You, too, can build a ›Cabin-in-the-Woods.

Conrad E. Meinecke (1943)Footnote 1

In Hütten zu leben ist eigentlich nur dann attraktiv, wenn man nicht muss. Wer keine Wahl hat, gehört auch heute noch oder mehr denn je zu den Ärmsten der Armen. Wer aber entscheidet, den Traum von der Hütte tatsächlich zu realisieren, kann viel gewinnen. Wieviel und was zu gewinnen ist, hängt davon ab wie und ob die Hüttenbewohner*in das Verhältnis zur nicht be-hütteten Gesellschaft aufrechterhält; also ob das Hüttenleben begrenzte Auszeit bleibt oder zum Symptom einer Kontaktstörung wird. Nicht zuletzt gewinnt man die Fähigkeit, sich auf sich selbst zu verlassen. Denn wer eine Hütte bauen kann, so der von den Pfadfindern verehrte Conrad Meinecke, ist auf alles vorbereitet und macht von einem ›gottgegebenen‹ Recht Gebrauch.Footnote 2

Die »Freiheit sich zu beschränken« (Ahne 2019, S. 116) ist vielleicht der größte Luxus der Gegenwart und ebendeshalb lässt sich an kulturellen Inszenierungen des Hüttenlebens viel über das erfahren, was sich besonders privilegierte Menschen über sich selbst erzählen und wie sie sich als Teil von Gesellschaften wahrnehmen. So meint auch das »You« in Meineckes Anleitung und Aufforderung Hütten zu bauen sehr spezifische Menschen – es geht um weiße, männliche Menschen, die Zeit und Mittel haben, sich frei bewegen können und selbst bestimmen, welche Arbeit sie leisten und für wen. Das sind in diesem Fall hauptsächlich weiße Jungen ohne Behinderungen, die (noch) nicht zum Kriegsdienst eingezogen werden können. People of Color, Menschen mit Behinderungen, Frauen und Kinder und alle, die aus sozio-ökonomischen Gründen in Hütten leben müssen, sind in den allermeisten Fällen explizit von Hüttenphantasien ausgeschlossen (vgl. hier das Kapitel »Abseits« in Ahne 2019, S. 70–78). Gerade weil sie so exklusiv sind, haben sich diese Phantasien so fest im populären Imaginären etabliert.

Lange bevor die moderne Aussteigerfigur in den Fußstapfen Henry David Thoreaus den weitgehenden Kontaktabbruch mit seinen Mitmenschen für ein »bewusstes« (deliberate) Leben im Wald mindestens in Kauf nahm, führten Eremiten ihr Leben in vollkommener Kontemplation in Klausen, Eremitagen, Einsiedeleien oder, kurz, Hütten. Doch ebenso wie Thoreau als nicht ganz einfacher Mensch galt, weil er offenbar ebenso radikal/dogmatisch kommunizierte, wie er lebte, mussten auch die vormodernen Eremiten sich den Vorwurf gefallen lassen, ihre gottgegebenen Talente der Gesellschaft zu entziehen und ihr somit zu schaden. Das Gute am Hüttenleben ist aber zweifellos, dass man von solchen Vorwürfen nicht viel mitbekommt. Vielmehr scheint es sich bestens dazu zu eignen, selbst Anklagen, Manifeste und Entwürfe ›alternativer‹ Lebensformen zu verfassen, die dann mehr oder weniger nachdrücklich einer Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht und ggf. zur Nachahmung empfohlen werden.

Was für meine Frage nach der Ästhetik des Überlebens als experimentelle Kontaktszene von Bedeutung ist, ist die moderne Funktion der Hütte als Labor für Beziehungsmodelle. Besonders fiktionale Hütten dienen unabhängig davon, ob sie auf lebensweltlichen Vorbildern beruhen oder nicht, als Kontaktszenen und zwar in dem sie zur Bühne bzw. zum SchauplatzFootnote 3 für Kontakt oder Kontaktabbruch (zwischen Menschen ebenso wie zwischen Menschen und Nichtmenschen, aber auch zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft) werden und damit der Erzählung der Kontaktszene buchstäblich und metaphorisch Raum bieten. So gibt die Hütte der Kontaktszene in ihrer Dimension als Handlung oder VorgangFootnote 4 eine literarische und architektonische Form, die durch die spezifischen Konnotationen der Hütte anschlussfähig werden. Das (Selbst‑)Experiment Hütte wird, so werde ich zeigen, epistemologisch dann relevant, wenn es (literarisch) erzählt wird. Als epistemologische Form entwirft die Hüttenerzählung Szenen, die durch Verschiebungen und Störungen generischer Konventionen Gegenutopien nicht nur entwerfen, sondern kulturkritische Alternativen (wie das Narrativ des ›Ausstiegs‹) selbst in Frage stellen. Die zur Untersuchung stehenden Romane lassen sich in diesem Sinne als mehrdimensionale Störungen lesen. Sie heben sich vom Großteil der Hüttenerzählungen schon dadurch ab, dass sie von alleinlebenden Frauen handeln. Das erzeugt von Anfang an Reibung, weil Erwartungen unterlaufen und als Stereotype entlarvt werden. Jede Kontaktszene wird so gleichzeitig zum Kommentar (oder verlangt im Text nach Kommentierung). Wie und mit welchen Konsequenzen für gesellschaftliche Ordnungen Die Wand von Marlen Haushofer (1963), Pollard von Laura Beatty (2008) und Le grand jeu von Céline Minard (2016) aus den so in Szene gesetzten Kontakten und Kontaktabbrüchen Wissen generieren, ist der Gegenstand dieses Textes. Vor dem Hintergrund eines notwendig kurzen Abrisses der Imagination der Hütte und ihrer spezifischen Paradigmen, werde ich an diesen drei Texten nachvollziehen, wie die Hütte – insbesondere dann, wenn sie von einer Frau bewohnt wird – Entwürfe des (Über‑)Lebens probiert und plausibilisiert und so nicht nur Kulturkritik übt, sondern Wissen darüber generiert und kommuniziert, wer unter welchen Umständen den Anspruch erheben kann, wirklich gelebt zu haben.

1 Leben als Experiment. Eine kurze Hüttengeschichte

Die Hütte zieht immer dann besonders viel Aufmerksamkeit auf sich, wenn sie als Modell eines alternativen Lebens bzw. als Markierung der Fortschrittlichkeit des eigenen Lebens besonders große Kontraste erzeugen kann. Die Journalistin Petra Ahne unterscheidet in ihrer ›Naturkunde‹Footnote 5Hütten. Obdach und Sehnsucht vier Tendenzen, die die Faszination für Hütten in der Moderne prägen: Ursprung, Obdach, Abseits und Sehnsucht. Ahne erkundet diese Tendenzen von der Hütte als einem Modell einfachen Lebens aus, sodass sie je nach Blickwinkel unterschiedliche Paare ergeben. So ist die Suche nach dem Ursprung nicht nur wissenschaftlichem Interesse geschuldet, sondern spricht auch vom mythologischen Grund für Mühsal und Arbeit (also der Vertreibung aus dem Paradies; vgl. auch Ahne 2019, S. 16) und der Sehnsucht nach einem Leben im Einfachen gerade bei denen, die als Teil einer Avantgarde leben und arbeiten. Ahne illustriert das am Architekten Le Corbusier, dem Vorreiter des Modulbaus in Beton, und seiner Holz-Hütte (Cabanon) an der Côte D’Azur, in der er nicht weit von einigen seiner ambitioniertesten Projekte einem Leben in Badehose frönte (Ahne 2019, S. 27–35). Welche Art von Hütte jemand wie Le Corbusier ersehnt, weil er sie nicht braucht, lässt Rückschlüsse auf das zu, was man an der eigenen Zeit als dekadent und überflüssig oder als Zwang empfindet. Sie ist ein Negativbild des (wahrgenommenen) Jetztzustands einer spezifischen Gegenwart (und damit alles andere als zeitlos).

Während es seit dem 16. Jahrhundert in Mode war, große Schlossanlagen mit Eremitagen – den säkularen Äquivalenten der Einsiedeleien – zu schmücken und vor allem in England im 18. Jahrhundert kaum ein Landschaftsgarten ohne mehr oder weniger bewohnbare Hütte samt »Schmuckeremit« (Ahne 2019, S. 112 ff.) auskommt, greift Georg Büchner noch 1834 im Hessischen Landboten die Parole der französischen Revolution auf: »Friede den Hütten! Krieg den Palästen!« (Büchner/Weidig 1999, S. 53). Der Gegensatz, den Büchner noch verstärkt, indem er im nur dünn verhüllenden Konjunktiv des »es sieht aus, als hätte« eine Gegenwart beschreibt, die die Schöpfungsgeschichte Lügen straft, ist hier virulent. »Die Vornehmen«, also die, die sich Hütten zur Dekoration aufstellen, verhalten sich so, als »hätte [Gott] die Bauern und Bürger zum Gewürm gezählt« (Büchner/Weidig 1999, S. 53). In anderen Worten, sie entmenschlichen durch ihre Genusssucht und die Zurschaustellung von Prunk und Status all diejenigen, die nicht in schönen Häusern, sondern in Hütten leben. Die Hütte ist zugleich Symbol und tatsächliche Behausung und wird in Büchners Pamphlet (in Anlehnung an die große Revolution der Nachbarn) zum identitätsstiftenden Moment. Denn die, die sich von der Hütte entfernen, um auf sie herabzusehen, sind diejenigen, die es zu bekämpfen gilt. Denn sie sind es, die falsch leben.

Die Spannung zwischen der Hütte als kleinstem gemeinsamen Nenner der Menschen und als Maßstab für gesellschaftliche Entfremdung (von Natur, von Schöpfung, von sich selbst) bestimmt seit spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts ihre Imagination. Besonders in den Vereinigten Staaten von Amerika ist die Ambivalenz der ›Notwendigkeit‹, in einer Hütte zu leben, zu spüren. Ungefähr zu der Zeit, als der Hessische Landbote erscheint, reist Alexis de Tocqueville durch die Vereinigten Staaten und berichtet von der »Frontier« (vgl. Kathke 2015, S. 281), an der die mit den Deutschen und Skandinaviern eingeführten Blockhütten zu »Außenposten der Zivilisation« (Ahne 2019, S. 52) werden. Die zugigen Behausungen unterscheiden sich aber in den Augen des Franzosen deutlich von den Hütten, die die Armen in Europa zur Revolution zwingen. Der Pioniergeist in den Blockhütten ist nicht Ausgangspunkt, sondern Speerspitze einer Bewegung, die eine ganze Welt und Wildnis aus schierem Arbeitswillen transformiert. Die Hütte ist der notwendige Zwischenschritt in einer Beherrschungsgeschichte, die das Ideal der Gleichheit (aus Büchners Landboten) zumindest so lange realisiert, wie niemandem etwas anderes übrig bleibt, als selbst anzupacken, um aus der wilden eine geordnete Nation zu machen.

Am anderen Ende der USA regt sich nur zwei Jahrzehnte später Widerstand gegen diese Teleologie. Henry David Thoreaus Rundumschlag Walden, or Life in the Woods (1859) ist nicht nur das auf ein Jahr kondensierte Protokoll eines zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage dauernden Aufenthalts am Walden Pond, sondern eine umfassende Kulturkritik. Sie ist Anlass und Konsequenz eines Experiments. Was sind, so könnte man Thoreaus ›Forschungsfrage‹ zusammenfassen, die notwendigen Bedingungen für ein bewusstes Leben? Thoreaus Vorsatz »to live deliberately. to confront the essential facts of life« (Thoreau/Cramer 2004, S. 88) entwirft die Hütte neu, indem er die Ambivalenz zwischen anthropologischem Ursprung und modernem Abseits auf die Spitze treibt. Die innere Wildheit des Lebens, nach der Thoreau sucht, hängt nicht an einer menschenleeren Wildnis – die Gegend am Walden Pond war alles andere als das. Vielmehr geht es darum, wie man ein »Abseits« (Ahne 2019, S. 70) praktizieren kann, das sich als Modell eignet. Nicht, weil Thoreau dazu aufriefe, dass sich alle eine Hütte im Wald bauen. Ganz im Gegenteil, die Idee einer Nachahmung ist ihm zuwider – es geht Thoreau um den Kassensturz, um die Frage, was von dem, womit sich eine Kultur umgibt, tatsächlich notwendig ist, um ein Leben wirklich zu leben.

Er kehrte schließlich nach Concord zurück, um, so schreibt er, nicht Gefahr zu laufen, doch wieder Routinen zu entwickeln (Thoreau/Cramer 2004, S. 313). Das gab ihm die Gelegenheit, in Vorträgen und schließlich im berühmten Protokoll seiner Zeit am Walden Pond kundzutun, was ihn sein Experiment gelehrt hatte:

I learned this, at least, by my experiment: that if one advances confidently in the direction of his dreams, and endeavors to live the life which he has imagined, he will meet with a success unexpected in common hours. He will put some things behind, will pass an invisible boundary; new, universal, and more liberal laws will begin to establish themselves around and within him; or the old laws be expanded, and interpreted in his favor in a more liberal sense, and he will live with the license of a higher order of beings. In proportion as he simplifies his life, the laws of the universe will appear less complex, and solitude will not be solitude, nor poverty poverty, nor weakness weakness. If you have built castles in the air, your work need not be lost; that is where they should be. Now put the foundations under them. (Thoreau/Cramer 2004, S. 313)

Was sich hier (und aus heutiger Perspektive) beinahe sinnspruchartig lesen ließe (Folge deinen Träumen! Baue das Fundament für dein Luftschloss!) ist tatsächlich die Schlussfolgerung eines Experiments, dessen romantischer Klang nicht über die radikalen Konsequenzen des Hüttenlebens hinwegtäuschen sollte. Selbst wenn man sich, wie Thoreau, geographisch nicht weit weg bewegt, kann der markierte Kontaktabbruch mit einer allein dadurch schon kritisierten Gesellschaft zum Keimpunkt eines Ausstiegs werden.

Die TV-Serie Manhunt. Unabomber (2017) hat den extremsten Fall eines solchen Ausstiegs einmal mehr popularisiert. Der hochintelligente, aber spätestens durch die Murray-Experimente an der Harvard UniversityFootnote 6 schwer traumatisierte Theodore (Ted) Kaczynski kehrt erst aus seiner Hütte zurück, als ihn das FBI als ›Unabomber‹, den Urheber einer Reihe von Briefbomben und eines paranoiden, kulturkritischen Manifests, identifiziert und festnimmt. Die Ähnlichkeiten der Hütten sind unverkennbar (und werden gerade in der Serie besonders ausgespielt) und zwar nicht nur hinsichtlich der materiellen Hütten, sondern auch hinsichtlich des Beziehungs-Modells, für das die Hütte steht:

Kaczynskis Hütte kopiert Thoreaus Gestalt gewordene Ausbruchsphantasie […] setzt aber zugleich in der Verkennung der eigenen ideologischen Voraussetzungen auch ins Bild, was der zentrale Modus der paranoischen Welterschließung des Unabombers ist: Sich davon auszuschließen, wovon man sich systemisch eingeschlossen fühlt. (Koch 2016, S. 293)

Auch wenn sein »Hüttentraum«Footnote 7 denkbar exklusiv ist, am Modell Thoreau kommt man kaum mehr vorbei.Footnote 8 Die Hütte, das zeigt selbst die kurze Gegenüberstellung der paradigmatischen Beispiele, ist nicht zuletzt eine Bühne, auf der in Ein-Mann-Inszenierungen Gesellschaftsentwürfe durchgespielt werden – und sei es ex negativo. Weder führt sie dabei notwendigerweise dazu, dass ihre Bewohner*innen Attentate begehen, noch liefert jeder Hüttenaufenthalt genug Stoff für ein Buch, sei es Protokoll oder Manifest, aber die Verbindung zwischen dem Schauplatz und dem destruktiven Potenzial des Kontaktabbruchs macht den Ausstieg (auch den auf Zeit) so reizvoll.

Die Hütte steht, ob Thoreau das wollte oder nicht, auch jenseits der USA für Autarkie und self-reliance. In Kombination mit der Identität stiftenden Funktion, die auch Büchner aufruft, wird die Hütte zum (Hetero‑)Topos moderner Gesellschaften. Ellen Rees hat für Norwegen gezeigt, wie die Hütte (hytte/cabin) als Heterotopos zum stabilisierenden Nationalsymbol werden kann, gerade weil das Hüttenleben sich von dem in den modernen Städten vollkommen unterscheidet. Der temporäre Aufenthalt in der Hütte entlastet die Städter von den Konventionen und Regeln der Stadt und hält als »allegorical national home in the wilderness« (Rees 2014, S. 2) die mythische Verbindung in ein anderes (vergangenes) Leben in und mit Natur und abseits der Zivilisation aufrecht. Gerade weil das Leben in der Hütte die Ausnahme, die Auszeit ist, stellt sie keine Gefahr dar, sondern stabilisiert den Status quo. Das heißt nicht unbedingt, dass diejenigen, die die Hütte temporär bewohnen (wollen), keiner Gefahr ausgesetzt sind. Es ist gut möglich, dass sie nicht zurückkehren, weil sie nicht können. So bringt bspw. der Film The Cabin in the Woods (2011) die Verbindung von Stabilisierung des Status quo und fiktional imaginierten Hüttenlebens und dessen potenziell entsetzlichen Endes auf den Punkt: Hier wird die Hütte zum selbstreferenziellen Meta-Topos. In dieser Genre-Inkarnation wird sie zur Bühne eines Horror-Films in der Diegese, dessen Genre-konforme Durchführung zur Bedingung für das Fortbestehen der Welt außerhalb der Hütte (und der Diegese) wird. Ein weiteres Beispiel ist Chris McCandless, der den Spuren Thoreaus und denen von Frontier-Helden wie John Coulter und Jack London in seinen Tod folgte. Seine Hütte war ein Bus-Wrack (er nannte ihn »Magic Bus«) in Alaska, an das lehnend der junge Mann 1992 tot gefunden wurde. Die Reportage des Outdoor-Journalisten Jon Krakauer, Into the Wild (1998), und Sean Penns gleichnamige Verfilmung (2007) aktualisieren die Verbindung zum Hütten-Experiment Thoreaus und plausibilisieren (in unterschiedlicher Intensität) den Tod als fairen Preis eines wirklichen Lebens, das in Kontakt mit sich selbst und der Natur gelebt wird.

Wenn sie nicht sterben, sind Hüttenbewohner, die nicht (freiwillig) zurückkommenFootnote 9, suspekt, wenn nicht gar gefährlich. Die Reihe solcher Hütten-Extremisten endet nicht bei Ted Kaczynski und hat z.B. in T.C. Boyles Roman The Harder They Come (2015) auch eine literarische Entsprechung. Abgesehen von den Monstern und Geistern, die in Horrorfilmhütten lauern (z.B. in The Evil Dead, 1981), ist auch das Gruppenleben in Hütten unbedingt zu meiden, um »Cabin Fever« (etwa: Hüttenkoller) abzuwenden, auch wenn sich dieses Fieber meist eher in Streit äußert, anstatt wie in Eli Roths gleichnamigem Film (2002) als fleischfressendes Virus. Dabei wird die Hütte gerade deshalb potenziell gefährlich, weil ihr utopisches und postapokalyptisches Potenzial so groß ist. Self-reliance, die für die meisten Hüttenbewohner wenigstens für kurze Zeit zum größten Ideal wird, verweist nicht nur auf die Vergangenheit einer vermeintlich intakten Beziehung zwischen Mensch und Umwelt, sondern auch auf eine Zukunft, in der diese Beziehung endgültig zerbrochen sein könnte. Denn wer leben kann, wie die ersten Menschen, so die Logik, hat auch als letzter Mensch gute Chancen (Horn 2014, S. 181–240). Aber gerade hier laufen die Angst vor dem cabin fever bzw. dem Ausgeliefertsein und die Hoffnung, auch in einem zeitlichen Abseits der Zivilisation überleben zu können, zusammen (z.B. in Claire Fullers Roman Our Endless Numbered Days, 2015).Footnote 10 Während sich der Hüttenbauer hier für einen modernen Noah hält (missverstanden, aber gut vorbereitet), wird das Leben in der Hütte zur Hölle, weil es kein gesellschaftliches Außen mehr gibt (bzw. eine Rückkehr in diesem Fall nur durch Rettung der Tochter möglich ist). Die Hütte ist dann nicht mehr nur Außenposten der Zivilisation, sondern die Markierung ihres Endes. Auch wenn sich in diesem Roman das Weltende als Lüge erweist, bleibt die apokalyptische Konstellation erhalten: die Hütte als heterotopisches Abseits einer Gesellschaft ist immer auch die potentielle Heterochronie einer Epoche – so wie Thoreau sich auf ein vermeintlich zeitloses Notwendiges jenseits der modernen Gesellschaft zurückzieht, kann die Doomsday-Hütte das Weltende und die Postapokalypse vorwegnehmen.

2 Am Rand der Welt (Marlen Haushofer: Die Wand, 1963)

Theoretisch steht eine solche Doomsday-Hütte, ein Bunker oder Shelter, für die Absicht ihrer Erbauer, zu überleben. Mehr noch, von der Hütte aus soll ein neuer Anfang möglich werden, so dass sich diese Hüttenform viel enger an die Pionierhütten anlehnt als an das selbstgenügsame Thoreau’sche Modell; denn ohne neue Eva würde der neue Adam zum letzten Menschen (Horn 2014, 45–76). Die Anwesenheit von Frauen in Hütten suggeriert also reproduktive Arbeit. Die Pionierfrauen, die Alexis de Tocqueville bestaunt, können nämlich nicht nur anpacken, sie sind die means of reproduction (Goldberg 2010) der vermeintlich ›neuen‹ Welt. Wie die Reproduktion in der Hütte bewertet wird, hängt allerdings vom Kontext ab – während die Pionierfrauen nämlich geradezu heroisch das Land urbar machen und bevölkern, wird bis heute rassistisch und klassistisch über den Kinderreichtum armer Hüttenbewohner*innen gespottet. Eine Frau die allein in einer Hütte lebt oder leben muss, gilt es hingegen seit jeher zu fürchten oder zu bedauern.

Marlen Haushofers Roman Die Wand (1963) inszeniert diese Konstellation auf pragmatische Weise: Die namenlose Protagonistin findet sich allein im Jagdhaus ihres Schwagers wieder. Eine durchsichtige, aber undurchdringliche Wand hat sie über Nacht vom Rest der Welt abgeschnitten. Jenseits dieser Wand scheinen ausschließlich Pflanzen überlebt zu haben, die im Laufe des Romans zunehmend die Spuren menschlicher Existenz überwuchern. Diesseits der Wand bzw. von ihr eingeschlossen, lebt die Protagonistin, deren Bericht den Roman bildet, mit Hund »Luchs«, Kuh »Bella«, mehreren Katzen und Wildtieren am Ende eines Tals, das Wald und Alm einschließt. Der Roman, der in der Forschung meist als Robinsonade gelesen wird (vgl. Schmitt 2017, S. 178) geht das Hüttenthema auf komplexe Weise an. Nicht nur existiert das Modell ›Hütte‹ in verschiedenen Versionen auf verschiedenen Ebenen der Diegese, die Motivation der Protagonistin ist keineswegs so klar, wie das zunächst erscheint. Überhaupt wird meistens nicht von Motivation oder gar Intention ausgegangen, viele Lektüren wundern sich vielmehr darüber, dass die Frau sich in ihre Rolle als letzter Mensch ergibt, ohne großes Bedauern zu zeigen.

Die Hüttenversionen sind stringent nach sozioökonomischer Funktion geordnet und ihre Position im Text entspricht ihrer räumlichen Lage: Das Jagdhaus, »eigentlich eine einstöckige Holzvilla« (Haushofer 2012, S. 11), die der reiche Schwager sich aus Repräsentationszwecken »leistete« (Haushofer 2012, S. 9), bildet das Zentrum der Erzählung. »Etwa fünfzig Schritt entfernt liegt auf einem Abhang, der zum Bach abfällt, ein kleines Blockhaus für den Jäger, eigentlich nur eine geräumige Hütte, und daneben, gleich an der Straße, steht eine Brettergarage, die Hugo bauen ließ« (Haushofer 2012, S. 11). Auf gleicher Höhe liegen also das Haus des Reichen, die Hütte seines Angestellten und die Garage für den Mercedes. Letztere funktioniert die Protagonistin zum Kuhstall um, während die Limousine im Verlauf des Romans von Pflanzen überwuchert wird, weil sie, wie der Rest der ›modernen‹ Welt, keine Funktion mehr hat. Das Jagdhaus kann für die Protagonistin v.a. deshalb zur postapokalyptischen Hütte werden, weil ihr Schwager Vorräte für diesen Fall angelegt hat. »Damals war immerzu die Rede von Atomkriegen und ihren Folgen, und das bewog Hugo dazu, sich in seinem Jagdhaus einen kleinen Vorrat von Lebensmitteln und anderen wichtigen Gegenständen einzulagern« (Haushofer 2012, S. 10). Weil er den Schein aber wahren wollte, hat er dabei nicht konsequent gedacht und z.B. weder Schubkarre noch schweres Werkzeug besorgt. »Ich glaube, am liebsten hätte er sich einen Bunker gekauft und wagte es nur nicht, weil ihm der Gedanke asozial erschien und er großen Wert darauf legte, nicht so zu erscheinen« (Haushofer 2012, S. 100).

Oberhalb dieser Anordnung liegen in größeren Abständen Almhütten. Eine davon besucht die Protagonistin und erlebt dort ihre zufriedenste Phase. Diese Hütte entspricht am ehesten der Hüttenutopie Thoreaus – auf das Nötigste reduziert, verbringt die Frau mit ihren Tieren hier eine Zeit, in der sie fast nichts mehr an die (wenn auch vergangene) Existenz einer Außenwelt erinnert, so dass sie hier nichts Anderes tut, als zu leben (vgl. Haushofer 2012, S. 182). Der Sommer auf der Alm endet jedoch abrupt und katastrophal mit dem Auftauchen eines Mannes, der ihren Hund erschlägt und sie somit ihres Gefährten beraubt. Jenseits dessen ändert sich jedoch nichts. Die Frau macht kurzen Prozess mit dem Eindringling und erschießt ihn an Ort und Stelle. Dass der Bericht auch hier »strikingly prosaic« (Frost 2017, S. 63) bleibt, ist irritierend, aber aufschlussreich in Hinblick auf die Hüttenkonstellation, die der Roman entwirft. Denn dass sie, anstatt sich über die Anwesenheit eines anderen Menschen zu freuen (und den Tod des Hundes als Unfall hinzunehmen) und auf Rettung zu hoffen, diesen sofort erschießt, ist auch ein Zeichen dafür, dass ihr Überleben davon abhängt, der einzige Mensch zu sein. Das klingt nur so lange paradox, wie man außer Acht lässt, wie sehr die Rolle ›der Frau‹, die die Romanfigur nahezu ununterbrochen reflektiert, auf ihre Reproduktionsfähigkeit reduziert ist. Die Protagonistin ist »vor der Wand«Footnote 11 geradezu nutzlos. Ihre Kinder sind beinahe erwachsen und die Frau trauert schon lange um die einstige Nähe, so dass sie im Tal nun tatsächlich beinahe erleichtert zu sein scheint, von den Beziehungen entbunden zu sein (vgl. Haushofer 2012, S. 40).

Manche Interpretationen reproduzieren hier den stereotypen Blick, der Frauen in Hütten zu einem so seltenen (literarischen) Thema macht. So attestiert Jürgen Gunia der Figur eine »misanthropische Grundhaltung« und erklärt sich ihre »Schicksalsergebenheit« damit, »dass die Erzählerin mit dem Erscheinen der Wand nichts wirklich verloren hat, war doch ihr früheres Leben ohne Erfüllung und Glück« (Gunia 2021, S. 54). Doch was heißt das? Welches Glück, welche Erfüllung hätte sie haben können? Wie kann sich Glück realisieren, wenn man nur für andere existiert und eigene Lebensfreude nicht vorgesehen ist?Footnote 12

Erst hinter der Wand kann sie sich »erlauben, die Wahrheit zu schreiben; alle, denen zuliebe ich mein Leben lang gelogen habe, sind tot« (Haushofer 2012, S. 40). Das lässt sich schlecht in Emanzipationsromantik fassen, aber es ist die Bedingung für diese Frau, »eine gewisse Neugierde« (Haushofer 2012, S. 40) zu entwickeln. Das ist die Stelle, an der die Hüttensituation intra- wie extradiegetisch zum Versuchsaufbau wird. Denn die radikale und abrupte Beendigung aller menschlichen Beziehung bewirkt eine Reduktion auf das Wesentliche. Innerhalb dieser Reduktion muss die Frau Entscheidungen treffen und Arbeiten verrichten (vgl. Haushofer 2012, S. 100). Der Wunsch nach menschlicher Gesellschaft blitzt zwar kurz auf, endet aber immer wieder in der Einsicht, dass jedes Mit-Leben mehr Sorge und letztlich Erinnerungsarbeit für sie bedeuten muss:

Nein, es ist schon besser, wenn ich allein bin. […] Wenn ich mir heute einen Menschen wünschte, so müsste es eine alte Frau sein, eine gescheite, witzige, mit der ich manchmal lachen könnte. Denn das Lachen fehlt mir noch immer sehr. Aber sie würde wohl vor mir sterben […] Das Lachen wäre damit zu teuer erkauft. Ich müßte mich dann auch noch an diese Frau erinnern und das wäre zu viel. Ich bin schon jetzt nur noch eine dünne Haut über einem Berg von Erinnerungen. Ich mag nicht mehr (Haushofer 2012, S. 66).

Anders als der Schwager hat sie keinen Schein mehr zu wahren, muss kein Interesse an Gesellschaft (im Doppelsinn) vorgeben und darin liegt eine Freiheit, die nach ganz anderen Maßstäben funktioniert, als die jenseits der Wand. Sie ist nicht frei von Zwängen (im Gegenteil), aber es handelt sich dabei – wie in Thoreaus Ideal – um lebensnotwendige Dinge. Von allem, was an die Zwangsstrukturen der Vergangenheit erinnert, befreit sie sich, wie sie halb überrascht feststellt, selbst (z.B. durch »die Methode der systematischen Uhrenvernichtung«, Haushofer 2012, S. 64). Auch das Schreiben ist dementsprechend kein bloßes Vergnügen, sondern erfüllt einen existenziellen Zweck: »Ich schreibe nicht aus Freude am Schreiben; es hat sich eben so für mich ergeben, daß ich schreiben muß, wenn ich nicht den Verstand verlieren will« (Haushofer 2012, S. 7). Die Verschriftlichung (und Erzählung) des Hüttenlebens ist hier doppelte Bedingung für das Experiment: es ermöglicht Erkenntnisgewinn jenseits der Person, die in der Hütte lebt, und es bewahrt die Hüttenbewohnerin davor, »in die Dämmerung zu starren und mich zu fürchten« (Haushofer 2012, S. 7). Das Erzählen/Schreiben wird hier so existenziell, wie es Hans Blumenberg für den Mythos beschreibt (2006). Zwar handelt es sich hier nicht um ein soziales Erzählen, das insofern epistemologisch ist, als es Welt erklärt, aber es ist doch ein Erzählen, das auf die Bewältigung des »Absolutismus der Wirklichkeit« (Blumenberg 2006, S. 9) zielt. Was offenbar für manche Interpret*innen schwierig zusammen zu bringen ist, ist die Ausweglosigkeit der Situation der Figur und die Tatsache, dass sie dennoch nicht versucht, zu entkommen. Spätestens als sie den Eindringling erschießt, wird meines Erachtens jedoch deutlich, dass sie eine Wahl getroffen hat. Nicht permanent nach einem Ausweg zu suchenFootnote 13, macht sie zwar zur Insassin des »Waldgefängnisses« (Haushofer 2012, S. 22), aber sie macht damit, in dem ihr bleibenden Rahmen, Gebrauch von der »Freiheit sich zu beschränken« (Ahne 2019, S. 116), die das Hütten-Modell auszeichnet. Dass sich darin kein Glück realisiert, stimmt nur dann, wenn man Glück als permanenten Zufriedenheitszustand versteht. Vielmehr realisiert sich etwas, das man mit Hannah Ahrendt vita activa nennen könnte: ein tätiges, selbstbestimmtes Leben, das jedoch eine letzte »Wand« nicht überwinden kann, die zwischen Mensch und Natur.

Sabine Frost beschreibt die Frau als »trapped in her own role as a human« (Frost 2017, S. 63), was bedeutet, dass sie zwar über die Anthropomorphisierung ihrer Haustiere Beziehungen zu anderen knüpft, aber trotz ihrer klarsichtigen Kritik am Umgang der Menschheit mit der nichtmenschlichen Umwelt die Rolle des Menschen zunächst nicht ganz aufgeben kann oder will. Besonders in ihrer Zeit auf der Alm beschreibt sie immer wieder die Gefahr, die ihr von dem Wunsch droht, ganz in ihrer Umwelt aufzugehen.

Manchmal verwirren sich meine Gedanken, und es ist, als fange der Wald an, in mir Wurzeln zu schlagen und mit meinem Hirn seine alten, ewigen Gedanken zu denken. Und der Wald will nicht, daß die Menschen zurückkommen. […] Es fällt mir schwer, beim Schreiben mein früheres und mein neues Ich auseinanderzuhalten, mein neues Ich, von dem ich nicht sicher bin, daß es nicht langsam von einem größeren Wir aufgesogen wird (Haushofer 2012, S. 185).

Diese Sorge drückt sich unmittelbar in ihrem Schreiben aus und bildet gleichzeitig die Gewissheit ihres kommenden Endes. Wenn auch mit Verzögerung wird sie das Ende der Menschen teilen und unter den wuchernden Pflanzen verschwinden. Sie wird (wieder!) in ein Wir eingehen, das aber anders als das Menschen-Wir, dem anzugehören ihr »ganzer Stolz« (Haushofer 2012, S. 185) war, auch Nichtmenschen umfasst. Die Phase ihres Hütten-Lebens erlaubt es ihr und denen, die ihren Bericht lesen (in der Fiktion ist das niemand), das einzusehen.

Das Experiment ist also, wie Claudia Schmitt richtig bemerkt, kein »modellhafte[r] Entwurf[] für ein Zusammenleben von Mensch und Natur« (Schmitt 2017, S. 179) – wenigstens nicht in dem Sinn, dass es sich in einer Weise übertragen ließe, die aus dem Modell eine Norm formt, die sich verlustfrei skalieren ließe. Trotzdem erzeugt die Konstellation aus Hüttenleben und -Bericht Ergebnisse, denn der radikale Ausschluss der Außenwelt führt in Kombination mit der Reduktion auf das unbedingt Notwendige dazu, dass die Frau sich als (tätiger) Mensch erfährt, dessen Distanz zu seiner Umwelt nur durch Arbeit aufrechterhalten werden kann (und muss).

Die raumzeitliche Komposition des Schauplatzes – nach dem Ende, am Rand der ZivilisationFootnote 14 – ermöglicht dem Roman ein Gedankenexperiment. Die Wand markiert als »Novum« (Suvin 1979, S. 20), den Punkt, ab dem die Roman-Welt kategorial von der Lebenswelt ihrer Leser*innen abweicht. Die so ›kognitiv verfremdete‹ (vgl. Suvin 1979, S. 4) Welt erlaubt der Figur ebenso wie der Leser*in, eine vollkommen andere Welt zu erkunden, ohne dass diese sich äußerlich vom ›normalen‹ Leben in den Bergen unterscheidet. Der Roman lässt die Möglichkeit, dass es eine Welt jenseits der Wand gibt, bestehen, aber jede Bezugnahme darauf würde das Experiment eines Lebens, das sich nur nach Notwendigkeit, nicht nach Konvention richtet, vernichten. Kein Wunder, dass der Eindringling sofort sterben muss, denn er gefährdet den zentralen Teil der Erfahrung und droht, die Erzählerin daran zu erinnern, dass sie »eine Frau war«Footnote 15. Spätestens an dieser Stelle markiert der Text den Unterschied sowohl zu Robinsonaden, als auch zu postapokalyptischen Erzählungen: Eine Frau, die keine reproduktiven Funktionen erfüllt, muss schon die letzte sein, damit sie hierarchiefrei, für sich, als Mensch leben kann.Footnote 16 Das ist bezeichnenderweise nicht utopisch – von Haushofer aus lässt sich tatsächlich kein Modell (im Sinne eines Vorbilds) ableiten, denn dann bliebe, wie im Roman, eine einzige Frau übrig, um zu vergessen, dass sie eine war. Dadurch verschiebt sich der Maßstab von anderen Städtern zum Wald selbst: »Seit ich langsamer geworden bin, ist der Wald um mich erst lebendig geworden. Ich möchte nicht sagen, daß dies die einzige Art zu leben ist, für mich ist sie aber gewiß die angemessene« (Haushofer 2012, S. 221).

3 Kontaktstörung (Laura Beatty: Pollard, 2008)

Während in Haushofers Roman eine erwachsene Frau mit wenigstens grundlegendem Wissen über das Landleben für sich selbst und ihre Tiere sorgen muss, handelt Laura Beattys Roman Pollard (2008) von einer Frau, die im Wald lebt und je nach Perspektive homeless oder self-reliant lebt. Ihr Leben hat viele Ähnlichkeiten mit dem von Haushofers Protagonistin – sie melkt eine Kuh, sie kümmert sich um ihren Garten und sie richtet sich so in ihrer Umwelt ein, dass sie überleben kann.

Anne zieht in den Wald, weil sie nicht in ihre Familie passt. Sie ist zu groß, ungeschickt und anders als ihrer Schwester gelingt es ihr nicht, den Erwartungen an ein Mädchen zu entsprechen. Zwar liest sie früh, aber es scheint, als ob sie Probleme hat, mit Worten und Gesten zu erreichen, was für andere selbstverständlich ist. Man könnte ihre Beziehung zu anderen Menschen als kontaktgestört bezeichnen – zwar kann sie erkennen, wie sich andere ›richtig‹ verhalten, aber es gelingt ihr nicht, sich diesen Konventionen zu beugen, so dass zwischen ihr und ihrer Familie ein Missverhältnis entsteht, dass sie nicht überwinden kann. Ob sie kontaktgestört ist oder Kontaktstörungen, d.h. Übergriffe, Missdeutungen und Verachtung anderer Menschen, verhindern, dass sie sein kann, wer sie ist, steht im Zentrum des Textes. Im Wald jedenfalls fühlt sich Anne richtig: »There was no clumsiness in the wood, as far as she could see. She carried the feel as she could with her, as an alternative« (Beatty 2008, S. 19). Die Alternative ähnelt im Effekt Haushofers Szenario, denn was den Wald so anziehend macht, ist, dass in ihm keine Menschen sind. Annes Größe und Langsamkeit, ihre Fähigkeit still zu sein und ihr Wille zuzuhören, machen sie den Bäumen ähnlich. »But Anne’s family was not like the wood, except perhaps in number. They saw no example in the wood, only trees« (Beatty 2008, S. 19).

Der Wald liegt am Rand einer Siedlung, in der noch zu großen Teilen working class Familien wie Annes leben. Die housing estates sollen zu einer »up-and-coming area« entwickelt werden – »but it makes no difference. it’s like a bucket’s leaking. They pour out everywhere, the homeless, the misfits, the drifters. You can’t plug the holes fast enough. Riffraff. Bums. For every house they build there’s someone who can’t live in a building, a new person on the street, or that’s how it seems« (Beatty 2008, S. 3). Obwohl Anne nicht vom Ende der Welt bzw. einer Wand gezwungen wird, im Wald zu leben, ist es auch keine freie Entscheidung. Sie ist buchstäblich ein misfit, aber nicht nur unter Menschen, sondern auch im Wald. Der Schlafplatz am Fuß einer der titelgebenden pollardsFootnote 17 reicht nur, so lange es trocken bleibt. Anne beneidet vor allem die Vögel um ihr Gefieder, sieht aber ein, dass sie sich anders helfen muss. Das Wissen, dass der Regen allein sie nicht umbringt und sie auch ohne Federn ›unsichtbar‹ werden kann, gibt Anne die Sicherheit, die sie braucht, um sich einzurichten: »Survival changes your character« (Beatty 2008, S. 30). Sie ›leiht‹ sich eine Schubkarre, Schlafsack, Werkzeug und Baumaterial von ihrer Familie und verbringt den Tag damit, sich eine Heimstatt einzurichten. »By early afternoon the rain had stopped and she’d made herself a green burrow. Warmer than before at least, and waterproof« (Beatty 2008, S. 41). Im Laufe ihrer Zeit im Wald, lernt sie dazu – sie legt einen Weiher und einen Garten an, hält Hühner und baut sich einen Ofen. In anderen Worten, sie macht aus dem Unterschlupf, der noch dem Bau (burrow) eines Tier ähnelt, ein Haus, eine einfache Hütte zwar, aber ein Haus, das ihr das Überleben im Wald zu jeder Jahreszeit ermöglicht.

Doch auch Annes Waldleben verläuft nicht ohne Störungen, die Hütte wird auch hier zur Bühne für eine Reihe von Kontaktszenen, die Wissen produzieren. Kontakte und Störungen sind in Pollard ein und dasselbe. Jeder Mensch, dem Anne begegnet, zwingt sie dazu, sich zu orientieren und zu behaupten, sich zu erklären und zwischen Wald und Menschen zu positionieren, unterbricht also, indem er sie daran erinnert, dass sie auch ein Mensch ist, ihr Leben als Teil des Waldes.

Der Schrotthändler Steve (vgl. Beatty 2008, S. 50) ist der erste Mensch, dem sie nach ihrem Ausstieg begegnet. Er hilft ihr, zu lernen, wie man welche Tiere fängt und versorgt sie mit angemessener Kleidung. Wichtiger als all das ist jedoch, dass er der erste Mensch ist, bei dem sie sie selbst sein kann und trotzdem akzeptiert wird. Steve ist selbst ein misfit, ein alleinerziehender Veteran, der mit seiner Mutter auf dem Schrottplatz lebt, den sie betreiben. Auch er ist zu groß, er ist fett und seine Manieren zeugen von seinem geringen Status. Aber er ist gut zu Anne und sie wird zum Teil der Familie. Spätestens durch diese Ersatz-Familie oder ihren Wunsch danach, wird der Hüttenbewohnerin endgültig klar, dass sie niemals in die Welt außerhalb des Waldes gehören wird. Steves Ex-Frau Sandra kommt zurück und überredet ihn dazu, mit ihr nach Spanien auszuwandern. Neben der (Ex‑)Frau wird Anne, wie zuvor neben ihrer Schwester, unsichtbar (Beatty 2008, S. 130). Aber es ist eine andere Unsichtbarkeit, als die Tarnung, die sie sonst nutzt, um wie die Tiere im Wald zum Teil ihrer Umgebung zu werden. Sie wird als Frau unsichtbar, weil eine andere die Aufmerksamkeit der Männer auf sich zieht. Anne ist unfähig, dieses Spiel zu spielen, also bleibt sie zurück. Während Haushofers Figur ›vor der Wand‹ die Frau war, die sie nun vergessen kann, gewesen zu sein, wird Anne nie dorthin kommen. Die Begegnung mit Sandra sorgt für den endgültigen Perspektivwechsel bzw. für die Einsicht, dass Anne nicht wie die Menschen ist, sondern zu den Bäumen gehört.Footnote 18 »To be so big and so unnoticed. Anne sat in the shed a witness, just a dumb witness, even to her own life« (Beatty 2008, S. 130). Das ist nicht unbedingt ein erhebendes Gefühl, denn Menschen unterschätzen Bäume und nehmen keine Rücksicht auf das, was sie zum Leben brauchen. So bleibt Anne, von Steve verlassen, »just the cut stump, with its memories of luxuriance« (Beatty 2008, S. 138).

Dass auch diese Ähnlichkeit ihre Grenzen hat, wird im Roman dadurch ausgestellt, dass die Waldbäume eine eigene Stimme haben. Sie korrigieren und kommentieren als Chorus of Trees das Geschehen und bestehen dabei vor allem auf dem Mangel an Ähnlichkeit zwischen Mensch und Baum, lassen dabei aber ein Schlupfloch: »Witness, the trees say, as the years go by. There are no similarities between a man and a tree. As far as we can see« (Beatty 2008, S. 5, Herv. SN). Da »man« sowohl Mensch als auch Mann heißen kann, bleibt offen, ob Anne, weil sie zwar Mensch, aber kein Mann ist, nicht doch wie die Bäume werden kann. Auf der Ebene des Textes sind die Ähnlichkeiten so offensichtlich wie ihre Grenzen, denn kurz bevor Anne sich wie ein Baumstumpf fühlt, kommentieren die Bäume, dass ihnen die Schnitte kaum etwas ausmachen: »We are good at retrenching. A fistful of stems for every trunk lost – coppice; another for every limb – pollard« (Beatty 2008, S. 132). Und Anne wird ihren Körper nicht los, anders als Haushofers Figur hat sie keine Chance zu vergessen, wer sie war oder wer sie ist, nicht zuletzt deshalb, weil sie einen ›Frauenkörper‹ hat (aber dessen ›Funktion‹ ins Leere läuft):

But there is no match for her in the wood. Nothing looks at her and says, I am yours, We fit, you and me […] Monthly, she is reminded of her thwarted function. Coping with the disaster of it, a week’s humiliation, the rags, the wretchedness. And who invented a woman’s body? For goodness’ sake. What was that about? (Beatty 2008, S. 150).

Anne lebt ihr Leben weiter. Dank der Hühner, die Steve ihr geschenkt hat, kann sie sich vollkommen selbst versorgen. Mit Nigel, einem Spaziergänger, der sie zu einer Art Projekt für seine Vorstellungen von Naturschutz und Waldnutzung macht, geht sie ab und an in das »Woodpecker Café« und lebt so einigermaßen ungestört, bis zwei weitere Männer in ihren Wald, auf ihre Lichtung, kommen und alles verändern. Der eine ist »Ranger«, Beruf und Name in Personalunion; der andere ist eigentlich noch ein Junge und nennt sich Peter Parker (nach dem Alter Ego von Spiderman, den Anne aber nicht kennt). Ranger steht eines Tages in der Lichtung und fordert Anne auf, ihre Hütte abzureißen und zu verschwinden. Er ist wie ein Symptom der größeren Störung, einer Baustelle für einen Baumwipfelpfad, für den viele Bäume gefällt werden, um Wanderer und Spaziergänger, den übriggebliebenen Bäumen buchstäblich näher zu bringen. Die Konfrontation wird im Roman zum beinahe animalischen Territorialkampf (Beatty 2008, S. 156–160). Ranger fordert Anne heraus, aber auf sehr menschliche Art, nämlich indem er ihr und ihrer Behausung – »the house with the Ash rising out o fit« (Beatty 2008, S. 155) mit Verachtung entgegentritt:

»I been looking for you. They told me you were living in the wood. Litter collection you do, isn’t it? Regular litter depot you got here, if you ask me, Litter central« (Beatty 2008, S. 157). Einfach so kann er verneinen, was für Anne seit Jahren Wirklichkeit ist; dass sie ein Haus im Wald hat, dass sie sammelt, was andere nicht wollen, um daraus ein Leben für sich zu bauen. Auch wenn sie Rangers Autorität scheinbar nichts entgegenzusetzen hat, will sie ihr Leben, ihre Hütte, beschützen: »She holds one hand backwards in a protective gesture, palm flat and open towards her hut, the pen, the little garden full of vegetables, this world she has made from the wild« (Beatty 2008, S. 157, Herv. SN).

Anne weigert sich in ihrer üblichen passiven Form des Widerstands, sie bleibt einfach. Aber wo soll sie auch hingehen? Sie hat diese Welt aus Wildnis gemacht. Sie hat gezähmt, geformt, gebaut, gepflanzt, geschützt. Es gibt keine andere Welt für sie. »What if he pulls up her roots from here?« (Beatty 2008, S.158). Ranger weiß das für sich zu nutzen und beutet sie aus. Sie muss für ihn Grasmatten flechten, die er im Touristenshop verkauft und er profitiert von ihrer intimen Kenntnis des Waldes und seiner Bewohner.Footnote 19

Die zweite Störung, ebenfalls ein Symptom der großen Baustelle, ist Peter Parker. Der Junge, den Anne schon länger dabei beobachtet, wie er mit seinen Freunden im Wald Fahrrad fährt und sich an Stunts versucht, heimlich raucht und versucht, den starken Mann zu geben, wird ihr unwahrscheinlicher Freund. Erst zerstört er mit seinen Freunden – bloß ein Streich – den Garten vor der Hütte und macht monatelange Arbeit (Annes und die der Pflanzen) zu Nichte.

There were things in her clearing that didn’t belong there. Violence for a start, her own as well as theirs. There were footprints where they shouldn’t have been. There were things interrupted, things broken and disturbed. Anne opened her other hand in a gesture towards the pool and the garden, to herself almost, and let it fall (Beatty 2008, S. 202).

Die Lichtung zeugt von einer Kontaktszene, die so gewöhnlich wie schrecklich ist. Sie ist gewöhnlich, weil sie von dem Machtgefälle zwischen denjenigen zeugt, deren Leben prekär ist, und denjenigen, die sich ihnen überlegen fühlen. Sie ist schrecklich, weil Anne ihr vollkommen ausgeliefert ist: »It was her life. She had no choice« (Beatty 2008, S. 204). Ausgerechnet Ranger eilt ihr zu Hilfe und zwingt Peter, der eigentlich Simon heißt, ihr zu helfen, den Schaden wieder gut zu machen. Der Junge braucht lange, bis er begreift. Er versteht nicht, dass man Pflanzen nicht einfach ersetzen kann, dass Trinkwasser nicht einfach aus dem Wasserhahn kommt und dass Tiere zu töten kein Hobby ist. Anne steht für sich ein, vielleicht zum ersten Mal, als der Junge in ihren Weiher spuckt: »Oi. Anne whipped round, angry. That’s my drinking water. You just don’t get it, do you? Then she said slowly and clearly to him, as if it would make any difference, as if he would understand what it meant, I’m trying to live here« (Beatty 2008, S.207).

Ihr Versuch scheitert. Zumindest, wenn das Gelingen daran hängt, dass sie ihr ganzes Leben im Wald verbringen darf. Die Rampe, die zum Baumwipfelpfad führt, wird Anne und Peter Parker zum Verhängnis. Beide werden von ihr angezogen, aber während Anne oben zwischen den Wipfeln ganz zu sich selbst zu kommen scheint, stürzt Peter Parker endgültig ab. ›Endgültig‹ deshalb, weil der Roman nahelegt, dass sein Leben ohnehin den Verlauf nehmen wird, den seine Herkunft aus den SozialsiedlungenFootnote 20 vorgibt. Er entfernt sich von Anne, nimmt Drogen und begeht kleinere Straftaten, bis sie ihn, buchstäblich abgestürzt, am Fuß der Rampe findet. Sie kann ihn nicht retten, aber dass er tot in ihren Armen gefunden wird, bedeutet auch ihr Ende.

Es ist nicht ganz klar, in was für einer Art von Gebäude der ›little room‹ sich befindet, in dessen gefiltertem Licht Anne am Ende sitzt. Es spielt aber auch kaum eine Rolle, ob es eine Sozialwohnung, ein Gefängnis oder ein Patientenzimmer ist. Für Anne ist das alles einerlei, sie ist zur Waldbewohnerin geworden. Die Bäume, deren Chor den Roman rahmt, archivieren den Versuch und damit Annes Existenz. Sie verweisen auf ihre Baumringe, die alle Bedingungen des Waldes um sie herum aufzeichnen und auch »a life in the wood, for instance, starting with the misfit at its centre, working outwards, counting down the rings that it took for her to become native, because survival doesn’t come natural to us anymore« (Beatty 2008, S. 303 f.). Dieses wir (us) am Ende des Romans ist bemerkenswert, denn während Anne aus Menschenperspektive gescheitert ist und nun so leben muss, wie sie es nicht wollte (oder aufhören muss zu leben), erkennen die Baumstimmen hier an, dass sie es geschafft hat ›native zu werden‹ (to become native) und zwar nicht durch ein ›Zurück zur Natur‹, sondern indem sie etwas neu erlernt hat. Die Tragik des Endes besteht darin, dass sie – wie die Bäume im Wald – den vorrückenden Menschen nichts entgegenzusetzen hat. Auch hier geht es nicht um ein Modell, dass Schritt für Schritt nachgeahmt werden kann, schließlich wurde es schon für Anne und die Tiere eng im Wald. Auch dieser Hüttenversuch ist modellhaft auf der Meta-Ebene, also hier auf der, die den Bäumen zugestanden wird. In ihrer Erzählung, die vom Ende her als Aufzeichnung in den Baumringen gerahmt wird, entsteht eine Perspektive, die einzelnen Menschen(leben) zugesteht, nicht Teil der ›Menschheit‹ zu sein und andere Lebensweisen zu finden. Das ist und bleibt pessimistisch mit Blick auf die Menschen als Spezies, aber es ist nicht hoffnungslos.

4 Wohnhüllen (Céline Minard: Le grand jeu, 2016)

Die Protagonistin und Erzählerin in Céline Minards Roman Le grand jeuFootnote 21 ist in vielerlei Hinsicht konsequenter als die Frauen in den anderen beiden Romanen. Wenigstens hinsichtlich der Tatsache, dass ihr Hüttenleben nicht nur gewollt, sondern bis ins Detail geplant ist. Die »Lebensröhre« (tube de vie) oder »Tonne« (tonneau) (Minard 2019, S. 11/Pos. 33) erinnert nicht zufällig an die Tonne des Philosophen Diogenes. Die Protagonistin zieht auf den Alpenhang, um während der Arbeit zum Denken zu kommen. Sie trifft diese Entscheidung ohne Not, aber nicht zuletzt, um darüber nachzudenken, was Not eigentlich ist. Damit ruft Minards Roman noch eine weitere Hüttenidee auf, die des philosophischen Denk-Raums.Footnote 22 Ob Diogenes Tonne oder Heideggers Hütte im Schwarzwald, die Isolation in vereinfachter Umgebung steht für die Reduktion auf das Wesentliche. Minards Hütte greift das auf, ihr Spiel ist ästhetisch, insofern es die Beziehung zwischen Körper und Geist auf sein Ideal bringen will. Die Situation, in der die Protagonistin diese Ästhetik erprobt, zeichnet sich durch die Spannung zwischen Entscheidung und Ausgeliefertsein aus. Zwischen diesen Polen spielt sich das »große Spiel« ab, an dem die Protagonistin das Design ihrer Behausung und ihres Trainings ausrichtet:

S’il y a une esthétique dans ce volume, c’est celle de la survie. S’il y a une décision, c’est la mienne, celle de vouloir m’installer dans des conditions difficiles. En grande autonomie. […] L’environnement dans lequel j’ai situé mon abri est celui qui me convient. Qui me procure, par l’extérieur, en frottant et raclant l’enveloppe de mon corps qui résiste et s’adapte, la forme nécessaire de ma vie. Ce monde d’isolement, de vide, de grands froids, de grosses chaleurs, de roche dure, de silence et de cris animaux, laisse peu de choix. C’est un guide précis. La situation dans laquelle je suis est pensée, calculée pour établir un entraînement maximal. Je l’ai soigneusement choisie. Je lui ai accordé mon assentiment le plus profond. Reste à découvrir si l’empreinte qu’elle a laissée dans mon esprit est une lumière – ou une erreur (Minard 2019, Pos. 226).Footnote 23

Hier von Hütte zu sprechen ergibt angesichts ihrer Ausstattung nur dann Sinn, wenn man anerkennt, dass ›Hütte‹ eher ein Lebensmodell ist als eine Gebäudeform. Der mit Hubschraubern auf den Berg gebrachte Bau ist eine Art high tech »Tiny House« (Ahne 2019, S. 114–116). Tiny Houses, die besonders dort im Trend liegen, wo Immobilienpreise verhindern, dass sich irgendwer außer Superreichen ein eigenes Haus leisten kann, sind mindestens ebenso sehr von Notwendigkeit geprägt, wie sie einen (minimalistischen) Lifestyle ausstellen. Die »Lebensröhre« geht darüber noch hinaus – sie ist perfekt eingepasst, obwohl sie dem traditionellen Alpenstil so widerspricht, dass sie in den Zeitungen als exzentrische Störung verunglimpft wird. Dass beides geht, liegt daran, dass sie nicht auf vor Ort verfügbaren Materialien und althergebrachtem Handwerk basiert, sondern neuesten ingenieurstechnischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie Designbedürfnissen gehorcht. Sie erlaubt und definiert das Nötigste: Wärme, Trockenheit, Strom, Musik (es ist Platz für ein Cello) und Lektüre. Der Maßstab, an dem die (wie bei Haushofer namenlose) Frau ihre Autarkie misst, ist nicht ›Natur‹, sondern sie selbst. Darin ist sie konsequenter als die Figuren in den anderen beiden Beispielen. Sie setzt sich an den Anfang und ans Ziel ihres Experiments bzw. Spiels. Darin kommt sie dem Thoreau’schen Modell am nächsten, auch wenn sie in geografisch deutlich größerem Abstand von ihren Mitmenschen lebt. Sie nimmt nicht für sich in Anspruch ›ursprünglich‹ zu leben. Autarkie bedeutet hier, Bedingungen zu schaffen, die ihr erlauben, frei von »Undankbaren« (ingrats), »Neidern« (envieux) und »Schwachsinnigen« (imbeciles) (Minard 2019, S. 99/Pos. 1011) zu denken und zu leben.

Eine Kontaktszene ändert den Ton der kontemplativen Erzählung vollkommen. Zunächst findet sie eine Hütte (cabane), die den Namen verdient. Ihr Bewohner, sie hält ihn zunächst für einen Mönch, hält sich allerdings nicht an die selbstgesetzten Regeln der Protagonistin. Er stielt Nahrungsmittel und verletzt Konventionen, die offenbar auch auf dem Berg noch gelten: »Er stört mich./Il me dérange« (Minard 2019, S. 99/Pos. 1019). Die Erzählerin ist bereit, ihr Territorium zu markieren (z.B. indem sie auf die Türschwelle der Hütte pinkelt, vgl. Minard 2019, S.104/Pos. 1067). Als Antwort bewirft der ›Mönch‹ sie mit Fäkalien und sie begreift, dass es sich um eine Frau handelt. Am Ende arrangieren sie sich und ›spielen‹ gemeinsam. Sie trainieren an der Felswand, messen sich aneinander und leben ohne Ziel. Der Roman endet hier und es gibt keine Aussicht darauf, wie das Experiment bzw. das ›Training‹ enden wird. Was bleibt sind die Fragen, mit denen die Frau auf den Berg gezogen ist:

Est-ce que c’est le jeu que je cherchais? Celui qui combine la menace sans domination et la promesse sans objet? Le jeu sans aucune part obscure, le jeu limpide? La méthode? Le moyen de se décoller, de se surprendre soi-même et de s’accueillir? L’idiotie? Est-ce que c’est un bluff? Un risque calculé? Un risque recueilli? Est-ce que je saurai demain si l’éternité peut tenir dans une durée finie? Est-ce que j’en ferai plusieurs parties? Est-ce que ça compte? (Minard 2019, pos. 1922).Footnote 24

Es ist verlockend, hier noch einmal in die Metapher des Spiels einzusteigen, die noch einmal ganz grundsätzlich poetologische Fragen danach aufwirft, welche Rolle Literatur und Kunst gerade dort spielen, wo es darum geht, sich aufs Nötigste zu reduzieren. Auch ohne Schiller zu bemühen, zeigt Minards Roman ganz deutlich in die Richtung, die eine »Ästhetik des Überlebens« nicht nur als Designkonzept versteht, sondern als existenziellen Versuch, als Mensch autark zu leben. Das heißt, nicht getrennt von Natur, sondern in selbstbestimmten Beziehungen, deren Zweck frei, aber deren Einsatz existenziell ist: »Comment pourrait-il accueillir le monde celui qui ne se mise pas lui-même?« (Minard 2019, Pos. 1926).Footnote 25

5 Schluss mit Hüttenzauber

Irgendwo zwischen Thoreau und HeideggerFootnote 26, zwischen Aussteigerphantasie und Horrorfilm, zwischen dem ›Unabomber‹ Ted Kaczynski und Cabin Porn™ ist die Hütte zum Klischee einer repräsentativen Sehnsucht nach dem einfachen Leben geworden. Die existenzielle Bedeutung des Spiels bei Minards, des Schreibens bzw. Protokollierens bei Haushofer und der Vorstellungskraft bei BeattyFootnote 27 widerspricht in vielem dem, was derzeit vor allem in den sozialen Medien als Hüttenästhetik gilt.

Cabin Porn™ sammelt Bilder und Geschichten dieser hipsten Inkarnation des ›Obdachs‹ für ein digitales Millionenpublikum in den sozialen Medien und in attraktiven »Coffee Table Books« (vgl. Ahne 2019, S. 11). Aber selbst diese bis ins Detail gestylten Hüttenträume können den Bedrohungen der Gegenwart nicht entkommen. Ganz beiläufig erwähnt z.B. der User @elevatedspaces in einem Post vom 5. April 2022 auch den Grund für den Bau seiner neuen Hütte und die wirtschaftliche Situation, in der sie gebaut wird: »After California’s wildfires vaporized our previous cabin we haven’t quite been ready to invest much emotion or money into rebuilding. Still, Molly (my wife) and I were yearning to build something with friends, so I worked up this little A‑frame hut that’s super-efficient with time and materials” (Cabinporn 2022).

In nur zwei Wochenenden und mit nicht mehr als $ 2500 Materialkosten (»yes, that’s 2022 prices!« – ein Hinweis auf die enorm gestiegenen Rohstoffpreise) und der kostenlos bereitgestellten Arbeitskraft einiger Freunde, kann die neue Hütte entstehen: »We built the whole thing over two weekends and I have to say it felt very rewarding to stand in a structure with our friends, under a roof that didn’t exist just that morning. Like old times« (Cabinporn 2022). Die Frage ist nur, welche »old times« sind hier gemeint? Die Zeiten, in der die Vorgängerhütte noch nicht der globalen Erwärmung zum Opfer gefallen war? Die Pionierzeiten? Oder handelt es sich bloß um ein diffus nostalgisches Gefühl, dass das ›neue‹ Abseits (das alte ist ja verbrannt) doch wieder ein Stück weit von der Gegenwart wegrücken soll, die von Inflation und Klimakrise bestimmt wird? Welche Ästhetik des Überlebens steckt in dem stylischen Holzzelt?

Die Beiläufigkeit, mit der die durch die Globale Erwärmung jedes Jahr verheerender ausfallenden Waldbrände erwähnt werden, ist bemerkenswert. Die gewissermaßen fröhliche Resignation, mit der der User die Notwendigkeit anerkennt, eine neue Hütte an anderem Ort zu errichten, zeugt vor allem davon, dass Notwendigkeit hier alles andere als existenziell zu verstehen ist. Ja, wenn er mit seiner Frau auch weiterhin am Wochenende in den Wald ›entkommen‹ will, braucht er eine neue Hütte, aber die Hütte bleibt, das erkennt man hier besonders gut am minimalistischen Design, ein Domizil für kurze Aufenthalte, ein lifestyle-Objekt, kein Ort des (Über‑)Lebens. Gerade deshalb funktioniert der Hüttenporno so gut: die Beschränkung wird zum Fetisch, der im absoluten Kontrast zum ›eigentlichen‹ Leben der Hüttennutzer*innen steht. Gerade die Hütte, die, wie bei Thoreau und den Pionier*innen nicht mehr ist, als ein Dach über einem Bett, zeigt also auf sich selbst als ästhetisches Objekt. Sie inszeniert aber einen Moment, eine Auszeit, die nicht mehr auf self-reliance zielt, sondern die ›old times‹ nur noch als tag (Schlagwort) benutzt, um den Zauber der Hütte doch noch einmal zu beschwören, als ginge es dort um nichts.