die Koalitionspräferenzen von sachpolitisch-motivierten Parteien, die Koalitionen anhand ihres zu erwartenden Outputs bewerten. Im Allgemeinen wird eine Partei solche Koalitionen anstreben, deren erwartbare Politik der eigenen Position nahekommt. Daher beziehen policy-orientierte Ansätze der Koalitionstheorien die ideologischen und – in mehrdimensionalen Modellen – politikfeldspezifischen Positionen der Parteien ein und prognostizieren Koalitionen von ideologisch benachbarten Parteien oder Koalitionen mit geringer Heterogenität (Axelrod 1970; Schofield 1993). Koalitionsbildung ist aus der policy-orientierten Perspektive jedoch nicht nur abhängig von den programmatischen Positionen der Parteien. Ein weiterer Faktor ist das Gewicht oder die Salienz, welche die Parteien den jeweiligen Politikfeldern zuweisen (Hinich und Munger 1997, S. 77 f.). So ist anzunehmen, dass beispielsweise für eine wirtschaftsliberale Partei wie die FDP das sozioökonomische Politikfeld von größerer Bedeutung ist als gesellschaftspolitische Fragen, während für die gesellschaftspolitisch konservative AfD das Gegenteil gilt (Bräuninger et al. 2019).

Ein grundlegendes Modell für die Koalitionsbildung in komplexen, mehrdimensionalen Räumen haben Laver und Shepsle (1996) vorgelegt. Anders als in eindimensionalen Modellen, in denen politische Positionen auf einer einfachen Links-Rechts-Skala angenommen werden, erkennen Laver und Shepsle, dass politische Entscheidungen oft mehrere Dimensionen umfassen; wie etwa Wirtschaftspolitik, soziale Fragen und Außenpolitik. Diese Mehrdimensionalität beeinflusst die Verhandlungen und Entscheidungen bei der Verteilung der Ministerien, da Parteien unterschiedliche Prioritäten und Präferenzen in verschiedenen Politikfeldern haben. Zentral in ihrer Theorie sind das Konzept der portfolio allocation, das die Verteilung von Ministerposten in einer Koalitionsregierung beschreibt, und die Annahme von ministerial discretion, nach der ein Minister weitgehende Gestaltungsfreiheit innerhalb seiner Zuständigkeit hat. Diese Entscheidungsfreiheit ermöglicht es der Partei, die das Ministerium kontrolliert, ihre Politik auch gegen Widerstände innerhalb der Koalition durchzusetzen, was letztlich daher rühre, dass Minister in ihren Ressorts kaum kontrollierbar seien. Im Ergebnis ermöglicht das Modell ein besseres Verständnis der Ressortverteilung innerhalb von Koalitionen und auch von möglichen Ursachen von Minderheitsregierungen und übergroßen Koalitionen, die in office-orientierten Ansätzen außen vor bleiben. Die an Laver und Shepsle (1990, 1996) anschließende Literatur hat sich vor allem kritisch mit der Annahme der ministerial discretion auseinandergesetzt und auf empirisch beobachtbare, wenngleich selbst imperfekte (Goodhart 2013) Kontrollmechanismen hingewiesen, wie Staatssekretäre (Thies 2001), Parlamentsausschüsse (Mattson und Strøm 1995; Martin und Vanberg 2005, 2020) und Koalitionsverträge (Müller und Strøm 2008; Bowler et al. 2016; Klüver et al. 2023).

3 Empirische Befunde der Koalitionsforschung

Aus dem Blickwinkel der behaviouralistischen Schule der Politikwissenschaft kommt weniger den office- und policy-Faktoren, als vielmehr kontextuellen und institutionellen Merkmalen ein entscheidender Einfluss auf die parteipolitische Zusammensetzung von Regierungen zu (Kropp et al. 2002; Strøm 1990; Strøm et al. 1994). Als ein solcher Kontextfaktor kann der Amtsinhaberbonus gelten, der bestehenden Koalitionen zugutekommt, auch hier sowohl bei der Unterstützung durch Wähler als auch bei der Regierungsbildung (Schleiter und Bucur 2024). So weisen Koalitionsoptionen mit Parteien, mit denen in der Vergangenheit bereits Erfahrungen im gemeinsamen Regieren gesammelt werden konnten, im Allgemeinen geringere Unsicherheiten und geringere Transaktionskosten auf (Bäck und Dumont 2007; Franklin und Mackie 1983). Zu den Kontextmerkmalen zählt auch der Ausschluss von einer oder mehreren Parteien aus dem Koalitionsspiel aufgrund ihres Status als Anti-System-Partei (Powell 2000) oder eines „cordon sanitaire“, der von den das demokratische politische System tragenden Parteien etabliert wurde. Einzelne Parteien können generell, also von allen anderen Mitbewerbern von der Regierungsbildung a priori ausgeschlossen werden, oder aber auch nur von einigen Parteien als von vornherein „nicht regierungsfähig“ deklariert werden.

Gleiches gilt – mit umgekehrtem Vorzeichen – für positiv formulierte Koalitionsaussagen oder Vorwahlallianzen. Solche werden in der Literatur zwar häufig im Hinblick auf das Wahlsystem im jeweiligen Land untersucht (Golder 2005; für Deutschland vgl. Linhart 2007; Pappi et al. 2006), vereinzelt auch hinsichtlich ihres Einflusses auf die Koalitionsbildung (beispielhaft siehe Best 2015; Bräuninger und Debus 2008; Bräuninger et al. 2020; Debus 2009; Decker 2010, 2013; Decker und Best 2010; Golder 2005, 2006; Jun 1994; Martin und Stevenson 2001, 2010). Die letztgenannten Studien weisen darauf hin, dass positiv wie negativ formulierte Koalitionsaussagen, die vor den Wahlen getroffen wurden, einen statistisch signifikanten und substanziellen Einfluss auf das Ergebnis des Regierungsbildungsprozesses haben. Wir beschränken uns im Folgenden auf die Präsentation von Mechanismen und empirischen Erkenntnissen zu – aus unserer Sicht – sehr relevanten und fruchtbaren Forschungsbereichen zur Koalitionspolitik: dem Einfluss von Institutionen auf die Koalitionspolitik – hier konkret: den Mehrebenenstrukturen einerseits sowie den Kompetenzen der Parlamente andererseits – sowie der Perzeption von Koalitionspolitik durch die Wähler und den Mechanismen des Regierens in Koalitionen, die insbesondere durch Koalitionsabkommen strukturiert werden können.

3.1 Politischen Institutionen und kontextuelle Faktoren

In den Blickwinkel der jüngeren Forschung zu Koalitionen sind die institutionellen Strukturen des politischen Systems allgemein und der Parlamente und ihrer Strukturen und Kompetenzen im Besonderen gelangt. Generell beeinflussen die institutionellen Strukturen und Eigenschaften eines politischen Systems sowie seine Einbettung in Mehrebenenstrukturen maßgeblich das Handeln und Entscheiden von Parteien und ihren Repräsentanten im politischen Prozess, und damit auch in der Phase der Koalitionsbildung sowie während des Regierens in Mehrparteienkabinetten. Dies gilt insbesondere für die Forschung zu den Effekten von Mehrebenensystemen hinsichtlich des Handelns und Entscheidens von Parteien in Koalitionsbildungsprozessen einerseits sowie für die Untersuchung der Bildung von Minderheitskoalitionsregierungen und solchen Minderheitsregierungen, die durch eine oder mehrere Oppositionsparteien gestützt werden, andererseits.

Eine zentrale Rolle spielt in der Forschung zum institutionellen Kontext die Mehrebenenstruktur. Diese verursacht, aufgrund von föderalen Strukturen und Dezentralisierungsprozessen sowie durch den Prozess der europäischen Integration, direkte wie indirekte Effekte auf das Handeln politischer Parteien im Prozess der Regierungsbildung und in der Phase des Regierens in Koalitionen (siehe Baumann et al. 2020 für eine Übersicht). So stehen in föderalen Mehrebenensystemen allgemeine Wahlen auf nationaler und gliedstaatlicher Ebene selten unverbunden nebeneinander (Hooghe et al. 2010; Müller 2018). Deshalb können Wähler, die etwa mit der Arbeit der nationalen Regierung unzufrieden sind, die Wahlen zu den regionalen oder lokalen Parlamenten dazu nutzen, die auf nationaler Ebene regierenden Parteien abzustrafen und die Oppositionsparteien zu stärken. Dies kann in solchen politischen Systemen, in denen die regionalen Einheiten signifikanten Einfluss auf die Gesetzgebung auf nationaler Ebene haben – etwa im bundesdeutschen Fall durch den Bundesrat (Bräuninger und König 1999; Stecker 2016) oder in den Niederlanden durch die Erste Kammer (Louwerse und Timmermans 2021) – zu einem anwachsenden Einfluss der Opposition auf der nationalen Ebene des politischen Systems führen.

Gleichzeitig wirken jedoch die Mehrheitsverhältnisse auf nationaler Ebene auf die Regierungsbildung in den Regionen wie Bundesländer oder Provinzen ein (Fabritius 1976; Lehmbruch 1976; Pappi et al. 2005), insbesondere wenn die Regierungen der subnationalen Einheiten für den politischen Entscheidungsprozess, etwa über ihre Repräsentation in einer zweiten Kammer, großen Einfluss haben und somit das Ausmaß von „shared rule“ (Marks et al. 2008) im politischen Entscheidungsgefüge hoch ist (Bäck et al. 2013). Um ihre Politikziele weitestmöglich durchsetzen zu können, versuchen die die nationale Regierung tragenden Parteien, parteipolitisch gleiche Regierungen auf sub-nationaler Ebene zu installieren. Dadurch soll das Regierungslager in der zweiten Kammer gestärkt werden (Pappi et al. 2005; Bräuninger et al. 2020, S. 215–227). Alternativ werden zumindest solche Parteikonstellationen als nächste Koalitionsregierung unwahrscheinlicher, die ausschließlich Parteien umfassen, die auf nationaler Ebene die Opposition zur Regierung bilden.

Im Vergleich zu Deutschland haben andere europäische Staaten anders ausgestaltete Mehrebenensysteme. In diesen Mehrebenensystemen können die regionalen Einheiten zwar viele inhaltliche Gestaltungsmöglichkeiten haben, jedoch kaum auf die nationale bzw. föderale Ebene im Gesetzgebungsprozess einwirken, wie etwa in Spanien. In diesen Ländern zeigt sich, dass die Relevanz zur Installierung solcher Koalitionsregierungen, die kongruent zur Zusammensetzung von Regierung und Opposition auf nationaler Ebene sind, auf subnationaler Ebene geringer ausfällt als etwa in Deutschland (Bäck et al. 2013). Anders ausgedrückt: wo self-rule der subnationalen Einheiten hoch, shared rule im Mehrebenensystem aber schwach ausgeprägt ist, fällt der Einfluss der nationalen Parteiorganisationen auf die Regierungsbildung in den regionalen Einheiten eines politischen Systems geringer aus.

Die Forschung zur Bildung von Koalitionen in Mehrebenensystemen konzentriert sich nicht nur auf die wechselseitigen Effekte, die jeweils von der regionalen und nationalen Ebene ausgehen können. Vielmehr liegt ein weiterer Fokus auf der Analyse von Koalitionsbildungsprozessen auf lokaler Ebene. Diese eignet sich nicht nur, um die Anzahl der untersuchten Fälle zu erhöhen, so dass statistisch robuste Schlussfolgerungen über die Bestimmungsfaktoren der Bildung von Koalitionen gezogen werden können (Camões und Mendes 2009, S. 72; Laver et al. 1998, S. 352; Skjæveland et al. 2007, S. 726; Bäck 2008). Vielmehr erlaubt eine detaillierte Untersuchung der lokalen Ebene zum einen eine quantitative Analyse von Koalitionsbildungsprozessen in solchen politischen Institutionengefügen, die auf Ebene der Nationalstaaten nur in geringen Fallzahlen bestehen. Hierzu zählen etwa semi-präsidentielle Systeme, in denen der parteipolitischen Zugehörigkeit und der Koalitionspräferenz des jeweiligen Präsidenten eine zentrale Rolle zukommt. Zieht man den direkt gewählten Bürgermeister einer Kommune als Äquivalent für den Präsidenten in einem semi-präsidentiellen System heran, dann zeigt sich, dass die Parteien im jeweiligen Parlament die Parteizugehörigkeit des Bürgermeisters bzw. Präsidenten bei der Koalitionsbildung berücksichtigen und dessen Partei eine signifikant höhere Chance hat, Teil der nächsten Regierungskoalition zu werden (Gross und Debus 2018; Gross 2023). Zum anderen lassen sich auf der Grundlage von Daten zu Koalitionsbildungen auf der lokalen Ebene mögliche Effekte hinsichtlich der Frage untersuchen, ob – analog zur Situation in semi-präsidentiellen Systemen – die Akteure auf der lokalen Ebene solche Parteien verstärkt in eine Koalition einbinden, die auf übergeordneter Ebene – etwa in der nationalen oder regionalen Regierung – die Ministerien und Ämter kontrollieren, die für die Mittelvergabe an die Kommunen verantwortlich sind. Für diesen Mechanismus zeigt sich, zumindest auf der Grundlage von Koalitionsbildungsprozessen in deutschen Großstädten, empirische Evidenz (Debus und Gross 2016).

Aufgrund der zunehmenden Fragmentierung der europäischen Parteiensysteme und dem anwachsenden Stimmen- und Sitzanteil für Parteien, die von der Regierungsbildung von einer, mehreren oder gar allen anderen Parlamentsparteien ausgeschlossen sind, beschäftigt sich ein Forschungsstrang der Koalitionsforschung mit der Bildung von Minderheitsregierungen, die nicht nur aus einer, sondern aus mehreren Parteien bestehen bzw. auf die Unterstützung so genannter „Stützparteien“ aufbauen können. Diese senden keine Vertreter in das jeweilige Kabinett, können aber in Verhandlungen inhaltliche Zugeständnisse für sich durchsetzen (vgl. hierzu Tromborg et al. 2019; Thürk 2022; Thürk und Krauss 2024). Das Stützen einer Minderheits(koalitions)regierung durch eine formelle Oppositionspartei kann für letztere elektorale Vorteile haben. So ist diese Stützpartei nur partiell in die Koalitionskompromissfindung eingebunden und riskiert daher weniger, für das Abweichen von ihren im Wahlkampf geäußerten Positionen von den Wählern bei künftigen Wahlen abgestraft zu werden (siehe etwa Fortunato und Adams 2015; Klüver und Spoon 2020). Wenn es sich bei der Stützpartei um eine populistische, die Mainstream-Parteien kritisierende links- oder rechtspopulistische Partei handelt, kann diese weiterhin das Image einer „Anti-Establishment-Partei“ behalten, etwa indem sie etwa bei für sie zentralen Themen wie der Immigrationspolitik die Politikvorschläge der Minderheitskoalition nicht unterstützt (vgl. Müller 2024). Auf diese Weise muss sie weniger um einen Rückgang der Unterstützung bei zukünftigen Wahlen fürchten (siehe Fortunato et al. 2021; Hjermitslev 2024). Ein Beispiel für eine solche Minderheitskoalitionsregierung ist die 2022 ins Amt gekommene schwedische Regierung von Premierminister Kristersson, die aus den konservativen Moderaten, den Liberalen und den Christdemokraten besteht, jedoch parlamentarisch von den rechtspopulistischen Schwedendemokraten gestützt wird.

Waren – auch aufgrund der geringeren Fragmentierung der nationalen Parteiensysteme – in den 1970er-Jahren Minderheitsregierungen bestehend aus einer Partei die Regel, so hat sich dieses Bild im Zeitverlauf deutlich verschoben. So sind in den 2010er-Jahren rund zwei Drittel aller Minderheitsregierungen Koalitionen aus zwei oder mehr Parteien, während dies in den 1970er-Jahren nur in rund 30 % der Minderheitsregierungen in Europa der Fall war (siehe Thürk 2025, i.E.). Ein zentraler Erklärungsansatz für die unterschiedlich häufig vorkommenden Minderheitsregierungen findet sich in den institutionell gegebenen Kompetenzen von Parlamenten. Neben dem Bedarf an (übergroßen) Mehrheiten – etwa aufgrund bikameraler Strukturen und einer notwendigen Mehrheitsfindung auch in der zweiten Kammer (Ganghof und Bräuninger 2006; Eppner und Ganghof 2017) – kommt dem Bestehen einer Investiturabstimmung, dem sich eine neue Regierung und ihr Premierminister stellen muss, eine zentrolle Rolle zu. Bergman (1993) argumentierte und zeigte empirisch, dass in politischen Systemen, in denen das Prinzip des „positiven Parlamentarismus“ vorliegt und damit ein Premierminister oder Kanzler von einer Mehrheit im Parlament in das Amt hineingewählt werden muss, aufgrund der größeren Unsicherheit des Scheiterns der Investitur durch das Parlament der Bedarf nach Bildung einer Mehrheitskoalition größer ist als in solchen politischen Systemen, die durch einen „negativen Parlamentarismus“ gekennzeichnet sind. In letzterem wird aufgrund der antizipierten Mehrheitslage durch das Staatsoberhaupt oder den Parlamentspräsidenten eine Person zunächst zum Regierungschef ernannt, und es zeigt sich erst bei folgenden Abstimmungen, ob eine Mehrheit im Parlament die Regierung auch tatsächlich trägt. In einem solchen institutionellen Kontext ist die Hürde für die Bildung von Minderheitsregierungen deutlich geringer.

Strøm (1990) zeigt, dass nicht nur die institutionelle Struktur in Form des Bestehens oder Nicht-Bestehens einer Investiturabstimmung im Parlament entscheidend für die Chancen der Bildung von Minderheitsregierungen ist, sondern auch die ideologische Zusammensetzung des jeweiligen Parlaments. So konnten sich deswegen in Dänemark, Norwegen und Schweden häufig sozialdemokratische Minderheitsregierungen bilden, weil die Sozialdemokraten nicht nur die größte Fraktion stellten, sondern auch diejenige, die den zwischen Mehrheit und Minderheit trennenden „Medianabgeordneten“ (median legislator) umfasst. Analog zum Medianwählertheorem bedeutet dies, dass – wenn sich alle Parlamentsabgeordneten in ihrem Entscheidungsverhalten ausschließlich an der ideologischen Ausrichtung ihrer Partei orientieren – gegen die Fraktion, die den median legislator stellt, nicht regiert werden kann. Im institutionellen Kontext einer fehlenden Investiturabstimmung ergibt sich somit der Vorteil für eine den median legislator stellende Partei, eine Minderheitsregierung zu bilden und sich – je nach Themenfeld – ad hoc Mehrheiten im Parlament mit denjenigen Parteien zu suchen, mit denen es die größten inhaltlichen Schnittmengen gibt.

Hinsichtlich der Performanz von Regierungen kann diese Form der Mehrheitsfindung zwar eine größere Flexibilität hinsichtlich des einzuschlagenden inhaltlichen Kurses in Abhängigkeit der aktuellen Lage bedeuten, in der etwa die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung besser berücksichtigt werden können. Jedoch impliziert die Notwendigkeit des Aushandelns von Kompromissen mit Fraktionen links oder rechts der regierenden Partei des median legislators, dass Unsicherheit über den politischen Kurs einer Regierung vorliegt und im Falle einer fehlenden Mehrheit der Status quo beibehalten wird, obwohl externe Faktoren wie etwa eine internationale Krise oder ein Abflauen der Wirtschaftsleistung politischen Reformbedarf induzieren.

Sieberer (2015a) geht daher davon aus, dass durch Investiturabstimmungen, denen sich ein Kandidat für das Amt des Regierungschefs stellen muss, auch eine höhere politische Stabilität erreicht wird. Die Begründung hierfür ist, dass im Falle von Mehrheitsregierungen aus mehreren Parteien sich diese zunehmend auf detaillierte, inhaltliche Kompromisse sowie prozedurale Regeln vor der Abstimmung im Parlament einigen und die geplanten Policies in Form von Koalitionsabkommen schriftlich fixieren. Positiver Parlamentarismus in Form der obligatorischen Wahl eines Premierministers oder Kanzlers in sein Amt beeinflusst daher indirekt auch die Etablierung von Koalitionsabkommen sowie die Dauer der Koalitionsverhandlungen und des Regierungsbildungsprozesses. Dies sind daher Aspekte, denen sich die Koalitionsforschung in den letzten Jahren verstärkt widmet (siehe Abschn. 3.2).

Die Ergebnisse einer Reihe ländervergleichender Studien deuten darauf hin, dass die konstitutionell vorgegebene Notwendigkeit einer Investiturabstimmung und damit das Prinzip des positiven Parlamentarismus in der Tat dazu führt, dass Mehrheitsregierungen, bestehend aus einer oder mehr Parteien, wahrscheinlicher und Minderheits(koalitions)regierungen unwahrscheinlicher werden (vgl. etwa Bergman et al. 2015; Martin und Stevenson 2001; Thürk et al. 2021). Die jüngere Forschung differenziert zudem zwischen den in der Investiturabstimmung geforderten Mehrheiten im Parlament. Während Thürk et al. (2021) zeigen, dass das Bestehen einer Investiturabstimmung die Bildung von Minderheitsregierungen allgemein unwahrscheinlicher machen, demonstrieren Cheibub et al. (2021), dass dies nur gilt, wenn eine absolute Mandatsmehrheit im Parlament für die Wahl eines Regierungschefs benötigt wird.

3.2 Wählerperzeption von Koalitionspolitik und Mechanismen des Regierens in Koalitionen

Im vorherigen Abschnitt wurden bereits die elektoralen Implikationen des Regierens in Koalitionen angesprochen, die Parteien und ihre Vertreter nicht nur in der Phase der Bildung von, sondern auch während des Regierens in Mehrparteienkabinetten im Blick haben. Ebenso haben Studien, die auf die institutionellen Rahmenbedingungen als Determinanten von Koalitionsbildung und Regieren in Koalitionen abheben, auf bestimmte Nebeneffekte hingewiesen. Diese äußern sich, indem Koalitionsverhandlungen länger dauern, eine Investiturabstimmung erforderlich ist, und Koalitionsabkommen vor der Wahl eines Premierministers oder Kanzlers seitens der Koalitionsparteien verabschiedet werden, um die Wahl des Koalitionskandidaten für das Amt des Regierungschefs sicherzustellen. Wir widmen uns diesen drei Aspekten der Koalitionsforschung im Folgenden detailliert, da diese in der jüngeren Literatur massiv an Bedeutung gewonnen haben.

Während sich Studien in den 2000er-Jahren insbesondere den Effekten von bestehenden Koalitionen, Koalitionsaussagen und Koalitionssignalen auf das strategische Wählen gewidmet haben (siehe etwa Gschwend et al. 2003, 2017; Gschwend 2007; Linhart 2007; Bargsted und Kedar 2009; Bytzek et al. 2012), hat die jüngere Koalitionsforschung verstärkt die Perzeption der Arbeit der Koalitionsparteien durch die Wähler in den Blick genommen. So zeigen Arbeiten zu den Determinanten der Koalitionspräferenzen der Wähler, dass diese nicht nur den von den Parteien ausgesandten Koalitionssignalen folgen, sondern zudem die dominanten Muster der Regierungsbildung kennen und etwa kleine Gewinnkoalitionen oder solche mit geringerer programmatischer Heterogenität gegenüber übergroßen Koalitionen und solchen, die aus ideologisch-programmatisch sehr unterschiedlich ausgerichteten Parteien bestehen, präferieren (Debus und Müller 2014; Bowler et al. 2022). Es kann davon ausgegangen werden, dass Parteien diese Informationen und die Evaluierung ihrer Arbeit in einer Koalitionsregierung durch die Wähler einbeziehen, wenn sie während einer Legislaturperiode in Parlament und Kabinett Entscheidungen treffen. Die in Mehrparteienregierungen zwangsläufige Kompromissfindung impliziert ein Abweichen von den Positionen, die eine Partei ihren Wählern vor der Wahl kommuniziert hat. Je weiter die Koalitionsparteien in zentralen Politikfeldern auseinanderliegen, desto kostenintensiver sind die Kompromisse und desto größer ist die Gefahr, dass sich ein anwachsender Teil früherer Wähler der Koalitionsparteien bei künftigen Wahlen anderen Parteien und Kandidaten zuwenden (Greene et al. 2021; Hjermitslev 2020; Klüver und Spoon 2020; Fortunato 2019, 2021; Plescia et al. 2022; Plescia und Kritzinger 2022). Daher nutzen die Koalitionsparteien verschiedene Stufen des legislativen Prozesses – wie etwa das Einbringen und Verändern von Gesetzesinitiativen (Martin und Vanberg 2011, 2020; Otjes und Louwerse 2018), das Halten von Reden im Parlament (Bäck et al. 2021) oder die Abstimmung über Gesetzesvorlagen in Ausschüssen und im Parlament (Tuttnauer und Wegmann 2022) – um den Wählern ihr eigenes inhaltliches Profil kontinuierlich zu kommunizieren und sich so gegenüber dem Koalitionspartner abzugrenzen. Diese Distanzierung erfolgt bis in den Wahlkampf hinein und ist durchaus erfolgreich, solange die Attacken auf den oder die Koalitionspartner nur dann verstärkt stattfinden, wenn die ideologische Heterogenität der Koalitionsregierung nur bedingt ausgeprägt ist (Debus und Tuttnauer 2024). Andernfalls können die Attacken auf die Koalitionspartner in der Schlussphase des Wahlkampfes dazu führen, dass sich die Wähler der zahlreichen notwendigen Kompromisse und damit nicht erfüllten früheren Wahlversprechen der Koalitionsparteien verstärkt bewusst werden.

Eine zweite, nicht nur wissenschaftlich, sondern auch politisch hoch relevante und daher prominente Forschungsfrage konzentriert sich auf die Determinanten der Dauer von Koalitionsverhandlungen. War die Untersuchung der Stabilität von Koalitionsregierungen und damit der Frage, von welchen Faktoren es abhängt, dass ein Mehrparteienkabinett eine vollständige Legislaturperiode im Amt bleibt, noch im Fokus der Forschung der 1990er- und 2000er-Jahre (vgl. etwa Lupia and Strøm 1995; Warwick 1999; Grofman und van Roozendaal 1997; Saalfeld 2008; Somer-Topcu und Williams 2008), so konzentriert sich die jüngere Forschung auf die Determinanten der Dauer von Koalitionsverhandlungen.

Je länger die Regierungsbildung nach einer Wahl dauert, desto länger muss die amtierende, durch die aktuelle Wahl nicht mehr legitimierte Regierung im Amt bleiben und gegebenenfalls weitreichende Entscheidungen treffen, die möglicherweise von einer Mehrheit der Wähler gemäß dem letzten Wahlergebnis so nicht gewünscht waren. Als Beispiel können die Regierungsbildungsprozesse nach den Bundestagswahlen 2017 und 2021 in Deutschland dienen: Hätte der Koalitionsbildungsprozess 2021 in Deutschland ähnlich lange wie 2017, nämlich rund sechs Monate, gedauert, wäre der Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine in die Amtszeit einer geschäftsführenden Bundesregierung unter Bundeskanzlerin Merkel gefallen, deren Handlungsspielraum in der Veränderung der Verteidigungspolitik deutlich geringer ausgeprägt gewesen wäre als derjenige einer durch eine Mehrheit des 2021 neu gewählten Bundestages ins Amt gewählten Regierung.

In einem west- und osteuropäische Staaten vergleichenden Forschungsdesign zeigten Ecker und Meyer (2015), dass es nicht nur große Unterschiede in der durchschnittlichen Dauer von Koalitionsbildungsprozessen in Europa gibt, sondern auch, dass Unterschiede zwischen west- und osteuropäischen Staaten hinsichtlich der Determinanten der Dauer bestehen. Findet ein Koalitionsverhandlungsprozess während einer Legislaturperiode statt, ist in europäischen Staaten insgesamt die Verhandlungsdauer kürzer. Der Grund ist, dass sich die parteipolitischen Akteure während der laufenden Legislaturperiode bereits kennengelernt haben und mögliche Schnittmengen schneller identifizieren können als direkt nach der Wahl eines Parlaments. Einen Unterschied gibt es zwischen west- und osteuropäischen Staaten jedoch dahingehend, dass – wie angesichts der vielfach von westeuropäischen Staaten unterschiedlichen Traditionslinien und Muster des politischen Prozesses in Osteuropa erwartet – ein komplexeres parlamentarisches Parteiensystem zu einer längeren Verhandlungsdauer nur in Westeuropa, nicht jedoch in Osteuropa führt.

Auf der Basis des von Chiba et al. (2015) entwickelten statistischen Verfahrens zur Analyse der Dauer von Koalitionsverhandlungen, das davon ausgeht, dass Koalitionsbildung und Koalitionsverhandlungsdauer nicht voneinander getrennt betrachtet werden dürfen, sondern dass die Entscheidung, wer mit wem überhaupt spricht und damit eine Koalition in Erwägung zieht, die Verhandlungsdauer beeinflusst, untersuchen Ecker und Meyer (2020) in einer weiteren Studie insbesondere den Einfluss der ideologischen Kompatibilität zwischen den Verhandlungspartnern auf die Dauer der Koalitionsgespräche. Neben dem Amtsinhaberstatus und der Erfahrenheit der jeweiligen Parteiführungen zeigt sich, dass das programmatische Profil der Parteien – in Form programmatischer Nähe und Tangentialität, also des Fokus auf unterschiedlichen Politikbereichen – die Koalitionsverhandlungsdauer signifikant verkürzt (siehe auch Dumont et al. 2024). Aufbauend auf diesen Ergebnissen und unter dem Eindruck des anwachsenden Mandatsanteils für links- wie rechtspopulistische Parteien zeigen Bäck et al. (2024), dass mit verstärkter Präsenz von Parteien, die durch einen „cordon sanitaire“ vom Regierungsbildungsprozess ausgeschlossen sind, die Koalitionsverhandlungen deutlich länger dauern. Dies ist jedoch insbesondere dann gegeben, wenn eine a priori als Koalitionspartner ausgeschlossene Partei doch im Verhandlungsprozess berücksichtigt wird. In diesem Fall müssen die verhandelnden Parteien Zeit aufwenden, um den Wählern zu signalisieren, dass ihnen die Aufhebung des „cordon sanitaire“ schwerfällt und nur deswegen erfolgt, weil andernfalls keine stabile Regierung gebildet werden kann.

Ein dritter, die Koalitionsforschung seit den 2000er-Jahren verstärkt beschäftigender Aspekt liegt in der Beantwortung der Fragen, warum zunehmend Koalitionsabkommen schriftlich formuliert werden, welche Funktionen sie erfüllen und welche Inhalte sie umfassen. Folgt man dem theoretischen Rahmen von Müller und Strøm (2008), kann das Regieren in Koalitionen im Kontext des principal agent-Ansatzes konzeptualisiert werden. In diesem Zusammenhang stellen Koalitionsabkommen eine zentrale Möglichkeit dar, die unterschiedlichen Agenten – etwa die von den Koalitionsparteien in das Kabinett entsandten Minister und Staatssekretäre – an die inhaltlichen Kompromisse zu binden, die am Ende der Koalitionsverhandlungen im Koalitionsabkommen schriftlich fixiert wurden. Dies sollte die Gefahr von moral hazard während der Legislaturperiode erhöhen und gleichzeitig zu einer größeren Stabilität der Koalition führen. Dies gilt auch deshalb, weil in Koalitionsabkommen nicht nur inhaltliche Kompromisse fixiert werden, sondern auch Maßnahmen und Prozeduren festgelegt werden, wie im Falle von koalitionsinternen Konflikten miteinander umgegangen werden soll und welche Gremien (mit welchen Personen) für die Lösung von Konflikten zuständig sein werden. Demnach erfüllen Koalitionsabkommen drei Funktionen: sie legen prozedurale Regeln über das Verhalten der involvierten Akteure in einer Koalition fest, fixieren die Ämter- und Kompetenzverteilung in einer Koalitionsregierung und dienen als Richtschnur für die politischen Vorhaben während der Legislaturperiode.

Die sich mit Koalitionsabkommen beschäftigende Forschung belegt zum einen, dass im Zeitverlauf immer mehr solcher „agreements“ verfasst und am Ende der Koalitionsverhandlungen der Öffentlichkeit präsentiert werden. Müller und Strøm (2008) sowie Bergman et al. (2021b) zeigen, dass in den späten 1940er-Jahren nur rund ein Drittel aller Koalitionsregierungen in den westeuropäischen, demokratisch organisierten Staaten auf einem schriftlich fixierten Koalitionsabkommen basierten, während dieser Anteil auf beinahe 100 % in den 2000er-Jahren anwuchs, um dann in den 2010er-Jahren auf rund 80 % zurückzugehen. Ein hingegen kontinuierlicher Trend über die Zeit ist die im Durchschnitt aller Koalitionsregierungen in Westeuropa anwachsende Länge der Koalitionsabkommen. Bis zu Beginn der 1980er-Jahre umfassten Koalitionsabkommen durchschnittlich 5000 Wörter. Das erste schriftlich fixierte Koalitionsabkommen in Deutschland resultierte aus den Verhandlungen zwischen SPD und FDP 1980, war knapp zwei Seiten lang und umfasste 1200 Wörter. Gegen Ende der 2010er-Jahre waren es hingegen im Durchschnitt, über alle westeuropäischen Staaten hinweg, beinahe 30.000 Wörter; das Koalitionsabkommen der 2021 in Deutschland gebildeten Regierung aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP umfasst gar etwas mehr als 51.000 Wörter.

Aufgrund der in den vergangenen zwanzig Jahren massiv angewachsenen Möglichkeiten der quantitativen Inhaltsanalyse haben sich eine Fülle von Studien mit den Inhalten von Koalitionsabkommen befasst. Während das Comparative Manifesto Project (MARPOR; vgl. Volkens et al. 2020) für die westeuropäischen Regierungen bis Ende der 1990er-Jahre die Regierungserklärungen inhaltsanalytisch gemäß des von diesem Projekt für Wahlprogramme angelegten Schemas codierte und auf dieser Grundlage die „Übersetzung“ der programmatischen Profile der Regierungsparteien in das anvisierte Regierungshandeln untersucht werden konnte (vgl. etwa Warwick 2001), legten Müller und Strøm (2008) aufgrund der erhobenen Koalitionsdokumente eine Analyse vor, die sich mit der Frage befasst, in welchem Ausmaß inhaltliche Ziele und prozedurale Fragen des Regierens in Koalitionen in den Abkommen vorkommen. In der Fortführung dieser Studie zeigen Bergman et al. (2021b), dass die geplanten Inhalte von Politik – und damit die Kompromisse, auf die sich die Koalitionsparteien geeinigt haben – die Koalitionsabkommen maßgeblich dominieren und in Ländern wie Irland, Finnland, Norwegen und Island nahezu 100 % des gesamten Textes ausmachen. Dieser Anteil ist hingegen in Österreich mit rund zwei Dritteln am niedrigsten im Vergleich aller westeuropäischer Staaten, während sich dort die übrigen Teile des jeweiligen Koalitionsdokuments mit prozeduralen Regeln des Regierens in Koalitionen und der Verteilung der Ämter auf die beteiligten Kabinettsparteien beschäftigen.

Vor dem Hintergrund der insbesondere in Österreich häufigen Koalitionen zwischen den beiden großen, ideologisch jeweils das Spektrum links und rechts der Mitte abbildenden Volksparteien, die in Wahlen jeweils um den „ersten Platz“ und – zumindest bis Mitte der 1980er-Jahre – um absolute Mandatsmehrheiten kämpften, erscheint das Abheben auf Konfliktlösungsmechanismen plausibel. Müller und Strøm (2008) haben daher eine Reihe von Erwartungen formuliert, die den Inhalt von Koalitionsabkommen betreffen: so sollten etwa mit anwachsender programmatischer Unterschiedlichkeit und steigender Unsicherheit über die künftige politische Entwicklung die Formalisierung des Koalitionsabkommens – sichtbar über einen ansteigenden Anteil prozeduraler Regeln im Dokument – zunehmen (siehe auch Indridason und Kristinsson 2013). Bowler et al. (2016) zeigen auf Basis der in den deutschen Bundesländern verfassten Koalitionsabkommen, dass die ideologische Distanz in Kombination mit dem Größenunterschied der Koalitionsparteien ein zentraler Faktor ist, der die Präsenz von Konfliktregulierungsmaßnahmen in Koalitionsregierungen und den Anteil prozeduraler Regeln erklärt: je programmatisch unterschiedlicher und je verschiedener in ihrer in Parlament und Regierung vertretenen Stärke die Koalitionsparteien sind, desto stärker und detaillierter sind die prozeduralen Regeln in Koalitionsabkommen ausformuliert.

Anhand von – quantitativen oder qualitativen – Inhaltsanalysen der Koalitionsabkommen lässt sich zudem abschätzen, auf welche programmatische Position sich eine Koalition in den Verhandlungen geeinigt hat und welche der Verhandlungspartner sich besser durchsetzen konnte, etwa auf der Grundlage einer größeren Fülle von alternativen Koalitionsoptionen, mit denen den anderen Koalitionsparteien in den Diskussionen gedroht werden konnte (Debus 2008; Däubler und Debus 2009; Schermann und Ennser-Jedenastik 2014). Methodisch ausgefeiltere Erhebungen, die das MARPOR-Codierschema (Volkens et al. 2020) auf Koalitionsabkommen angewandt haben (Klüver et al. 2023) erlauben eine detaillierte quantitativ-vergleichende Analyse der Inhalte dieser Dokumente, etwa in Form der Frage, in welchem Ausmaß die Koalitionsparteien verschiedene Politikfelder im Abkommen hervorheben. Klüver und Bäck (2019) argumentieren und zeigen empirisch, dass insbesondere die Präsentation der Kompromisse zu den Politikfeldern größeren Raum in den Koalitionsabkommen einnimmt, wenn die Verhandlungspartner größere programmatische Differenzen in diesen Sachfragen haben. Je größer die politikfeldspezifische Distanz zwischen den künftigen Koalitionsparteien in west- und osteuropäischen Staaten ist, desto größer erscheint die Gefahr eines Konflikts in den entsprechenden Bereichen während der Legislaturperiode, so dass ein Anreiz auf eine spezifische, detaillierte Ausformulierung des Kompromisses im Koalitionsabkommen besteht. Dies sollte zu einer höheren Stabilität der Koalitionsregierung führen (siehe Krauss 2018).

Neben diesen die Prozesse des Verhandelns über Koalitionskompromisse thematisierenden Studien haben sich ländervergleichende Studien auch auf den Effekt des Bestehens von Koalitionsabkommen auf die Ergebnisse des politischen Prozesses konzentriert. Bäck et al. (2017) zeigen in einer vergleichenden, westeuropäische Staaten von 1970 bis 1998 umfassenden Analyse, dass das Vorliegen von Koalitionsabkommen zu höherer Ausgabendisziplin von Regierungen führt, wenn das Amt des Kabinettschefs mit wenigen institutionellen Kompetenzen ausgestattet ist. Aufbauend darauf argumentieren Bergman et al. (2024) und zeigen empirisch, dass das Bestehen von Koalitionsabkommen die Produktivität von Mehrparteienregierungen und diese verstärkt dazu in der Lage sind, Veränderungen des Status quo und damit inhaltliche Reformen zu implementieren (siehe auch die qualitative Studie zu Koalitionsabkommen von Timmermans 2006 oder von Moury 2014).

4 Ausblick

Auch wenn das Regieren in Mehrparteienkoalitionen mit der Entwicklung von bis heute relevanten Koalitionstheorien in den 1960er- und 1970er-Jahren bereits seit langem ein zentrales Forschungsgebiet der vergleichenden Politikwissenschaft ist, hat die zunehmende Fragmentierung der Parteiensysteme in modernen Demokratien insbesondere in Europa zu einer verstärkten Beschäftigung der Politikwissenschaft mit diesem Themenbereich geführt. Dies gilt sowohl für die Entwicklung theoretischer Konzepte und Modelle, die auf Annahmen der rational choice-Theorie oder institutionell-kontextueller Ansätze aufbauen, als auch für die empirische Perspektive, die aufgrund neuer methodisch-statistischer, aber auch inhaltsanalytischer Verfahren neue Erkenntnisse in der Analyse der Koalitionsbildung, des Regierens in Koalitionen und des Endes von Koalitionen erbracht hat. Ziel dieses Beitrages war es, die Entwicklungen der Koalitionsforschung nachzuzeichnen und insbesondere die Erkenntnisse der Forschungsbereiche zu präsentieren, die momentan im Fokus des wissenschaftlichen Interesses stehen und die darüber hinaus auch von hoher gesellschaftlicher Relevanz sind. Hierzu zählen – neben den Effekten institutioneller Strukturen, die etwa die Chance auf die Bildung von Minderheitsregierungen beeinflussen können – vor allem die Integration der Wählerperspektive auf das Handeln und Entscheiden der Koalition insgesamt und der einzelnen Koalitionsparteien insbesondere. Auch die tendenziell anwachsende Dauer von Regierungsbildungsprozessen wie auch die Funktion von Koalitionsabkommen spielen sowohl in der Forschung als auch aus der Perspektive der Öffentlichkeit eine wichtiger werdende Rolle, kann doch eine während eines langen Koalitionsbildungsprozesses amtierende geschäftsführende Regierung nur bedingt als durch die letzten Wahlen legitimiert gelten. Daneben können Koalitionsabkommen dazu dienen, auch programmatisch heterogene Mehrparteienregierungen zusammenzuhalten, wenn Konflikte während einer Legislaturperiode zwischen den Koalitionsparteien entstehen.

An dieser Stelle entstehen Anreize für neue Forschungsvorhaben, mit denen sich die Koalitionsforschung in Zukunft beschäftigen könnte, gerade auch weil neue methodische Verfahren und die Erschließung neuer Datenarten, wie etwa der Statements von Parteien und ihren Repräsentanten in den sozialen Medien wie Facebook, Twitter/X, Instagram oder TikTok, vielfältige Zugänge zur detaillierten Analyse des Agierens nicht nur von Koalitionsparteien, sondern auch ihrer einzelnen Repräsentanten im „coalition life cycle“ (Müller et al. 2024) ermöglichen. So kann etwa der Effekt exogener Schocks wie einer Naturkatastrophe oder einer internationalen Krise sowie kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Nachbarstaaten dazu führen, dass die ursprünglich im Koalitionsabkommen festgelegten Politikziele nicht oder nur noch bedingt eingehalten werden können und neue Kompromisse während der laufenden Legislaturperiode geschlossen werden müssen. Darauf fokussierende Studien können untersuchen, wie die Reaktion und die Etablierung neuer inhaltlicher Kompromisse in solchen Situationen zwischen Koalitionsparteien stattfinden, etwa auf der Grundlage der Statements der Koalitionsvertreter in klassischen und sozialen Medien. Von Interesse sind hierbei auch die Folgen, beispielsweise für die Verteilung von Kabinettsposten auf die Koalitionsparteien (Bäck et al. 2011), für etwaige Kabinettsumbildungen und ihr Ausmaß (Indridason und Kam 2008; Helms und Vercesi 2022) sowie für den Neuzuschnitt von Ministerien (Sieberer 2015b; Meyer et al. 2024). Gleichzeitig kann mit zeitlich dynamischen Datenquellen untersucht werden, wie sich die Stimmung in der Koalition, auch in Abhängigkeit während der Legislaturperiode auftretender Ereignisse oder Krisen, entwickelt. Beispiele hierfür sind die Reaktionen von Abgeordneten, die sie in Parlamentsreden oder auf Parteitagen äußern oder wie sich die Zustimmung zu den Repräsentanten anderer Koalitionsparteien verändert. Letzteres könnte etwa – folgt man der Studie von Imre et al. (2023) – anhand des Applaudierens und der Entwicklung der Muster des Applaudierens in Parlamenten auf Basis der Parlamentsprotokolle nachgezeichnet und untersucht werden.

Vor diesem Hintergrund erscheint auch die Fokussierung auf die individuellen Akteure in Koalitionsparteien sowie in den entsprechenden Kabinetten vielversprechend. Während die frühere Koalitionsforschung argumentierte und empirisch zeigte, dass sich eine bereits erfolgte Zusammenarbeit zwischen den Koalitionsparteien positiv auf die Chancen künftiger gemeinsamer Regierungsarbeit auswirkt (Franklin und Mackie 1983; siehe auch Bäck et al. 2024), wenn denn die jeweiligen Koalitionsregierungen nicht durch einen internen Konflikt beendet wurden (Martin und Stevenson 2010), so kann künftig der Frage nachgegangen werden, ob sich die Zusammenarbeit einzelner Akteure in früheren Legislaturperioden oder Kabinetten positiv auf die Chancen auswirkt, dass ihre Parteien erneut zusammenarbeiten. Die bereits miteinander vernetzten Politiker können die Grundlage für das Funktionieren der neuen Koalition bilden, etwa durch die Besetzung zentraler Positionen in Kabinett oder Parlamentsfraktion. Die Entwicklung anspruchsvollerer inhaltsanalytischer Verfahren erlaubt zudem nicht nur die Bestimmung der inhaltlichen Profile einzelner Akteure in den Koalitionsparteien, sodass etwa eine tiefgreifendere Untersuchung der Allokation von Kabinettsposten auch unter Berücksichtigung innerparteilicher Konflikte vorgenommen werden kann. Vielmehr kann versucht werden, neben der Schätzung der programmatischen Profile der individuellen Akteure in Koalitionsregierungen auch deren wechselseitige Sympathie und Antipathie auf der Grundlage von in Reden getätigten Aussagen oder Applausverhalten zu messen. Dies würde ermöglichen, den insbesondere in der Wahl- und Einstellungsforschung prominent gewordenen Ansatz der affektiven Polarisierung (vgl. Wagner 2021 für eine Übersicht) besser in die Koalitionsforschung zu integrieren.

Die sich daran anschließende Herausforderung ist die engere Einbindung der Einstellungen der Wähler zu Koalitionsbildung und den Mustern des Regierens in Koalitionen. Die im Beitrag diskutierte Literatur und ihre Ergebnisse deuten darauf hin, dass Wähler sehr gut sowohl über die Muster der Koalitionsbildung als auch der Entscheidungsfindung in Koalitionen informiert sind. Gleichzeitig umfassen viele etablierte Bevölkerungsumfragen und Wahlstudien nur rudimentär solche Fragen, die eine detaillierte Analyse der Perzeption von Koalitionspolitik durch die Wähler – insbesondere im Zeitverlauf bzw. in einem Panel-Design – zulassen. Zudem besteht – insbesondere in vergleichender Perspektive – noch weitgehend Unklarheit darüber, ob, in welchem Ausmaß und in welchen Kontexten Parteien und ihre Führungen die Koalitionswünsche der Wähler im Prozess der Regierungsbildung berücksichtigen. Eine Herausforderung für die internationale Politikwissenschaft ist es daher, die bereits jetzt in der Forschung bestehenden Schnittstellen und Kooperationen zwischen der Wahl- und Einstellungsforschung einerseits und der Koalitionsforschung andererseits stärker zu berücksichtigen, wenn es darum geht, international vergleichbare Surveyinstrumente zu entwickeln, um die Perzeption von Koalitionspolitik durch die Bevölkerung und die von ihnen gewünschten Verhaltensweisen von Parteien in der Koalitionsbildung wie auch im Regieren in Koalitionen tiefgreifender zu untersuchen.