1 Einleitung: Politische Unterstützung in der Berliner Stadtgesellschaft

In wirtschaftlichen und politischen Krisenzeiten stellt sich die Frage nach der Stabilität der Demokratie (Pickel und Pickel 2006, S. 52–53). Wird sie den Herausforderungen der Krisen standhalten oder kommen demokratische Freiheiten, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit unter Druck? Dies gilt insbesondere in Zeiten multipler Krisen (Covid-19-Pandemie, Russischer Angriffskrieg, Klimawandel). Zentrale Grundlage für diese Stabilität ist der politischen Kulturforschung zufolge die Unterstützung der Demokratie durch ihre Bürger (Easton 1979). Diese kann natürlich nie vollständig sein. Mit dem amerikanischen Politikwissenschaftler Larry Diamond kann davon ausgegangen werden, dass mindestens 70 % der Bürger die Demokratie unterstützen und maximal 15 % aktiv ihre Abschaffung fordern sollten, damit sie stabil ist (Diamond 1999, S. 65; Pickel und Pickel 2006, S. 118). Bezugspunkt für die politische Kultur ist in der Regel der Nationalstaat und seine politischen Institutionen. In jüngerer Zeit etablierten sich Debatten, die regionale Unterschiede in der politischen Kultur oder politische Kulturen ausmachten (Mannewitz 2013, 2015; Schmitz-Vardar 2023; Werz und Koschkar 2015). Eine zunehmende Verbreitung sogenannter Ländermonitore öffnet nun die Möglichkeit, die Annahme regionaler politischer Kulturen mit belastbarem Datenmaterial zu überprüfen. Im vorliegenden Aufsatz ist das Ziel Berlin.

Berlin ist als Bundeshauptstadt ein Kulminationspunkt von Krisen und Auseinandersetzungen. Berlin ist stetiger Anlaufpunkt von Protesten, zudem besonders stark durch Globalisierung und Migration geprägt. So wird Berlin als Sinnbild der pluralen Einwanderungsgesellschaft in Deutschland (Lanz 2007, S. 9) und der in Berlin beschworenen postmigrantischen Gesellschaft (Foroutan 2019) angesehen.Footnote 1 Gleichzeitig gibt es kaum einen Ort in Deutschland, wo sich politische Entscheidungen so schnell in Diskursen der Zivilgesellschaft manifestieren. Sei es der Wille, kritisch und aktiv mit der kolonialen Vergangenheit Deutschlands umzugehen, sei es als Zielort für Querdenker, Gegner der Covid-19-Maßnahmen, Al-Quds-Demonstranten oder für Gegner der Demokratie.Footnote 2 Ganz abgesehen von der besonderen Erfahrung als geteilte Stadt von 1945 bis 1989 und der Existenz einer Mauer. Ein Zusammenleben unter solchen Lebensbedingungen bringt die Frage nach den Grundlagen einer demokratischen politischen Kultur in Berlin mit sich (Celik et al. 2023; Pickel und Pickel 2020). Entsprechend stellen sich die Fragen: Wie verankert ist die Demokratie aktuell in Berlin und was sind die zentralen Einflussfaktoren für diese Verankerung?

Die Unterfragen lauten: Inwieweit unterscheiden sich die Berliner in ihrer politischen Kultur von der deutschen Bevölkerung und der anderer Bundesländer? Finden sich (noch) Unterschiede zwischen West- und Ostberlin, die regionale politische Kulturen mit sich bringen? Besitzen Berliner mit Migrationshintergrund eine andere politische Kultur? Unterscheiden sich die Erklärungsfaktoren für die politische Unterstützung der Demokratie in Berlin vom Bundesgebiet?Footnote 3

Konzeptionell schließen wir an das Theoriekonzept der Politischen Kulturforschung an (Almond und Verba 1963; Easton 1975; Lipset 1981; Pickel und Pickel 2006; Pickel 2015). Dieses bietet die Konzeption Bevölkerungseinstellungen gegenüber der Demokratie sowie ihre Begründungsfaktoren theoriegeleitet zu untersuchen. Empirische Grundlage für die Beantwortung der Forschungsfrage sind die Daten des 2021 erhobenen Berlin-Monitors, einer repräsentativen Befragung der Bürger Berlins zu Fragestellungen der politischen Kultur, Diskriminierung, Vorurteilen und aktuellen Themen (Celik 2023, S. 11–15).Footnote 4 Die Ergebnisse betten wir aus Vergleichsgründen in Ergebnisse bundesweiter Studien ein.Footnote 5 Systematische Vergleiche zu anderen Bundesländern können wir aus Platzgründen hier nicht vornehmen, sie sind aber über andere Beiträge des Special Issues möglich.

2 Berlin als Anziehungspunkt der deutschen Gesellschaft

Berlin sei „dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein“, so die berühmte Schlusszeile der Analyse des Kunstkritikers Karl Scheffler von 1910. Ein Grund für die stetigen Wandlungsprozesse Berlins ist das „positive Imageproblem“, von dem die Neue Zürcher Zeitung jüngst am 09.12.2022 berichtete.Footnote 6 So hätte Berlin eine „ungebrochene Anziehungskraft“, die Künstler, Schriftsteller, Musiker, Intellektuelle und zuletzt den S.-Fischer-Verlag dazu verlockte, sich dort anzusiedeln. Dies drückt sich in einer multikulturellen Stadtgesellschaft aus. 2011 schreibt der damalige Integrationsbeauftragte des Berliner Senats Günter Piening Berlin sei „ohne Migration nicht denkbar“, „große Sprünge in der Entwicklung ohne Zuzug von Menschen“ mit neuen Ideen und Sichtweisen nicht möglich gewesen (Piening 2011, S. 6). Beispiele hierfür sind die Hugenotten, die am Ende des 17. Jahrhunderts die Grundlage für Berlin als Handels- und Handwerksmetropole legten, die russisch-jüdische Einwanderung um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und die Migration im Zuge der Anwerbeabkommen in den 1960er-Jahren. Ebenfalls nicht außer Acht lassen darf man die Arbeitnehmer aus den sozialistischen Bruderländern, die in den letzten Jahren ihres Bestehens das Fundament der Funktionstüchtigkeit der DDR-Wirtschaft bildeten. Angela Merkel sprach es im Rahmen einer Reihe von Bürgerdialogen 2015 aus: Deutschland ist ein Einwanderungsland.Footnote 7 Berlin spiegelt dies eindrücklich wider, ist seine politische Kultur doch von stetigen Migrationsprozessen geprägt. So besaßen Ende 2021 mehr als 36 % der Bürger einen Migrationshintergrund, in Neukölln und Mitte sogar etwa 50 %.Footnote 8 Dies unterscheidet Berlin nicht von anderen deutschen Städten, aber doch von anderen Bundesländern (Celik et al. 2022).

Bedeutsam für die politische Kultur Berlins ist auch die zwischen 1945 und 1989 bestehende Spaltung in einen West- und einen Ostteil. Plastisch sichtbar wurde diese Spaltung am 13. August 1961 durch die Errichtung der Berliner Mauer – und wieder beim Fall der Mauer am 9. November 1989.Footnote 9 Wie sich diese Entwicklungen auf die politische Kultur Berlins niederschlagen, gilt es zu bestimmen. Auch im Rückblick auf die Wiedervereinigung 1989 haben sich Entwicklungen vollzogen. So berichtet der Tagesspiegel am 21.08.2019 über die Ergebnisse des Berlin-Monitors und kommt zum kritischen Fazit: „Aus der einen demokratischen Hälfte am Subventionstropf und der anderen fast ebenso abgeschotteten DDR-Halbstadt ist ein ausgewildertes, vom Sturm der Globalisierung durchgerütteltes Gebilde geworden, dessen Bewohner mit Ost-Biografie das Grundvertrauen in die Politik oft nie gewonnen haben; viele Westler sind gerade dabei, es zu verlieren“.Footnote 10 Möglicherweise ist die Lage aber auch weniger dramatisch. Der Berlin-Monitors 2019 zeigte eine hohe Demokratieunterstützung, aber auch Diskriminierungserfahrungen aufgrund von Geschlecht und Herkunft, als für die politische Kultur Berlins prägend auf (Pickel und Celik 2019, S. 26). So trifft in Berlin eine Multikulturalität im Sinne einer Vielfalt unterschiedlicher Nationen, die in Berlin leben, die symbolische Position als Landeshauptstadt einer „Berliner Republik“ und ein aufgrund der Teilung Berlins spannender politisch-historischer Hintergrund aufeinander (Caborn 2006, S. 8–10).

3 Politische Kulturforschung und die Stabilität demokratischer Systeme

3.1 Prämissen und Basiskonzept der politischen Kulturforschung

Theoretische Grundlage unserer Analysen ist die politische Kulturforschung (Almond und Verba 1963; Dalton und Welzel 2014; Norris 1999; Übersicht: Pickel und Pickel 2006, S. 59–68). Sie ermöglicht es, aus Einstellungen der Bevölkerung Erkenntnisse über die Stabilität politischer Systeme zu ziehen. Diese Stabilität entsteht dann, wenn das politische System und die politischen Einstellungen mit Bezug auf dieses System kongruent zueinander sind. D. h. eine Demokratie benötigt demokratische Einstellungen oder genauer eine politische Unterstützung seiner Institutionen. Die politische Kultur wird gerade in Krisenzeiten relevant, wenn fraglich ist, inwiefern das demokratische politische System unbeschadet aus der Krise kommen wird (Lipset 1981; Easton 1975). Dreh- und Angelpunkt der politischen Kulturforschung sind das Wissen, die Empfindungen und die Bewertungen des politischen Systems sowie seiner Institutionen durch die Bürger.Footnote 11 Diese Einstellungen in Bezug auf politische Objekte werden mithilfe repräsentativer Daten aus Bevölkerungsumfragen ermittelt und hinsichtlich ihrer Auswirkungen für die Stabilität des demokratischen politischen Systems bewertet.

Für die langfristige Stabilität einer Demokratie ist die Übereinkunft der Einstellungen der Bürger mit den Verfahren und Regeln wichtig. In der Konsequenz führt sie dazu, dass die Bevölkerung das politische System als legitim empfindet. Das Legitimitätsempfinden ist die für den Erhalt der Demokratie wichtigste politische Einstellung. Ihre Essenz ist ein Grundkonsens darüber, dass die Demokratie für die eigene Gemeinschaft die am besten passende Regierungsform ist (Lipset 1959, S. 77). Eine zumindest positiv-neutrale Haltung der Mehrzahl der Bürger gegenüber der Demokratie ist Grundvoraussetzung für die Systemstabilität im Krisenfall. Dabei ist es egal, ob es sich um eine ökonomische Krise, wie eine hohe Inflation, eine politische Krise, wie den russischen Angriffskrieg in der Ukraine, eine innere Krise wie die Covid-19-Pandemie oder eine soziale Krise, wie die steigende soziale Ungleichheit in Deutschland handelt. Um ihnen ohne Gefährdung für das Überleben des politischen Systems begegnen zu können, muss die Mehrheit der Bevölkerung das System grundsätzlich unterstützen. Politische Unterstützung wird analytisch als eine Einstellung verstanden, mit der sich eine Person gegenüber politischen Objekten orientiert (Easton 1979; Fuchs 1989). Easton bezieht sich in seinem Konzept auf drei Objekte des politischen Systems – die politische Gemeinschaft, das politische Regime und die politischen Herrschaftsträger –, sowie zwei Formen der Unterstützung – spezifisch und diffus. Die diffuse Unterstützung ist eine Unterstützung um der Objekte selbst willen, während die spezifische Unterstützung die Beurteilung der Performanz der Objekte beschreibt (Easton 1975, S. 436–438; Pickel und Pickel 2006, S. 79–81, 2020; Fuchs 1989, S. 208–212). Die politische Gemeinschaft umfasst ein Zugehörigkeitsgefühl zum Kollektiv sowie die Solidarität zwischen den Mitgliedern einer politischen Gemeinschaft (Westle 1989). Das politische Regime bezieht sich auf die Kerninstitutionen des politischen Systems, wie etwa das Amt des Bundespräsidenten. Gemeint ist in diesen Einstellungen nicht die jeweilige Person des Bundespräsidenten, sondern die Institution des Amtes. Seine Unterstützung wird als Systemunterstützung bezeichnet. Die Personen fasst man unter dem Objekt politische Herrschaftsträger. Sie haben die jeweiligen Ämter und Positionen inne. Ihnen wird (spezifische) politische Unterstützung durch Akzeptanz der von Ihnen getroffenen Entscheidungen zuteil. Diese drei politischen Objekte erhalten nach Easton entweder befürwortende oder ablehnende Unterstützung (Easton 1979, S. 436).

Für eine stabile Demokratie ist eine hauptsächlich befürwortende und unterstützende Haltung seitens der Bürger unerlässlich (Pickel und Pickel 2023, S. 28–40). Einer Faustregel nach sollte der Anteil der Unterstützer der Demokratie (ca. 70 %) den der aktiven Gegner (maximal ca. 15 %) deutlich übersteigen (Diamond 1999, S. 65). Ist dies nicht der Fall, gerät die Demokratie unter Druck: Sie muss sich mittelfristig wandeln, um wieder Unterstützung zu erhalten. Tritt dies nicht ein, dann bricht sie zusammen und wird durch eine andere Herrschaftsform (Diktatur, Theokratie, Militärregime, Einparteienherrschaft, usw.) ersetzt. Easton (1979) unterscheidet die diffuse Unterstützung des politischen Regimes in Legitimität und Vertrauen. Anders als die grundsätzlichere Legitimität speist sich Vertrauen aus der Sozialisation und generalisierten Output-Erfahrungen der Bürger. Lipset (1981) fokussiert auf die Differenzierung und Wechselbeziehung zwischen Legitimität und Effektivität. So sieht er ein politisches System mit einer hohen oder ausreichenden Legitimität auch Krisen überdauern. Führten etwa die Wirtschaftskrisen der 1970er und 1980er zu einer negativen Output-Bewertung der Bürger, so war es die Unterstützung der politischen Systeme und ihrer Institutionen an sich, die die Stabilität der europäischen Demokratien – trotz gesunkener spezifischer Unterstützung – sicherte. Grob betrachtet, ist die Legitimität bei Lipset das Pendant zu Eastons diffuser Unterstützung, die Effektivität zu spezifischer Unterstützung. In jüngerer Zeit wurden diese Überlegungen zusammengeführt, stärker in Richtung Demokratie adaptiert und durch den Einbezug des Demokratieverständnisses und einer Differenzierung zwischen Systemunterstützung und Vertrauen ergänzt (Pickel und Pickel 2023, S. 42; Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Politische Kultur, Demokratieverständnis und politische Einstellungen. (Quelle: Pickel und Pickel 2023, S. 42)

Zudem werden die bereits angesprochenen Aspekte der Systemunterstützung, der Legitimität des politischen Systems, der Performanzbewertung sowie die Anerkennung der politischen Gemeinschaft aufgenommen. Das Demokratieverständnis kann sowohl durch Werte wie individuelle Freiheit oder Gewaltenkontrolle geprägt sein, als auch durch nicht vollständig demokratische Vorstellungen von Demokratie, die eine starke Führung oder Expertenregierung mit der Demokratie verbinden wollen (Pickel 2016; Ferrin und Kriesi 2016). Für eine Demokratie reicht somit die Systemunterstützung nicht aus, diese muss auch wirklich demokratisch sein (Pickel und Pickel 2022b, S. 53–67). Eine geringe Systemunterstützung drückt eine Unzufriedenheit mit den aktuellen Zuständen im Land im Vergleich zu den eigenen Erwartungen an das demokratische politische System aus. Die Unzufriedenheit kann, z. B. durch Reformen oder über den Austausch der Verantwortlichen in Wahlen bearbeitet werden. Wirklich gefährlich für die Demokratie wird die Unzufriedenheit, wenn sie auf die Legitimität der Demokratie abfärbt. Dies ist bei Unzufriedenheiten über eine längere Zeit und bei dem Gefühl, dass es keine Alternativen zu einer grundsätzlichen Veränderung mehr gibt, der Fall.

3.2 Erklärungsfaktoren der politischen Kulturforschung

Bei der Suche nach zentralen Erklärungsfaktoren der politischen Kulturforschung ist die Unterscheidung der verschiedenen Ebenen der (demokratischen) politischen Kultur zu berücksichtigen. Während über die Bedingungsfaktoren des Demokratieverständnisses nur wenige Kenntnisse vorliegen, sind die Legitimität des politischen Systems, die Systemunterstützung und das Vertrauen in politische Institutionen öfter Bezugspunkt kausaler Analysen. Eine breitere Übersicht der vorhandenen Forschung würde den Artikel sprengen. Inhaltlich wichtig ist die Dominanz der Erklärungskraft der Einschätzung der gesamtwirtschaftlichen Lage der Bundesrepublik für die Systemunterstützung (zur Übersicht Lange 2018). Diese allgemeine, kollektive Bewertung übersteigt in allen Analysen die Wirkung der eigenen ökonomischen Lage und des Haushaltseinkommens (Pickel 2002, S. 299). Eine als schlecht eingeschätzte politische Effektivität oder Unzufriedenheit reduzieren die Systemunterstützung, wie dies auch das Gefühl, nicht den gerechten Anteil am Lebensstandard des Landes zu erhalten, tut (Pickel 2002, S. 299–302; Pickel und Pickel 2022a, S. 31). Der Glauben an die Legitimität der Demokratie (Demokratielegitimität) ist schwieriger zu erklären, handelt es sich doch um eine diffuse Form politscher Unterstützung, die auf grundsätzlichen Faktoren ihrer Verankerung in der Bevölkerung (Sozialisation, Erfahrung, Glauben) beruht. Zumeist finden sich nur geringe Erklärungswerte in Kausalmodellen, in denen Grundwerte wie Toleranz und soziales Vertrauen das Zentrum ausmachen (Pickel 2002; Welzel 2013).

Für die Analyse der deutschen politischen Kultur waren in den letzten Jahrzehnten Vergleiche zwischen West- und Ostdeutschland von großer Bedeutung (Fuchs et al. 1997; Gabriel 2007; Pickel 2002, Pickel und Pickel 2022a; Rippl und Seipel 2018). Dabei kam es zu unterschiedlichen Deutungen. Während eine Gruppe im Anschluss an die klassische politische Kulturforschung ein Abklingen der West-Ost-Unterschiede in der politischen Kultur aufgrund von generationalen Veränderungen in der Sozialisation propagierten (Fuchs et al. 1997, S. 9–11 Gabriel 2007, S. 541, 557; Sozialisationshypothese) verwies eine andere Gruppe von Wissenschaftlern auf die Relevanz situativer Prägungen (Walz und Brunner 1998; Situationshypothese). Die Situationshypothese sieht die Auswirkungen der aktuellen wirtschaftlichen und politischen Lage in West- und in Ostdeutschland als zentralen Prägefaktor für seit 1994 beobachtbare Unterschiede in der Unterstützung der Demokratie (Pickel 1998, S. 162–164; Pollack 2000; Gabriel 2007). Die Sozialisationshypothese geht von Generationenentwicklungen und von einem Erlernen der Demokratie aus. Wäre sie zutreffend, dürfte aktuell kaum noch ein Unterschied in der politischen Unterstützung in jüngeren Generationen zwischen Ost- und Westdeutschen vorliegen. So haben doch die jüngeren Ostdeutschen das kommunistische Regime nicht mehr miterlebt und sollten daher keine zu ihren westdeutschen Mitbürgern unterschiedliche Sozialisation durchlebt haben. Zu diesen beiden Hypothesen gesellt sich eine Hypothese, die Ost-West-Unterschiede aus dem Gefühl kollektiver sozialer Ungerechtigkeit begründet sieht und einer Hypothese, die Identitätsdifferenzen als Unterscheidungsfaktor zwischen West- und Ostdeutschland in den Vordergrund rückte (siehe zusammenfassend Pickel 1998, S. 159; Pickel und Pickel 2020, S. 486, 2022a, S. 25).

Spätere Arbeiten verweisen auf eine Differenzierung der politischen Kultur in Richtung einer regionalen politischen Kultur (Mannewitz 2015; Werz und Koschkar 2015). Die Annahme einer Homogenität der politischen Kultur mit einer Unterscheidung allein zwischen West- und Ostdeutschland wird dabei in Frage gestellt und auf die Vielfalt von Unterschieden in der politischen Kultur verwiesen. Für eine Betrachtung der politischen Kultur Berlins leitet sich daraus mindestens eine Untersuchung von Unterschieden zwischen West- und Ostberlin ab. Diese sollten allerdings vorsichtig interpretiert werden, da innerhalb Berlins seit 1989 eine erhebliche Binnenmigration stattgefunden hat. Nur eine geringe Rolle spielen in der klassischen politischen Kulturforschung sozialpsychologische Indikatoren. Neuere Studien zeigen aber erhebliche Effekte sozialpsychologischer Skalen für die Erklärung pro-demokratischer und anti-demokratischer Einstellungen (u. a. Pickel et al. 2020; Norris und Inglehart 2019). Besonders stechen unter den sozialpsychologischen Skalen Einstellungsbündel der autoritären Dynamik hervor: Autoritarismus und Verschwörungsmentalität (Decker und Brähler 2020). Autoritäre Einstellungen knüpfen an Überlegungen Adornos zu einer anti-demokratischen Relevanz autoritärer Überzeugungen an (Adorno 1973). Begleitet werden sie von verschiedenen Vorurteilsmessungen, die eine Abgrenzung von Teilen der Gesellschaft gegenüber anderen Gruppen in der Gesellschaft (meist Minderheiten) repräsentiert. Für den Beitrag nehmen wir sozialpsychologische Konstrukte als Erklärungskonzepte hinzu, da nur in diesem Falle ein breites Erklärungsangebot politischer Unterstützung unterbreitet werden kann.

3.3 Thesen für den Beitrag

Nehmen wir die Überlegungen der politischen Kulturforschung ernst, dann müssen wir als erste These eine Übereinstimmung von Indikatoren der demokratischen politischen Kultur zwischen Berlin und dem Bund prüfen. Nach der vorangegangenen Darstellung würden wir Differenzen erwarten.

T1

Berlin unterscheidet sich in der Legitimität der Demokratie sowie der Zufriedenheit mit dem aktuellen demokratischen System und im Vertrauen in Politiker vom Bundesgebiet.

Nun wurde schon auf die Besonderheiten Berlins hingewiesen. Eine ist die Erfahrung einer Spaltung zwischen 1945 und 1989. Selbst wenn mittlerweile eine Generation vergangen ist und zudem eine beachtliche Binnenmigration in Berlin stattgefunden hat, ist es wichtig festzustellen, inwieweit sich Unterschiede in den politischen Kulturen West- und Ostberlins zeigen. Der klassischen politischen Kulturforschung und der in ihr verankerten Sozialisationshypothese nach, müsste ein Abschmelzen der Unterschiede zwischen West- und Ostberlin stattfinden.

T2

In Ostberlin besteht eine genauso starke Verankerung einer demokratischen politischen Kultur wie in Westberlin.

Noch ein zweiter Aspekt wurde in der Einführung herausgestellt – die Ausprägung einer multikulturellen Gesellschaft in Berlin und der beachtliche Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund. Dies unterscheidet Berlin vielleicht nicht von anderen Großstädten wie z. B. Frankfurt am Main oder Hamburg, aber doch von den Flächenbundesländern. Ganz unabhängig davon ist es bedeutsam zu sehen, inwieweit der migrantische Bevölkerungsanteil einen Unterschied für die politische Kultur Berlins ausmacht. So wäre vor dem Hintergrund möglicherweise nichtdemokratischer Sozialisation oder religiöser Prägungen, die mit pluralistischen Aspekten der Demokratie in Konflikt kommen, eine Veränderung der politischen Kultur in Berlin in Richtung einer geringeren politischen Unterstützung der Demokratie zu befürchten.

T3

Die in Berlin lebenden Migranten unterscheiden sich von ihren Mitbürgern in der politischen Unterstützung.

Damit bleibt noch die Frage nach den Erklärungen offen: Welche Faktoren machen die zentralen Aspekte der politischen Unterstützung der Demokratie in Berlin aus? Den bisherigen Ergebnissen der politischen Kulturforschung folgend, ist eine große Bedeutung der Einschätzung der wirtschaftlichen Lage zu erwarten (zusammenfassend Pickel und Pickel 2022a).

T4

Die Einschätzung der Wirtschaftslage steigert die Zufriedenheit mit der Demokratie.

Ausgehend von weiteren Studien gehen wir davon aus, dass spezielle sozialpsychologische Faktoren einen Einfluss auf die politische Unterstützung in Berlin besitzen (Pickel et al. 2020; 2022). Hier knüpfen wir an die Überlegungen Adornos (1973) an, der autoritäre Überzeugungen als Vorurteile steigernd ausmachte.

T5

Autoritäre Überzeugungen sowie eine Verschwörungsmentalität reduzieren sowohl die Legitimität der Demokratie als auch die Zufriedenheit mit der aktuellen Demokratie und fördern rechtsautoritäre Systemalternativen.

Nun gibt es sicherlich Gründe, der Demokratie skeptisch gegenüberzustehen. Einer kann das Gefühl wirtschaftlicher Ineffektivität sein. Ein anderer aber Grundbedingungen, wie zum Beispiel die starke Ausrichtung auf Pluralität (Pickel und Pickel 2022a). Wir gehen davon aus, dass Vorurteile und Abwertung im Gegensatz zu einer politischen Unterstützung der Demokratie stehen. Sie dienen dann als antidemokratische Brückenideologien.Footnote 12

T6

Antisemitismus, antimuslimische Einstellungen und andere Formen gruppenbezogener Vorurteile stärken (als Brückenideologien) antidemokratische Einstellungen und reduzieren die Legitimität und Zufriedenheit mit der Demokratie in Berlin.

Die Thesen prüfen wir im Folgenden mit dem Datenmaterial des Berlin-Monitors 2021.

4 Methode und Daten: Vorstellung des Datenmaterials

Der Berlin-Monitor wird in einem zweijährigen Rhythmus erhoben (Pickel et al. 2019, 2023). Im Fokus unserer Analyse stehen die Daten der zweiten Berlin-Monitor Repräsentativbefragung 2021. Mittels eines standardisierten Fragebogens in einer kombinierten Telefon- und Onlinebefragung (TOM) wurden im Zeitraum September bis November 2021 2053 Berliner im Alter ab 18 Jahren befragt. Erhoben wurden Fragen nach soziodemographischen Angaben zu Geschlecht, Alter, Schulbildung, Einkommen, Religiosität und Migrationshintergrund, als auch Messinstrumente zur Erfassung verschiedener gesellschaftlicher Phänomene. Es erfolgte keine Messung der politischen Gemeinschaft und des Demokratieverständnisses.Footnote 13 Die Legitimität der Demokratie wird über die Frage erhoben, ob die Demokratie die angemessene Staatsform ist. Hier geht es um eine diffuse Bindung an die Demokratie (Easton 1975). Die Systemunterstützung wird über die Demokratiezufriedenheit und das Vertrauen in politische Institutionen abgebildet. Beides sind eine Art Mischung aus der Anerkennung der Werte des gegenwärtigen politischen Systems und der Beurteilung der politischen und/oder wirtschaftlichen Leistung. Die Zufriedenheit mit der Demokratie („Demokratie, wie sie in Deutschland funktioniert“) setzt sich so aus der positiven Bewertung des Handelns der Autoritäten und einer grundsätzlichen Anerkennung der politischen Institutionen zusammen. Demokratiezufriedenheit ist aus diesem Grund nicht als Indikator für eine grundsätzliche Demokratiebefürwortung oder -ablehnung tauglich, wie gelegentlich in Forschung und Öffentlichkeit aufzufinden. Gleichzeitig bildet die Demokratiezufriedenheit die konkrete Beziehung zum politischen System ab. Für Vertrauen wurde das Vertrauen in die Politiker erfragt (Tab. 1). Die politische Effektivität bindet sich in zwei etablierten politikwissenschaftlichen Konzepten, der internal political efficacy (politische Selbstwirksamkeit) und external political efficacy (Gefühl politisch angemessen vertreten zu werden).

Tab. 1 Übersicht der Items und der verwendeten Konzepte

Antidemokratische Systemalternativen werden über die Unterskala rechtsautoritäre Diktatur der Rechtsextremismus-Skala abgebildet. Weitere Skalen mit mehreren Items fassen antischwarzen Rassismus, antimuslimischen Rassismus und Antisemitismus. Autoritarismus wird über vier Indikatoren abgebildet. Da die Darstellung aller Instrumente den Rahmen des Aufsatzes sprengen würde, stellen wir in Tab. 1 die zentralen Indikatoren vor und verweisen zu weiteren Indikatoren auf die Literatur (Pickel et al. 2023, S. 43–47). Als Vergleichsdatensatz nutzen wir die Leipziger Autoritarismus-Studien 2020 und 2022. Für Häufigkeiten verwenden wir gelegentlich Kumulationen von 2020 und 2022, um einen mittleren und damit direkt vergleichbaren Wert zum Berlin-Monitor 2021 zu erzeugen. Die Leipziger Autoritarismus-Studien sind bevölkerungsrepräsentative Studien für das Bundesgebiet mit jeweils 2500 Befragten. Sie bieten sich zum Vergleich aufgrund struktureller Ähnlichkeiten in der Zusammensetzung des Datensatzes an.

5 Die politische Kultur in Berlin und ihre (empirischen) Besonderheiten

Leider fehlen uns für 2021 Indikatoren zur Haltung zur politischen Gemeinschaft in Berlin und zum Demokratieverständnis.Footnote 14 Auf diese müssen wir an dieser Stelle verzichten. Betrachten wir die Verteilungen der für Berlin verfügbaren Indikatoren für eine demokratische politische Kultur (Abb. 2), sehen wir eine hohe Legitimität der Demokratie und eine beachtliche Systemunterstützung. Politikern und Parteien wird mehrheitlich mit Misstrauen begegnet, wenn auch in einem um neun Prozentpunkte geringerem Ausmaß gegenüber dem Bundesgebiet. Die Systemunterstützung (Demokratiezufriedenheit) ist um über 10 Prozentpunkte höher als im Bund.

Abb. 2
figure 2

Beurteilung der Demokratie und politische Unterstützung Berlin 2021 (in %). (Quelle: Berlin-Monitor 2021; Leipziger Autoritarismus-Studie 2020 und 2022 (Arithmetisches Mittel))

Die politische Effektivität, die sich im Vertrauen in Politiker, der eigenen Selbstwirksamkeit bzw. internal political efficacy („Leute wie ich haben sowieso keinen Einfluss darauf, was die Regierung tut“) oder der external political efficacy („Die Parteien wollen nur die Stimmen ihrer Wähler, ihre Ansichten interessieren sie nicht“) ausdrückt, ist in Berlin ebenfalls höher als im Bundesgebiet.

Gleiches gilt für die Einschätzung der gesamtdeutschen Wirtschaftslage im Vergleich mit dem Bundesgebiet (Abb. 3). Sie ist im untersuchten Zeitraum in Berlin besser als im Bundesgebiet.

Abb. 3
figure 3

Beurteilung der aktuellen wirtschaftlichen Lage in Deutschland (in %). (Quelle: Berlin-Monitor 2021; Leipziger Autoritarismus-Studie 2020 und 2022 (Arithmetisches Mittel))

In Berlin existiert eine demokratische politische Kultur. These 1, die eine Gleichheit in der politischen Unterstützung annimmt, trifft generell, aber nicht im Detail der Zustimmungsgrade zu. Dieses Ergebnis schließt antidemokratische Einstellungen nicht aus. Das zeigt sich im Antwortverhalten auf die Fragebatterie Befürwortung rechtsautoritärer Diktaturen (Abb. 4).Footnote 15

Abb. 4
figure 4

Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur im Vergleich (in %). (Quelle: Berlin-Monitor 2019/2021 (Arithmetisches Mittel); LAS 2020/2022 (Arithmetisches Mittel))

Die Befürwortung einer antidemokratische Systemalternativen beschreibenden rechtsautoritären Diktatur ist unter Berlinern nicht weit verbreitet, wenn auch im Vergleich zum Bundesgebiet höher (Abb. 4). Der Aussage „Im nationalen Interesse ist unter Umständen die Diktatur die beste Staatsform“ stimmen 6 % der Berliner zu, ähnlich viele wie bundesweit. Höher als im Bund ist in Berlin die Zustimmungsbereitschaft zu einem „Führer mit starker Hand“ und zu einem Einparteiensystem. Diese Gegengruppe wird durch leicht höhere Werte bei tradiertem Antisemitismus, einer konsolidierten rechtsextremen Überzeugung und Chauvinismus gestützt. Alle Unterschiede (bis auf der Zustimmung zum starken Führer) sind auf relativ niedrigem Niveau. Dies deutet auf einen kleinen, aber überzeugten Gegenpart zu den ansonsten demokratischen Berlinern hin (Abb. 5).

Abb. 5
figure 5

Rechtsextreme Einstellungen im Vergleich (in %). (Quelle: Berlin-Monitor 2021; Leipziger Autoritarismus-Studie 2020 und 2022 (Arithmetisches Mittel))

Die Zahl der rechtsextremistischen Demokratiegegner bleibt unter der angesprochenen kritischen Marke von 15 % Systemgegnern (Diamond 1999). Allerdings ist das Potenzial für antidemokratische Aktivierung größer. So finden autoritäre und rechtsautoritäre Vorstellungen bei bis zu 50 % der Berliner Zustimmung.Footnote 16 Die Verbreitung von Autoritarismus und Verschwörungsmentalität in Berlin unterscheidet sich kaum vom Bundesdurchschnitt (Abb. 6).

Abb. 6
figure 6

Autoritarismus und Verschwörungsmentalität im bundesweiten Vergleich (in %, latente Zustimmung = teils/teils) (In der Leipziger Autoritarismus Studie, wie im Berlin-Monitor werden teils/teils-Ergebnisse bei antidemokratischen Aussagen als latente Zustimmung interpretiert. Grund ist die Erwartbarkeit einer klaren Ablehnung, wenn es sich bei den Antwortenden um Demokraten handelt (Decker und Brähler 2020, S. 34)). (Quelle: Berlin-Monitor 2021; Leipziger Autoritarismus Studie 2020 und 2022 (Arithmetisches Mittel))

Allein der Konventionalismus ist in Berlin seltener als im Bund. Die Hälfte der Berliner neigt zu autoritärer Aggression, immerhin ein Viertel der Berliner glaubt an Verschwörungserzählungen. Beides ist in seiner antidemokratischen Wirkung nicht zu unterschätzen. Ist die demokratische politische Kultur in Berlin in der Breite unterstützt, gibt es doch Gruppen, die mit autoritären bis hin zu antidemokratischen Einstellungen der Demokratie entgegenstehen.

6 Woher kommen (anti-)demokratische Strömungen in Berlin?

Die demokratische politische Kultur in Berlin unterscheidet sich wenig vom gesamtdeutschen Durchschnitt. Wie sieht es nun mit den Erklärungsfaktoren aus? Aufgrund der hohen Relevanz im Konzept der politischen Kulturforschung entscheiden wir uns als abhängige Variablen für die Zufriedenheit mit der Demokratie (Systemunterstützung), für die Legitimität der Demokratie („Demokratie ist das System, dass am besten zu unserer Gesellschaft passt“) sowie für antidemokratische Systemalternativen. Die drei Items (Befürwortung einer Diktatur, Präferenz für einen starken Führer, Präferenz für ein Einparteiensystem) ergeben eine gemeinsame Dimension (Cronbachs Alpha = 0,75) antidemokratische Systemalternativen. Es wird der gespeicherte Faktorwert aus der Faktorenanalyse verwendet.

Beginnen wir mit der Zufriedenheit mit der aktuellen Demokratie oder Systemunterstützung. In ihr treffen sich Aspekte der Legitimität der Demokratie bzw. diffusen politischen Unterstützung und der auf Outcome ausgerichteten spezifischen politischen Unterstützung.Footnote 17 Schätzen Berliner die wirtschaftliche Situation in Deutschland als gut ein, dann sind sie mit der aktuellen Demokratie zufriedener. Auch ein höheres Haushaltseinkommen ist für die Demokratiezufriedenheit förderlich, wenn auch in sichtbar geringerem Ausmaß. Das Gefühl wirtschaftlicher Prosperität ist in Berlin wie im Bundesgebiet eine tragende Säule der politischen Unterstützung der aktuellen Demokratie. Dagegen fallen die politischen Variablen in ihrer Relevanz ab: Eine fehlende politische Selbstwirksamkeit (internal political efficacy) reduziert die Systemunterstützung, eine rechte politische Ideologie oder external political efficacy bleiben ohne signifikanten Effekt. Auffällig ist das mit 62 % hohe soziale Vertrauen in Berlin (im Bund 54 %, LAS 2020), dessen Effekt auf die Einstellungen zur Demokratie in Berlin stärker ist als im Bund. In der Kombination mit seiner Prägekraft ist das Sozialvertrauen ein wichtiger Faktor für die höhere Systemunterstützung in Berlin. Den stärksten Einfluss in der Analyse besitzen sozialpsychologische Faktoren. Autoritarismus, eine Verschwörungsmentalität ebenso wie soziale Dominanzorientierung reduzieren die Demokratiezufriedenheit signifikant. Der Einfluss bewegt sich auf ähnlich hohem Einflussniveau wie im Bundesgebiet (eckige Klammern). Gleiches gilt für antimuslimische Einstellungen.

Autoritäre Überzeugungen sind mit Demokratie schlecht vereinbar. Dies zeigen die Befunde zur Legitimität der Demokratie und zur Befürwortung antidemokratischer Systemalternativen. Eine autoritäre Persönlichkeit (Adorno 1973) oder autoritäre Dynamik (Decker et al. 2020, S. 180–184) ist für eine Demokratie auf allen Unterstützungsebenen toxisch. Vergleichbares lässt sich über die Verschwörungsmentalität sagen. Die generelle Offenheit für Verschwörungserzählungen ist ein schleichendes Gift für eine demokratische politische Kultur. Sie wirkt sich nicht nur zersetzend auf die Systemunterstützung aus, sondern untergräbt auch die Legitimität der Demokratie. Bürger, die so denken, werden die Demokratie nicht verteidigen und zählen oft zu ihren aktiven Gegnern. In eine strukturelle Richtung geht die soziale Dominanzorientierung (Pratto et al. 1994). Sie misst, wie stark Personen keine Veränderung der bestehenden Machtverhältnisse wollen. Diese Verteidigungshaltung eigener Privilegien in einer Dominanzgesellschaft erweist sich für die Systemunterstützung der Demokratie wie für ihre Legitimität als negativ.

Hinzu treten Einstellungen der Abwertung anderer. Während die Demokratiezufriedenheit nur antimuslimische Einstellungen (die auf antimuslimischen Rassismus deuten) negativ beeinflussen, reduzieren rassistische (antischwarze und antimuslimische Einstellungen) und antisemitische Überzeugungen die Legitimität der Demokratie in Berlin und befördern die Zustimmung zu antidemokratischen Systemalternativen. Sozialstrukturelle Faktoren spielen keine tragende Rolle. Allein das Alter bestärkt die Systemunterstützung in Ergänzung zu den genannten Erklärungsfaktoren. Eine formal höhere Bildung hat (schwache) Auswirkungen allein auf die Legitimität der Demokratie. Noch herauszustellen ist ein Nichtbefund: Weder die Eigeneinschätzung als Migrant noch ein Migrationshintergrund besitzt einen signifikanten Effekt auf die Systemunterstützung. Unter Einbezug anderer Erklärungsfaktoren sind Migranten und Personen mit Migrationshintergrund Berliner, wie alle anderen auch – zumindest was ihre politische Unterstützung der Demokratie angeht (Pickel 2019; Celik und Pickel 2022, S. 16).

Die Erklärungskraft der unabhängigen Variablen auf die Systemunterstützung und die antidemokratischen Systemalternativen ist hoch, die für die Legitimität der Demokratie noch gut (siehe R‑Quadrat für das Regressionsmodell mit der abhängigen Variable „Legitimität der Demokratie“).Footnote 18 Die notorisch schwache Erklärungskraft für die diffuse Legitimität der Demokratie wird durch das Sozialvertrauen und die sozialpsychologischen Skalen gegenüber bisherigen Studien verbessert (Gabriel 2007; Pickel 2002). Das Ergebnis macht eine Schwäche der Demokratieforschung erkennbar: die fehlende Berücksichtigung sozialpsychologischer Konzepte. Antidemokratische Systemalternativen werden nicht wegen finanzieller Sorgen, Problemen mit der Effektivität des Regimes oder aufgrund spezifischer sozialstruktureller Lagen gewählt, sondern aufgrund grundsätzlicher Vorstellungen von der Gesellschaft. Rassistische und abwertende Vorstellungen stellen Brückenkonstruktionen zum überzeugten Rechtsextremismus her. Autoritäre Überzeugungen, gepaart mit Verschwörungserzählungen sowie antisemitischen Ressentiments und Vorurteilen bilden das Einstellungsgerüst der Antidemokraten (Douglas et al. 2017). Versucht man die Ergebnisse zum Berlin-Monitor mit vergleichbaren Faktoren für ein gesamtdeutsches Sample nachzuvollziehen (in unserem Fall mithilfe der Daten der Leipziger Autoritarismus Studie 2022), dann sieht das Bild nur in Nuancen anders als in Berlin aus (Tab. 2; eckige Klammern). Die Zusammenhangsstrukturen machen kaum einen Unterschied aus und produzieren keine regionale Besonderheit. Da sich auch die Zustimmungswerte (Niveau) kaum von Äquivalenten auf Bundesebene unterscheiden, bleibt eine große Differenz zwischen Berlin und dem Bund in der politischen Unterstützung aus.

Tab. 2 Einflussfaktoren der politischen Unterstützung der Demokratie. (Quelle: Eigene Berechnungen)

Betrachten wir für Berlin die Bezüge zwischen verschiedenen Ausdrucksformen der politischen Kulturforschung und dem Wahlverhalten, dann finden wir vor allem in der Wählerschaft der AfD und unter Nichtwählern eine größere Offenheit für antidemokratische Überzeugungen. Wenn über die Hälfte der eigenen Wähler ein antidemokratisches Einparteiensystem (in der Regel mit der eigenen Partei) einfordern, dann hilft es wenig, wenn „nur“ 15 % direkt eine Diktatur befürworten. Da mag die mangelnde Selbstwirksamkeit und das Gefühl, dass Politiker nur in ihre eigenen Taschen arbeiten, ein Triebfaktor sein – gleichwohl verlassen viele Wähler der AfD den Boden der Verfassung (Abb. 7).

Abb. 7
figure 7

Demokratieunterstützung nach Parteipräferenz (in %). (Quelle: Berlin-Monitor 2021)

7 Regionale Differenzen in der Berliner politischen Kultur?

Eine zentrale Besonderheit Berlins ist seine Teilung bis 1989. Seit 1989 gab es vielfältige Migrationsbewegungen innerhalb Berlins, die vermutlich unterschiedlichen politischen Kulturen in West- und Ostberlin genauso entgegenstehen, wie situative Anpassungen (Situationshypothese) und der Generationenwandel (Sozialisationshypothese). Um genaueres zu erfahren, untersuchen wir, inwieweit sich die politische Kultur oder ihre Ausprägungen zwischen Westberlin und Ostberlin unterscheiden. In beiden Gebieten Berlins ist die Legitimität der Demokratie hoch. Die Zufriedenheit mit der aktuellen Demokratie liegt in Ostberlin etwas (statistisch signifikant bei p < 0,01) hinter der Zufriedenheit in Westberlin zurück. Dieser Befund wird von vergleichbaren Unterschieden in der external efficacy (Parteien interessieren sich nicht für Wähler) und internal efficacy (kein Einfluss auf das, was die Regierung tut) begleitet. Die Befürwortung antidemokratischer Systemalternativen (Einparteiensystem, Diktaturbefürwortung, starke Führer) fällt in Ostberlin durchgehend leicht höher aus als in Westberlin.

Diese Befunde gehen in die Richtung der Ergebnisse von Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschland, fallen aber schwächer als diese Differenzen aus (Pickel et al. 2020; Pickel und Pickel 2022a; Rippl 2020). Dies ist angesichts der Binnenmigration in Berlin ein plausibles Ergebnis. Inwieweit dies für unterschiedliche politische Kulturen spricht, bleibt offen. Aus Gründen der wissenschaftlichen Redlichkeit sollten bei diesen geringen Befunden die Interpretation zurückhaltend bleiben. These 2 kann also nicht mit Sicherheit bestätigt werden, es gibt aber (z. B. bei der Demokratiezufriedenheit und political efficacy) eine Tendenz in die angenommene Richtung (Abb. 8).

Abb. 8
figure 8

Politische Kultur in Ostberlin und Westberlin und bei Migrationshintergrund (Zustimmungswerte nach Gruppen in Prozent; bei Unterschieden über drei Prozentpunkte erfolgte eine Signifikanzprüfung, die durchgehend signifikante Unterschiede ergab). (Quelle: Berlin-Monitor 2021)

Auch für die zweite Berliner Spezifität, den großen Anteil an Personen mit Migrationshintergrund, sind die Differenzbefunde übersichtlich. Menschen mit Migrationshintergrund bewegen sich zumeist auf dem Niveau der Werte in Westberlin und besitzen eine etwas höhere Demokratieunterstützung als in Ostberlin. Allein beim Wunsch nach einem starken Führer zeigt sich eine kleine, aber doch signifikante, Abweichung in Richtung eines niedrigen Niveaus. In allen anderen Indikatoren gibt es keine belastbaren und statistisch abgesicherten Unterschiede. Entgegen These 3 führt die Einwanderungsgesellschaft zumindest auf der Ebene der Kernvariablen der politischen Kulturforschung zu keinen maßgeblichen Differenzen. Allein eine leicht höhere Offenheit für einen starken Führer ist zu erkennen. Dieser Abstand ist allerdings sehr gering. Ob die sonst unauffällige politische Kultur der Migranten in Berlin eine Berliner Besonderheit ist, können nur migrationssensitive Analysen in anderen Bundesländern zeigen. Insgesamt fallen die – zweifelsohne ausbaufähigen – Analysen von Differenzen in der politischen Kultur für Berlin übersichtlich aus. Es bestehen kleinere Differenzen. Diese sind aber nur schwer als wirkliche Unterschiede in eigenständigen politischen Kulturen zu interpretieren. Eher handelt es sich um Nuancen in der Zustimmung zu einer demokratischen politischen Kultur.

8 Fazit: Berliner Stadtkultur?

Die politische Kultur in Berlin unterscheidet sich nur in Nuancen vom Bundesgebiet und nach Regionen (Ostberlin-Westberlin) und Gruppen (Berliner mit Migrationsgeschichte). These 1 wurde also genauso widerlegt, wie These 3, während These 2 bestätigt werden konnte. Von einer inneren Heterogenität der politischen Kultur kann nur sehr begrenzt gesprochen werden. Fast bei allen Berlinern besitzt die Demokratie eine hohe Legitimität, mehr als die Hälfte ist mit der gegenwärtigen Demokratie zufrieden und eine überwältigende Mehrheit lehnt einen starken Führer und eine Diktatur ab. Die generell hohe Demokratiezustimmung in Berlin wird allerdings von Gruppen mit antidemokratischen und rechtsextremen Einstellungen flankiert. Zwar verbleibt der Anteil von Berlinern mit einem konsolidierten rechtsextremen Weltbild genauso wie die Befürwortung einer Diktatur bei 5–6 % übersichtlich, gleichzeitig erweitert sich das demokratiekritisch bis -ablehnende Spektrum mit Blick auf autoritäre Einstellungen, der Befürwortung der Einparteienherrschaft und/oder eines starken Führers bis auf jeden vierten Berliner.

Die leicht höhere Legitimität der Demokratie und etwas stärkere Ablehnung antidemokratischer Alternativen gegenüber dem Bundesgebiet beruht vor allem auf zwei Säulen: Dies ist erstens eine größere Zufriedenheit mit der eigenen wirtschaftlichen Lage, zweitens ein etwas stärker ausgeprägtes Abwehrverhalten gegenüber antidemokratischen Brückenideologien wie Verschwörungserzählungen, rassistischen Einstellungen und gegenüber der Ablehnung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Die Thesen 4, 5 und 6 können also als bestätigt angesehen werden. Wichtige Einflussfaktoren, wie die Einschätzung der wirtschaftlichen Lage, unterscheiden sich zwischen dem Bundesgebiet und Berlin kaum. Sie prägen in Berlin, nicht anders als im Bundesgebiet, die Systemunterstützung. Sozialpsychologische Einstellungen, wie z. B. Autoritarismus oder die Verschwörungsmentalität, bieten eine zusätzliche Erklärungskraft für die politische Unterstützung der Demokratie. Sie unterscheiden die vorgelegte Analyse maßgeblich von früheren Analysen der politischen Unterstützung und helfen im Verständnis. So ist gerade die Legitimität der Demokratie und die Unterstützung antidemokratischer Systemalternativen maßgeblich durch autoritäre Einstellungen, Verschwörungsmentalität und fehlendes Sozialvertrauen zu erklären.

Die politischen Kultur Berlins ist stark demokratisch geprägt, relativ homogen und weist auf der übergeordneten Ebene keine große Heterogenität auf. Die leichten antidemokratischen Differenzen zwischen West- und Ostberlin reichen für eine grundsätzliche Unterscheidung der politischen Kultur nicht aus. Von verschiedenen politischen Kulturen kann nicht gesprochen werden, eher von einer weitreichend integrierten Berliner Stadtgesellschaft mit Nuancen in der Ausprägung einer demokratischen politischen Kultur.