1 Einleitung

Nur selten wandten sich deutsche Geheimdienste so offensiv an die Öffentlichkeit wie zum Jahresbeginn 2020. Der Anlass: Das Verfassungsgericht verhandelte die Rechtmäßigkeit der sogenannten Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes (BND). In Interviews, O‑Tönen und Gastbeiträgen wurden die Beschwerdeführer:innen zu „Prozesshanseln“ (Hufelschulte 2020) und der Prozess zum „Spott der Agentenkollegen“ (ebd.) anderer Länder. Die Klageschrift erschien als Sicherheitsrisiko und mögliche Bedrohung für das Leben von Soldat:innen (Spilcker 2020; Hanning 2020). Auch die öffentliche Warnung eines ehemaligen Geheimdienst-Chefs an das Gericht in Karlsruhe war ein Novum (dpa 2019). Aus Sicht der Nachrichtendienstler stand ihre Arbeitsfähigkeit auf dem Spiel, wenn gemäß der Klage auch die Kommunikation von Ausländer:innen im Ausland durch das deutsche Grundgesetz geschützt sein sollte.

Dieser Beitrag zeigt, dass diese scharfen Worte als Verteidigungsversuch der transnationalen Autonomie digitaler Geheimdienstüberwachung zu lesen sind. Denn die Klage stellte ein etabliertes Teilungs- und Herrschaftsprinzip des Feldes infrage, das auf der Unterscheidung zwischen der Überwachung inländischer und ausländischer Kommunikation basiert und das konstitutiv für etablierte Formen massenhafter Datenerhebung und Datentausch von Geheimdiensten ist. Die Aushandlung der Regeln digitaler Überwachung in Berlin und Karlsruhe, so die These, wird als rein nationaler Reformprozess nur bedingt verstehbar, denn er ist verschränkt mit den transnationalen Formen symbolischer Herrschaft im Bereich Signals Intelligence (Sigint) und ihrer Kontestation.

Der Artikel entwickelt hierfür zunächst ein konzeptionelles Vokabular, das auf Felder und symbolische Macht, also auf Pierre Bourdieus politische Soziologie zurückgreift, um die Herausbildung transnationaler Ordnung und Herrschaft zu beobachten. Entgegen einer strikten Trennung von Theoriebildung und empirischer Analyse wird dieses Vokabular als analytisches Denkwerkzeug genutzt, um das Machtphänomen digitaler und transnationaler Überwachung besser zu verstehen. Es werden zum einen die Strukturen transnationaler Geheimdienstüberwachung skizziert und zum anderen am Beispiel der verhandelten Inland-Ausland-Unterscheidung Formen symbolischer Herrschaft erkennbar gemacht, die im und durch das transnationale Feld wirksam werden – bis in nationale Politik hinein.

Mit der Ausarbeitung der Konzepte der transnationalen Autonomie und der symbolischen Herrschaft schließt der Beitrag erstens an die Forschung zu transnationaler Ordnungsbildung und ihrer Kontestation an. Zweitens formuliert er eine mögliche Antwort auf die Frage, warum digitale Überwachung transnational operierender Geheimdienste trotz und teilweise durch ihre Kontestation so gut zu funktionieren scheint. Denn die genannten Verhandlungen in Karlsruhe stehen nicht nur für die Herausforderung symbolischer Herrschaft, sondern auch für eine neue Form ihrer Verrechtlichung und Legitimation. Die Inland-Ausland Unterscheidung wird nicht aufgelöst, sondern von einer stillen Form symbolischer Herrschaft in eine streitbare transformiert: Sie wird von einer durch Schweigen akzeptieren Selbstverständlichkeit (Doxa) zur herrschenden Meinung (Orthodoxie), der ein heterodoxer Bürger- und Menschenrechtsdiskurs gegenübersteht.

2 Die Formierung transnationaler Herrschaftsordnungen

Die folgende Konzeptualisierung transnationaler Felder und symbolischer Herrschaft wird aus einer bourdieuschen Perspektive heraus entwickelt, knüpft dabei jedoch an drei Forschungsstränge zu transnationaler Ordnungsbildung an: die interdisziplinäre „international political sociology (IPS)“ (Basaran et al. 2017), die feld- und wissenssoziologisch ausgerichtete „Soziologie transnationaler Felder“ (Schmidt-Wellenburg und Bernhard 2020a) und die Forschung in den Internationalen Beziehungen (IB) unter den Stichworten der Internationalen Herrschaft bzw. Autorität und Global Governance (Daase et al. 2017; Zürn 2015). Ohne die Bezüge und Unterschiede dieser Forschungsansätze hier systematisch darstellen zu können, wird für eine gemeinsame Rezeption dieser Arbeiten geworben. Denn sie teilen nicht nur das Forschungsobjekt – Ordnungen jenseits des Nationalstaats – sondern auch eine soziologische Fundierung ihrer Begriffe von Macht, Herrschaft und Autorität. In der deutschsprachigen Debatte zu internationaler Herrschaft tritt die politische Soziologie Bourdieus vor allem im Ensemble mit Weber, Marx, Elias und Foucault auf (Schlichte 2012). Hier wird jedoch argumentiert, dass Bourdieus Arbeiten zu symbolischer Herrschaft einen eigenen Beitrag zum Verständnis von transnationaler Ordnungsbildung und ihrer Infragestellung liefern können, und zwar besonders im Kontext der mittlerweile ‚transnationalisierten‘ Feldsoziologie.

2.1 Felder als Modus transnationaler Ordnungsbildung

Felder werden definiert als relativ autonome soziale Räume, die das Produkt gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse sind, welche sich zunehmend über nationalstaatliche Grenzen hinweg vollziehen. In Feldern verhandeln Akteure auf der Basis eines geteilten Anliegens gemeinsam und zugleich gegnerisch über die legitimen Teilungsprinzipien der sozialen Welt (Bourdieu 2014, S. 505, 2001c, S. 81). Während sich Bourdieu selbst vor allem mit Feldern nationaler Ausprägung beschäftigt hat, etwa mit der Kunst (Bourdieu 2001a), ist eine Adaption der Feldtheorie auf inter- und transnationale Phänomene bereits etabliert. Dazu gehören feldtheoretische Arbeiten zur europäischen Sozial- und Sicherheitspolitik (Bernhard 2010; Mérand 2010), dem Feld der Diplomatie (Pouliot 2010) und jüngst auch zu transnational vernetzten Geheimdiensten (Kniep 2017; Bigo 2020).

Felder lassen sich durch vier Eigenschaften charakterisieren: asymmetrische Machtbeziehungen, gemeinsame Streitgegenstände, weitgehend verinnerlichte Regeln und eine relative Autonomie gegenüber anderen Feldern (Pouliot 2008, S. 274). Die relative Autonomie bezieht sich auf die Eigengesetzlichkeit von Feldern mit einem spezifischen Enjeu (Interessensobjekt, Bourdieu und Wacquant 1996, S. 127). Die Metapher von Feldern als „soziale Spiele“ (ebd.) eignet sich besonders zur Veranschaulichung der Dynamiken von Feldern. Wie Spiele sind Felder bestimmt von Auseinandersetzungen konkurrierender Teilnehmer:innen auf der Grundlage spezifischer Regeln und einer stillschweigenden Einigkeit über den Spielsinn, der Illusio (Bourdieu 2001a, S. 68). Auch wenn die Fragen der Macht und Herrschaft in diesem Artikel zentral sind, bleibt es wichtig zu verstehen, dass Felder nicht nur Räume von „Konflikten und Konkurrenzen“ (Bourdieu und Wacquant 1996, S. 38) sind. Felder sind zentrale Orte sozialer Sinnstiftung. Wie wir die Welt wahrnehmen und was wir als wichtig erachten, ist durch die Felder mitbestimmt, in denen wir sozialisiert werden und in denen wir uns bewegen. Felder sind Spiele, in die wir so sehr involviert sind, dass häufig in Vergessenheit gerät, dass es sich nur um eine mögliche Spielvariante und ein Spiel neben anderen handelt. Der Spielsinn – wofür das alles? – ist in Teilen prä-reflexiv und so verinnerlicht, dass er außerhalb von Krisen weitgehend als selbstverständlich gilt.

Gespielt wird unter der Bedingung unterschiedlicher Kapitalausstattungen. Als Grundformen gelten die finanzielle Ausstattung (ökonomisches Kapital), Wissensformen (kulturelles Kapital) sowie potenzielle und tatsächliche soziale Kontakte (Sozialkapital). Innerhalb und über Felder hinweg ist Kapital ungleich verteilt, woraus sich „Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen“ (Bourdieu und Wacquant 1996, S. 127) ergeben. Diese objektiven Relationen bleiben jedoch stets symbolisch vermittelt. Symbolisches Kapital, das gewisse Ähnlichkeiten mit anerkannter Legitimität, Prestige oder Charisma aufweist, ist eine übergeordnete Kapitalform und verweist auf die Anerkennung von Macht und letztlich Herrschaft, die darin besteht, Fakten zu schaffen, indem ihre Willkürlichkeit verkannt wird (Bourdieu 1991, S. 170). Die politische Ökonomie Bourdieus fügt sich damit zwischen Konstruktivismus und Realismus ein, denn für Bourdieu sind die Analyse materieller Ressourcenverteilungen und symbolischer Deutungsmacht keine validen Alternativen.

Ein transnationales Feld beschreibt eine Ordnung, in der sich Akteure über nationalstaatliche Grenzen hinweg an einem eigenen Spiel ausrichten. Das inkludiert geteilte professionelle Identitäten, Prinzipien und Wissensformen sowie spezifische Modi von Kooperation und Konflikt. Ein transnationales Feld bedeutet, dass es um mehr geht als rein funktionale Austauschbeziehungen, nationale Interessenvertretung oder Steuerungsprobleme, wenn sich etwa Geheimdienste verschiedener Länder begegnen. Mit einem Feld entsteht eine eigene soziale Welt, in der sich Akteure einen im Habitus verankerten „praktischen Sinn“ (Bourdieu 2001b, S. 185) aneignen, der definiert, was sich schickt und was nicht. Ähnlich wie in diplomatischen Beziehungen gibt es etwa in nachrichtendienstlichen Kooperationen eine stille Übereinkunft darüber, dass bestimmte Bereiche nicht angesprochen werden (Deutscher Bundestag 2014b, S. 66). Es gehöre zudem zum „Handwerkszeug“ (Deutscher Bundestag 2014c, S. 62) von Nachrichtendienstlern, über die mögliche Nutzung von Hintertüren durch den Partner nachzudenken und entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Gemeinsam in einem Feld zu handeln, bedeutet nicht Eintracht. Die Gleichzeitigkeit von Kooperation und Konkurrenz – im Fall der Geheimdienste bis hin zu gegenseitiger Spionage – gehören durchaus zum Modus Operandi eines Feldes.

Die Anwendung der Feldtheorie auf soziale Ordnungen zeichnet sich durch ein bestimmtes methodologisches Programm aus. Dazu gehört neben der Überwindung einer analytischen Trennung von symbolischen und materiellen Ordnungen der Verzicht auf eine strikte Trennung zwischen Empirie und Theorie (Bourdieu und Wacquant 1996, S. 19), in der sich der Forschungsprozess zyklisch zwischen Deduktion und Induktion bewegt. Feldtheoretische Arbeiten folgen einer konsequent relationalen Konstruktion des Realen in der Tradition von Bourdieu und anderen Autoren wie Norbert Elias oder Ernst Cassirer (Vandenberghe 1999; Bourdieu und Wacquant 1996, S. 34). Macht, Felder und Habitus sind demnach „Bündelungen von Relationen“ (ebd., S. 36). Auch bei Bourdieu verfolgen individuelle oder kollektive Akteure Interessen und Strategien, die jedoch erst durch ihre relationale Position im sozialen Raum verständlich und überhaupt möglich werden, ohne von ihr determiniert zu werden.

Zuletzt sollen Implikationen der Feldtheorie hervorgehoben werden, die besonders für ihre Anwendung auf transnationale Ordnungen relevant sind. In der Erforschung des Transnationalen wird stärker als bei Bourdieu selbst darauf hingewiesen, wie verschränkt Felder trotz ihrer relativen Autonomie sind und so staatliche und nicht-staatliche Herrschaftsformen umfassen. Weil Akteure gleichzeitig in verschiedenen Feldern engagiert sind, können etwa Ressourcen nationaler Felder in transnationalen Feldern mobilisiert werden – und umgekehrt (Krause 2020, S. 106). Staatliche Formen der Macht und die Macht transnationaler Felder können sich konterkarieren, stabilisieren oder potenzieren. Diese Dynamiken bleiben aus Feldperspektive empirisch zu bestimmen. Das gilt auch für die Autonomiegrade eines Feldes. Es gibt zwar eine Tendenz, transnationale Felder als schwach autonome Konstellationen zu beschreiben (Vauchez 2014). Die Analyse der relativen Autonomie bleibt jedoch zentral, um überhaupt ein Feld von einem anderen unterscheiden zu können, da ihre Herausbildung zu den Existenzbedingungen von Feldern im bourdieuschen Sinne gehört.

Schließlich gibt die Feldanalyse ein Instrument an die Hand, um staatliche Macht auch bei der Analyse des Transnationalen ernst zu nehmen, jedoch ohne sie zu reifizieren (Schmidt-Wellenburg und Bernhard 2020b, S. 2). Um zu vermeiden, dass wir als Wissenschaftler:innen „den Staat mit einem Staatsdenken denken“ (Bourdieu 2014, S. 222) sei dieser einem „hyperbolischen Zweifel“ (Bourdieu 1994, S. 2) zu unterziehen. Daraus folgt, sich von der Fiktion des Staates als handelnder Akteur zu lösen. Wenn der Staat als Subjekt behandelt wird, etwa indem wir sagen ‚der Staat überwacht uns alle‘, dann verbergen sich dahinter eine Vielzahl von Akteuren verschiedener Felder und Teilfelder, die sich in komplexen, hierarchischen Beziehungen einander gegenüberstehen. Der Staat zeichnet sich eben nicht durch die eine zentrale Machtinstanz aus, sondern durch ein „Geflecht der Interdependenz der Mächtigen“ (Bourdieu 2014, S. 236; mit Verweis auf Elias). Folgt man dieser Sichtweise, dann handelt es sich bei transnationalen Machtkonstellationen zwar immer noch um ein von staatlicher Macht unterscheidbares, jedoch nicht völlig neues und vor allem nicht abgetrenntes Machtphänomen. Die Feldperspektive ist in diesem Sinne eine analytische Option, um das soziologische Defizit eines immer wieder aktualisierten Souveränitätsdenkens zu beheben (Volk 2014, S. 148), das unter dem Begriff ‚digitaler Souveränität‘ ironischerweise gerade als Reaktion auf die durch Snowden offengelegten, transnationalen Überwachungsformen wieder an Anziehungskraft gewonnen hat (Pohle und Thiel 2020). Der Feldbegriff bricht mit immer wieder replizierten Trennungen von Individuum – Gesellschaft sowie Staat – Internationales System und verschafft analytischen Zugang zu den Zwischenräumen, die transnational oder transversal entstehen (Gadinger 2017, S. 412f; Basaran et al. 2017).

2.2 Zwei Formen symbolischer Herrschaft: Doxa und Orthodoxie

Felder beschreiben einen konflikthaften und auf Machtasymmetrien basierenden Modus transnationaler Ordnungsbildung und werden dadurch zu Produktionsräumen für Macht und Herrschaft. Der Begriff der Ordnung verweist bei Bourdieu immer mit auf Herrschaftsordnungen, für die sowohl Unterordnung als auch Kontestation konstitutiv sind. Das Markenzeichen von Bourdieus Herrschaftssoziologie ist die symbolische Macht: eine „Macht zur Durchsetzung von Bedeutungen“ (Schwingel 1993, S. 104). Ohne sich dabei von den materiellen Ungleichheiten zu lösen, ist die symbolische Dimension kennzeichnend für alle Herrschaftsformen, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, aber: „Noch die brutalsten Kräfteverhältnisse […] sind zugleich symbolische Verhältnisse“ (Bourdieu 2014, S. 291). Damit ist mitgemeint, dass auch die Ausübung physischer Gewalt häufig von symbolischen Herrschaftsverhältnissen unterlegt ist.

Wie David Hume wundert sich Bourdieu über die Leichtigkeit, mit der die Wenigen viele regieren und formuliert mit seinen Ausführungen zur symbolischen Macht seine eigene Antwort auf die Frage: „Wie kommt es, daß [sic] die Beherrschten gehorchen?“ (Bourdieu 2014, S. 290). Beherrschung zeichnet sich durch die erfolgreiche Naturalisierung eigentlich kontingenter Deutungen und Klassifikationen aus und schafft damit die Voraussetzung für ihr Funktionieren: einen Verkennungseffekt. Am stabilsten ist Herrschaft dann, wenn wir sie gar nicht mehr als solche erkennen. Die Verkennung und Verinnerlichung von Herrschaft entsteht durch die Korrespondenz subjektiv-mentaler Wahrnehmungsschemata und objektiv-sozialer Strukturen, die sich auch in einer Dialektik zwischen Feld und Habitus ausdrückt (Bourdieu 2015a, S. 185). Die Erfahrung sozialer Verhältnisse als natürlich bezeichnet Bourdieu als Doxa. Die Doxa ist das Unbestrittene, das „Universum des Undiskutierten“, welches sich vom „Universum des Diskurses“ mit ortho- und heterodoxen Meinungen unterscheiden lässt (ebd. S. 330). Beispiele für vollkommen doxische Erfahrungen sind die Zeit und der Kalender. Die Doxa ist „einer der Effekte der symbolischen Macht“ (Bourdieu 2014, S. 208) und markiert häufig den unhinterfragten „Standpunkt der Herrschenden“ (ebd. 309), die ihrerseits ein Interesse am „Schweigen der Doxa“ (Bourdieu 2015b, S. 135) haben, das sich, einmal gebrochen, nicht einfach wieder herstellen lässt. Stattdessen bemühen sich Herrschende dann um eine Entpolitisierung in reaktiven Diskursen der Neutralität und Notwendigkeit um ihre aufgebrochene symbolische Macht (ebd.). Herrschaft ist für Bourdieu „ein Akt der doxischen Unterwerfung unter die soziale Ordnung“ (Bourdieu 2014, S. 308). Sie beinhaltet also auch immer ein Element der Komplizenschaft der Beherrschten, das auch bei der Funktionsweise digitaler Überwachung augenfällig wird.

Im Zustand der Herrschaft ist es einer Macht gelungen, ihren willkürlichen Charakter zu verschleiern (Wayand 1998, S. 235). Auch wenn Bourdieu weniger entschieden als Weber zwischen Macht und Herrschaft unterscheidet, besteht eine gewisse Nähe zu Webers Definition von Herrschaft als legitime Macht (Schlichte 2012). Wo Weber aber die Quellen des Gehorsams offenlässt (Simmerl und Zürn 2016, S. 41), präzisiert sie Bourdieu mit seinen Begriffen der symbolischen Macht, doxischer Unterwerfung und der Korrespondenz subjektiver und objektiver Strukturen. Bourdieu lässt sich damit einer kritischen Perspektive auf internationale Herrschaft zuordnen, die sozialisationstheoretische Erklärungen von Gehorsam rekrutiert – im Unterschied zu einer reflexiven Perspektive, die Unterordnung begründungstheoretisch als intentionalen, epistemischen Akt der Beherrschten fasst (ebd., S. 38). In diesem Beitrag soll der Blick dafür geschärft werden, dass auch die Ausübung symbolischer Herrschaft durch unhinterfragte Teilungsprinzipien und habitualisierte Praxis funktioniert und in eine Analyse internationaler Herrschaft miteinbezogen werden muss. Es ist soziologisch inkonsequent, Beherrschungseffekte als subtil, die Ausübung von Beherrschung jedoch als stets intentionale Willensakte zu fassen, wie es etwa die aktuell viel diskutierte neo-republikanische Perspektive auf Beherrschung suggeriert (Lukes 2021).

Bourdieus Herrschaftsbegriff lässt sich nicht nur von einer reflexiven Perspektive, sondern in mehrere Richtungen abgrenzen. Sein Begriff symbolischer Herrschaft überwindet den methodologischen Individualismus von Weber, ist aber weniger instrumentalistisch als die marxistischen Begriffe der Ideologie und Hegemonie. Herrschaft und Macht werden erst über deren relationale Eingebundenheit in soziale Konstellationen wirksam, bleiben aber stärker als Foucaults Machtbegriff als Wissensordnungen an Akteurskonstellationen gebunden. Der Aspekt der Verkennung macht auf die unsichtbaren Formen von Herrschaft aufmerksam: Herrschaft ist nicht lediglich Anerkennung von Legitimität, sondern die Verinnerlichung symbolischer Macht und materieller Machtasymmetrien als Selbstverständlichkeit. In ihrer doxischen Form der Herrschaft stellt sich die Frage der Legitimität erst gar nicht: Doxa „ist nicht die Anerkennung der Legitimität; sie ist eine Proto-Legitimität“ (Bourdieu 2014, S. 309).

Dem skizzierten Begriff symbolischer Herrschaft könnte nun ähnlich wie Webers Begriff von Herrschaft als legitime Form der Macht vorgeworfen werden, die Bedeutung von Widerstand unter den Tisch fallen zu lassen und Herrschaft in einen unpolitischen Zustand der Symmetrie zu versetzen (Daase und Deitelhoff 2017, S. 130). Genau dieses Argument wird in einer Debatte darüber vorgebracht, ob internationale Herrschaft konzeptionell an Gehorsam oder an Widerstand zu binden sei (Daase und Deitelhoff 2015; Zürn 2015). Die Gehorsams-Fraktion folgt der klassischen Unterscheidung von Herrschaft und Macht bei Weber und nutzt diese, um Autorität und Kontestation, also letztlich die Legitimationsprobleme von Institutionen der Global Governance in den Blick zu nehmen (Zürn 2015). Die Widerstands-Fraktion beruft sich auf Foucaults produktive Macht – „Wo Macht ist, ist auch Widerstand“ (Foucault 1990, S. 95) – um internationale Herrschaft über Widerstand zu definieren und empirisch zu erforschen. Herrschaft wird dann als eine institutionalisierte, nicht aber notwendigerweise legitime Form der Macht definiert, die auch Zwang beinhalten kann und auf Widerstände stößt (Daase und Deitelhoff 2017, S. 132).

Dieser Beitrag schließt in zweierlei Hinsicht an die Debatte an. Erstens wird gezeigt, dass ein Festhalten an Gehorsam und Verkennung gerade auch für eine kritische Perspektive auf Herrschaft kennzeichnend ist, weil sonst das Ausmaß an Herrschaft schnell unterschätzt wird (Zürn 2015, S. 321). Mit der Erklärung von Verkennung im doxischen Erleben symbolischer Herrschaft ist es keinesfalls „soziologisch wenig sinnvoll“ (Daase und Deitelhoff 2015, S. 306), sich Herrschaft auch ohne Widerstand vorzustellen. Zweitens bieten die Einwände zur Bedeutung von Widerstand dennoch einen Anlass, Kämpfe und Kontestation klarer im Begriff symbolischer Herrschaft zu verorten.

Hierfür macht sich der Beitrag die Unterscheidung der Begriffe von Doxa einerseits und Orthodoxie und Heterodoxie andererseits zunutze, um zwischen zwei Formen symbolischer Herrschaft zu unterscheiden: Zwischen einer orthodoxen Form, bei der Herrschaft durch sichtbare Kontestation einer Heterodoxie im „Universum des Diskurses“ (Bourdieu 2015a, S. 330) konstituiert bleibt und einer doxischen Form, bei der Herrschaft auf ihrer Verkennung beruht, der zwar Kämpfe und Kontestation vorausgingen, aber bereits in Vergessenheit geraten sind. Entscheidend ist dann nicht, ob Herrschaft a priori mit Widerstand oder Gehorsam verknüpft ist, sondern in welchem, auch historischen Zustand sie sich befindet. Es gibt zwei Momente, in denen Herrschaft sich besonders gut empirisch beobachten lässt: Wenn Herrschaft aufgebrochen und legitimationsbedürftig wird, um sich erneut zu behaupten oder abgeschwächt zu werden und in ihren Anfängen. Keine Institution und keine Technologie – weder der Kalender, dem wir folgen, noch das Internet, das wir täglich nutzen noch Geheimdienstüberwachung – „ist ohne Drama durchgesetzt worden“ (Bourdieu 2014, S. 308).

Aus der Unterscheidung zwischen einer stillen, verborgenen Spielart der Herrschaft als Doxa und einer sichtbareren, umstrittenen Herrschaft als Orthodoxie lässt sich ein dynamisches Verständnis von Herrschaft ableiten, das sowohl dem subtilen Charakter von symbolischer Herrschaft als auch ihrer kontestatorischen Verfasstheit gerecht wird. Doxische Herrschaft ist als die vollkommenere und stabilere Form der Herrschaft anzusehen.

3 Transnationale Autonomie: Das Signals Intelligence Feld

Die Veröffentlichung von Edward Snowden haben erstmals die von der National Security Agency (NSA) ausgehenden, globalen Netzwerke und ihre kooperativen Praktiken im Bereich Signals Intelligence (Sigint) offengelegt. Dieses Kapitel zeigt, inwiefern es sich bei Netzwerken wie den Five Eyes um Akteure eines transnationalen und relativ autonomen Feldes im bourdieuschen Sinne handelt.

3.1 Genese: Von den Five Eyes zu den Sigint Seniors

Geheimdienste sind ein Teilfeld des bürokratischen Feldes, Sigint wiederum ein eigener Kosmos innerhalb der Geheimdienstwelt, der sich in Abgrenzung zum Militär und anderen Disziplinen wie Human Intelligence (Humint) herausgebildet hat. Bereits die Entstehung vieler westlicher Sigint-Dienste wurde von den Diensten anderer Länder maßgeblich beeinflusst. Sigint war also nie nur im nationalen bürokratischen Feld verhaftet, sondern hat sich bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als ein transnationales Feld konstituiert, in dem Akteure um Deutungs- und Informationshoheit über weltweite Bedrohungen und außenpolitische Relevanzen konkurrieren. Machtrelationen ergeben sich im Feld aus den technischen und rechtlichen Kompetenzen für Datenzugang und -analyse, die sich als „Informationskapital“ (Bourdieu 2014, S. 374) beschreiben lassen, das als symbolische Macht im und außerhalb des Feldes wirksam werden kann. Zur Illusio haben wechselnde, aber geteilte Feindbilder beigetragen, ebenso wie die häufig kooperative Aneignung von Techniken zur Überwachung neuer Kommunikationstechnologien: von der Überwachung drahtloser Telegrafie im Ersten und Zweiten Weltkrieg, über Satellitenüberwachung im Kalten Krieg hin zu Internetüberwachung im Wahrnehmungskontext terroristischer Bedrohungen.

Die Entwicklung des Sigint-Feldes seit Ende des Zweiten Weltkrieges bestätigt die Beobachtung einer Zunahme und Vertiefung transnationaler Ordnungsbildung im Sicherheitsbereich (Zürn et al. 2008, S. 105). Davon zeugt der Bedeutungszuwachs multilateraler Kooperationsmodi durch die Erweiterung bestehender und die Formierung neuer multilateraler Netzwerke sowie die Ausweitung gemeinsamer Praktiken innerhalb dieser Netzwerke. Aus dem 1946 formalisierten UKUSA-Abkommen wurden die Five Eyes (1948), im Kalten Krieg kamen die Sigint Seniors Europe (SSEUR, 1982) hinzu, während sich parallel das rein europäische Netzwerk Maximator (1976) formierte, sowie später die Sigint Seniors Pacific (SSPAC, 2005) (Tab. 1). Die Erweiterung und Vertiefung multilateraler Kooperationsformen ist bemerkenswert, weil ein informeller Bilateralismus im Feld als die bevorzugte Form gilt.

Tab. 1 Transnationale Sigint-Netzwerke (bi- und multilateral). (Quelle: Eigene Darstellung basierend auf NSA (2014b) und Jacobs (2020))

3.2 Akteure und Kooperationsmodi

Die Five Eyes bilden den engsten Zirkel der NSA als sogenannte Second Party Partners, zu denen neben der NSA die Sigint-Organisationen des Vereinigten Königreichs (Government Communications Headquarters, GCHQ), Kanadas (CSE, The Communications Security Establishment), Australiens (Defence Sginals Directorate, DSD) und Neuseelands (The Government Communications Security Bureau, GCSB) zählen. Im Laufe der Jahre haben sich unter den Five Eyes auch inländische und auf Humint fokussierte Dienste versammelt (Richelson und Ball 1990). Der Sigint-Verbund bleibt jedoch auch innerhalb des größeren Five Eyes-Netzwerks eine relativ eigenständige Einheit mit einer besonders eng verflochtenen Arbeitsweise. Diese besteht aus arbeitsteilig betriebenen Überwachungsstationen in geografischen aufgeteilten Weltregionen mit weitgehend automatisiertem Datenaustausch. In einem internen Dokument merkt die NSA an, dass es in manchen Fällen unmöglich sei „to tell where one partner’s work ends, and another’s starts“ (NSA 2014a). Dennoch gibt es auch unter Five Eyes kein absolutes No-Spy-Agreement und immer auch Informationen, die nicht geteilt werden (Deutscher Bundestag 2017, S. 451).

Zu den Second Party Partners kommen bi- und multilaterale Beziehungen der NSA zu Third Party Partners (Tab. 1). Auch diese Beziehungen sind relativ stabil, variieren jedoch im Hinblick darauf, wie eng Kooperationen ausgestaltet sind. Bestimmt wird die Nähe der Beziehungen durch historische und geopolitische Faktoren, aber auch durch infrastrukturelle, geografische Konstellationen und vorhandenes Informationskapital, also durch Sigint-spezifische Gegebenheiten. Die NSA selbst beschreibt Third Parties als Bereitsteller von „unique accesses, regional analytical expertise“ und „foreign language capabilities“ (NSA 2009). Für die Third Partys stellt die NSA hingegen häufig Technologien bereit und sei wegen ihrer „globalen Reichweite“ (ebd.) gefragt. Überwachungstechnologien bereitzustellen geht mit der Entwicklung einer gemeinsamen Expertise und Wissenstransfer einher, etwa in gemeinsamen Schulungen. Die Beziehungen zu Third Partys werden in Memorandum of Agreements (MOA) formalisiert, in denen sich die Dienste zusichern, sich nicht gegenseitig auszuspionieren. Gültigkeit mag diese Vereinbarung selektiv haben, etwa für die Regierungen und Organisationen des anderen Landes oder für konkrete gemeinsame Programme. Aber wie die NSA in einer internen Präsentation schreibt: „[w]e can, and often do, target the signals of most 3rd party foreign partners“ (Poitras et al. 2013).

Es ist davon auszugehen, dass es weltweit eine Reihe weiterer Sigint-Kooperationen gibt, aus denen ein transnationaler Raum sich überlappender Sigint-Netzwerke entsteht. Hinzu kommen gewiss die vielfältigen Kooperationen mit Inlands- und Humint-Diensten sowie Unternehmen. Sigint-Kooperationen besitzen jedoch eine unterscheidbare Qualität. Hierin besteht gerade der Feldeffekt: in den Anziehungskräften eines bestimmten, gemeinsamen Spiels.

3.3 Geteilte Geheimhaltung und die Third Party Rule

Es gibt eine Reihe konkreter Kriterien, um den Autonomiegrad eines Feldes zu beurteilen (Bourdieu 2001a, S. 349). Dazu gehören die Voraussetzungen für die Teilnahme (Eintrittsgrenzen) sowie die Sanktionierung des Regelbruchs. Für das Geheimdienstfeld gilt im Allgemeinen: Sicherheitsüberprüfungen machen es voraussetzungsvoll, ins Feld hinein zu kommen, während ein Regelbruch umso stärker mit Ausschluss sanktioniert wird. Das zeigt nicht zuletzt der Umgang mit Whistleblower:innen. Zu den Strukturmerkmale und Praktiken, die die transnationalen Autonomiegrade im Sigint-Feld befördern, gehören die besonderen Geheimhaltungsstufen von Kooperationen, die zumindest en détail nicht zwischen Regierungen, sondern zwischen Organisationen und einzelnen Abteilung ausgehandelt und umgesetzt werden – als compartmented bzw. abgeschirmte Operationen, wie es in der Feldsprache heißt.

Eine bedeutende und die transnationale Autonomie fördernde Spielregel der geheimdienstlichen Kooperation ist die Third Party Rule. Die Third Party Rule ist keine Rechtsnorm (Schöndorf-Haubold 2020, S. 25), sondern eine durch die Geheimdienste flexibel interpretierte Praxis, bei der Informationen nur unter Zustimmung des übermittelnden Dienstes an dritte Stellen weitergegeben werden. Eine flexible Interpretation bedeutet, dass Dienste untereinander in unterschiedlicher Intensität nachfragen und darüber verhandeln können, ob und welche Teile einer Information an wen weitergegeben werden dürfen. Nicht nur die Art der Information, sondern die Machtrelationen im Feld dürften dabei eine Rolle spielen. Über die genauen Verfahrensweisen in multilateralen Kooperationen, innerhalb derer sich Daten mehrerer Dienste zu Informationen verdichten können, ist wenig bekannt. Jedoch kann die Herausgabe von Informationen an Dritte noch leichter verweigert werden, wenn hier nach einem Konsensprinzip alle Beteiligten des Netzwerks einer Weitergabe zustimmen müssen (Wissenschaftliche Dienste 2020, S. 9). Wenngleich unter Vorbehalt des Übermittlers, läuft die „anerkannte Verhaltensregel“ (BVerfG 2016, Rn. 165) darauf hinaus, dass Feldexterne im Regelfall vom Informationsaustausch ausgeschlossen werden.

In die Sprache deutscher Behörden wurde die Third Party Rule mitunter als ein „Informationsbeherrschungsrecht“ (BVerfG 2016, Rn. 164) der übermittelnden Stelle übersetzt oder in der Wortwahl des Bundesinnenministeriums wie folgt bezeichnet: „Der oder die herausgebenden Staaten bleiben ‚Herren der Information‘ und behalten über die von ihnen herausgegebenen Informationen die Verfügungsbefugnis“ (Deutscher Bundestag 2019, S. 21). Herren der Information sind jedoch weniger souveräne Staaten als die Dienste selbst: die weltweit vernetzten Sigint Seniors, deren Zugänge und Weitergabeoptionen durch ihre Praxis und Positionen im transnationalen Feld mitbestimmt werden, etwa durch das zur Verfügung stehende Sozialkapital (Netzwerke) und symbolische Kapital (Anerkennung).

Durch den Datentausch unter dem Ausschluss feldexterner Akteure entsteht eine zwar ungleiche aber „geteilte Geheimhaltung“ (Bigo 2019) unter den Diensten, die eben keine nationale Souveränität abbildet, sondern im Gegenteil zu Spannungen zwischen transnationalen Solidaritäten und den Interessen anderer nationaler Sicherheitsbehörden führen kann. Das zeigen Diskussionen wie die um das Videomaterial des Attentäters Anis Amri, welches der BND von einem ausländischen Dienst erhielt, jedoch zunächst nicht an deutsche Ermittlungsbehörden weiterleitete (Flade und Steinke 2019). Solche öffentlichen Fälle sind gleichzeitig Anlässe der Problematisierung und der Legitimierung der Feldpraxis, weil die Dienste signalisieren können: Ohne die Third Party Rule werden wir solche Informationen nicht mehr bekommen. In der Praxis geht es aber um weit mehr als den ‚entscheidenden Tipp‘ bei Gefahr im Verzug, also punktuellen Informationsaustausch zur terroristischen Gefahrenabwehr. Es sind die gemeinsamen Praktiken der Dienste insgesamt, die sich durch den Verweis auf die Geheimhaltungsbedürfnisse des Partners äußeren Eingriffen und Kontrolle entziehen. Ein in Deutschland prominent gewordenes Beispiel ist die Verweigerung des BND und der Bundesregierung, dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss Einsicht in die von NSA und BND geteilten Suchbegriffe, die sogenannte Selektoren-Liste, zu gewähren (Smets 2016).

Die Third Party Rule hat funktionale Ähnlichkeiten mit dem ungeschriebenen Gesetz der omertà, der Verschwiegenheitspflicht der Mafia (Blok 1981). Beide befördern die Solidarität nach Innen und Abschottung nach Außen und werden so zum „strukturellen Bestandteil der Machtsphäre“ (ebd. S. 260). Die Nichteinhaltung der Third Party Rule im Sigint-Feld wird zwar nicht wie die omertà mit dem physischen Tod, aber im Zweifel mit Diskreditierung und Isolation im Informationstausch, also quasi mit professionellem Tod bestraft. Das Argument der Dienste lautet dann: Wenn ihr uns zu sehr kontrolliert, stellt ihr eure eigene Sicherheit aufs Spiel (ähnlich vgl. Kahl 2020, S. 158). In der Konsequenz werden kontrollierende Behörden und insbesondere parlamentarische Gremien in vielen Ländern mehr oder weniger explizit als Dritte definiert (Wetzling und Vieth 2019, S. 63). Die Third Party Rule institutionalisiert bestehende Kontrolllücken, die dadurch entstehen, dass Kooperationen sowie die Überwachung von Ausländer:innen im Ausland insgesamt kaum oder schwach reguliert sind. Wird aktiv nachgefragt, folgt häufig ein Verweis auf die Third Party Rule.

Die mit der Third Party Rule strukturell abgesicherte, geteilte Geheimhaltung generiert epistemische abgetrennte Räume der Wissenden und Unwissenden (Aradau 2017, S. 336). Die Glaubwürdigkeit der exklusiv Wissenden erhöht sich dabei, während Sichtweisen außerhalb dieses Raums leicht delegitimiert werden können. Dass Transparenzimperative zunehmend auf Geheimdienste übertragen werden, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade ein hoher Klassifizierungsgrad von Informationen mit symbolischer Macht einhergehen kann, der sich nicht nur Politiker:innen, sondern auch Journalist:innen und Forscher:innen nicht immer entziehen können.

4 Kontestation symbolischer Herrschaft: Von der Doxa zur Orthodoxie

Die digitalen Überwachungspraktiken der Five Eyes und ihrer Partnerdienste im Sigint-Feld wurden im Kontext von Edward Snowden und anderen Whistleblower:innen sichtbar und kritisierbar. Die entstehenden Formen der Kontestation wurden mitunter als digitale Dissidenz (Züger 2017), als internationaler ziviler Ungehorsam (Kamis und Schmetz 2019) oder auch als Teil einer neuen „Kunst der Revolte“ (De Lagasnerie 2016) beschrieben. Gleichzeitig blieb eine größere Protestbewegung als Reaktion auf die Snowden-Veröffentlichungen aus. Trotz einer Solidarisierung mit Snowden galt dies auch für die deutsche Netzbewegung (Ganz 2018, S. 266). Ein freies Netz schien angesichts der Five Eyes Programme wie „Mastering the Internet“ (MacAskill et al. 2013) kaum noch vorstellbar. Mehr noch trug zu einer gewissen Desillusionierung bei: Auf die neuartigen und transnationalen Formen der Kontestation folgte nicht der Rückbau oder die Sanktionierung der Überwachungspraktiken, sondern ihr Ausbau und ihre Legalisierung – eine Dynamik, die Félix Tréguer als „Snowden-Paradox“ (Tréguer 2017) beschrieben hat.

Um mit der Überwachungspraxis anderer Länder mithalten zu können, müssten die Kompetenzen aufgestockt werden – das war eines der Argumente, die die Dienste post-Snowden vorbrachten (Meister 2015). Das Snowden-Paradox mag durch die mit staatlicher Macht verflochtenen Herrschaftsformen und Dynamiken konkurrierender Dienste im transnationalen Feld plausibel erscheinen. Dabei stehen zu bleiben, würde jedoch dem tatsächlichen Diskurswandel nicht gerecht, der trotz und innerhalb des Paradoxes stattgefunden hat. Das Zusammenspiel von Kontestation und Legitimierung wird anhand der Inland-Ausland Unterscheidung näher betrachtet und feldanalytisch als Transformation einer spezifischen Doxa in eine Orthodoxie eingeordnet. Diese Transformation bedeutet nicht nichts, im Gegenteil. Indem das Schweigen der Doxa gebrochen wird, entsteht ein neuer Diskursraum, der vormals doxische in eine orthodoxe, also streitbare symbolische Herrschaft aufbricht.

4.1 Die Inland-Ausland Unterscheidung als Doxa massenhafter Überwachung

Die Ausübung symbolischer Macht und Herrschaft beginnt nicht mit unmittelbar spürbaren Eingriffen in individuelle Entscheidungsfreiheit, wie es handlungstheoretische und liberale Ideen von Freiheit nahelegen, sondern mit der Konstruktion legitimer Klassifikationen. Dazu gehören im Geheimdienstfeld die Produktion der Unterscheidungen von Sicherheit und Unsicherheit, Risiko und Nicht-Risiko oder verdächtigen und unverdächtigen Verhaltensmustern. Diese werden im Bereich Sigint zwar traditionell datenbasiert und algorithmisch vermittelt vorgenommen, aber unter der Anwendung neuer Technologien wie maschinellem Lernen rekonfiguriert (exemplarisch Aradau und Blanke 2018). Folgend wird die Unterscheidung zwischen inländischer und ausländischer Kommunikation thematisiert.

Unter der Inland-Ausland-Unterscheidung wird die im Sigint-Feld gängige Praxis verstanden, dass ausländische Kommunikation notabene im Ausland im Gegensatz zu Kommunikation, an der eigene Staatsbürger:innen beteiligt sind, kein oder ein deutlich niedrigeres Schutzniveau besitzt. (Para)Doxaweise handelt es dabei nicht um eine Unterscheidung, die Sigint-Dienste verschiedener Länder voneinander trennt, sondern um ein feldrelevantes Teilungsprinzip, das die Dienste verbindet. Massenhaft und weitgehend unkontrolliert erhobene Auslandsdaten gehören zur zentralen Währung der transnationalen Überwachungsökonomie des Feldes. Viele Kooperationen, darunter auch die im NSA-Untersuchungsausschuss aufgearbeitete Operation Eikonal (Deutscher Bundestag 2017, S. 887 ff.), basieren darauf, dass Auslandsdaten willkürlich erfasst und automatisiert weitergeleitet werden können. Nicht zufällig sind es häufig die Auslands- und nicht die Inlandsdienste, die über die Kompetenzen für massenhafte Überwachung verfügen, was Sigint-Diensten wiederum eine besondere Stellung im nationalen Feld der Sicherheitsbehörden verschafft. ‚Wir überwachen ja nicht unsere eignen Bürger:innen‘ diente zudem als Argument, um massenhafte Überwachung als Praxis in Demokratien überhaupt erst etablieren und legitimieren zu können. Die These lautet also, dass die Inland-Ausland Unterscheidung zur Doxa des Feldes gehörte, auf deren Grundlage sich die Rationalitäten und die transnationale Ökonomie massenhafter Überwachung herausgebildet haben.

Der hohe Grad der Verinnerlichung einer Doxa und ihrer Integration in die Praxis des Feldes wird auch in den eingangs zitierten Abwehrreaktionen der Geheimdienste sichtbar. Sie erleben den Anspruch, Grundrechtsschutz auf Ausländer:innen im Ausland auszudehnen als etwas, das sich völlig dem common sense ihrer Welt entzieht und sie vor ihren Kolleg:innen im Ausland blamiert. Genau das sind Eigenschaften einer Doxa: Auf ihr basieren zwar Formen der Herrschaft und Beherrschung, aber sie kommt gerade nicht in einem diabolischen Gewand oder als Zwangsmaßnahme daher. „Im allgemeinen [sic] sind die Herrschenden stumm“ (Bourdieu 2014, S. 327). Ihre Philosophie wird erst dann als solche sichtbar, „wenn man sie bedrängt, wenn man zu ihnen sagt: ‚Warum seid ihr, wie ihr seid?‘“ (ebd.). Erst im Nachhinein werden doxische Gegebenheiten – mitunter auch für Herrschende selbst – benennbar, wenn etwa der ehemalige NSA-Direktor Michael Hayden beschreibt:

… we [the NSA] have historically been Manichean about the rest of the world. Are you, or are you not protected by the Fourth Amendment to the US Constitution? Are you? Oh my God, we can’t touch you. Are you not? Game on! (Hayden 2015; zitiert in Smith Ochoa et al. 2020, S. 13)

Ähnlich salopp formulierte ein Siginter des BND: „Solange kein Grundrechtsträger betroffen ist, sind die [Daten] zum Abschuss freigegeben“ (Deutscher Bundestag 2014b, S. 44). Die Doxa als Teil des praktischen Sinns des Feldes basierte auf der Unterscheidung zwischen In- und Ausland, die durch den Objektsinn (Burri 2008), die Transnationalität des Netzes, zwar herausgefordert, aber nicht aufgehoben wurde. Die für das Internet charakteristische Form der Datenübermittlung in Paketen, bei der zum Beispiel eine E‑Mail beim Versand zerstückelt und über unvorhersehbare geografische Routen geleitet wird, erschwert eine Unterscheidung zwischen in- und ausländischer Kommunikation. Anhand der Vorwahl +49 war etwa bei der Telefonüberwachung klar, dass sich Kommunizierende in Deutschland befinden. Die Architektur des Internets unterläuft eine reine Trennung von In- und Ausland. Es reicht jedoch nicht, schlichtweg die Auflösung der Unterscheidung durch infrastrukturelle Bedingungen zu konstatieren. Es müssen auch die technologischen Praktiken in den Blick genommen werden, die entwickelt wurden, um die Unterscheidung beizubehalten. Während der BND zunächst algorithmische Filter mit manueller Überprüfung kombinierte, setzen die Dienste zunehmend auf stärker automatisierte Techniken, auch maschinelles Lernen. Die kommunikativen Beziehungen bestimmen hierbei, ob Überwachungssubjekte Grundrechtsschutz erhalten oder ‚fair game‘ sind. Traditionell staatliche Rationalitäten des jus loci (Territorialität) oder des jus sanguinis (Abstammung) als legitime Konstitutionsprinzipien von Bürgerschaft wird im Feld der Geheimdienste abgelöst von jus algoritimi (Kommunikationsverhalten) (Cheney-Lippold 2016). Dieses Beispiel zeigt, wie im transnationalen Sigint-Feld staatliche Macht gleichzeitig re-produziert, aber auch transformiert wird.

Anders als es das geläufige Narrativ der Extraterritorialität des Netzes und transnationaler Ordnung nahelegt, ging die Verlagerung der Kommunikation von Satelliten auf Internetkabel auch mit einer Reterritorialisierung digitaler Überwachung einher. Um bestimmte ausländische Kommunikationen zu erfassen, benötigten Dienste Zugang zu Kabeln im Inland, über die Kommunikation in einer Art und Weise geleitet wurde, die eine Trennung von ausländischer Kommunikation fast unmöglich machte. Die Transnationalität der Übermittlungstechnik im Netz irritierte die doxische Unterscheidungen von In- und Ausland, die die Dienste mit neuen Techniken und neuen Rechtsinterpretation versuchten wiederherzustellen. Feldexternen erschienen diese in ihrer Willkürlichkeit: Dass der BND über deutsche Kabel geleitete Kommunikation als „virtuelles Ausland“ (Krempl 2017) definierte, oder der britische GCHQ Facebook-Nachrichten per se als ‚extern‘ überwachte, weil es sich um eine virtuelle Plattform handelte (King 2016, S. 22).

4.2 Von der Doxa ins Universum der Diskurse

Die doxische Symmetrie kognitiver und objektiver Strukturen, auf deren Basis die Ausland-Inland Unterscheidung vormals im Feld funktionierte, wurde nicht nur durch den Objektsinn des Netzes aufgebrochen, sondern ebenso durch diplomatische und juristische Diskurse, die sich im Anschluss an die Snowden-Veröffentlichung auf transnationaler Ebene entwickelten. In den Jahren 2013 und 2014 richteten sich zunächst alle Augen auf die NSA und ihre Five Eyes Partner. Die massenhafte Überwachung ausländischer Kommunikation erschien hier noch nicht als das, was sie auch war, nämlich die Doxa eines transnationalen Feldes, sondern als amerikanischer Imperialismus. Vorangetrieben durch eine deutsch-brasilianische Initiative, in die eine Reihe weiterer Regierungen sowie NGOs involviert waren, formierte sich ein erster offizieller heterodoxer Diskurs, der die Doxa zu Orthodoxie machte: Es wurde eine UN-Resolution zum „Right of Privacy in the Digital Age“ auf den Weg gebracht, welche die Inland-Ausland Unterscheidung durch die Sprache der Menschenrechte und Universalität herausforderte (Guild 2019). Dabei wurden zur Überwachung freigegebene Datensubjekte als im internationalen Recht verankerte Datenbürger:innen rekonfiguriert (ebd., S. 281). Aufgegriffen wurde diese Sprache der Menschenrechte von der Obama-Regierung in der „Presidential Policy Directive 28“, auf deren Grundlage Sigint-Regeln formuliert wurden, die unabhängig von der Nationalität gültig sein sollen (President of the United States 2014).

Ein entscheidender Moment in der deutschen Debatte zur Inland-Ausland Unterscheidung war die Konfrontation zweier Felddiskurse in der ersten öffentlichen Sachverständigen-Anhörung des NSA-Untersuchungsausschusses im Mai 2014. Die von BND und Bundesregierung geteilte Interpretationen wurde hier mit der verfassungsrechtlichen Deutung konfrontiert, laut der das Fernmeldegeheimnis weder an Staatsbürgerschaft noch prinzipiell territorial gebunden sei. Es hieß: „Artikel 10 schützt als Menschenrecht“ (Papier in Deutscher Bundestag 2014a, S. 6 f.). Trotz der öffentlichkeitswirksamen Infragestellung durch die Verfassungsrechtler behielt die BND-Reform im Jahr 2016 die Inland-Ausland Unterscheidung bei, indem sie sie weiter auffächerte. Zumindest europäische Kommunikation sollte mehr Schutz als bisher erhalten.

Die fortbestehende Diskrepanz zwischen der geheimdienstlichen und verfassungsrechtlichen Sichtweise wurde zur Grundlage der Verfassungsklage deutscher Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen, die internationale Journalist:innen rekrutierten, um die Betroffenheit von extraterritorialer Überwachung herzustellen (Gesellschaft für Freiheitsrechte 2018). Die resultierende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den BND-Sigint Praktiken im Ausland stellt erstmals rechtskräftig fest, dass auch die Überwachung von Ausländer:innen im Ausland einen Grundrechtseingriff darstellt (BVerfG 2020, Ls. 1–2). Die Vorgaben des Urteils zu den Regeln digitaler Überwachung und ihrer Kontrolle können als überraschend detailliert und weitrechend gelesen werden. Anhand von drei Beispielen soll gezeigt werden, warum die Inland-Ausland Unterscheidung mit dem Urteil und der folgenden BND-Reform dennoch nicht aufgehoben, sondern zu einer neu verrechtlichten und legitimierten Orthodoxie wird.

Erstens erklärt das Urteil ein unterschiedliches Schutzniveau im In- und Ausland nicht nur für zulässig, sondern begründet dieses gleich rechtstheoretisch mit, sodass im Ergebnis die Logik des Rechts zur praktischen Logik des Feldes passt. Eine Benachrichtigungspflicht über vorgenommene Überwachung, wie sie für deutsche Staatsbürger:innen vorgesehen ist, sei im Ausland etwa nicht zwingend notwendig (BVerfG 2020, Rn. 269) – vor allem ist sie aber auch aus Sicht der Nachrichtendienstler:innen nicht praktikabel. Aus einer ebenfalls rechtstheoretischen Perspektive ließe sich entgegnen, dass die nun auch Ausländer:innen zugestandenen Abwehrrechte gegenüber Überwachung nur dann etwas nützen, wenn diese auch geltend gemacht werden können. Für die Aufrechterhaltung der Unterscheidung steht zweitens, dass für die Kontrolle der Ausland-Ausland-Überwachung eigens ein Gremium geschafften wird, anstatt auch diesen Teil der Überwachung entweder in bestehende Kontrollstrukturen zu integrieren oder in einer neuen Struktur zu bündeln (Wetzling und Moßbrucker 2020, S. 2). Drittens wird das Prinzip eines automatisierten Tauschs von Auslandsdaten rechtlich legitimiert, sofern die Tauschmasse stärker als bisher kontrolliert wird (BVerfG 2020, Ls. 7, Rn. 262, 323).

Das Urteil greift die bisherigen Kontrollhindernisse durch die Third Party Rule auf (ebd. Rn. 32, 51) und führt aus, dass die zukünftige Kontrolle von Sigint nicht durch die Third Party Rule verhindert werden dürfe (ebd. Rn. 292 ff.). Diese Vorgabe hatte allerdings mit der Umsetzung in der BND-Reform den Effekt, die Kontrolle weiter dem parlamentarischen Raum zu entziehen. Bestehende Kontrollinstitution wie der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI) und das parlamentarische Kontrollgremium bleiben Third Parties, während der neu geschaffene Unabhängige Kontrollrat als ein von der „Third-Party-Rule unabhängig agierende[s] Kontrollorgan“ (Deutscher Bundestag 2021, S. 50) aufgestellt wird. Der Kontrollrat wird eingeweiht, muss aber gegenüber der parlamentarischen Kontrolle schweigen (ebd., S. 100). Die Alternative, bereits zuständige Datenschutzbehörden mit der Kontrolle zu betrauen, wurden abgelehnt: „This, they argued, would be detrimental to international intelligence sharing because of significant reservations and concerns voiced by Germany’s main intelligence partners“ (Guild und Wetzling 2021).

Dem juristischen Feld kommt bei der Transformation der Doxa in die Orthodoxie eine besondere Rolle zu (Bourdieu 2014, S. 450). Ausgestattet mit entsprechenden materiellen und symbolischen Ressourcen bringt die juristische Arbeit die rechte Sichtweise performativ mit hervor und kann gleichzeitig die Definitionen anderer sozialer Welten als unrecht zurückzuweisen (Bourdieu 2015a, S. 331). Mit Klagekollektiven (Hahn und Von Fromberg 2020) sind neue Organisationsweisen entstanden, die symbolische Macht des Rechts für Kontestation zu mobilisieren und im Ergebnis neue Orthodoxien mitproduzieren können. Die Betrachtung von Richter:innen als „last institutional resort against large-scale surveillance“ (Tréguer 2017, S. 25 f.) scheint jedoch insofern verfehlt, als dass mit dem Urteil die Legitimität massenhafter Überwachung insgesamt als Orthodoxieprinzip verankert wird. Die Inland-Ausland Unterscheidung wird durch das Urteil und insbesondere mit der Auslegung des Urteils in der BND-Reform nicht verworfen, sondern so modifiziert, dass massenhafte Erhebung und Tausch weiterhin gut funktioniert.

5 Diskussion und Reflexion

Dieser Beitrag hat sich digitaler Geheimdienstüberwachung über die Charakterisierung ihres sozialen Raums genähert, der sich im Sinne Bourdieus als transnationales Feld beschreiben lässt. Mit dieser Feldperspektive lassen sich Dynamiken beobachten, die anschlussfähig an aktuelle Debatten zu transnationaler Ordnungsbildung, Herrschaft und ihrer Kontestation in der digitalen Konstellation sind.

Das Sigint-Feld ist ein Beispiel für transnationale Herrschaft, die nicht besonders prekär oder schwach autonom, sondern relativ stabil ist. Diese Stabilität verweist jedoch gerade nicht auf eine demokratische Legitimität. Die regelsetzenden Dynamiken des transnationalen Feldes gehen mit Defiziten der parlamentarischen Kontrolle einher, die der Problembeschreibung eines inter-ministeriellen „executive multilateralism“ (Zürn 2004, S. 264) ähneln. Anders als bei einem exekutiven Multilateralismus handelt es sich bei dem transnationalen Multilateralismus der Geheimdienste jedoch nicht um gewählte Repräsentant:innen. Die Feldperspektive macht zudem darauf aufmerksam, dass der Multilateralismus des Sigint-Feldes nicht mit einem kooperativen und prozeduralen Steuerungsmechanismus gleichzusetzen ist, sondern mit der Herausbildung einer professionellen Eigenrationalität einhergeht. Was im Rahmen von Feldrationalitäten ausgehandelt wird, bleibt jedoch nicht im Feld. Die von Sigint-Diensten ausgemachten Regeln „globaler Massenüberwachung“ bezeichnete Mann (2018) als die „dunkle Seite“ (S. 153) von Anne-Marie Slaughters Vorstellungen einer disaggregated sovereignty – nicht nur, weil die Regeln sich demokratischer Selbstbestimmung entziehen, sondern weil sie beeinflussen, wie Regierungen ihre Gesetze und Verfassungen interpretieren (ebd., S. 130). Es besteht nicht aufgrund einer Anomie (Friedel 2020), also schwacher oder fehlender Ordnungen, ein Demokratieproblem im Bereich digitaler Überwachung, sondern aufgrund von Autonomie, also eigengesetzlicher Ordnungen, die in demokratische Institutionen hineinwirken. Felder sind gerade keine abgeschlossenen, sondern miteinander verflochtene Räume.

Der Feldzugang ermöglicht die Analyse der von Regierungen relativ unabhängigen, regelsetzenden Macht von Geheimdiensten und ihren potenziell anti-demokratischen Tendenzen, ohne dabei auf die Idee eines ‚tiefen Staates‘ zurückgreifen zu müssen. An die Stelle eines verschwörungsmythologisch besetzten und mittlerweile rechtspopulistisch gekaperten Begriffs des ‚deep state‘ tritt der Begriff der transnationalen Autonomie eines professionellen Feldes. Die Konzeption von Feldern, in denen es im Gegensatz zu Apparaten (Althusser) oder Systemen (Luhmann) Kämpfe und Widerstände, „also Geschichte“ (Bourdieu und Wacquant 1996, S. 133) gibt, richtet sich ganz explizit gegen das „Phantasma von der Verschwörung, die Idee, daß [sic] ein dämonischer Wille hinter allem steckt, was in der sozialen Welt geschieht“ (ebd.). Die Abkehr von einer funktionalistischen Sicht hat Konsequenzen für das Nachdenken über Herrschaft. Nicht nur das beherrscht sein, auch die Ausübung von Herrschaft ist mit internen Kämpfen und Widerständen verbunden und mit nicht-intendierten und mitunter prä-reflexiven Dynamiken unterlegt. Transnational vernetzte Geheimdienste sind weder eine orwellsche Machtinstanz noch eine heroische Allianz zur Verteidigung unserer Sicherheit – weder deus noch diabolus in machina (ebd., S. 22).

Zeitgenössische Formen digitaler Überwachung gehen weder allein aus der Logik digitaler Kommunikation noch aus der Natur einer bestimmten Bedrohung hervor. Sie sind auch das Produkt von Auseinandersetzungen und Differenzierungsprozessen sozialer Felder, in denen soziotechnische Deutungen ausgehandelt, als legitim durchgesetzt und somit als symbolische Macht wirksam werden. Symbolische Herrschaft lässt sich in ihrer Zeitlichkeit und Historizität lesen, die doxische (unbestrittene) und orthodoxe (umstrittene) Formen annehmen kann. Doxische Herrschaft beschreibt symbolische Verhältnisse, in der Politisierung zunächst nicht möglich ist. Dynamiken der Politisierung und Depolitisierung (Haunss und Hofmann 2015) setzen erst dann ein, wenn das Schweigen der prä-reflexiven Doxa gebrochen ist. Es sind aber gerade auch diese vorpolitischen Zustände, die herrschaftsrelevant und das Produkt einer verkannten Macht sind, die zwar sanft wirkt, aber nicht als Ausdruck der Anziehungskraft einer wertebasierten soft power (Nye), sondern über die Ausübung einer symbolischen Gewalt, die kategorisiert und ausschließt.

Im Kontext anderer Digitalisierungsdebatten, in denen viel über die Macht sozialer Netzwerke, Desinformation und die Manipulierbarkeit von Meinungen nachgedacht wird, irritiert dieser Verweis auf die Stille von Herrschaft zunächst. Dass Herrschaft nicht nur, aber auch über die Abwesenheit von Diskursen funktioniert, gilt nicht nur für Geheimdienste. So konnte sich auch der Überwachungskapitalismus von Google und Facebook vor allem auf der Basis einer lang stillschweigenden Akzeptanz und habitualisierter Formen der Datenproduktion herausbilden. Insbesondere auch algorithmische Ordnungsbildung (Katzenbach und Ulbricht 2019) und Kommunikationsinfrastrukturen insgesamt (Hofmann 2020) gehen mit Verkennungseffekten einher, die mit symbolischer Macht verknüpft sind. Von Bourdieu können wir lernen: Die Verkennung von Herrschaft und ihrer Kontingenz ist die allerbeste Voraussetzung dafür, dass sie funktioniert.

Daran schließt die Frage an, wie und unter welche Bedingungen verinnerlichte Formen der Herrschaft nun aufgebrochen werden können. Das sind zwar vor allem Krisen, aber auch die Konfrontation der Diskurse verschiedener Felder, die besonders die feldspezifischen Varianten der Doxa enttarnen. Nicht zuletzt ist auch ein reflexiver Bruch mit der Doxa zwar voraussetzungsvoll, aber möglich. Den Bruch mit der Doxa vollziehen bei Bourdieu (2014) jedoch vor allem Soziolog:innen, die mit dem common sense ihrer Untersuchungsobjekte brechen und so die Doxa „zerstören“ (S. 212). In diesem Punkt wendet sich der Beitrag entschieden gegen Bourdieus „Unterschätzung der Akteure und (…) Überschätzung der kritischen Sozialwissenschaften“ (Celikates 2009, S. 95). Nicht nur die Soziologie und Krisen, sondern auch auf heteronome Konfrontation und Irritation ausgerichtete Praktiken können doxischen Formen der Herrschaft etwas entgegensetzen. Das Schweigen der Doxa zu brechen ist damit nicht als ein rein intellektueller oder zufälliger Akt, sondern auch als politischer Akt der Kontestation und potenziell emanzipatorische Praxis zu verstehen.