1 Einleitung

Seit den 1960er-Jahren hat das Ruhrgebiet mit seinen rund fünf Millionen Einwohnern einen tiefgreifenden Strukturwandel erlebt. Die über 200-jährige Ära des Steinkohlebergbaus endete im Jahr 2018 mit der Schließung der letzten Zeche (Prosper-Haniel in Bottrop). Da war die Gesamtbelegschaft im Steinkohlenbergbau bereits auf weniger als 3500 gesunken (ihren Höchststand hatte die Beschäftigtenzahl im Steinkohlebergbau im Ruhrgebiet Mitte der 1950er-Jahre mit etwa einer halben Million „Kumpel“; vgl. Statista 2023). Auch wenn neue Arbeitsplätze in Branchen wie Logistik, IT und Gesundheitswirtschaft entstanden sind, kämpft das Ruhrgebiet bis heute mit seinem Erbe. Nirgendwo in der Bundesrepublik sind Arbeitslosigkeit und Armutsgefährdung so groß wie hier. Von den zehn kreisfreien Städten bzw. Kreisen in Deutschland mit der höchsten Arbeitslosenquote befinden sich sechs im Ruhrgebiet.Footnote 1 Das spiegelt sich auch in den hohen Nichtwähleranteilen (Schäfer 2012) und überproportionalen Stimmanteilen der AfD (Bergmann et al. 2018) wider. Darüber hinaus besteht innerhalb des Ruhrgebiets eine Spaltungslinie zwischen dem begüterten Süden und armen Norden, die entlang der als „Sozialäquator“ apostrophierten Autobahn 40 verläuft (Bogumil et al. 2012; Dinter 2019; Korte und Dinter 2019). Es sind vor allem diese benachteiligten, schlechter situierten Bevölkerungsgruppen, die sich von der bestehenden repräsentativen Demokratieform abwenden (vgl. u. a. Best et al. 2023; Decker et al. 2019).

Während sogenannte „abgehängte“ Regionen in der medialen Debatte in Deutschland häufig im Osten des Landes sowie in ländlichen Gegenden verortet werden, identifiziert etwa die Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zur „Zukunft der Regionen in Deutschland“ gleich vier Regionen im Ruhrgebiet als „gefährdet“ (Hüther et al. 2019). Auch die in den letzten Jahren populär gewordene Forschung zur politischen Geographie des Rechtspopulismus verortet Gefühle des „Abgehängtseins“ (oder „regional resentments“) keineswegs nur in ländlichen Räumen und hebt die Bedeutung sozio-ökonomischer Faktoren hervor (vgl. etwa Arzheimer und Bernemann 2023; de Lange et al. 2022; Dijkstra et al. 2020; Huijsmans 2023; McKay et al. 2021; Reiser et al. 2023a; Rodríguez-Pose 2017). So konzentrieren sich die Stimmen für rechtspopulistische Parteien etwa in Gebieten, die seit langem unter einem wirtschaftlichen Niedergang leiden (siehe z. B. Greve et al. 2023; Rodríguez-Pose 2017); auch Vertrauen und Demokratiezufriedenheit sind mit dem Gefühl des „Abgehängtseins“ verbunden (Reiser et al. 2023a).

Vor diesem Hintergrund dieser Kontextbedingungen ist es hoch relevant, die demokratischen Einstellungen der Bevölkerung im Ruhrgebiet als eine eigene, abgrenzbare politisch-kulturelle Einheit innerhalb Nordrhein-Westfalens genauer zu untersuchen. Aufgrund des Strukturwandels und der aktuellen Kontextbedingungen wäre zu erwarten, dass die Einstellungen zur Demokratie im Ruhrgebiet auf einem niedrigeren Niveau sind als in anderen Regionen Deutschlands. Trotz dieser Relevanz liegen jedoch kaum empirische Erkenntnisse zur politischen Kultur und spezifisch für die demokratischen Einstellungen im Ruhrgebiet vor. Dies erklärt sich u. a. dadurch, dass die Literatur zur politischen Kultur – jenseits der Ost-West-Unterschiede (etwa Pickel und Pickel 2020, 2023; Reiser und Reiter 2023) – sich für regionale Unterschiede bisher kaum interessiert hat (für Ausnahmen siehe: Mannewitz 2015; Werz und Koschkar 2016). Ebenso stellen Langzeitreihen zu den demokratischen Einstellungen in den westdeutschen Bundesländern oder vertiefende Untersuchungen einzelner Regionen eine Mangelware dar (siehe für den aktuellen Forschungsstand die Einleitung zu diesem Special Issue, Reiser et al. 2023b), obwohl auf die Relevanz einer regionalisierten Perspektive in der politischen Kulturforschung in den letzten Jahren vermehrt hingewiesen wird (u. a. Enders et al. 2021; Mannewitz 2015; Werz und Koschkar 2016).

Auch spezifisch für das Ruhrgebiet liegen nur wenige Studien vor: Die wegweisenden Arbeiten Karl Rohes (1986) zur politischen Kultur des Ruhrgebiets liegen fast 40 Jahre zurück. Neuere Studien zum Ruhrgebiet beschränken sich zumeist auf die Abfrage weniger Items oder sind stark deskriptiv angelegt (vgl. z. B. Decker 2019; Diermeier et al. 2020, 2021). Daher untersucht der vorliegende Beitrag die demokratischen Einstellungen aus der Perspektive der einstellungsorientierten politischen Kulturforschung im Ruhrgebiet genauer. Im Einklang mit dem Fokus dieses Special Issues (vgl. den einleitenden Beitrag von Reiser et al. 2023b), das die demokratischen Einstellungen im regionalen Vergleich untersucht, fokussiert dieser Beitrag auf zwei zentrale Indikatoren der politischen Kulturforschung: die Demokratiezufriedenheit und das Institutionenvertrauen. Die zentrale Fragestellung dieses Beitrags lautet: Wie hoch ist Ausmaß an Demokratiezufriedenheit und Institutionenvertrauen im Ruhrgebiet und welche Faktoren erklären diese Einstellungen? Vor dem Hintergrund der Transformationserfahrungen und der damit verbundenen sozialen Herausforderungen legt dieser Beitrag ein besonderes Augenmerk auf die Rolle, die soziale Ungleichheit und die Bewertung der Performanz des Sozialstaates für die politische Unterstützung spielen.

Die theoretischen Grundlagen bilden die Theorie der politischen Kultur und insbesondere die Forschung über politische Unterstützung im Anschluss an Almond und Verba (1963) sowie Easton (1979 [1965], 1975). Danach kann politische Kultur als Muster an Orientierungen und Einstellungen der Bevölkerung gegenüber dem politischen System verstanden werden.

Empirisch basiert die Analyse auf einer repräsentativen Befragung der Ruhrgebietsbevölkerung (N = 622), die im Rahmen der Studie „Vertrauen in Demokratie“ der Friedrich-Ebert-Stiftung im Jahr 2019 erhoben wurde (vgl. hierzu ausführlich Decker et al. 2019). Anders als die anderen Beiträge dieses Special Issues muss sich die vorliegende Studie aufgrund des Samplingdesigns jedoch auf die Analyse einer Region (Ruhrgebiet) innerhalb eines Bundeslands beschränken, da aus dem übrigen Nordrhein-Westfalen lediglich 278 weitere Fälle im Sample enthalten sind. Die Einbettung der Ruhrgebietsbefragung in die Vertrauensstudie ermöglicht aber den systematischen Vergleich der Einstellungen und Erklärungsfaktoren zwischen der Bevölkerung des Ruhrgebiets und jener Gesamtdeutschlands. Im Ergebnis zeigen die Analysen, dass das Niveau an Demokratiezufriedenheit und Vertrauen überraschenderweise – trotz der angesprochenen Transformationserfahrungen und sozialen Herausforderungen – über dem Bundesschnitt liegt.

Der Beitrag gliedert sich wie folgt: Zunächst wird das Ruhrgebiet als Untersuchungsfall kurz charakterisiert (Kap. 2) sowie der Forschungsstand zur politischen Kultur im Revier referiert. Anschließend werden theoretische Grundlagen des Konzepts der politischen Unterstützung nach David Easton (Kap. 3) sowie das Studiendesign und die Methodik (Kap. 4) erörtert. Es folgt die Darstellung der empirischen Ergebnisse zur Demokratiezufriedenheit und zum politischen Vertrauen im Ruhrgebiet – wobei jeweils der direkte Vergleich mit der nationalen Ebene hergestellt wird (Kap. 5). Im Fazit werden die Ergebnisse kurz zusammengefasst und praktischer Handlungsbedarf sowie weiterer Forschungsbedarf hinsichtlich der politischen Kultur Nordrhein-Westfalens aufgezeigt (Kap. 6).

2 Untersuchungsfall: Das Ruhrgebiet in Nordrhein-Westfalen

Nordrhein-Westfalen ist Deutschlands bevölkerungsreichstes und zugleich dichtbesiedeltes Bundesland. Mit einer Bevölkerung von 5,1 Mio. Menschen lebt gut ein Drittel seiner Einwohner im Ruhrgebiet. Dieses kann aufgrund seiner spezifischen kulturellen, historischen und wirtschaftlichen Erfahrungen (z. B. Goch 1999; Rohe 1986) als eine eigene, abgrenzbare politisch-kulturelle Einheit innerhalb Nordrhein-Westfalens gelten. Eine stark ausgeprägte Ruhrgebietsidentität (vgl. Korte und Dinter 2019, S. 6) verweist zudem auf eine eigenständige Wahrnehmung dieser Region auch in der Bevölkerung. Das Ruhrgebiet umfasst eine Agglomeration von 53 Kommunen, die allerdings über keine eigene politisch-administrative Struktur verfügen, sondern lediglich dem Regionalverband Ruhr als kommunalem Pflichtverband angehören. Noch heute hat das Ruhrgebiet mit dem Erbe des Strukturwandels nach dem Ende der Montanindustrie zu kämpfen, etwa in Form eines hohen Anteils an Beziehern von Transferleistungen sowie einer hohen Kinderarmutsquote (Röhl und Schröder 2017; siehe zudem Abb. 1c, d). Zudem leiden viele Ruhrgebietsstädte unter der Abwanderung gut qualifizierter junger Menschen, sodass trotz gleichzeitig stattfindender Zuwanderung etliche Kernstädte des Ruhrgebiets in den vergangenen Jahren merklich geschrumpft sind. Somit findet das Ruhrgebiet nach wie vor „kaum zurück in eine zukunftsorientierte wirtschaftliche Perspektive“ (Diermeier et al. 2021, S. 6). Jedoch wurde der „lange[ ] Abschied von der Kohle“ (Dinter 2019) im Ruhrgebiet vergleichsweise sozialverträglich ausgestaltet, womit sich das Revier positiv von anderen ehemaligen Industrieregionen in den USA und Europa abhebt (Bogumil et al. 2012).

Abb. 1
figure 1

Wahlverhalten und soziale Lage in den Landkreisen und kreisfreien Städten bzw. Wahlkreisen Nordrhein-Westfalens. (Quelle: Eigene Darstellung anhand folgender Datengrundlagen: Bundeswahlleiter 2021 (a,b); BMFSFJ 2023 (c); BBSR 2022 (d))

Mit Blick auf die Zukunft bleibt das Ruhrgebiet eine ambivalente Region. Einerseits kann es auf der Habenseite die Ansiedlung zukunftsfähiger Technologien sowie eine gut ausgebaute Hochschullandschaft und Infrastruktur verbuchenFootnote 2 (Korte und Dinter 2019). Andererseits herrscht eine schwierige sozioökonomische Situation, bei der viele Menschen von positiven wirtschaftlichen Entwicklungen nicht profitieren konnten und können. Hinzu kommen ein begrenzter Handlungsspielraum für die Ruhrgebietskommunen aufgrund der hohen kommunalen Schuldenlast und das Fehlen gemeinsamer Regierungs- und Verwaltungsinstitutionen, was die ressortübergreifende Vernetzung von Stadtentwicklungs‑, Wohnungs‑, Bildungs- und Strukturpolitik erschwert.

Charakteristisch für die Region zwischen Ruhr und Emscher ist seit Beginn der Industrialisierung das Zusammenleben von Menschen verschiedenster Kulturen; etwa durch den Zuzug polnischer Arbeitsmigranten ab Ende des 19. Jahrhunderts und die Anwerbung sogenannter „Gastarbeiter“ für die Montanindustrie im Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit. Bereits Rohe beschrieb das Ruhrgebiet daher Ende der 1980er-Jahre als „Einwandererregion par excellence“ (Rohe 1986, S. 72). Auf gesellschaftlicher Ebene wird zudem immer wieder der starke soziale Zusammenhalt („Wir-Gefühl“) herausgestellt, der durch den Bergbau entstanden ist. Wer unter heute kaum noch vorstellbaren Bedingungen „unter Tage“ arbeiten musste, war auf die Solidarität seiner „Kumpel“ angewiesen. Ressentiments gegenüber Zugewanderten ließen sich so leichter überwinden. Gleichzeitig wurden die Bergleute durch ihren gemeinsamen Kampf für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze, als mit dem Strukturwandel ab den 1960er-Jahren das Zechensterben einsetzte, zusammengeschweißt.

In etlichen Ruhgebietsstädten herrscht jedoch eine große soziale Kluft zwischen den Stadtteilen. Dadurch bündeln sich in einzelnen Stadtteilen „Arbeitslosigkeit, Armut, geringe Bildung und hohe Ausländeranteile“ (Korte und Dinter 2019, S. 6). Vor dem Hintergrund der großen sozialen Ungleichheit stimmen der Aussage, ein erheblicher Teil der Bevölkerung habe von der guten wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland in den letzten Jahren nicht profitiert, im Ruhgebiet mit 69,3 % mehr Menschen zu als im Bundesschnitt (Decker 2019). Die „räumliche Konzentration armer Haushalte“ (Bogumil et al. 2012, S. 28) wirkt sich obendrein negativ auf die lokale Infrastruktur und Daseinsvorsorge aus (etwa Abwanderung von Ärzten und Einzelhandel).

Auffällig ist überdies das Wahlverhalten. Hier zeichnet sich die ehemalige „Herzkammer“ der Sozialdemokratie durch einen hohen Nichtwähleranteil aus, der sich vor allem aus schlechter gestellten Gesellschaftsschichten speist (Schäfer et al. 2016). „So werden die ohnehin sozioökonomisch benachteiligten Quartiere im Revier zu beinahe ‚demokratiefreien Zonen‘“ (Dinter 2019). Hinzu kommt in diesen Wohngegenden ein erheblicher Teil an Menschen, die sich mangels Wahlberechtigung gar nicht beteiligen dürfen.Footnote 3 Auch liegt der Stimmenanteil für die AfD in einigen Ruhrgebietsstädten im NRW-weiten Vergleich über dem Durchschnitt (siehe Abb. 1a, b; Bergmann et al. 2018). Duisburg II war überdies sowohl 2021 wie schon 2017 der Wahlkreis mit dem bundesweit höchsten Nichtwähleranteil bei der Bundestagswahl.

Vor dem Hintergrund dieser Rahmenbedingungen ist es lohnenswert, die Einstellungen der Ruhrgebietsbewohner hinsichtlich Demokratiezufriedenheit und Vertrauen genauer zu betrachten. Bevor wir jedoch mit der entsprechenden empirischen Analyse beginnen können, soll im folgenden Kapitel zunächst das Konzept der politischen Unterstützung dargestellt sowie auf Basis des Forschungsstands Hypothesen für die empirische Überprüfung abgeleitet werden.

3 Theoretische Grundlagen, Forschungsstand und Hypothesen

3.1 Das Konzept der politischen Unterstützung

Der Begriff der politischen Kultur bezeichnet die „Gesamtheit der Werte, Glaubensüberzeugungen und Einstellungen der Bürger gegenüber der Politik“ (Pickel und Pickel 2006, S. 49). Die politische Kulturforschung beruht auf der Grundannahme, die politische Unterstützung durch die Bürger sei für das Überleben und die Stabilität von politischen Systemen unerlässlich (z. B. Almond und Verba 1963; Easton 1975). Nur wenn die Bürger „die Grundprämissen der Demokratie und ihre Regeln akzeptieren […] ist das langfristige Überleben der Demokratie gesichert“ (Pickel und Pickel 2006, S. 51). Politische Struktur und politische Kultur sollten kongruent zueinander sein (vgl. Almond und Verba 1963; Pickel und Pickel 2006, S. 55). In diesem Kontext wird die Einstellung zur Demokratie als der zentrale Fokus der politischen Kulturforschung betrachtet (Pickel 2016, S. 60; vgl. auch den Rahmenbeitrag von Reiser et al. in diesem Special Issue).

Im Kontext dieser einstellungsorientierten politischen Kulturforschung bildet das Konzept David Eastons den theoretischen Rahmen für diesen Beitrag. Easton definiert Unterstützung als „an attitude by which a person orients himself to an object either favorably or unfavorably, positively or negatively“ (1975, S. 436). In seiner Arbeit nimmt Easton eine Differenzierung zwischen verschiedenen Formen, Objekten und Quellen der Unterstützung vor: Er unterschiedet zunächst zwischen latenter (covert) und manifester (overt support) Unterstützung. Unter manifester Unterstützung sind alle sichtbaren Formen politischer Unterstützung zu fassen, etwa die Wahl eines bestimmten Kandidaten oder die Teilnahme an einer Demonstration (Easton 1979, S. 159 ff.). Unter latenter Unterstützung – die im Zentrum dieses Beitrags steht und die nach Easton die wichtigere Form darstellt – versteht er eine Form von Unterstützung, die nicht öffentlich ausgedrückt wird, sondern auf der Einstellungsebene verbleibt. Ein Beispiel ist die Zufriedenheit mit der Demokratie. Darüber hinaus unterscheidet Easton drei Arten von Objekten, auf die sich die Unterstützung beziehen kann: die politischen Autoritäten, das politische Regime sowie die politische Gemeinschaft (Easton 1979). Er geht zudem davon aus, dass sich die Unterstützung für diese drei Objekte aus unterschiedlichen Quellen speist. So werden etwa abstrakte Objekte wie die politische Gemeinschaft um ihrer selbst willen unterstützt, während das politische System oder die Herrschaftsträger v. a. aufgrund ihres Outputs unterstützt werden (Easton 1975; Pickel und Pickel 2006; Tausendpfund 2018). Auf dieser Grundlage wird weiter zwischen diffuser und spezifischer Unterstützung differenziert (Easton 1979; Norris 2011).

Bei der diffusen Systemunterstützung handelt es sich um ein „reservoir of favorable attitudes or good will that helps members to accept or tolerate outputs to which they are opposed“ (Easton 1979, S. 273). Diffuse Unterstützung ist – zumindest auf kurze Sicht – von der Bewertung des politischen Outputs unabhängig und unterliegt daher im Zeitverlauf auch nur wenigen Schwankungen. Das Objekt wird also nicht wegen seiner konkreten Leistungen, sondern um seiner selbst willen unterstützt (Easton 1975, S. 445). Ein Beispiel ist die Unterstützung der Idee der Demokratie.

Die spezifische Unterstützung ist dagegen leistungsabhängig; sie bezieht sich auf konkrete politische Entscheidungen oder Akteure. Spezifische Unterstützung resultiert „aus der Zufriedenheit einer Person mit der Berücksichtigung ihrer Wünsche und Forderungen durch die Outputs der Autoritäten“ (Fuchs 1989, S. 14). Im Zeitverlauf ist sie somit deutlich volatiler. Die Unterteilung in diffuse und spezifische Unterstützung ist einer der zentralen Gedanken in Eastons Konzept, schließt sie doch die Möglichkeit ein, dass die Loyalität zum politischen System bestehen bleibt, selbst wenn die Bürger mit der aktuellen Regierung unzufrieden sind. Erst wenn die Unzufriedenheit mit dem Output länger anhält, wird sie sich auch auf die diffuse Systemunterstützung negativ auswirken (Easton 1975). Im Zentrum dieses Beitrags stehen zwei zentrale Indikatoren der spezifischen UnterstützungFootnote 4: zum einen, die Demokratiezufriedenheit und zum anderen das Institutionenvertrauen. Auf dieser Basis soll das Niveau der demokratischen Einstellungen im Ruhrgebiet analysiert werden.

3.2 Forschungsstand: Politische Unterstützung im Ruhrgebiet

Wie ist es um unser Vorwissen über die politische Kultur des Ruhrgebiets bestellt? Allgemein muss konstatiert werden, dass nur wenige Studien vorliegen und sich einige dieser neueren Studien zudem eher auf Indikatoren wie Sorgenwahrnehmung und soziales Vertrauen, nicht aber auf die in diesem Beitrag im Zentrum stehenden Indikatoren der spezifischen Unterstützung fokussieren (etwa Diermeier et al. 2020, 2021). Während Decker (2019) für die Demokratiezufriedenheit im Revier eine im Vergleich zum gesamtdeutschen Niveau höhere Demokratiezufriedenheit im Ruhrgebiet misst, kommen Diermeier et al. (2021) zu dem Schluss, dass die Demokratiezufriedenheit im Ruhrgebiet sich nicht vom bundesweiten Durchschnitt unterscheidet. In einer 2018 durchgeführten Befragung ermitteln Korte und Dinter eine eher geringe Demokratiezufriedenheit von 46,5 % und auch das Institutionenvertrauen liegt auf einem niedrigen Niveau (36,8 % vertrauen der Bundesregierung; 39,3 % vertrauen dem Bundestag; Korte und Dinter 2019, S. 15 ff.), wenn man etwa die in Reiser et al. (2023b) nach Bundesland aufgeschlüsselten Werte diverser nationaler Befragungen (ALLBUS, GLES, Politbarometer) als Vergleichsmaßstab heranzieht. Allerdings verweisen Reiser et al. in der Einleitung dieses Special Issues auf die methodische Heterogenität bei der Messung von Demokratiezufriedenheit und Vertrauen, die einem aussagekräftigen Vergleich der Niveauunterschiede entgegensteht. Aufgrund der bisher eher deskriptiven Analysen sowie zum Teil widersprüchlicher Befunde besteht in der Erforschung der regionalen politischen Kultur in Nordrhein-Westfalen und dem Ruhrgebiet Nachholbedarf. Mithilfe multivariater Analysen möchte der vorliegende Artikel einen Beitrag leisten, diese Lücke zu schließen.

3.3 Erklärungsfaktoren für politische Unterstützung und Hypothesen

Neben dem Niveau der demokratischen Einstellungen will der Beitrag auch analysieren, welche Faktoren die demokratischen Einstellungen – und dabei insbesondere die Demokratiezufriedenheit – im Ruhrgebiet erklären können. Im Rahmen der politischen Kulturforschung werden verschiedene Erklärungsansätze diskutiert, die jedoch zumeist nicht in Konkurrenz zueinanderstehen, sondern kausal ineinandergreifen (vgl. u. a. Gabriel 2007; Kölln und Aarts 2021; Tausendpfund 2021). Dabei lassen sich insbesondere die Situations-, die relative Deprivations-, die Sozialisationshypothese sowie inputbezogene Ansätze unterscheiden (u. a. Pickel und Pickel 2020; Reiser et al. in der Einleitung zu diesem Special Issue). Neben individuellen Erklärungsfaktoren beeinflussen zudem Kontextfaktoren die Einstellungen zur Demokratie (Tausendpfund 2021). Dieser Beitrag überprüft, wie im Folgenden ausgeführt wird, diese zentralen Erklärungsansätze für die Einstellungen im Ruhrgebiet. Lediglich die Sozialisationshypothese, die vor allem zur Erklärung von Ost-West-Unterschieden herangezogen wird, ist für die Erklärung der Einstellungen im Ruhrgebiet nicht relevant.

Performanzbezogene Ansätze erklären die spezifische Unterstützung häufig in Abhängigkeit von der Bewertung der allgemeinen wirtschaftlichen Lage (u. a. Armingeon und Guthmann 2014; Lange 2018; Quaranta und Martini 2016; Schäfer 2013; Tausendpfund 2018; van der Meer und Dekker 2011). Quaranta und Martini beschreiben den möglicherweise dahinterstehenden Mechanismus wie folgt: „The basic argument is that citizens translate a worsening of economic conditions into critical attitudes towards the political system. This may be expected, as in citizens’ opinions the notion of a ‚democratic regime‘ often overlaps with the belief that it should be able to guarantee acceptable levels of affluence and prosperity“ (2017, S. 661). Demnach wäre zu erwarten, dass in Transformationsregionen mit einer schlechteren sozioökonomischen Lage – wie etwa in dem seit dem Ende der Montanindustrie durch hohe Arbeitslosen- und Armutsquoten geprägte Ruhrgebiet (vgl. Kap. 2) – die Demokratiezufriedenheit und das politische Vertrauen geringer ausfallen als in Regionen, denen es wirtschaftlich besser geht. Dieser – auch als Situationshypothese betitelte – Ansatz wird etwa häufig als ein Erklärungsfaktor für die nach wie vor bestehenden Unterschiede im Niveau der politischen Unterstützung zwischen ostdeutschen und westdeutschen Bundesländern herangezogen (vgl. u. a. Pickel und Pickel 2020; Reiser et al. in diesem Special Issue).

In einen ähnlichen Kontext kann das Konzept der „places left behind“ eingruppiert werden, demzufolge Regionen, die – wie das Ruhrgebiet – von einem langfristigen industriellen oder wirtschaftlichen Niedergang betroffen sind, einen Nährboden für das Erstarken von rechtspopulistischen Parteien bilden (Dijkstra et al. 2020; Greve et al. 2023; Rodríguez-Pose 2017). Als möglichen Erklärungsmechanismus bringen Greve und Kollegen hierfür ein kollektives regionales Gedächtnis ins Spiel: „Places that became relatively poorer over the last century are more likely to vote for right-wing populist parties. One potential mechanism behind this relationship is the presence of a place-based collective memory. People may be aware of their relative impoverishment“ (Greve et al. 2023, S. 423). In der Folge entfremden sich die Bewohner dieser Regionen von der Politik, weil sie das Gefühl haben, von den politischen Entscheidungsträgern benachteiligt und nicht gehört zu werden (Greve et al. 2023; Rodríguez-Pose 2017). So weisen etwa Bergmann et al. (2018), die das Ruhrgebiet als eine von vier AfD-Hochburgen bei der Bundestagswahl 2017 identifizieren, darauf hin, dass sich die Ruhrgebietswahlkreise mit den höchsten AfD-Stimmenanteilen durch ihre prekäre sozio-ökonomische Lage deutlich von den drei anderen AfD-HochburgenFootnote 5 unterscheiden (s. auch Abb. 1, Panel a). Auf Basis der im vorherigen Unterkapitel dargestellten schwierigen sozio-ökonomischen Situation im Ruhrgebiet seit dem Niedergang der Montanindustrie sowie aufgrund des Wahlverhaltens, das auf eine gewisse Entfremdung vom politischen System schließen lässt, erwarten wir zunächst:

  • H 1 (Niveau): Die politische Unterstützung im Ruhrgebiet fällt geringer als im gesamten Bundesgebiet.

Mehrere empirische Studien haben zudem einen Zusammenhang zwischen einer schlechten individuellen wirtschaftlichen Situation und der Zufriedenheit mit der Demokratie sowie dem politischen Vertrauen dokumentiert (Hebenstreit et al. 2022; Pickel und Pickel 2023; Tausendpfund 2018, 2021). In Anbetracht der in Kap. 2 geschilderten prekären sozio-ökonomische Lage eines nicht unerheblichen Teils der Ruhrgebietsbewohner (vgl. Abb. 1, Panels c, d), erscheint uns dieser Aspekt im Ruhrgebiet für die Überprüfung besonders relevant. Wir vermuten:

  • H 2 (individuelle wirtschaftliche Lage): Je prekärer die individuelle ökonomische Lage der Befragten, desto unzufriedener sind sie mit dem Funktionieren der Demokratie und desto geringer ist ihr Institutionenvertrauen.

Auch das Vorhandensein bzw. die Wahrnehmung von sozialer Ungleichheit hat einen negativen Effekt auf die Demokratiezufriedenheit sowie das Institutionenvertrauen (Anderson und Singer 2008; Schäfer 2010, 2013; Wu und Chang 2019). Aufgrund der starken sozialen Segregation in vielen Ruhrgebietsstädten (Bogumil et al. 2012; vgl. Kap. 2) ist dieser Faktor dort möglicherweise besonders relevant. Dementsprechend erwarten wir:

  • H 3 (soziale Ungleichheit): Befragte, die eine große soziale Ungleichheit wahrnehmen, sind mit dem Funktionieren der Demokratie unzufriedener und haben ein geringeres Institutionenvertrauen.

Laut Nadeau et al. (2020) hängt die Demokratiezufriedenheit mit der Einschätzung zusammen, inwieweit die Regierung den materiellen Wohlstand der Bürger entweder durch eine funktionierende Wirtschaft (marktbasierter Mechanismus) oder durch Umverteilung (staatsbasierter Mechanismus) verbessern kann. Mit wenigen Ausnahmen hat die Forschung zur politischen Unterstützung letzterem Aspekt bisher wenig Beachtung geschenkt. Somit gibt es neben den bereits beschriebenen Effekten von wirtschaftlicher Lage einen Zusammenhang zwischen der Bewertung des sozialstaatlichen Outputs und der Demokratiezufriedenheit (u. a. Lühiste 2013; Sirovátka et al. 2019) sowie dem Institutionenvertrauen (van der Meer und Dekker 2011). Die Bürger erwarten von ihren Regierungen, dass diese für ein gewisses Niveau an sozialer Sicherheit sorgen. Bleibt die Aufgabenerfüllung des Sozialstaats hinter diesen Erwartungen zurück, wächst die Unzufriedenheit: „If a persistent discrepancy emerges between citizens’ expectations and the actual policies implemented by the government, rising levels of distrust will likely result“ (Sirovátka et al. 2019, S. 243). Wir vermuten daher:

  • H 4 (Sozialstaat): Je unzufriedener Befragte mit den Leistungen des Sozialstaats sind, desto unzufriedener sind mit dem Funktionieren der Demokratie und desto geringer ist ihr Institutionenvertrauen.

Auf der Input-Seite sind Demokratiezufriedenheit und Vertrauen mit politischer Partizipation sowie dem Gefühl, auf politische Prozesse Einfluss nehmen zu können, verknüpft. So weisen zahlreiche Studien einen Zusammenhang zwischen Demokratiezufriedenheit und Wahlteilnahme nach (u. a. Grönlund und Setälä 2007; Karp und Milazzo 2015; Kostelka und Blais 2018). Dabei ist jedoch die kausale Richtung des Zusammenhangs nicht ganz klar. Es gibt auch Ergebnisse, die die (bisher) dominante Deutung („Demokratiezufriedenheit führt zu Wahlteilnahme“) anzweifeln (Kostelka und Blais 2018). Ebenfalls konnten in etlichen Studien positive Effekte von direktdemokratischen Partizipationsmöglichkeiten auf Demokratiezufriedenheit und Vertrauen nachgewiesen werden; insgesamt ist das Bild aber gemischt (für eine Übersicht siehe Leininger 2015). Ein weiterer Aspekt ist der positive Zusammenhang zwischen Demokratiezufriedenheit bzw. Institutionenvertrauen und der externen Selbstwirksamkeit, d. h. dem Glauben, Einfluss auf politische Prozesse und Entscheidungen nehmen zu können (u. a. Hebenstreit et al. 2022; Plescia et al. 2020; van der Meer und Dekker 2011). Für den Fall, dass Bürger der Meinung sind, zu wenig Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen zu können, vermuten wir:

  • H 5 (Input): Je unzufriedener Befragte mit den bestehenden Partizipationsmöglichkeiten sind, desto unzufriedener sind mit dem Funktionieren der Demokratie und desto geringer ist ihr Institutionenvertrauen.

Neben dem oben beschriebenen Zusammenhang von Wahlteilnahme und Demokratiezufriedenheit hat die Forschung zum Effekt von Wahlen auf die Demokratiezufriedenheit immer wieder die Unterschiede zwischen Wahlgewinnern und Wahlverlierern in den Blick genommen. Danach weisen Wahlgewinner eine höhere Demokratiezufriedenheit auf als Wahlverlierer (u. a. Anderson und Guillory 1997; Anderson und LoTempio 2002; Blais et al. 2017; Plescia et al. 2020; Singh et al. 2012). Zwei theoretische Mechanismen sind denkbar, um diesen Effekt zu erklären: Zum einen steigt die Zufriedenheit, weil mit dem Wahlsieg der präferierten Partei auch die Wahrscheinlichkeit zunimmt, dass die eigenen politischen Präferenzen sich in den politischen Outputs widerspiegeln. Zum anderen liefert der Wahlsieg „an emotional ‚payoff‘ associated with the experience of victory“ (Blais et al. 2017, S. 86). Dabei ist der Gewinnereffekt noch einmal stärker, wenn die unterstützte Partei die Regierung stellt, als wenn diese lediglich den Einzug ins Parlament schafft (Singh et al. 2012). Demzufolge nehmen wir an:

  • H 6 (Gewinnerhypothese): Wähler der Regierungsparteien sind mit dem Funktionieren der Demokratie zufriedener und weisen ein höheres Institutionenvertrauen auf als Wähler der Oppositionsparteien oder Nichtwähler.

4 Methodik

4.1 Forschungsdesign und Datengrundlage

Als Datengrundlage dient eine telefonische Repräsentativbefragung (computergestützte Telefonumfrage – CATI), die vom 4. März bis 2. April 2019 vom Berliner Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap die im Rahmen der Vertrauensstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführt wurde (vgl. Decker et al. 2019). Die Grundgesamtheit bildeten dabei deutsche Staatsbürger ab 18 Jahren. Die nationale Zufallsstichprobe umfasste 2500 Befragte, darin enthalten ist eine ebenfalls repräsentative Stichprobe von 622 Befragten aus dem Ruhrgebiet – womit neben den ostdeutschen Bundesländern zugleich ein Oversampling des Ruhrgebiets stattfand (wegen fehlender Werte wurden in der Analyse nur 1899 bzw. 462 Fälle berücksichtigt). Die vorliegende Datenbasis bietet damit die Möglichkeit, die Ausprägung der politischen Kultur im Ruhrgebiet – nicht jedoch im gesamten Bundesland Nordrhein-Westfalen – zu analysieren. Innerhalb des vorliegenden Samples sind lediglich 278 weitere Fälle aus anderen Teilen von Nordrhein-Westfalen enthalten, was im Vergleich zur Fallzahl für das Ruhrgebiet als gering anzusehen ist. Zudem ist das vorliegende Sample nur für das Ruhrgebiet repräsentativ und nicht für Nordrhein-Westfalen insgesamt. Trotz dieser Begrenzung können dank der Einbindung der Ruhrgebietsbefragung in die Vertrauensstudie die Ergebnisse mit denen des gesamten Bundesgebiets verglichen werden, wodurch Rückschlüsse auf Unterschiede zwischen nationaler und regionaler politischer Kultur gezogen werden können. Für die Analyse wurde eine Gewichtung der Daten mit der von Infratest bereitgestellten Variable „weight“ vorgenommen, die für soziodemographischen Merkmalen sowie Oversampling für Ostdeutschland und das Ruhrgebiet korrigiert. Im folgenden Abschnitt wird die Operationalisierung dargestellt; eine vollständige Übersicht aller abgefragten Items (inkl. Fragetext und Antwortkategorien) findet sich in Tabelle A.6. im Online-Anhang.

4.2 Operationalisierung

Insgesamt stehen mit der Demokratiezufriedenheit und dem Institutionenvertrauen zwei abhängige Variable im Zentrum dieses Beitrages. Demokratiezufriedenheit wurde mit der Frage gemessen: „Wie zufrieden sind Sie alles in allem mit der Art und Weise, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert?“ Die Antwortmöglichkeiten auf der vier-stufigen Antwortskala lauteten: zufrieden, ziemlich zufrieden, weniger zufrieden, überhaupt nicht zufrieden.Footnote 6

Zudem wurde das politische Vertrauen in diverse Institutionen mit der Frage „Im Folgenden nenne ich Ihnen verschiedene Organisationen oder Institutionen. Bitte sagen Sie mir für jede, ob Sie sehr großes, großes, wenig, oder gar kein Vertrauen in sie haben“ erfasst. Das Vertrauen wurde für den Bundestag, die Bundesregierung, „Justiz und Gerichte“, die politischen Parteien, „Medien, wie Fernsehen und Zeitungen“ sowie die Gewerkschaften erfasst. Für die lineare Regressionsanalyse wurde überdies ein Mittelwertindex aus den Items Bundestag, Bundesregierung, Gerichte und Parteien gebildet.Footnote 7 Dabei war eine Antwortverweigerung zugelassen.

Die unabhängigen Variablen erfassen zentrale performanz-, input- und kontextbezogene Erklärungsfaktoren für die politische Unterstützung. Es wurden drei performanzbezogene Indikatoren erhoben:

Sozialstaatliche Aufgabenerfüllung: Die Befragten sollten jeweils auf einer vierstufigen Skala angeben, ob der Staat verschiedene sozialstaatliche Aufgaben gut oder schlecht erfüllt: Etwa „alten Menschen einen angemessenen Lebensstandard zu sichern“ oder „die gesundheitliche Versorgung für Kranke und Pflegebedürftige sicherzustellen“. Aus den insgesamt fünf abgefragten Items wurde ein MittelwertindexFootnote 8 gebildet, wobei eine Antwortverweigerung zugelassen war.

Zur Messung der sozialen Ungleichheitswahrnehmung sollten die Befragten ihre Zustimmung oder Ablehnung auf einer vierstufigen Antwortskala für das Item „Manche sagen, dass in Deutschland ein erheblicher Teil der Bevölkerung von der guten wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre nicht profitiert hat“ angeben. Die Antworten wurden zu einer Dummyvariable recodiert.

Die soziale Lage der Befragten wurde über eine klassierte Einkommensvariable erfasst. Wir unterschieden fünf Gruppen: Befragte mit einem Haushaltseinkommen unter 1000 €, 1000 bis unter 2000 €, 2000 bis unter 3000 €, 3000 bis unter 4000 € sowie Befragte mit einem Einkommen über 4000 €. Letzteres bildet unsere Referenzkategorie in den Regressionsmodellen.Footnote 9

Auf der Input-Seite wurde die Zufriedenheit mit den bestehenden Partizipationsmöglichkeiten gemessen, indem die Befragten auf einer vierstufigen Antwortskala dem Item „Jenseits von Wahlen gibt es für die Bürger nicht genügend Beteiligungsmöglichkeiten“ zustimmen sollten. Für die Analyse wurde auch hier eine Dummyvariable recodiert.

Die Gewinnerhypothese wurde über die Wahlentscheidung bei der Bundestagswahl 2017 mittels der Rückerinnerungsfrage erfasst. Es wurde eine Dummy-Variable gebildet, die Wähler der Regierungsparteien auf Bundesebene (SPD, CDU/CSU) auf der einen Seite („Gewinner“) von Wählern der Oppositionsparteien sowie Nichtwählern auf der anderen Seite („Verlierer“) unterscheidet.

Als Kontrollvariablen wurden Variablen gewählt, die sich in zahlreichen Studien zur Demokratiezufriedenheit und dem politischen Vertrauen als signifikant erwiesen haben. Dazu gehören sozio-demographische Variablen wie Alter, Geschlecht, formale Bildung und Migrationshintergrund (u. a. Hebenstreit et al. 2022; Pickel und Pickel 2023; Singh et al. 2012; Tausendpfund 2018, 2021) aber auch das politische Interesse (Anderson und Guillory 1997; Tausendpfund 2021) sowie die externe Efficacy (u. a. Hebenstreit et al. 2022; Plescia et al. 2020; van der Meer und Dekker 2011). Die externe Selbstwirksamkeit wurde mittels der Aussage „Es macht keinen Unterschied, wer an der Regierung ist“ erhoben. Die Antworten wurden zu einer Dummyvariable recodiert.Footnote 10 Eine Übersicht über alle in dieser Studie verwendeten Variablen inklusive Frageformulierung und Antwortkategorien findet sich im Online-Anhang (vgl. Tabelle A.6).

5 Empirische Befunde

Im Folgenden werden die im Theoriekapitel hergeleiteten Hypothesen nun einer kritischen Überprüfung unterzogen. Dazu wird zunächst die Demokratiezufriedenheit nach dem Niveau und den Erklärungsfaktoren analysiert, bevor im zweiten Schritt auf das Vertrauen in zentrale Institutionen eingegangen wird. Die Ergebnisse zum Ruhrgebiet werden dabei vor dem Hintergrund der Ergebnisse für Deutschland interpretiert und diskutiert.

5.1 Demokratiezufriedenheit

Die Demokratiezufriedenheit im Ruhrgebiet liegt – allerdings auf niedrigem Niveau – deutlich über den bundesdeutschen Werten. Während im Ruhrgebiet zum Befragungszeitpunkt noch eine Mehrheit von knapp 55 % der Befragten mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden ist, ist es auf der Bundesebene mit 46,6 % nicht einmal mehr die Hälfte der Bevölkerung. Auch wenn die Ergebnisse nur mit den Werten für Westdeutschland verglichen werdenFootnote 11, liegt die Zufriedenheit im Ruhrgebiet leicht über dem westdeutschen Niveau von 49,5 % (vgl. Abb. 2). Den Annahmen der Situationshypothese folgend und angesichts der geschilderten schwierigen sozialen Lage im Ruhrgebiet mit hohen Arbeitslosen- und Armutsquoten (vgl. Kap. 2) mutet dieser Befund überraschend an und widerspricht Hypothese 1. Auch steht er im Widerspruch zu den Ergebnissen von Diermeier et al. (2021), die dem Ruhrgebiet keine im bundesweiten Vergleich überdurchschnittliche Demokratiezufriedenheit bescheinigen. Es muss an dieser Stelle offenbleiben, ob die unterschiedlichen Ergebnisse auf die methodische Anlage zurückzuführen sind, da die beiden Studien aufgrund der unterschiedlichen Itemformulierung sowie Antwortskala (hier: 4‑stufig; Diermeier et al. 2021: 11-stufig) nur eingeschränkt vergleichbar sind, oder ob sich dies durch die unterschiedlichen Zeitpunkte der Erhebungen und somit anderen Rahmenbedingungen erklären lässt.

Abb. 2
figure 2

Demokratiezufriedenheit in Deutschland und dem Ruhrgebiet. (Die Werte für Westdeutschland beinhalten das Ruhrgebiet. Datengrundlage: Umfrage FES/Infratest dimap 2019. Quelle: Eigene Darstellung)

Im nächsten Schritt sollen die Erklärungsfaktoren für die Demokratiezufriedenheit im Ruhrgebiet herausgearbeitet und geprüft werden, welche Faktoren die Demokratiezufriedenheit im Ruhrgebiet erklären können.

Für das Ruhrgebiet kann die Performanzhypothese zum Teil bestätigt werden, denn Unzufriedenheit mit den Leistungen des Sozialstaats hat – wie in Hypothese 4 vermutet – einen negativen Effekt auf die Demokratiezufriedenheit (vgl. Abb. 3). Dies steht im Einklang mit den Ergebnissen früherer nationaler sowie internationaler Studien, die ebenfalls einen Zusammenhang zwischen der Bewertung des sozialstaatlichen Outputs und der Demokratiezufriedenheit beschreiben (u. a. Decker et al. 2019; Lühiste 2013; Sirovátka et al. 2019). Trotz der großen sozialen Kluft in vielen Ruhrgebietsstädten (Bogumil et al. 2012) kann Hypothese 3 dagegen nicht abschließend bestätigt werden. Zwar hat die Wahrnehmung sozialer Ungleichheit in einem Modell, welches lediglich die Kontrollvariablen enthält (nicht berichtet), einen die Demokratiezufriedenheit hemmenden Effekt; im Modell mit allen Prädiktoren (Abb. 3) ist die Ungleichheitswahrnehmung dagegen nicht signifikant mit der Demokratiezufriedenheit assoziiert, womit wir zu anderen Ergebnissen kommen als etwa Schäfer (2013).

Abb. 3
figure 3

Standardisierte Regressionskoeffizienten der unabhängigen Variablen für das lineare Regressionsmodell zur Demokratiezufriedenheit (vollständiges Modell) mit 95 % Konfidenzintervall. (Standardisierte Regressionskoeffizienten mit robusten Standardfehlern (Methode: HC3), (R packages: jtools + sandwich). Modelle mit robusten Standardfehler sind Tabelle A.1 (Modelle 1 + 2) im Online-Anhang zu entnehmen; Modelle ohne robuste Standardfehler finden sich in Tabelle A.2; nennenswerte Unterschiede waren nicht festzustellen. Fallzahlen: Bund (N = 1899); Ruhrgebiet (N = 462). Referenzkategorie beim Einkommen sind Befragte mit einem Haushaltseinkommen > 4000 €. Quelle: Eigene Darstellung)

Mit Blick auf das Ruhrgebiet ist zudem interessant, dass eine prekäre wirtschaftliche Lage der Befragten keinen Einfluss auf die Demokratiezufriedenheit hat. Auch Hypothese 2 kann damit nicht bestätigt werden. Dies unterscheidet sich von den Erklärungsfaktoren für das gesamte Bundesgebiet. So haben im Modell für die deutschlandweite Befragung Befragte mit einem Haushaltseinkommen von unter 1000 € eine im Vergleich zu der einkommensstärksten Befragtengruppe reduzierte Demokratiezufriedenheit. Auch Befragte, die sich selbst der Unterschichte zuordnen, haben im Bund – nicht aber im Ruhrgebiet – eine geringere Demokratiezufriedenheit (vgl. Modell 2 in Tabelle A.4 des Online-Anhangs).

Die Kritik an den bestehenden Beteiligungsmöglichkeiten ist – im Einklang mit unseren Erwartungen in Hypothese 5 – signifikant und negativ mit der Demokratiezufriedenheit assoziiert (vgl. Abb. 3), dieser Effekt ist allerdings nicht mehr beobachtbar, wenn zusätzlich das politische Vertrauen in das Modell aufgenommen wird (vgl. Tabelle A.3 im Online-Anhang). Entsprechend der Gewinnerhypothese (u. a. Anderson und Guillory 1997; Blais et al. 2017; Singh et al. 2012) sind Befragte, die bei der Bundestagswahl 2017 für die Regierungsparteien der Großen Koalition gestimmt haben, mit der Demokratie zufriedener als Wähler der Oppositionsparteien und Nichtwähler. Hypothese 6 kann damit bestätigt werden.

Mit Blick auf die Ressourcenausstattung sind – in Übereinstimmung mit anderen Studien (u. a. Tausendpfund 2018, 2021; Kölln und Aarts 2017) – Befragte mit einer niedrigen formalen Bildung sowohl im Ruhrgebiet als auch deutschlandweit mit dem Funktionieren der Demokratie unzufriedener als höher gebildete Befragte. Dagegen sind weder das politische Interesse noch die externe Selbstwirksamkeit („Es macht keinen Unterschied, wer an der Regierung ist“) signifikant mit der Demokratiezufriedenheit der Ruhrgebietsbewohner verknüpft. Bundesweit besteht demgegenüber ein signifikanter Zusammenhang zwischen external efficacy und Zufriedenheit mit der Demokratie. Da wir die externe Selbstwirksamkeit anhand der Aussage „Es macht keinen Unterschied, wer an der Regierung ist“ gemessen haben, könnte eine mögliche Erklärung für diesen Unterschied die stärkere Verbreitung populistischer Einstellungen im restlichen Bundesgebiet – und insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern – sein (Reinecke et al. 2023). Neben dem dichotomen Gegensatz zwischen Volk und Elite sehen Populisten die Elite als homogenen Block an (Mudde und Rovira Kaltwasser 2013), sodass es für populistisch eingestellte Bürger tatsächlich keine Rolle spielen dürfte, wer an der Regierung ist – mit Ausnahme natürlich einer populistischen Partei, die den ‚wahren‘ Volkswillen vertritt.

Aus der Gegenüberstellung der beiden Regressionsmodelle in Abb. 3 lässt sich schlussfolgern, dass die Prädiktoren der Demokratiezufriedenheit im Ruhrgebiet und auf Bundesebene nahezu dieselben sind; die Demokratiezufriedenheit (die Niveauunterschiede einmal ausgeklammert) in Deutschland und dem Ruhrgebiet ist mithin eher von Gemeinsamkeiten als von Unterschieden geprägt.

5.2 Politisches Vertrauen

Im zweiten Schritt werden nun die Höhe des Institutionenvertrauens und die zentralen Einflussfaktoren zur Erklärung analysiert. Entgegen unserer in Hypothese 1 formulierten Annahme wird den meisten Institutionen im Ruhrgebiet mehr vertraut als bundesweit. Blickt man auf die parteilichen Institutionen, so vertrauen im Ruhrgebiet 53,7 % der Befragten dem Bundestag; der Bundesregierung vertrauen immerhin noch 47,5 %. Deutlich geringer fällt das Vertrauen in die politischen Parteien aus, denen nur etwas mehr als ein Viertel der Menschen im Ruhrgebiet vertraut. Die Werte für Gesamtdeutschland liegen stets etwa fünf bis acht Prozentpunkte darunter (vgl. Abb. 4). Dies zeigt laut Decker (2019, S. 2), „dass die Ruhrgebietsbevölkerung durch die protegierende Politik im Strukturwandel für eine populistische Anti-Eliten-Haltung weniger zugänglich ist.“

Abb. 4
figure 4

Institutionenvertrauen in Deutschland und dem Ruhrgebiet im Vergleich. (Die Werte für Gesamtdeutschland beinhalten das Ruhrgebiet. Datengrundlage: Umfrage FES/Infratest dimap 2019. Quelle: Eigene Darstellung)

Als nichtparteiliche Institutionen genießen Justiz und Gerichte das Vertrauen von 73,3 % der Befragten aus dem Ruhrgebiet; erneut liegt der Wert für die Bundesebene mit 66,8 % merklich darunter. Das Phänomen der im Vergleich zu den parteilichen Institutionen größeren Unterstützung für politikferne bzw. rechtsstaatliche Institutionen findet sich durchweg auch in anderen Studien bestätigt (etwa: Best et al. 2023; Campbell 2019; Decker et al. 2019; Hebenstreit et al. 2022).

Die deutlichste Differenz zwischen dem Ruhrgebiet und dem gesamten Bundesgebiet lässt sich für das Vertrauen in Medien wie Fernsehen und Zeitung beobachten. Hier weicht der Wert der Vertrauenden für die Bundesebene um 9,5 Prozentpunkte nach unten ab (Ruhrgebiet: 44,5 % vs. Bund: 35,1 %). Eine mögliche Erklärung ist die vergleichsweise hohe Bedeutung, die den lokalen Medien im Ruhrgebiet zukommt (Diermeier et al. 2021; Schüler et al. 2021), womit diese Form der Mediennutzung auch das Vertrauen in die parteilichen Institutionen sowie die Demokratiezufriedenheit positiv beeinflusst.

Für das Vertrauen in Gewerkschaften lassen sich interessanterweise keine Unterschiede zwischen dem Ruhrgebiet und der Bundesebene ausmachen; in beiden Fällen wird ihnen von etwas mehr als der Hälfte der Befragten vertraut. Eine Erklärung, warum hier keine positiven Abweichungen vom Bundestrend feststellbar sind, könnte in den besonderen Schwierigkeiten des Strukturwandels liegen (Decker 2019).

Hinsichtlich der Einflussfaktoren zur Erklärung des Institutionenvertrauens zeigen die Analysen, dass es einen signifikanten Zusammenhang der Leistungsbewertung im Bereich des Sozialstaats mit dem Institutionenvertrauen gibt (vgl. Abb. 5). Befragte, die mit dem sozialstaatlichen Output unzufrieden sind, vertrauen den politischen Institutionen weniger als die zufriedenen Befragten. Damit kann Hypothese 4 bestätigt werden. Weitere performanzbezogene Indikatoren wie die individuelle wirtschaftliche Lage oder die Wahrnehmung sozialer Ungleichheit sind – entgegen unseren Erwartungen – im Ruhrgebiet nicht signifikant mit dem Institutionenvertrauen assoziiert; Hypothesen 2 und 3 können daher nicht bestätigt werden.

Abb. 5
figure 5

Standardisierte Regressionskoeffizienten der unabhängigen Variablen für das lineare Regressionsmodell zum Institutionenvertrauen (vollständiges Modell) mit 95 % Konfidenzintervall. (Standardisierte Regressionskoeffizienten mit robusten Standardfehlern (Methode: HC3), (R packages: jtools + sandwich). Modelle mit robusten Standardfehler sind Tabelle A.1 (Modelle 3 + 4) im Online-Anhang zu entnehmen; Modelle ohne robuste Standardfehler finden sich in Tabelle A.2; nennenswerte Unterschiede waren nicht festzustellen. Fallzahlen: Bund (N = 1899); Ruhrgebiet (N = 462). Referenzkategorie beim Einkommen sind Befragte mit einem Haushaltseinkommen > 4000 €. Quelle: Eigene Darstellung)

Befragte, die monieren, es gebe jenseits von Wahlen für die Bürger nicht genügend Beteiligungsmöglichkeiten, vertrauen – im Einklang mit Hypothese 5 – den Institutionen ebenfalls weniger. Die Vermutung liegt nahe, dass ein geringes Vertrauen in die politischen Institutionen den Wunsch nach direkter Demokratie weckt, weil man den politischen Akteuren, die Misstrauen hervorrufen, Einfluss entziehen möchte. Zusätzlich hat das Gefühl, es mache keinen Unterschied, wer an der Regierung sei, einen hemmenden Effekt auf das Institutionenvertrauen. Wer bei der Bundestagswahl 2017 für eine der beiden Regierungsparteien gestimmt hat, vertraut den politischen Institutionen eher als Wähler der Oppositionsparteien oder Nichtwähler. Dies steht im Einklang mit den Annahmen aus Hypothese 6 sowie den Erkenntnissen früherer Studien (etwa Anderson und LoTempio 2002).

Im Vergleich zu den Erklärungsfaktoren, die das Institutionenvertrauen in Deutschland insgesamt erklären, sind für das Ruhrgebiet kaum spezifische Einflussfaktoren festzustellen: So fällt auf, dass die Erklärungskraft der Einflussfaktoren ungefähr gleich hoch ist, da in beiden Modellen (vgl. Abb. 5) jeweils etwas mehr als ein Drittel erklärte Varianz festzustellen ist. Zudem sind jene Erklärungsfaktoren, die im Ruhrgebiet das Institutionenvertrauen erklären, auch für Gesamtdeutschland signifikant, weisen in dieselbe Richtung und haben eine ähnliche Effektstärke. Jedoch ist im Modell für Gesamtdeutschland zusätzlich das Alter, ein geringes Einkommen sowie ein mittleres Bildungsniveau signifikant mit dem Institutionenvertrauen verknüpft, während dies für das Ruhrgebiet nicht gilt.Footnote 12

6 Fazit

Ziel des Beitrags war es, die demokratischen Einstellungen im Ruhrgebiet zu untersuchen. Daher standen die Leitfragen des Special Issues nach dem Ausmaß und den Erklärungsfaktoren für Demokratiezufriedenheit und Institutionenvertrauen als zentrale Indikatoren der politischen Kultur im Zentrum des Beitrags. Der Fokus auf das Ruhrgebiet erklärt sich neben der mangelnden Datenverfügbarkeit für das gesamte Bundesland NRW auch dadurch, dass es innerhalb Nordrhein-Westfalens als eine eigene, abgrenzbare politisch-kulturelle Einheit gelten kann. Zudem stellt das Ruhrgebiet im Rahmen des Special Issues einen spannenden Untersuchungsfall dar, zeichnet es sich doch durch die industrielle Vergangenheit einer urban verdichteten Wirtschaftsregion aus, die ihren früheren Wohlstand dem Bergbau und der Schwerindustrie verdankte und seit den 1960er-Jahren einen schmerzlichen und nur teilweise erfolgreichen Strukturwandel durchlaufen musste. Die Diskrepanz zwischen wohlhabenden, über ein hohes Haushaltseinkommen verfügenden Kreisen und Städten, die auch das gesamte Bundesland charakterisiertFootnote 13, findet sich in derselben Form im Ruhrgebiet wieder, wo der „Sozialäquator“ der Autobahn 40 die reicheren Städte und Stadtviertel im Norden von den ärmeren im Süden teilt.

Gemessen an seiner schwierigen wirtschaftlichen Situation ist bemerkenswert, dass das Ruhrgebiet bei der Demokratiezufriedenheit und im politischen Vertrauen nicht hinter den bundesweiten Zahlen zurückliegt, sondern sogar besser abschneidet. Damit scheinen die Befunde aus dem Ruhrgebiet der Literatur zu den sogenannten „abgehängten“ Regionen zu widersprechen (etwa Greve et al. 2023; Rodriguez-Pose 2017). Dass es der Politik im Ruhrgebiet etwa mittels verschiedener staatlicher Entwicklungs- und Förderprogramme erfolgreicher als in anderen ehemaligen Industrieregionen gelungen ist, die sozialen Härten des Strukturwandels abzufedern (vgl. Bogumil et al. 2012; Goch 1999), mag einer der Gründe für das höhere Niveau der politischen Unterstützung sein. Gleichzeitig legen die Analysen zum Vertrauen nahe, dass die politischen Institutionen im Ruhrgebiet noch auf eine vergleichsweise stabile Vertrauensbasis bauen können. Vor dem Hintergrund des in Tabelle A.3 (Online-Anhang) gezeigten Zusammenhangs zwischen Vertrauen und Demokratiezufriedenheit liegt hierin möglicherweise ein weiterer Grund für die größere Zufriedenheit im Ruhrgebiet. Wie im Land insgesamt, verbergen sich hinter den Zufriedenheitswerten aber große Unterschiede zwischen den sozialen Gruppen. So sind Zufriedenheit und Vertrauen bei den weniger gebildeten Schichten deutlich niedriger als in der besser gebildeten Vergleichsgruppe. Zudem lässt sich ein starker Zusammenhang der Demokratiezufriedenheit mit der Aufgabenerfüllung in der Sozialpolitik feststellen.

Studien legen nahe, dass neben der wirtschaftlichen bzw. sozialpolitischen Performanz auch die politische Performanz (etwa Korruption oder Responsivität von Politikern) einen entscheidenden Effekt auf die spezifische politische Unterstützung hat (u. a. Kölln und Aarts 2017; van der Meer und Dekker 2011; van der Meer und Hakhverdian 2017). Mangelns geeigneter Items konnte dieser Aspekt in der vorliegenden Studie nicht untersucht werden. Gleiches gilt für die Bewertung der wirtschaftlichen Situation der eigenen Stadt/Gemeinde bzw. des Ruhrgebiets insgesamt. Eine weitere Limitation dieser Studie ist, dass es sich nicht um Paneldaten handelt. Damit kann die erhöhte Demokratiezufriedenheit unter den Wählern der Regierungsparteien nicht sicher auf die Gewinnerhypothese zurückgeführt werden. Es könnte sich etwa auch um Performanzeffekte, also um Zufriedenheit mit dem politischen Output der Regierung handeln. „Gewinnen“ kann in den Augen der Anhänger einer Partei zudem mehr bedeuten als eine Regierungsbeteiligung. Eine möglicherweise gesteigerte Demokratiezufriedenheit von AfD-Wählern, weil die Partei erstmals in den Bundestag einzog (siehe dazu Reinl und Schäfer 2021), können wir mit unserer Operationalisierung „Wähler Regierungspartei“ zudem nicht erfassen. Leider fehlen in unserer Studie außerdem Items zur Haltung zur politischen Gemeinschaft sowie der zur Unterstützung der Demokratie als Idee; zukünftige Studien könnten diese abhängigen Variablen aufnehmen, um ein umfassenderes Bild der politischen Kultur des Ruhrgebiets zu zeichnen.

Die landsmannschaftliche Grenze zwischen Rheinland und Westfalen, die mitten durch das Ruhrgebiet verläuft, spielt dort politisch-kulturell eine geringere Rolle als im als „Bindestrichland“ apostrophierten Nordrhein-Westfalen insgesamt. Sie wird durch sozialökonomische und sozialdemografische Faktoren überlagert. Zukünftige Studien sollten daher die Heterogenität der politischen Kultur im gesamten Bundesland Nordrhein-Westfalen in den Blick nehmen. Dabei wäre interessant zu untersuchen, ob sich das Ruhrgebiet von anderen Regionen Nordrhein-Westfalens unterscheidet. Aufgrund des stark verstädterten Charakters und der geschilderten sozio-ökonomischen Probleme dieser Region wären durchaus Unterschiede zu erwarten. Ein weiterer Fokus zukünftiger Untersuchungen könnte auf Stadt-Land-Unterschieden innerhalb Nordrhein-Westfalens liegen. Hier zeigen Untersuchungen für andere Bundesländer etwa merklich niedrigere Werte in der Demokratiezufriedenheit und im Institutionenvertrauen in den ländlichen Regionen (u. a. Reiser et al. 2023a). Aufgrund der wirtschaftlichen Stärke vieler eher ländlicher Kreise in Nordrhein-Westfalen wäre aber denkbar, dass die Demokratiezufriedenheit im ländlichen Raum sogar höher liegt als in den Städten. Gemessen an ihrer Einwohnerzahl gibt es etwa in den Kreisen Olpe, Hochsauerlandkreis, Märkischen Kreis und Siegen-Wittgenstein die größte relative Zahl an sogenannten heimlichen Weltmarktführern (hidden champions).Footnote 14 Zukünftige Studien könnten zudem das Gefühl des „Abgehängtseins“ bzw. „regional resentments“ auf der Einstellungsebene der Ruhrgebietsbewohner untersuchen (passende Surveyitems schlagen etwa die Studien von de Lange et al. 2022 oder die darauf aufbauende Arbeit von Reiser et al. 2023a vor).

Unsere empirischen Befunde für das Ruhrgebiet bekräftigen die auch bundesweit gültige „Warnung“, das Auseinanderdriften der Gesellschaft in sozialökonomischer und -kultureller Hinsicht nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Regionen wie das Ruhrgebiet – aber auch weite Teile der ostdeutschen Bundesländer – die von einem langfristigen industriellen oder wirtschaftlichen Niedergang betroffen sind, bilden einen fruchtbaren Boden für den Aufstieg (rechts-)populistischer Parteien. Die Bewohner solcher Regionen entfremden sich zusehends von den etablierten Parteien, da sie das Gefühl haben, von den politischen Entscheidungsträgern benachteiligt zu werden und dass ihre Anliegen ungehört verhallen (Greve et al. 2023; Rodriguez-Pose 2017). Deshalb ist es von großer Bedeutung, den wahrgenommenen Benachteiligungen in den „places left behind“ gezielter zu begegnen. In Thüringen hat z.B. eine schlechte wirtschaftliche Entwicklung und die massive Abwanderung junger Menschen – Probleme, mit denen sich auch das Ruhrgebiet und andere altindustrielle Räume konfrontiert sehen – zur Wahrnehmung der eigenen Region als „Verliererregion“ beigetragen (Reiser et al. 2023a).

Zudem sind es in etlichen europäischen Ländern vor allem die sozial benachteiligten, bildungs- und einkommensschwächeren Gruppen, die sich rechtspopulistischen Parteien zuwenden. Diese fordern liberale und pluralistische Demokratie durch ihre autoritären Gegenvorstellungen grundsätzlich heraus (Ivaldi 2018; Rooduijn 2018). So konnte auch die AfD im Ruhrgebiet in den von großen sozio-ökonomischen Herausforderungen stehenden ehemaligen Arbeitervierteln bei vergangenen Wahlen Erfolge verbuchen (Bergmann et al. 2018). Für mehr Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen, bleibt deshalb das Gebot der Stunde. Wie Befragungsergebnisse zeigen, werden Umverteilungsmaßnahmen nicht nur von denjenigen unterstützt, die davon selbst am meisten profitieren würden, sondern bis weit in das besser situierte und verdienende obere Drittel der Gesellschaft hinein. Sie umfassen unter anderem eine stärkere Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen, die sozialverträgliche Ausgestaltung der Klimaschutzmaßnahmen, eine Regulierung der übermäßig gestiegenen Grund- und Bodenpreise und den Abbau der höchst ungleichen Bildungschancen (Best et al. 2023; Decker et al. 2019). Während Bundes- und Landespolitik entsprechende gesetzgeberische Weichenstellungen vornehmen müssten, sind hier zugleich die Kommunen gefragt, ihre eigenen Gestaltungspotenziale in der Sozial- und Bildungspolitik besser zu nutzen.