1 Einleitung

Das Bundeskriminalamt (BKA) klagt über „Prozesshansel“, und meint damit die Akteur*innen einer Verfassungsbeschwerde gegen das BKA-Gesetz.Footnote 1 Andernorts beschwert sich ein Kommunalpolitiker über „Menschenrechtsfundamentalismus“.Footnote 2 Zudem wird vor einer menschenrechtlichen „Klageindustrie“ „unter dem Deckmantel der Gemeinnützigkeit“ gewarnt (Bomsdorf und Blatecki-Burgert 2020, S. 45).

Immer wieder im Fokus dabei: strategische Prozessführung zu rechtspolitisch umstrittenen Themen. Neben Menschenrechtsverstößen deutscher Unternehmen im Ausland (Bader et al. 2019) adressieren solche Prozesse auch mögliche Rechtsverletzungen des deutschen Staats im Inland. Beispiele sind die Verfassungsbeschwerden für ambitioniertere Klimaziele (Graser 2019a) oder die Anerkennung der Geschlechtsangabe „inter/divers“ im Geburtenregister (Niedenthal 2016). Andere wenden sich gegen den „Pflegenotstand“ (Helmrich 2017a) oder die Aussetzung des Familiennachzugs für Geflüchtete mit subsidiärem Schutzstatus (Kessler 2018). Solche strategischen Verfahren kennzeichnet, dass sie nicht von einzelnen NGOs, sondern von einem Netzwerk aus Betroffenen und Expert*innen durchgeführt werden – einem Klagekollektiv (Hahn 2019, S. 19 ff.). Dessen Protagonist*innen werden mitunter als Interessenvertreter*innen wahrgenommen und strategische Klagen in der Folge als Form der Interessendurchsetzung kritisiert (Wegener 2019). In diesem Sinne positioniert sich auch der neu gegründet „NGO Observer“ des Prometheus Instituts, der zivilgesellschaftliche Organisationen aufführt, deren Aktivitäten und Kommunikation vermeintlich „den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden“Footnote 3. Rechtspolitische Konsequenzen einer solchen Rhetorik zeigen sich aktuell in Ungarn. Dort verpflichtete ein sogenanntes „Transparenzgesetz“ NGOs zur Offenlegung von Finanzierung aus dem Ausland, um die vermeintliche Einflussnahme von ausländischen Interessengruppen aufzudecken – eine pauschale Stigmatisierung von NGOs und ein Verstoß gegen europäische Grundrechte, wie der Europäische Gerichtshof jüngst entschied (EuGH, 18. Juni 2020 – C‑78/1, Kommission/Ungarn (Transparence associative)).

In diesen Entwicklungen und Debatten geht unter, welche rechtsstaatlichen und demokratietheoretischen Chancen strategische Prozessführung birgt. Der folgende Beitrag argumentiert, dass strategische Prozessführung die effektive Kontrolle staatlicher Machtausübung fördert.

Aufbauend auf der Beobachtung zunehmender Kontrolldefizite im demokratischen Rechtsstaat (dazu 2.) untersucht der Beitrag die Kontrollfunktion von strategischer Prozessführung mit dem analytischen Konzept von „Watchdogs“ (dazu 3.). Als „Watchdogs“ bezeichnet die politikwissenschaftliche Literatur zivilgesellschaftliche Initiativen, die Transparenz und Öffentlichkeit als Mittel der Kontrolle einsetzen. Der Beitrag überträgt das Konzept auf Klagekollektive, die Gerichtsverfahren als Instrument der Kontrolle nutzen. Mit dieser neuen Lesart lassen sich die rechtsstaatlichen und demokratietheoretischen Funktionen strategischer Prozessführung aufzeigen (dazu 4.). Durch die Verbindung des politikwissenschaftlichen Watchdog-Konzepts mit rechtswissenschaftlichen Argumenten soll ein Beitrag zur interdisziplinären Forschung um die Rolle von Zivilgesellschaft bei der Mobilisierung von Recht geleistet werden.

2 Kontrolldefizite und Kompensation durch zivilgesellschaftliche „Watchdogs“

Im demokratischen Rechtsstaat sind vielfältige Mechanismen für die Kontrolle staatlicher Macht vorgesehen (Speth 2018, S. 205 ff.). Dass diese Kontrollmechanismen Lücken aufweisen, wird schon lange unter Stichworten wie „Legitimationsdefizite politischer Systeme“ (Kielmansegg 1976) und „Postdemokratie“ (Crouch 2012) diskutiert und als eine Erosion demokratischer Strukturen diagnostiziert (Merkel 2015). Entwicklungen wie die Regulierung der Finanzwirtschaft im Mehrebenensystem oder die Veränderung staatlicher Tätigkeit im Zuge der Digitalisierung haben den Bedarf nach einer Kontrolle von legislativem und exekutivem Handeln noch erhöht (Speth 2018, S. 207). Hier setzen sogenannte „Watchdogs“ an, deren Tätigkeit gerade darauf gerichtet ist, staatliche Machtausübung auch in komplexen Feldern zu kontrollieren.

Charakteristisch für zivilgesellschaftliche Watchdogs ist, dass sie auf ein Thema spezialisiert sind und ihre Expertise einsetzen, um staatliches Handeln in ihrem Feld zu beobachten und Missstände aufzudecken (Speth 2018, S. 207). Maßstab für ihre Bewertungen können gesellschaftliche Werte oder politische Versprechungen, aber auch rechtliche Verpflichtungen sein. Ihre Tätigkeit ist nicht auf nationalstaatliche Handlungsräume beschränkt. Sie informieren vielmehr über „Machtstrukturen und Einflussstrategien in Deutschland und der EU“ (so Lobbycontrol)Footnote 4 oder begleiten kritisch die Umsetzung von europäischem Recht in den Mitgliedsstaaten (Freise und Menzemer 2018). Trotz unterschiedlicher Foren, Themen und Methoden verbindet Watchdog-Organisationen, dass ihre Arbeit eine ausgeprägte Kommunikationsebene hat. Ihr zentrales Handlungsinstrument ist die Herstellung von Öffentlichkeit – auch jenseits nationalstaatlicher Grenzen (Speth 2018, S. 206). Watchdogs verfolgen eine Strategie des Agenda-Settings im doppelten Sinne: erstens kurzfristig durch die punktuelle Skandalisierung akuter Problemlagen und zweitens langfristig durch das Schaffen kontinuierlicher Aufmerksamkeit für ein Thema (Schiffers 2018, S. 61).

Beispiele von Watchdog-Organisationen zeigen, dass ihre Tätigkeit vor allem Defizite im Bereich der Legislative und der Exekutive adressiert. Im legislativen Bereich setzen sich Lobbycontrol und der Verein „abgeordnetenwatch.de“ für mehr Transparenz ein, beispielsweise durch Offenlegung der Einkommensverhältnisse der Parlamentarier*innen.Footnote 5 Die Plattform „FragDenStaat.de“ engagiert sich für mehr Transparenz von behördlichem Handeln. Mittels Anfragen nach Informationsfreiheitsgesetzen von Bund und Ländern veröffentlicht die Initiative „zentrale Informationen der Demokratie“Footnote 6. Damit reagiert sie auf einen Umstand, mit dem die Gesetzgeberin schon die Einführung des Informationsfreiheitsgesetzes begründet hatte: Angesichts gestiegener Handlungsspielräume der Exekutive können behördliche Entscheidungen überhaupt nur dann überprüft werden, wenn Informationen über die Entscheidungsgrundlagen vorliegen (BT-Drs. 15/4493 S. 6).

Dass zivilgesellschaftliches Engagement staatliches Handeln kritisch begleitet, ist an sich nicht neu. Das Besondere an Watchdogs ist aber nach Speth (2018, S. 208), dass die Kontrollfunktion nicht mehr nur eine von mehreren Tätigkeiten einer NGO darstellt und in ihren Aufgabenkatalog integriert ist. Kontrolle wird vielmehr von eigens dafür gegründeten Organisationen als Hauptzweck betrieben.

Um diesen Kontrollzweck glaubhaft erfüllen zu können, müssen Watchdogs laut Speth (2018, S. 208) als Vertreter*innen öffentlicher Interessen auftreten und eine Distanz zum politischen System wahren. Dies setze eine doppelte Unabhängigkeit voraus: zum einen von privaten und parteipolitischen Interessengruppen, zum anderen von politischen Entscheidungsforen und staatlicher Finanzierung. Ein Beispiel hierfür ist die Initiative Lobbycontrol, die auf Finanzierung von Unternehmen und staatlichen Stellen verzichtet und ihre Verbindungen mit Dritten offenlegt.Footnote 7

3 Klagekollektive als zivilgesellschaftliche „Watchdogs“

Können auch von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen strategisch angestoßene Gerichtsverfahren gegen staatliche Stellen die so beschriebene Kontrollfunktion erfüllen? Die Antwort hängt mit dem Begriffsverständnis von „strategischer Prozessführung“ zusammen. „Strategische Prozessführung“ ist nach der hier vertretenen Ansicht ein kollektiver Modus der Mobilisierung von Recht (3.1.), durch den Barrieren individueller Mobilisierung überwunden werden können (3.2.). Eine in diesem Sinne strategische Prozessführung ist auch auf die formale Kontrolle staatlicher Gewalt gerichtet und erfüllt somit eine Watchdog-Funktion (3.3.).

3.1 Strategische Prozessführung als kollektiver Modus der Mobilisierung von Recht

Der Begriff „strategische Prozessführung“ wird in der Rechtspraxis seit Längerem verwendet und ist inzwischen auch Gegenstand wissenschaftlicher Analysen. Begriffsnäherungen beginnen häufig bei dem englischsprachigen Begriff „strategic litigation“, was auf dessen Ursprünge im US-amerikanischen Kontext und in internationalen Menschenrechtsbewegungen hinweist (Kaleck 2019, S. 21; Helmrich 2017a, S. 238). Im Kern der aufkommenden terminologischen Diskussion stehen die Fragen, ob und wie der Praxisbegriff wissenschaftlich operationalisiert werden kann, und was ein Gerichtsverfahren „strategisch“ macht. Eine einheitliche wissenschaftliche Definition fehlt bislang.

Die begrifflichen Kontroversen (Graser und Helmrich 2019; Müller 2019; Fischer-Lescano 2019) lassen sich unter anderem mit dem Fokus vieler Definitionen auf die ausdrücklichen oder zugeschriebenen Ziele von Prozessführung erklären. Wenn aber das Anstreben eines politischen und sozialen Wandels jenseits des juristischen Einzelfalls das entscheidende Charakteristikum strategischer Klagen sein soll, schließen sich weitere Definitions- und Abgrenzungsfragen an: Was unterscheidet rechtlichen, politischen und sozialen Wandel? Was genau meint „Protest“ mit Mitteln des Rechts? Um strategische Prozessführung für eine wissenschaftliche Analyse operationalisierbar zu machen, folgen wir einem anderen Ansatz: Strategische Prozessführung kann danach nicht alleine über die verfolgten Ziele, sondern muss auch über die Art und Weise verstanden werden, in der Recht mobilisiert wird (Hahn 2019). Strategische Prozessführung definiert sich demnach über die Merkmale Strategie, Taktik und Klagekollektiv.

Das Kriterium Strategie beschreibt, dass der einzelne Prozess nur ein Baustein in einer langfristigen Agenda ist. Mit dem Kriterium Taktik lässt sich greifen, dass systematisch juristische Mittel und insbesondere Prozessführung als Methode gewählt werden, um die Agenda zu fördern. Die Prozesstaktik kann darin bestehen, ein einziges, aber besonders typisches Musterverfahren zu führen. Sind viele Personen in ähnlicher Weise betroffen und klagebefugt, kommen Massenverfahren in Betracht. Maßnahmen wie Presse‑, Bildungs- und Lobbyarbeit werden flankierend eingesetzt.

Das Kriterium Klagekollektiv meint schließlich, dass in strategischen Prozessen Individuen und Organisationen mit unterschiedlichen Erfahrungsschätzen und komplementärer Expertise zusammenarbeiten (Hahn 2019, S. 19 ff.). Die Beschreibung als Klagekollektiv beruht auf der empirischen Beobachtung, dass komplexe Prozesse in der Regel nicht von einzelnen natürlichen oder juristischen Personen geführt werden, sondern von einem Zusammenschluss mehrerer Akteur*innen. Sie bilden in allen Phasen der gerichtlichen Konfliktlösung eine Unterstützungsstruktur (Epp 1998, S. 3 ff.), die Recht thematisiert, Gerichte mobilisiert und die Umsetzung gerichtlicher Entscheidungen einfordert. Sie fungieren somit als Mobilisierungs- und Implementationsakteur*innen (Gawron und Rogowski 2007, S. 33) und „Umsetzungsarm“ von Gerichten (Epp 2008, S. 602).

Ein solches arbeitsteiliges Zusammenwirken ist in allen eingangs erwähnten Beispielen zu beobachten: An den Verfassungsbeschwerden für ambitioniertere Klimaziele sind Klimaaktivist*innen und mehrere Umweltschutzorganisationen beteiligt.Footnote 8 Dass das Fehlen eines dritten Geschlechtseintrags „inter/divers“ Menschen ohne binäre Geschlechtsidentität in ihren Grundrechten verletzt, wurde erfolgreich von einer klagenden Person mit Unterstützung der Kampagnengruppe „Dritte Option“ in einer Verfassungsbeschwerde vorgetragen (BVerfGE 147, 1 ff.; Niedenthal 2016). Die Pflegeverfassungsbeschwerden wurden von sieben „Musterklägern“Footnote 9 mit Unterstützung des Sozialverband VdK und Fachexpertise aus der Wissenschaft erhoben (Helmrich 2017b). Die Organisation JUMEN initiierte die Klagen zum Familiennachzug und begriff dabei Netzwerkarbeit mit Anwält*innen, Beratungsstellen, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Wissenschaftler*innen und Law Clinics als essentiellen Bestandteil ihrer Arbeit (Kessler und Borkamp 2019, S. 78). In all diesen Fällen entstanden Klagekollektive schon bei der Planung eines Gerichtsverfahrens. Mitunter erheben zivilgesellschaftliche Organisationen sogar selbst Verfassungsbeschwerde und rufen Bürger*innen auf, sich ihnen mit „Massenverfassungsbeschwerden“ anzuschließen (Thierse 2020).

In anderen Fällen setzen Gerichtsentscheidungen den Impuls für die strategische Begleitung und Organisation des weiteren Rechtswegs. Ein Beispiel hierfür ist das Strafverfahren von Dr. Kristina Hänel. Ihre Verurteilung wegen verbotener „Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft“ (§ 219a StGB) führte zu scharfer Kritik aus der Wissenschaft (Lembke 2017) und Solidarisierung seitens der Zivilgesellschaft.Footnote 10 Im Rechtsmittelverfahren wurde die Ärztin mit Fachstellungnahmen unterstütztFootnote 11 und eine Anlaufstelle eingerichtet, an die sich weitere von Anzeigen betroffene Ärzt*innen wenden können.Footnote 12

In all diesen Beispielen ist jeweils ein ähnliches Set von Akteur*innen vertreten. Aus dieser Beobachtung können eine typische Zusammensetzung und Rollenverteilung eines Klagekollektivs abgeleitet werden. Das Klagekollektiv besteht aus allen Akteur*innen, die an Strategie und Taktik des Prozesses mitwirken. Dies sind zunächst – wie in gewöhnlichen Rechtsstreitigkeiten – (1) die Kläger*innen als klagende oder beklagte Partei bzw. Angeklagte im Strafverfahren und (2) ihre Anwält*innen. Typischerweise arbeiten sie mit (3) Fachexpert*innen und (4) Unterstützer*innen zusammen. Die Fachexpert*innen können Wissenschaftler*innen sein, aber auch NGOs mit einem thematischen Schwerpunkt, bei den Klimaklagen etwa Greenpeace, der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) oder die Deutsche Umwelthilfe (DUH). Hinzu kommt (5) eine Koordinationsstelle. Als solche fungieren seit einigen Jahren vermehrt Prozessführungs-NGOs, die sich auf strategische Klagen spezialisiert haben. Beispiele sind das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), das Büro zur Umsetzung von Gleichbehandlung (BUG), der Verein Juristische Menschenrechtsarbeit Deutschland (JUMEN), die Organisation ClientEarth oder die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF). Diese Prozessführungs-NGOs vermitteln zwischen den anderen Akteur*innen, indem sie Prozesse initiieren und die Zusammenarbeit koordinieren.

Idealtypisch können somit fünf Rollen unterschieden werden, die besetzt sein müssen, damit möglichst komplementäre Erfahrungsschätze und Wissensbestände in ein Gerichtsverfahren getragen werden. Wie eng die Bindung zwischen den Akteur*innen ist und wann es sich um eine punktuelle Kooperation, wann um eine mittelfristige Koalition und wann sogar um eine nachhaltige soziale Bewegung handelt, bedarf weiterer Forschung. Die Idee von Klagekollektiven kann dabei als Ausgangspunkt dienen. „Kollektivität“ als übergreifende Ordnungsfigur erlaubt den Blick auf Struktur und Inhalt kollektiven Handelns – mit all seinen graduellen Verfestigungsformen und komplexen Beziehungsgeflechten.

3.2 Überwindung rechtlicher Mobilisierungsbarrieren durch Klagekollektive

Klagekollektive stellen, wie gezeigt, die Infrastruktur für aufwendige Gerichtsprozesse bereit. Erst durch das gemeinsame Zusammenwirken wird die systematische Kontrolle staatlicher Stellen möglich. Denn es gilt, eine Reihe von subjektiven und objektiven Hürden bei der Mobilisierung von Recht zu überwinden, an denen der Zugang zu Gerichten regelmäßig scheitert (Graser 2020; Fuchs 2019, S. 245 ff.; Baer 2017, S. 219 ff.).

Rechtssoziologische Befunde zeigen, dass nur ein Bruchteil von sozialen Konflikten überhaupt in eine gerichtliche Entscheidung mündet (Albiston et al. 2014, S. 106 ff.; Blankenburg 1995, S. 41 ff.) und organisierte Vielfachprozessierer*innen im Verfahren Erfolgsvorteile genießen (Galanter 1974). Gerichtsprozesse erfordern, je nach Fall, von den Einzelnen sehr große emotionale, zeitliche und finanzielle Ressourcen. Ein Zusammenschluss mit anderen oder die Repräsentation vieler Betroffener durch Verbände ist prozessual nur in Ausnahmefällen möglich. Diese „Mobilisierungsbarriere Individualisierung“ (Baer 2017, S. 229) erschwert die systematische Kontrolle staatlicher Tätigkeit.

Eine weitere Hürde ergibt sich aus der staatlichen Informationsmacht. Für Einzelne ist es zunehmend schwieriger, Einsicht in die staatlichen Tätigkeiten zu erhalten und diese von Gerichten kontrollieren zu lassen. Dies liegt zum einen an der Ausweitung staatlicher Tätigkeit auf komplexe neue Regulierungsbereiche, beispielsweise im Zuge der Digitalisierung (Speth 2018, S. 207). Zum anderen steigen die Handlungsspielräumen in der Verwaltung immer weiter an (van Aaken 2003, S. 46), was die Überprüfung der Rechtmäßigkeit exekutiven Handelns erschwert.

Die hohe Komplexität der zugrunde liegenden Sach- und Rechtsfragen macht die Mobilisierung von Recht in einigen Bereichen zwangsläufig zu einem interdisziplinären Projekt, in dem Jurist*innen mit Sachverständigen und anderen Expert*innen zusammenarbeiten. Ein Beispiel ist das Klagekollektiv gegen das im Jahr 2017 reformierte Polizeigesetz in Baden-Württemberg, zu dem neben Betroffenen und juristischen Expert*innen auch IT-Spezialist*innen des Chaos Computer Clubs zählen.Footnote 13

Je nach Gerichtsbarkeit sind die geschilderten Hürden unterschiedlich stark ausgeprägt. Wer sich in seinen Grundrechten verletzt sieht, kann sich kostenlos und ohne Prozessvertretung an das Bundesverfassungsgericht wenden; vor Höchstgerichten wie dem Bundesgerichtshof gilt hingegen Anwält*innenzwang und die Kostenverteilung zu Lasten der unterlegenen Partei. Insofern überrascht es nicht, dass die Zahl der Verfassungsbeschwerden seit Jahrzehnten tendenziell steigt.Footnote 14 Insbesondere für ressourcenschwache und im politischen Wettbewerb strukturell unterlegene zivilgesellschaftliche Gruppierungen sind sie ein attraktives Instrument des „Outside-lobbyings“ (Thierse 2020, S. 573). Während die Mobilisierungsbarrieren „Kosten“ und „Expertise“ für die Erhebung einer Beschwerde eine geringe Rolle spielen, haben sie aber für deren Erfolg große Relevanz. Denn die Anforderungen an eine zulässige und begründete Verfassungsbeschwerde sind hoch, was sich in ihrer niedrigen Erfolgsquote von 2,3 % niederschlägt.Footnote 15

Neben diesen mobilisierungs- und erfolgshemmenden Faktoren sind aber auch eine Reihe von dogmatischen, politischen und technologischen Veränderungen zu beobachten, die die individuelle Inanspruchnahme von Recht erleichtern. Parallel zur Erweiterung der Staatstätigkeit haben sich auch die Gewährleistungsgehalte der Grundrechte gewandelt. Während die Grundrechte ursprünglich allein als Abwehrrechte gegen den Staat verstanden wurden, ist heute in Rechtsprechung und rechtswissenschaftlicher Literatur anerkannt, dass aus den Grundrechten auch Schutzpflichten für die staatlichen Gewalten folgen (BVerfGE 39, 1 ff.). Auch die Einbindung in föderale, internationale und supranationale Zusammenhänge eröffnet neue Rechtsquellen und Foren für den Schutz von Menschenrechten. Schließlich erleichtern digitale Instrumente wie „Legal Technologies“ die Rechtsmobilisierung, indem sie unkompliziert und kostengünstig online eine Vielzahl von gleich gelagerten Fällen einer rechtlichen Prüfung zuführen (Rehder und van Elten 2019). Allerdings stoßen diese Wege dort an ihre Grenzen, wo es um komplexe Rechtsfragen oder strukturelle Probleme geht. Für einige der in internationalen Abkommen verbürgten weitreichenden Menschenrechten fehlt es zudem an institutionellen Möglichkeiten, ihre Einhaltung einzuklagen. Um das richtige Forum sowie einen passenden rechtlichen „Anker“ für die Kontrolle staatlicher Stellen zu finden und vor den Gerichten überzeugend vorzutragen, bedarf es eines arbeitsteiligen Vorgehens und Zusammenwirkens von Betroffenen, Aktivist*innen, Jurist*innen und anderen Expert*innen im Klagekollektiv.

3.3 Sind Klagekollektive „Watchdogs“?

Legt man die oben genannten Charakteristika zugrunde, kann strategische Prozessführung durch Klagekollektive in dem hier beschriebenen Sinne eine Watchdog-Funktion erfüllen. Strategische Prozessführer*innen sind auf spezifische Bereiche wie das Antidiskriminierungsrecht, Migrationsrecht, Umweltrecht oder staatliche Überwachungsmaßnahmen spezialisiert.

Sie verfügen über juristische Expertise und nutzen dieses Wissen, um die Einhaltung von Rechtsnormen durch staatliche Stellen im ausgewählten Feld zu beobachten und mögliche Normverstöße aufzudecken. Ihre Themen haben mitunter globale Relevanz, wie etwa der Klimaschutz.

Klagekollektive setzen ihr Expert*innenwissen zudem in Bereichen ein, in denen trotz der Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung die Barrieren zum Gericht besonders groß sind: Bei der komplexen juristischen Argumentation für staatliche Schutzpflichten gegen den Pflegenotstand oder im Migrationsrecht, wo eine Vielzahl von prozessualen Ausnahmeregelungen den Rechtsschutz erschweren. Rechtliche Interventionen finden sich ferner zu Überwachungsfragen, wo staatliche Maßnahmen aufgrund ihrer Heimlichkeit kaum bemerkt werden und fachlich fundierte „Gegenexpertise“ (Aden 2014, S. 248) aus der Zivilgesellschaft wegen der Komplexität der Fragen besonders wichtig ist.

Von den „klassischen“ Watchdogs unterscheiden sich Klagekollektive vor allem durch ihre Methode: Sie aktivieren eine primär rechtliche Form der Kontrolle, die öffentliche Skandalisierung wird nur flankierend eingesetzt. Wie die Bewegungsforschung zeigt, ist eine solche Kombination rechtlicher und politischer Mobilisierung medienwirksamer als eine ausschließlich politische Taktik und kann selbst bei gerichtlichen Niederlagen zu positiven Effekten führen, beispielsweise einem erhöhten Zulauf zu sozialen Bewegungen (Leachman 2014; McCann 1994).

Bei der rechtlichen Kontrolle lassen sich zwei Zielrichtungen strategischer Klagen unterscheiden: Erstens wird staatliches Handeln retrospektiv überprüft. Zweitens kann die Watchdog-Funktion präventiv wirken. So kann schon allein die „Drohkulisse“ eines eventuellen gerichtlichen Verfahrens die Einhaltung von Grund- und Menschenrechten fördern. Unter dem Stichwort „Vorwirkungen“ wird dies seit Langem für die Wirkmacht des Bundesverfassungsgerichts auf die Gesetzgeberin diskutiert (Beyme 1997, S. 306 ff.). Diese „Vorwirkungen“ der Prozessführung werden in der Regel erst durch das Zusammenwirken von Kläger*innen und Anwält*innen mit den Fachexpert*innen, Unterstützer*innen und der Koordinationsstelle ermöglicht. Denn die „Drohkulisse“ eines gerichtlichen Verfahrens muss möglichst frühzeitig und öffentlichkeitswirksam aufgebaut werden, mitunter bereits durch die Begleitung von Gesetzgebungsvorhaben.

Bislang versteht die politikwissenschaftliche Literatur vor allem einzelne Organisationen als Watchdogs. Vorliegend rückt mit den beschriebenen Klagekollektiven demgegenüber eine kooperative Struktur in den Fokus. Dies geht auf die dargelegten Hürden bei der Mobilisierung von Recht zurück. Während Expertise, starke Netzwerke und finanzielle Kapazitäten zwar auch für die politische Mobilisierung förderlich sind, sind sie bei der Führung langwieriger, personal- und kostenintensiver Gerichtsverfahren oder für die Initiierung der beschriebenen Vorwirkungen rechtlicher Kontrolle unerlässlich.

Mit dieser analytischen Erweiterung auf Klagekollektive wird es allerdings schwerer, die von Speth (2018, S. 208) für Watchdogs vorausgesetzte institutionelle Unabhängigkeit zu bestimmen. Es agiert nicht nur eine Organisation, sondern eine sich stets neu formierende Gruppe von Akteur*innen mit unterschiedlicher Distanz zum politischen System und diversen Finanzierungsstrukturen. Prozessführungs-NGOs positionieren sich parteipolitisch unabhängig und erhalten jedenfalls keine finanzielle staatliche Förderung.Footnote 16 Oftmals sind aber auch Akteur*innen Teil des Klagekollektivs, die sich klar als Interessenvertreter*innen verstehen, beispielsweise Netzpolitik.org und Reporter ohne Grenzen bei einer Verfassungsbeschwerde gegen einen neuen Straftatbestand der Datenhehlerei (Wulf 2019, S. 6 f.).

Daher ist eine trennscharfe Abgrenzung der Watchdog-Dimension von anderen Funktionen nicht immer möglich. Wie die Zivilgesellschaft im Allgemeinen erfüllen auch Klagekollektive verschiedene, sich überlappende Funktionen. Dies zeigt sich in bisherigen Funktionszuschreibungen für strategische Prozessführung: Strategische Klagen gelten als Instrument der Interessendurchsetzung (Wulf 2019), aber auch als Form von Protest (Graser 2019b, S. 37) und politischer Partizipation (Fuchs 2013) sowie als demokratischer Akt (Wihl und von Achenbach 2017). Der hier vertretene Ansatz ergänzt Kontrolle als Funktionszuschreibung, ohne darin eine ausschließliche Zuordnung zu sehen. So ließe sich die Watchdog-Dimension auch als Durchsetzung eines spezifischen Gemeinwohlinteresses an der Kontrolle staatlichen Handelns beschreiben. Die demokratiefördernden Prozesse und Ergebnisse einer solchen Kontrolle überschneiden sich mit partizipativen Einordnungen strategischer Prozessführung.

3.4 Beschränkung des Untersuchungsgegenstandes

Im Folgenden liegt der Fokus auf den dargestellten Beispielen von juristischen Watchdogs, die zweierlei verbindet: Sie erfüllen erstens die beschriebenen Definitionsmerkmale strategischer Klagen und dienen zweitens, der Selbstbeschreibung ihrer Protagonist*innen nach, dem Grund- und Menschenrechtsschutz.

Vergleichbare Dynamiken sind für hier nicht behandelte Fälle ressourcenschwacher, aber ideell konservativer Klagekollektive zu erwarten. Dass Ärzt*innen wie Dr. Kristina Hänel überhaupt wegen „Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft“ (§ 219a StGB) vor Gericht stehen, geht auf die bundesweiten Strafanzeigen von sogenannten Lebensschützer*innen zurück. Da über die Hintergründe solcher nicht öffentlich strategisch agierender Gruppierungen zu wenig bekannt ist, werden sie in diesem Beitrag ausgeklammert. Gleiches gilt für verdeckt strategische Prozessführung aus der Privatwirtschaft mit kommerziellen Zwecken. Hier ist eine andere Dynamik zu erwarten, weil ressourcenstarke Klagekollektive aus Unternehmen, Verbänden und Großkanzleien geringeren Mobilisierungsbarrieren begegnen als die vorliegend untersuchten zivilgesellschaftlichen Klagekollektive aus dem Grund- und Menschenrechtsbereich.

Insgesamt zielt die Argumentation alleine auf die Kontrolle staatlicher Tätigkeit. Eine Übertragung auf die kritische Überwachung einflussreicher privatwirtschaftlicher Akteur*innen, beispielsweise von Unternehmen (Kaleck und Saage-Maaß 2016), steht noch aus. Dazu wäre näher zu untersuchen, welche Kontrollwirkungen die Inanspruchnahme staatlicher Gerichte in privatrechtlichen Verhältnissen entfaltet, etwa in Bezug auf grenzüberschreitende Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen (Koch 2014).

4 Chancen für den demokratischen Rechtsstaat

Mit der Beschreibung von Klagekollektiven als Watchdogs tritt die objektive Kontrolldimension strategischer Klagen in den Vordergrund. Auf dieser Grundlage zeigen wir im Folgenden, wie strategische Prozessführung im Klagekollektiv für Grund- und Menschenrechte einen Beitrag zur Verwirklichung von Rechtsstaatlichkeit (4.1.) und Demokratie (4.2.) leisten kann.

4.1 Beitrag zum Rechtstaat

Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden (vgl. Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz). Der Beitrag von Klagekollektiven zum Rechtsstaat könnte darin bestehen, dass sie die Einhaltung dieser Bindung in der Praxis einfordern. Aus rechtsstaatlicher Sicht wirft eine solche Perspektive jedoch Fragen auf: Wer darf wo im Allgemeininteresse klagen (4.1.1.)? Wer darf was entscheiden (4.1.2.)? Wie lässt sich Rechtsfolgebereitschaft sichern (4.1.3.)?

4.1.1 Wer darf wo im Allgemeininteresse klagen?

Mit dem Watchdog-Konzept wird strategischen Klagen durch Klagekollektive das Potenzial zugeschrieben, eine generelle Kontrolle staatlicher Machtausübung zu bewirken. Dies wirft die grundlegende Frage auf, inwiefern Individuen oder Verbände in individuell geführten Gerichtsverfahren als Anwält*innen der Allgemeinheit wirken können oder sollen.

Bei Rechtsschutzverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ist eine überindividuelle Dimension bereits systematisch angelegt. So hat die Verfassungsbeschwerde anerkanntermaßen eine doppelte Funktion: Sie schützt Grundrechtsberechtigte vor staatlichen Grundrechtsverletzungen und dient zugleich dazu, das objektive Verfassungsrecht zu wahren, auszulegen und fortzubilden (BVerfGE 33, 247 (259)). Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden alle Verfassungsorgane, Gerichte und Behörden und haben in einigen Fällen sogar Gesetzeskraft (§ 31 BVerfGG).

Demgegenüber sind fachgerichtliche Verfahren von ihren Voraussetzungen und unmittelbaren Rechtsfolgen überwiegend einzelfallbezogen. Ausnahmen bilden prozessuale Klagerechte wie die Verbandsklage oder die sogenannten „prokuratorischen Rechte“ (Masing 2013, S. 499 ff.), wie die über die Plattform „FragDenStaat.de“ genutzten Informationsansprüche. Solche gesetzlichen Regelungen werden von Einzelnen oder organisierten Zusammenschlüssen ganz explizit zur Durchsetzung des geltenden Rechts im Interesse der Allgemeinheit aktiviert. Ob individuelle Klagen auch jenseits dieser kollektiven Instrumente im Dienste der Allgemeinheit geführt werden können, hängt davon an, wie das Verhältnis von Staat und Bürger*innen gedacht wird.

Nach dem historisch gewachsenen Leitbild des liberalen Staates sind private und öffentliche Sphäre strikt zu trennen. Privates Handeln zielt hier auf die freiheitliche Selbstverwirklichung der Einzelnen, nicht die Erfüllung von Gemeinwohlaufgaben (Baer 2006, S. 111 f.). Dies hat Konsequenzen für den Rechtsschutz: Subjektiv-öffentliche Rechte, die die Grundlage für Ansprüche des Individuums gegen den Staat bilden, dienen dann alleine dem Schutz des Individuums und nicht der objektiven Kontrolle staatlicher Tätigkeit (Gärditz 2016, S. 9 f., 16 ff.). Die Idee, Einzelne als „Wächter für die objektive Verfassungsordnung“ (BVerfGE 13, 132 (141)) zu bestellen, kollidiert nach diesem Verständnis mit der Systementscheidung der deutschen Rechtsordnung für subjektiven Individualrechtsschutz. Übertragen auf strategische Klagen ließe sich mit dieser Position argumentieren, dass Kläger*innen in systemwidriger Weise zu „Agenten einer diffusen Allgemeinheit und deren Normvollzugsinteressen reduziert“ (Gärditz 2016, S. 30) werden, wenn sie als Teil eines Klagekollektivs Gemeinwohlinteressen in individuelle Verfahren hineintragen.

Nach dem neueren Leitbild des aktivierenden Staates sind Bürger*innen demgegenüber „zivile Subjektive (…), die staatliches Handeln mit gestalten und kontrollieren“ (Baer 2006, S. 249). Sieht der liberale Staat in dem öffentlichen Engagement von Bürger*innen noch eine Bedrohung (Baer 2006, S. 114), ist das altruistische Führen von gerichtlichen Individualverfahren zur Kontrolle staatlicher Gewalt im aktivierenden Staat ein Gewinn. Denn es besteht die Gefahr, dass Verwaltungsbehörden bestimmte Interessen der Allgemeinheit aus „politischen und wirtschaftlichen Rücksichten“ (van Aaken 2003, S. 61) nicht hinreichend einbeziehen. Solche und andere strukturelle Implementationsdefizite können nur adressiert werden, wenn Einzelne diese gerichtlich im Interesse der Allgemeinheit geltend machen (Hong 2012, S. 385; grundlegend Masing 1997).

4.1.2 Wer darf was entscheiden?

Rechtsetzung ist nach Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz zunächst der Legislative zugewiesen. Die Judikative und die Exekutive sind primär für Rechtsprechung und Gesetzesvollzug zuständig. Allerdings ist seit Langem in der Rechtsprechung und rechtswissenschaftlichen Literatur anerkannt, dass auch die Gerichte bei der Auslegung und Anwendung von Gesetzen zur Rechtsfortbildung beitragen und selbst Recht erzeugen. Dies erklärt sich aus der Lückenhaftigkeit des geschriebenen Rechts sowie dessen notwendiger Anpassung an gesellschaftliche Veränderungen. Entsprechend führte das Bundesverfassungsgericht schon im Jahr 1973 aus: „Die Aufgabe und Befugnis zu ‚schöpferischer Rechtsfindung‘ ist dem Richter – jedenfalls unter der Geltung des Grundgesetzes – im Grundsatz nie bestritten worden“ (BVerfGE 34, 269 (287)).

Unproblematisch in diesem Rahmen bewegen sich strategische Klagen, die keine grundlegend neuen Rechtsfragen aufwerfen, sondern primär auf die Durchsetzung von Recht gerichtet sind. Dies zeigt sich in Bereichen wie dem Antidiskriminierungsrecht oder dem Datenschutzrecht, wo die materielle Rechtslage häufig klar ist, die Durchsetzung aber an subjektiven Barrieren wie fehlender Rechtskenntnis oder einer objektiven Nachweisbarkeit scheitert. Schwieriger zu beurteilen sind Fälle, die auf eine neue Auslegung einer Rechtsnorm zielen, mit denen ein bis dato nicht vorgesehenes rechtliches Institut etabliert wird oder bei denen gar die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes in Frage steht (zu dieser Differenzierung bereits Wihl und von Achenbach 2017). Aktuell stellt sich diese Frage etwa beim Klimaschutzgesetz. Da solche Verfahren oft direkt auf allgemeine Rechtsänderungen zielen, werfen sie eine alte Grundsatzfrage neu auf: Wie wird die Grenze zwischen Rechtssetzung und Rechtsprechung gezogen? Was ist noch zulässige Rechtsschöpfung und wo greift die Judikative in den legislativen Bereich über?

Nach dem Modell individueller Legitimation von Gerichten unterscheiden sich legislative und judikative Tätigkeit vor allem durch ihren Legitimationsmodus. Möllers (2012, S. 401 ff.) argumentiert, dass Gesetzgebung Ausdruck kollektiver Selbstbestimmung sei, während die Kernaufgabe der Justiz im Schutz individueller Selbstbestimmung läge. Nach diesem Modell könnten solche Fälle ein Legitimationsproblem darstellen, in denen anhand eines Einzelfalls eine Entscheidung angestrebt wird, die Auswirkungen für eine Vielzahl von Personen hat. Es stellt sich hier die Frage, wie sich die Entscheidung des Gerichts mit Blick auf die übrige Rechtsgemeinschaft rechtfertigt, die an der Klärung der Rechtsfrage nicht beteiligt war. Denn der Blick der Gerichte ist auf den konkreten Einzelfall gerichtet und damit „potenziell zu eng“ (Möllers 2012, S. 407).

Der zutreffende Hinweis, dass von einem individuellen Rechtsanliegen auch die übrige, in dem individuellen Verfahren nicht gehörte Rechtsgemeinschaft betroffen ist, darf jedoch nicht dazu führen, den Anspruch Einzelner auf Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz zu beschneiden. Einzelne müssen ihren individuellen Fall und die Beeinträchtigung ihrer Rechte, insbesondere ihrer Grundrechte, durch die öffentliche Gewalt gerichtlich auch dann geltend machen können, wenn von der angestrebten Rechtsänderung oder -auslegung auch die Allgemeinheit betroffen ist. Denn selbst wenn, so der vielfach geäußerte Vorwurf, einige strategische Verfahren auch „politisch motiviert“ und wenig aussichtsreich sind, ist dies für den individuellen Rechtsschutzanspruch unbeachtlich, solange sie auf einer rechtlichen Argumentation gründen (Graser 2019c, S. 341 ff.). Die Argumentation einer rechtlichen Frage gehört in jedem Fall vor die staatlichen Gerichte, denn diese sind in der deutschen Rechtsordnung die „bedeutsamste Plattform für den Austausch von Rechtsmeinungen“ (Helmrich 2017a, S. 242). Dass Klagekollektive dabei vermeintlich politische Fragen an Gerichte herantragen, ändert daran nichts. Denn der Unterschied zwischen politischer und gerichtlicher Entscheidungsfindung liegt weniger im Inhalt als im Modus.

Legitimationsprobleme stellen sich auch deshalb nicht, weil, und auch hierauf verweist Möllers (2012, S. 407), ein politischer Prozess zur Verfügung steht, der in Reaktion auf die Gerichtsentscheidung weitere Rechtssetzung initiieren und die gerichtliche Entscheidung auch wieder revidieren kann. Selbst Verfassungsgerichte beenden einen verfassungspolitischen Diskurs nicht letztverbindlich, sie verschieben ihn lediglich in andere Arenen (Möllers 2012, S. 409 f.). So geben die höchstrichterlichen Entscheidungen dem Parlament oft nur ein Ziel vor und überlassen ihm die Auswahl zwischen unterschiedlichen gesetzgeberischen Handlungsmöglichkeiten. Ein Beispiel hierfür ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur sogenannten „dritten Option“ (BVerfGE 147, 1 (25)).

4.1.3 Wie lässt sich Rechtsfolgebereitschaft sichern?

Zur Gewährleistung von effektivem Rechtsschutz gehört es, dass rechtskräftige Gerichtsentscheidungen vollzogen werden. Die Durchsetzbarkeit von Recht ist ein Gradmesser für die Verwirklichung der rechtsstaatlichen Bindung von Staatsgewalt. Allerdings haben Gerichte nur begrenzte Möglichkeiten, ihre Entscheidungen vollziehen zu lassen. Sie sind daher auf die Rechtsfolgebereitschaft vonseiten staatlicher und privater Stellen angewiesen. Für das Bundesverfassungsgericht wurde beobachtet, wie es sich die gesellschaftliche und institutionelle Folgebereitschaft selbst erarbeitet hat (Vorländer 2011, S. 15 ff.).

Die hier untersuchten Fälle strategischer Prozessführung berühren oft gesellschaftspolitisch umstrittene Bereiche, wie etwa Polizeirecht, Asylrecht oder Klimarecht. Wegener (2019, S. 12 f.) weist zu Recht darauf hin, dass in solchen Konstellationen eine Erosion der Rechtsfolgebereitschaft vonseiten staatlicher und privater Stellen drohen kann.

Einer solchen Gefahr mangelnder Rechtsfolgebereitschaft kann jedoch begegnet werden, indem Klagekollektive die oft komplexen Entscheidungsgrundlagen und -hintergründe der Verfahren in der Öffentlichkeit kommunizieren. Juristische Akteur*innen können mit ihrer fachlichen Expertise zu einer Versachlichung der Diskussion beitragen (Aden 2014, S. 247 f.) und die Anerkennung der gerichtlich erstrittenen Entscheidung fördern.

Informieren Klagekollektive über den Fort- und Ausgang von Verfahren, kann dies einen präventiven Vollzugsdruck durch Öffentlichkeit erzeugen. Klagekollektive werden so zu „Umsetzungsarmen“ von Gerichten (Epp 2008, S. 602) und können zur Implementation einer Entscheidung beitragen.

4.1.4 Fazit

Dass Klagekollektive strategische Verfahren zur staatlichen Kontrolle anstreben, ist aus rechtsstaatlicher Perspektive grundsätzlich zu begrüßen. Allerdings birgt die überwiegend noch notwendige Transformation von Gemeinwohlbelangen in eine parallele individuelle Rechtsposition (Aden 2014, S. 244 f.) die Gefahr, sozialstrukturelle Fragen zu individualisieren und zu de-politisieren (Fischer-Lescano 2019, S. 422 ff.). Daher sollten strategische Prozesse und die entsprechende Öffentlichkeitsarbeit im Bewusstsein der ihnen inhärenten individualistischen Verfremdungseffekte geführt werden.

Gelingt die prozessuale Transformation kollektiver Anliegen in individuelle Ansprüche nicht und stehen auch keine prokuratorischen oder prozessualen Klagerechte zur Verfügung, bleibt Klagekollektiven nur, mit ihren Aktivitäten praktisch aufzuzeigen, wo Rechtsschutzlücken und ein Bedürfnis für die Ausweitung kollektiver Rechtsschutzinstrumente bestehen. Dann ist es Aufgabe der Gesetzgebung zu entscheiden, inwiefern es rechtsstaatlich notwendig und prozessrechtlich verträglich ist, weitere explizite objektive Kontrollmechanismen zu schaffen. Dafür spricht, dass die Abschwächung der „Mobilisierungsbarriere Individualisierung“ (Baer 2017, S. 229) die privat initiierte Vollzugs- und Implementationskontrolle stärken würde.

4.2 Beitrag zur Demokratie

Nach Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz wird die Staatsgewalt vom Volk in Wahlen und Abstimmungen sowie durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. Den etablierten demokratischen Strukturen werden jedoch – wie gezeigt – vielfältige Legitimations- und Kontrolldefizite attestiert. Vor diesem Hintergrund könnte strategische Prozessführung eine demokratiefördernde Nebenwirkung haben. Der Beitrag von Klagekollektiven als Watchdogs könnte darin liegen, dass sie Fragen des Minderheitenschutzes vor Gerichte tragen, die im politischen Prozess zu kurz gekommen sind (4.2.1) und eine öffentliche Debatte über Recht und Unrecht anstoßen, die die Grundlage für politische Willensbildung erweitert (4.2.2.). Dies setzt voraus, dass Klagekollektive selbst als legitime Akteur*innen anzusehen sind. Eine solche Legitimation kann durch eine demokratische Binnenorganisation und Transparenz nach außen entstehen (4.2.3.).

4.2.1 Strategische Prozessführung als Minderheitenschutz

Ein Grunddefizit der repräsentativen Demokratie besteht darin, dass nicht alle potenziell Betroffenen in gleicher Weise am Gesetzgebungsprozess beteiligt sind. Im Parlament werden überwiegend „machtvolle soziale Kräfte“ repräsentiert und andere soziale Verhältnisse durch den Repräsentationsvorgang „unsichtbar und stumm“ (Sauer 2011, S. 133). So haben etwa hilfsbedürftige, nicht wahlberechtigte oder nicht organisierte Menschen praktische Schwierigkeiten, ihren Anliegen Gehör zu verschaffen. Durch Lobbyist*innen werden demgegenüber bestimmte ressourcenstarke Partikularinteressen besonders laut vertreten.

Strategische Prozessführung ist vor diesem Hintergrund ein wichtiges Instrument des Minderheitenschutzes für im Gesetzgebungsprozess unterrepräsentierte soziale Verhältnisse. Dort exkludierte Erfahrungen können oft nur vor Gericht geltend gemacht werden. Parlamente sind für eine Antizipation der individuellen (Grundrechts)Betroffenheit institutionell nicht eingerichtet und sollen es aus Gründen demokratischer Allgemeinheit auch nicht sein (Möllers 2012, S. 408 ff.). Der „formal garantierte Weg zur Justiz“ (Gawron und Schäfer 1976, S. 251) und Klagen als „Gegen-Politik“ (Sheplyakova 2016, S. 64) eröffnen ein alternatives Forum, das nach der Mehrheitserfahrung ausgerichtete Recht mit Wirkung für die Allgemeinheit am Maßstab von Grund- und Menschenrechten zu kontrollieren.

4.2.2 Impulse für öffentliche Debatten

Die prozessbegleitende Öffentlichkeitsarbeit von Klagekollektiven hat neben der bereits erörterten rechtsstaatlichen Funktion auch eine demokratische Dimension. Denn die öffentliche Auseinandersetzung über die „Verwirklichung und Grenzen des bereits Geregelten“ (Graser 2019c, S. 351) kann als einer von vielen politischen Meinungskämpfen und Korrektiv staatlicher Macht verstanden werden. Damit lässt sich die Hoffnung verbinden, dass in einer „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ (Häberle 1975) nicht nur Jurist*innen Einfluss auf die Rechtsinterpretation nehmen können.

Strategische Prozesse sind auch deshalb ein wichtiger Impulsmoment für die öffentliche Debatte über Recht und Unrechtmäßigkeit, weil ein Bedeutungswandel der klassischen Medien festzustellen ist. Speth (2018, S. 206 f.) argumentiert, dass Journalismus durch die Digitalisierung seine Gatekeeper-Funktion verloren habe. In der Folge habe sich der mediale Fokus weg von Machtkontrolle und hin zu Unterhaltung verschoben. Gleichzeitig seien neue, allgemein zugängliche Kommunikationsformen zu beobachten, wie etwa in den sozialen Medien.

Für Klagekollektive eröffnet dies einerseits eine Chance: Sie können diese neuen Kommunikationsstrukturen nutzen, um mit großer Reichweite selbst über ihre Verfahren zu informieren und so eine öffentliche Kontrolle der jeweils adressierten Problematik initiieren. Anderseits kann dies neue Probleme aufwerfen, da die öffentliche Aufmerksamkeit aus Sicht der Organisationen auch wichtig ist, um private Spenden zu genieren. Dadurch könnten Klagekollektive geneigt sein, ihre Berichterstattung einer „massenmedialen Logik der Kampagnenführung“ (Speth 2018, S. 209) zu unterwerfen. Es droht eine Verfremdung ihrer rechtlichen Anliegen und eine Kollision mit den schützenswerten Interessen der Kläger*innen oder anwaltlichen Berufspflichten.

Ein Positivbeispiel zum Schutz vulnerabler Kläger*innen sind die von JUMEN unterstützen Verfahren zum Familiennachzug. Die Organisation betrieb zwar gezielte Presse- und Medienarbeit (Kessler und Borkamp 2019, S. 79), kommunizierte die Fälle dabei aber zum Schutz der Familien mit anonymisierten Fallbeschreibungen.Footnote 17

4.2.3 Klagekollektive als demokratischer Mikrokosmos

Damit ist angedeutet, dass Klagekollektive auch Risiken bergen. Neben einer Öffentlichkeitsarbeit zu Lasten der Mandant*innen besteht die Gefahr, dass die Defizite der repräsentativen Demokratie im Großen in Klagekollektiven im Kleinen reproduziert werden. Denkbar ist, dass primär juristische Eliten die Agenda von Klagekollektiven bestimmen und viele Teile der Bevölkerung und soziale Verhältnisse bei der Entscheidungsfindung nicht repräsentiert sind. Träfe dies zu, stünde in Frage, dass strategische Prozessführung hält, was sie verspricht: im politischen Prozess unterrepräsentierte Stimmen sichtbar zu machen.

Ob Mitspracherechte in der Praxis von Klagekollektiven gleich verteilt sind, hängt unter anderem von der Entstehungsgeschichte des Falls, den Bedürfnissen der Kläger*innen und der Verfahrenskonstellation ab. Initiieren und planen NGOs als Koordinationsstelle Gerichtsverfahren und suchen dafür gezielt „ideale Beschwerdeführer“ (Lange 2017), entscheiden sie typischerweise ganz maßgeblich über Strategie und Taktik.

Um Klagekollektive als legitime Watchdogs anzusehen, könnten aus demokratietheoretischer Sicht Kriterien für ihre normative Anerkennungswürdigkeit zu fordern sein. Diese Überlegung erinnert an Debatten um die demokratische Legitimation von Verbänden, die die Verbände- und Interessengruppenforschung schon lange und kontrovers führen (Offe 1969; Eschenburg 1963). Die Grundidee: Legitimationsforderungen sollten nicht nur für politische Systeme gelten, sondern für alle Akteur*innen, Ordnungen und Handlungen, die allgemein bedeutsame Wirkungen erzeugen (Nullmeier et al. 2012, S. 12). Je näher zivilgesellschaftliche Akteur*innen an staatliche Entscheidungszentren und -prozesse heranrücken, desto höher wird ihr Legitimationsbedarf. So könnten eine demokratische Binnenstruktur und finanzielle Transparenz geboten sein, wie sie etwa für Parteien explizit vorgesehen sind. Auch wenn Klagekollektive als Watchdogs nicht direkt in die Organisationswelt des Staates einbezogen werden, setzen sie doch maßgebliche Impulse für staatliche Kontrollmechanismen. Was gilt für diesen privat-initiierten, kollektiven Modus der Rechtsmobilisierung?

Organisation als Legitimationsmodus

Für die informelle Unterstützung eines Gerichtsverfahrens durch Planung und Koordination gelten keine expliziten rechtlichen Vorgaben. Von den Akteur*innen eines Klagekollektivs haben in der Regel lediglich die Kläger*innen und ihre Anwält*innen formale Verfahrensrechte und -pflichten. Rechtliche Anforderungen an die demokratische Binnenstruktur finden sich allenfalls für die als Vereine organisierten NGOs als Fachexpert*innen, Koordinationsstelle oder Unterstützer*innen, nicht hingegen für das Klagekollektiv als Ganzes. Aber auch die Gründung und Tätigkeit von NGOs ist bislang nur punktuell im Vereins‑, Steuer- und Gesellschaftsrecht geregelt.

Normative Maßstäbe für das Innenverhältnis von Klagekollektiven können sich aus der Überlegung ergeben, dass Klagen nur dann als Gegengewicht und Kontrolle von Mehrheitsinteressen fungieren können, wenn sichergestellt ist, dass sie diverse Perspektiven und Bedürfnisse widerspiegeln. Wie dies gelingen kann, zeigen Erfahrungen und Untersuchungen aus der US-amerikanischen Rechtspraxis. Eine empirische Studie von Albiston (2018) ging dort der Frage nach, inwiefern Prozessführungsorganisationen tatsächlich eine Plattform für zivilgesellschaftliches Engagement sind. Zwar waren die Mehrzahl der untersuchten Initiativen Mitgliederorganisationen und sahen daher nur wenige direkte Beteiligungsmöglichkeiten vor. Dass Minderheitenpositionen nicht alleine deshalb unterrepräsentiert sind, konnte die Studie dann aber durch eine Analyse der Kriterien für die Mandant*innen- und Fallauswahl zeigen. Organisationsinteressen spielten für die befragten Initiativen die geringste Rolle; auswahlerheblich waren vielmehr die Zahl der von einem Problem Betroffenen, die Bedürfnisse der Klient*innen oder die tatsächliche Umsetzbarkeit (Albiston 2018, S. 199).

Das Problem fehlender Repräsentation in Klagekollektiven kann folglich durch spezifische Kriterien bei der Fall- und Klient*innenauswahl adressiert werden. Aber auch anti-hierarchische Beteiligungsformen, die Expert*innen dezentrieren und das Empowerment der Betroffenen und Unterstützer*innen in den Mittelpunkt stellen, können eine Form der Partizipation darstellen. In der US-amerikanischen Anwält*innenforschung wird ein solches Modell als movement lawyering bezeichnet (Cummings 2017). Im Klagekollektiv könnte dies durch die Selbstverpflichtung zu einer demokratischen Binnenstruktur umgesetzt werden, die allen Beteiligten gleiche Mitsprache über Fragen der Strategie und Taktik eröffnet. Auch wenn diese Kriterien Verfahren aufwendiger machen, beugen sie der Gefahr vor, gesellschaftliche Machtasymmetrien im Klagekollektiv zu reproduzieren und Individuen durch „advokatorische Gewalt“ (Fischer-Lescano 2019, S. 424) zu instrumentalisieren.

Transparenz als Legitimationsmodus

Neben demokratischen Strukturen nach innen könnte Transparenz nach außen zu einer Legitimation von Klagekollektiven als Watchdogs beitragen. Transparenz als Legitimationsmodus ist beispielsweise für Parteien geregelt, die öffentlich über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen Rechenschaft ablegen müssen (Art. 21 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz). Für NGOs gelten nur geringe Transparenzpflichten; für Klagekollektive als Ganzes gibt es mangels rechtlicher Verfasstheit keine Vorgaben.

Damit die von Speth (2018, S. 208) für Watchdogs geforderte sachliche und finanzielle Unabhängigkeit überhaupt überprüfbar ist, könnten Klagekollektive entsprechenden Transparenzanforderungen unterliegen. Auch hier bieten sich Selbstverpflichtungen an (Speth 2018, S. 211). Eine standardisierte Transparenzverpflichtung hat die Initiative Transparente Zivilgesellschaft entwickelt. Der Initiative haben sich bislang 1383 zivilgesellschaftliche Organisationen angeschlossen, darunter auch Prozessführungs-NGOs wie die GFF.Footnote 18 Die unterzeichnenden NGOs verpflichten sich, eine Liste von zehn Transparenzinformationen öffentlich zu machen.

Im Zuge der Debatten um NGO-Regulierung wird aktuell diskutiert, ob Selbstverpflichtungen ausreichen oder rechtliche Veröffentlichungspflichten greifen sollten (Hüttemann 2018). Etwaige Regulierungsvorhaben sollten im Blick behalten, dass pauschale Transparenzforderungen instrumentalisiert werden können. Ein Beispiel hierfür bildet das eingangs erwähnte ungarische Transparenzgesetz. Die Befürchtung des ungarischen Gesetzgebers, dass ausländische Vereinigungen und Stiftungen „eigene Interessen statt gemeinsinnorientierter Ziele im gesellschaftlichen und politischen Leben Ungarns verfolgen können“ (EuGH, 18. Juni 2020 – C‑78/1, Kommission/Ungarn (Transparence associative), Rn. 3), wurde vom EuGH zurückgewiesen. Das Gesetz unterstelle pauschal den Zusammenhang zwischen ausländischer Finanzierung und Einflussnahme, stigmatisiere NGOs und schaffe ein Klima des Misstrauens, was NGOs in ihrer Tätigkeit behindere.

4.2.4 Fazit

Watchdogs tragen zur Verwirklichung eines demokratischen Gemeinwesens bei; gleichzeitig sind sie selbst Adressat*innen von Demokratisierungsforderungen. Als öffentliche Akteur*innen mit dem Anspruch, Empowerment und Minderheitenschutz herzustellen, müssen sie einer gewissen (Selbst)Kontrolle unterliegen. Schon jetzt gibt es Vorbilder für demokratische Strukturen nach innen und Transparenz nach außen durch Selbstverpflichtungen. Eine staatliche Regulierung scheint daher (noch) nicht angezeigt. Mit zunehmender Bedeutung der Klagekollektive wird sich zeigen, inwiefern Selbstverpflichtungen ausreichend sind, um ihre Legitimation zu begründen.

5 Reformpotenzial juristischer Watchdogs

Klagekollektive können wie gezeigt als Watchdogs wirken und Strukturen des demokratischen Rechtsstaats sinnvoll ergänzen, indem sie mit strategischer Prozessführung Impulse für die Kontrolle staatlicher Stellen setzen.

Mit der kritischen Rechtstheorie ließe sich abschließend fragen, inwiefern strategische Prozessführung dabei nicht allzu unambitioniert bleibt (Fischer-Lescano 2019, S. 421 f.). Denn rechtliche Kontrolle staatlicher oder privater Macht erfolgt stets am Maßstab des übergeordneten Rechts und bleibt damit dort defizitär, wo dieses Recht selbst problematische Machtstrukturen etabliert bzw. stabilisiert. Diese Einschränkung vorangestellt, haben strategische Verfahren durchaus das Potenzial als „hegemoniale Rechtskämpfe“ (Vestena 2019, S. 256) und „sozialer Aktivismus“ (Helmrich 2019, S. 35) mit „Recht gegen die Macht“ (Kaleck 2019, S. 21) grundlegende gesellschaftspolitische Reformen zu initiieren. Denn auch übergeordnetes Recht ist in seiner Auslegung keineswegs starr. Verfassungen wie das Grundgesetz sind wirklichkeitsoffen und nehmen gesellschaftlichen Wandel und neue Wissensbestände auf (Voßkuhle 2018). Wie sich solcher Wandel in die „Sprache des Rechts“ übersetzt, illustriert die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur sogenannten „dritten Option“ (Voßkuhle 2018, S. 6), in der ein vormals rein binäres Geschlechterverständnis zurückgewiesen wurde. Ein weiteres prominentes Beispiel aus einem anderen Rechtskontext ist die Entscheidung des US Supreme Court in Brown v. Board of Education of Topeka (347 U. S. 483 (1954)). Der Fall gilt als paradigmatisch für das Reformpotenzial strategischer Klagen und wird daher auch in Deutschland regelmäßig als Erfolgsmodell zitiert (Egenberger 2006). Darin entschied der US Supreme Court, dass die Segregation von öffentlichen Schulen nach Hautfarbe verfassungswidrig sei – zum damaligen Zeitpunkt eine rechtsdogmatische, politische und soziale Revolution.

Die Beispiele verdeutlichen aber zugleich, dass gesellschaftspolitischer Wandel nicht alleine durch Gerichtsentscheidungen bewirkt werden kann. So sind die USA weiter von rassistischen Diskriminierungsstrukturen geprägt, die den Alltag vieler People of Color ausmachen. Und in Deutschland hat es viele politische und rechtliche Interventionen gebraucht (Holzleithner 2019, S. 464 ff.), um die Anerkennung diverser Geschlechtsidentitäten in der weiter „überwiegend nach binärem Geschlechtsmuster agierenden Gesellschaft“ (BVerfGE 147, 1 (28)) zu stärken. Dies zeigt: Die Übersetzung eines Konflikts in die Sprache und Logik des Rechts löst oft nicht das Problem, sondern ändert nur die Art, in der es verhandelt wird (Holzleithner 2008, S. 256).

Es bleibt die Gefahr, dass Aktivist*innen und Anwält*innen dem „Mythos von rechtlichen Ansprüchen (myth of rights)“ (Scheingold 2004, S. 5 ff.) und „leeren Versprechen (hollow hope)“ (Rosenberg 2008) erliegen, wenn sie (allein) auf Gerichte als Impulsgeber für sozialen Wandel setzen. Daraus soll keine Abkehr von Recht folgen, wohl aber ein kritischer Pragmatismus, der die Ambivalenz von Recht anerkennt und bei der Anrufung von Gerichten konstruktiv zu nutzen weiß (Baer 2019, S. 152 f.).

5.1 Entscheidungen

  • BVerfGE 147, 1 ff.

  • BVerfGE 39, 1 ff.

  • BVerfGE 34, 269 ff.

  • BVerfGE 33, 247 ff.

  • BVerfGE 13, 132 ff.

  • EuGH, 18. Juni 2020 – C‑78/1, Kommission/Ungarn (Transparence associative)

  • Brown v. Board of Education of Topeka, 347 U. S. 483 (1954)