Wissenssoziologische Definition
VerschwörungstheorienFootnote 7 sind fester Bestandteil der modernen Mediengesellschaft. So werden zahlreiche Ereignisse – etwa Migration (vgl. Römer/Stumpf 2019) oder die Corona-Pandemie (vgl. Römer/Stumpf 2020a, 2020b) – verschwörungstheoretisch uminterpretiert. Vor allem das »Internet [hat] großen Einfluss auf die Zirkulation und die Wirkung von Verschwörungstheorien« (Butter 2018, S. 180). Durch das Web 2.0 sind Verschwörungstheorien sichtbarer als früher, jederzeit für jede*n leicht zugänglich und somit ständig verfügbar. Augenscheinlich im Zusammenhang mit dem allgemeinen Verlust an Vertrauen in die staatliche Handlungsfähigkeit und der zunehmenden Skepsis einiger Gesellschaftsgruppen gegenüber dem politisch-sozialen System, den etablierten politischen Parteien und ihren Vertreter*innen sowie den traditionellen Medien finden Verschwörungstheorien gegenwärtig Zustimmung (vgl. Bartoschek 2017).Footnote 8
Anlässlich der gegenwärtigen Corona-Krise und der Verbreitung von Wissenschaftsfeindlichkeit in diesem Zusammenhang forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel jüngst in einer Rede vor dem Bundestag Forschung zur Frage, wie man in eine Welt gerate, »die sozusagen eine andere Sprache spricht und die wir mit unserer faktenbasierten Sprache gar nicht erreichen können«.Footnote 9 Verschwörungstheorien sind bereits seit Mitte der 1990er Jahre – vereinzelt auch schon früher – Gegenstand geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung in Deutschland.Footnote 10 Die wissenschaftliche Leitperspektive der frühen Beschäftigung mit Verschwörungstheorien ist essenzialistisch geprägt. Verschwörungstheoretisches Wissen sei illegitim, würde auf unwahren Behauptungen beruhen und im Sinne einer kognitiven Defizitthese sei der Besitz solchen Wissens sowie der Glaube an dessen Gültigkeit Symptom psychischer Erkrankungen (Wahnhaftigkeit, Paranoia). Entsprechende Forschungen konzentrieren sich sodann darauf, die Falschheit und geistige Minderwertigkeit von Verschwörungstheorien respektive Verschwörungstheoretiker*innen nachzuweisen. (Vgl. Anton/Schetsche/Walter 2014, S. 10–11) Eine solche Perspektive liegt in der aktuellen Forschungsdiskussion um Verschwörungstheorien dem Ansatz Butters zugrunde, wenn er sagt, dass diese »falsch sind« und »ins Reich der Fantasie gehören« (Butter 2018, S. 39). Bewertungen dieser Art, die jeder sich als deskriptiv verstehende Linguist wohl hinterfragen müsste, können nur auf Grundlage des eigenen, als richtig unterstellten Weltbildes erfolgen. Was davon abweicht, wird als falsch klassifiziert.
Neuere konstruktivistische Verständnisse lehnen die Festlegung des Wahrheitsgehalts von Verschwörungstheorien ab. Insbesondere im Rahmen wissenssoziologischer Arbeiten wird davon ausgegangen, dass Verschwörungstheorien kollektive Wissenssysteme (über Verschwörungen) seien,
in deren Zentrum Erklärungs- oder Deutungsmodelle stehen, welche aktuelle oder historische Ereignisse, kollektive Erfahrungen oder die Entwicklung einer Gesellschaft insgesamt als die Folge einer Verschwörung interpretieren. Als gesellschaftlich konstruierte Wissensbestände […] erfüllen Verschwörungstheorien die Funktion, menschliches Erleben und Handeln mit Sinn zu versehen. (Anton 2011, S. 119)
Dabei sei Wissen »sozial determiniert« (Anton 2011, S. 27). Es umfasse schließlich alles, was als wirklich gedacht wird und müsse in all seinen Erscheinungsformen – »ohne Ansehen seiner Gültigkeit oder Ungültigkeit« (Berger/Luckmann 2010, S. 3) – untersucht werden (vgl. Anton 2011, S. 27).
Die Sprachwissenschaft kann unmittelbar an den wissenssoziologischen Begriff ›Verschwörungstheorie‹ anschließen. Demnach geht es auch bei der linguistischen Analyse von Verschwörungstheorien nicht um den Nachweis ihrer »Falschheit«. Entscheidend ist, dass Verschwörungstheorien für wahr gehalten werden. Insofern geht es darum, die sprachliche Glaubhaftmachung verschwörungstheoretischen Wissens verständlich zu machen.
Verschwörungstheorien als Erzählungen
Verschwörungstheorien entstehen mitunter als Reaktion auf Ungewissheiten oder Unsicherheiten. Sie deuten – oft nur schwer erklärbare, krisenhafte – Ereignisse oder Prozesse, die sich nicht oder nicht gut in vorherrschende Deutungsmuster einbetten lassen, geben ihnen damit Sinn und integrieren sie so besser in bestehende Wissenshorizonte (dies gilt natürlich nur für diejenigen, die für verschwörungstheoretische Erklärungen empfänglich sind). Wie in Abschnitt zwei angemerkt, ist Verstehbarmachung ein zentrales Merkmal von Erzählungen. Daher ist es nicht überraschend, dass Verschwörungstheorien grundsätzlich narrativ strukturiert sind.
Wie ebenfalls erwähnt, machen Erzählungen die Welt verstehbar, indem sie selegieren, sequenzieren und dabei Erlebtes, Geschehnisse, Zustandsveränderungen im Zeitverlauf darstellen. Verschwörungstheoretische Erzählungen erkennen wir daran, dass sie »eine Zustandsveränderung zum Schlechten hin« (Seidler 2016) schildern und diese als Folge heimlichen Handelns einer Gruppe von Personen erklären und begründen (vgl. Bartoscheck 2017, S. 22). Empirische Studien (siehe Anm. 2) haben gezeigt, dass dabei die Hypothese wichtig ist, die Verschwörer*innen würden einen Plan verfolgen, um eigennützige Ziele zu erreichen (gemäß der für Verschwörungstheorien typischen Frage cui bono). Dieses angeblich durchdachte Vorhaben, die Verschwörung eben, macht die Verschwörungstheorie sichtbar.
Auch nach Seidler (2016), der Verschwörungstheorien grundlegend als Erzählungen definiert, sind Verschwörungstheorien narrativ, weil sie
niemals bloß behaupten, dass eine Verschwörung existiert, sondern immer eine Zustandsveränderung thematisieren (beispielsweise Revolutionen, Kriege, Terror, Wirtschaftskrisen), die sie anhand konspirativer Handlungsabläufe erklären. Diese Handlungsabläufe ereignen sich jedoch prinzipiell im Verborgenen und müssen durch die Erzählinstanz ›sichtbar‹ gemacht werden. (Seidler 2016, S. 34)
Charakteristisch für verschwörungstheoretische Erzählungen ist außerdem, dass sie sich aus zwei Plots zusammensetzen, »die sich antagonistisch gegenüberstehen« (Seidler 2016, S. 35; vgl. auch Kelman 2012, S. 18). Der sichtbare Plot entspricht der offiziellen Version eines Geschehens. Der unsichtbare Plot entspricht dem verschwörungstheoretischen Handlungsablauf. Letzterer verweist auf den sichtbaren Plot und erzählt ihn unter Annahme einer Verschwörung neu. Der sichtbare Plot und der unsichtbarere Plot werden so aufeinander bezogen, dass sich eine scheinbar logische Erzählung ergibt. Seidler beschreibt das Verhältnis zwischen den beiden Plots als Relation zwischen Texten:
Das Verhältnis der zwei Plots zeigt sich […] als ein Verhältnis der Intertextualität, da der verschwörungstheoretische Text stets auf eine Ereignisdarstellung verweist, die außerhalb des eigenen Texts liegt und die typischerweise im Rahmen massenmedialer Berichterstattung verortet ist. Dieser externe Text fungiert hier als visible plot, während die Verschwörungstheorie lediglich den invisible plot beziehungsweise die ›geheime Wahrheit‹ als zweiten Plot hinzufügt. (Seidler 2016, S. 36)
Das heißt, verschwörungstheoretische Erzählungen weichen nie vollständig vom sichtbaren Plot ab; es handelt sich um Gegenerzählungen, die stets an bestehende »Geschichten« anknüpfen und sich an diesen bedienen. Dabei deckt der unsichtbare Plot »Defekte« im sichtbaren Plot auf und deutet ihn im Sinne der Verschwörungstheorie um (vgl. Kelman 2012, S. 6).
Im Anschluss an Goffman (1989) versteht Seidler diesen zentralen Aspekt verschwörungstheoretischen Erzählens als Framing, d.h. einem gegebenen Sachverhalt wird kommunikativ durch Neuorganisation der »Fakten« ein bestimmter Sinn gegeben: »Der ›invisible plot‹ entsteht vor allem dadurch, dass der externe ›visible plot‹ insgesamt in den Rahmen ›Verschwörung‹ gesetzt wird und dann je einzelne Elemente im Sinne dieser Rahmung Bedeutung erhalten.« (Seidler 2016, S. 37)
Das Aufdecken von Ungereimtheiten im sichtbaren Plot wird auch als »Rahmenangriff« (Seidler 2016, S. 41) konzipiert. Die verschwörungstheoretische Erzählung greift den Rahmen oder das Interpretationsschema des sichtbaren Plots an und setzt den Rahmen ›Verschwörung‹ an seine Stelle. Jeder Vorgang kann auf diese Weise zum Gegenstand einer Verschwörungstheorie werden. Wissenschaftliche und mediale Erklärungen beispielsweise werden dabei häufig nicht anerkannt.
Herauszuarbeiten mit welchen sprachlichen Mitteln der »Rahmenangriff« erfolgt und wie verschwörungstheoretisches Wissen legitimiert wird, ist Ziel der linguistischen Analyse von Verschwörungstheorien. Neben diversen sprachlichen Mitteln, die wir an anderer Stelle untersucht haben (vgl. Anm. 2), kommen dabei Argumentationen zum Einsatz, insofern gemäß der Plotstruktur Geltungsansprüche einerseits infrage gestellt werden und andererseits erhoben werden. Indem verschwörungstheoretische Erzählungen Informationen so selegieren und sequenzieren, dass sie fragliches Wissen, nämlich den strittigen Zusammenhang einer Verschwörung, als Konklusion zu begründen versuchen, sind sie nicht nur narrativ, sondern auch argumentativ aufgebaut. Dies soll im letzten Abschnitt des Beitrags veranschaulicht werden.