1 Zum Verhältnis von Literatur und Diskurs aus linguistischer Perspektive

Das Aufgreifen (bio-)medizinischer (und daraus resultierender) bioethischer Themen in der Literatur hat eine gewisse Tradition (vgl. Nusser 2011). Für reproduktionstechnologische Verfahren und deren bioethische Reflexion beispielsweise reicht die literarische Thematisierung und Bearbeitung bis in das beginnende 19. Jahrhundert zurück. Nusser (2011, S. 26) geht im Anschluss an die Operationalisierung des Diskursbegriffes bei Jürgen Link (1988) davon aus, dass ästhetische Texte relevante Elemente von Diskursen sind und somit an der Konstitution und Gestaltung von Diskursen beteiligt sind, insofern sie gesellschaftliche Themen bearbeiten, verarbeiten, modifizieren, fiktionalisieren und neu kontextualisieren.Footnote 1

Diskurslinguistische Analysen fokussieren bislang fast ausschließlich Texte als Untersuchungsgegenstände, die nicht dem Bereich des Ästhetischen entstammen. Somit ist der Feststellung Adamziks (2017) leider zuzustimmen, dass »die Diskurslinguistik bislang weder die Literatur noch die Literaturwissenschaft zum Gegenstand gewählt hat, sondern ihre Themen bevorzugt im Kommunikationsbereich Politik sucht und gesellschaftlich brisante Themen (Klimawandel, Migration usw.) privilegiert (vgl. Übersicht Spitzmüller/Warnke 2011)« (Adamzik 2017, S. 106). Anders sieht es in der Textlinguistik aus. Hier gibt es verschiedene Ansätze und Beiträge, die sich mit textuellen Aspekten von Literatur befassen und so die sonst so sehr getrennten Gegenstandsbereiche von Literaturwissenschaft und Linguistik auflösenFootnote 2, wenngleich diese Untersuchungen nicht die Mehrheit textlinguistischer Arbeiten ausmachen.Footnote 3 Der Bezug zu Diskursen bleibt bei den meisten Untersuchungen aber unberücksichtigt bzw. es wird nur vage darauf verwiesen, wenn konstatiert wird, dass für das Verständnis der Texte ein Bezug auf Hintergrundwissen oder auf den Kontext relevant ist (vgl. Spieß 2016, S. 445). Dass literarische Texte immer schon eingebettet sind in Diskurse und vorhandene Wissensstrukturen, ist kein neuer Gedanke. Vor allem im Kontext der Ansicht, dass Linguistik als Kulturwissenschaft zu verstehen ist (vgl. z.B. Schröter u.a. 2019), rückt die Auffassung von Literatur als einem Teil von kommunikationsbereichs-übergreifenden, kontextbedingten und kontextevozierenden Diskursen verstärkt in den Blick (vgl. hierzu Ausführungen von Gardt u.a. 1999; Hermanns 2003).Footnote 4 Dabei stellt sich zugleich auch die Frage, was überhaupt Literatur ist oder was als Literatur gilt.Footnote 5 Jannidis u.a. (2009) legen einen pragmatischen Literaturbegriff zugrunde, der mit diskurslinguistischen Prämissen und Annahmen vereinbar ist, insofern dem Kontext und dem Kontextualisierungspotenzial literarischer Texte hohe Relevanz eingeräumt wird. Ausgangspunkt ist kein feststehender, statischer Begriff von Literatur, sondern vielmehr ein dynamischer Literaturbegriff, der die historischen Kontexte und Situationen aufgreift, die Beschreibung der literarischen Texte ernst nimmt und diese als Wissenselemente einer Zeit auffasst (vgl. Jannidis u.a. 2009, S. 33). Jannidis u.a. (2009) beschreiben, wie dies konkret realisiert werden kann und welche Kriterien dabei relevant sind:

Ein in der historischen Forschung nützlicher Literaturbegriff kann unseres Erachtens also nur so bestimmt werden, dass die pragmatische Wende, die sich schon vor längerer Zeit als Königsweg erwiesen hat, radikalisiert und tatsächlich auf jeden Aspekt ausgeweitet wird. Entsprechend kann dies nicht über eine Enumeration von Merkmalen und ›universellen‹ Konventionen geleistet werden, sondern nur über historisch variable Merkmalskonstellationen und ebenso fluktuierende Typisierungen, die innerhalb des eben skizzierten Begriffsrahmens ausgeprägt werden. (Jannidis u.a. 2009, S. 33)

Ein diskurslinguistischer Zugriff auf ästhetische Texte ist insofern von Belang, als durch literarische Texte eine bestimmte Perspektive auf Welt eingenommen wird, die sich in besonderer Weise sprachlich manifestiert und damit eine spezifische Form von Wissen konstituiert. Literarische Texte tragen somit auf ihre je eigene Weise zur diskursiven Wissenskonstitution bei. Der Aspekt der Wissensgenerierung wird v.a. im Kontext der Adaption der foucaultschen Diskurstheorie in der Linguistik zentral und vielfach diskutiert (vgl. Busse/Teubert 1994; Busse 1987; Spieß 2011; Spitzmüller/Warnke 2011; Warnke 2007; Warnke/Spitzmüller 2008). Texte und jegliche sprachlichen Äußerungen werden aus diskurslinguistischer Perspektive im Anschluss an Foucault als Effekte von Diskursen, also als diskursiv hervorgebrachte Gegenstände bzw. Ereignisse betrachtet. Literarisch-ästhetische Texte sind dementsprechend in einem diskurslinguistischen Zusammenhang grundsätzlich neben den Texten aus anderen Kommunikationsbereichen als Teil des kommunikativen Haushalts einer Gesellschaft aufzufassen. Im Anschluss an Luckmann (vgl. Luckmann 1986, 1988; vgl. auch Günthner/Knoblauch 1994) werden kommunikative Gattungen und Texte als Lösungsmöglichkeiten kommunikativer Aufgaben konzeptualisiert, die sich sprachlich manifestieren und als sedimentierte Muster zeigen. Literarisch-ästhetische Texte stellen somit eine Form gesellschaftlicher Praxis dar, die als kommunikative Praktiken mit ästhetischer und/oder poetischer Funktion gleichwertig neben Texten und kommunikativen Gattungen anderer Kommunikationsbereiche den kommunikativen Haushalt einer Gesellschaft bestücken bzw. konstituieren und ebenso an der Wissenskonstitution im Diskurs beteiligt sind, nur wird dieses Wissen ästhetisch hervorgebracht.

Geht man dementsprechend von den genannten diskurslinguistischen und sozialkonstruktivistischen Grundannahmen aus und legt ein Verständnis von Literatur zugrunde, wonach es bei Literatur um Interpretation, Deutung und Erzeugung von Wirklichkeiten geht (vgl. Adamzik 2017), so muss die Diskurslinguistik die Literatur auch als Stimme im Diskurs und als Diskursakteurin ernst nehmen, da sie eine Perspektive auf Wirklichkeit und Welt darstellt. Das zeigt sich letztlich auch darin, dass Literatur gesellschaftlich brisante Themen (wie z.B. bioethische Themen) aufgreift, be- und verarbeitet.

2 Diskurs als Gegenstand der Linguistik: Theoretische und methodische Klärungen

Die Diskurslinguistik orientiert sich in der Bestimmung des Diskursbegriffes am einzeltext- und einzelaussagenübergreifenden Verständnis von Diskurs im Sinne Foucaults, der unter einem Diskurs

eine Menge von Aussagen [versteht], insoweit sie zur selben diskursiven Formation gehören. Er bildet keine rhetorische oder formale, unbeschränkt wiederholbare Einheit, deren Auftauchen oder Verwendung in der Geschichte man signalisieren (und gegebenenfalls erklären) könnte. Er wird durch eine begrenzte Zahl von Aussagen konstituiert, für die man eine Menge von Existenzbedingungen definieren kann. Der so verstandene Diskurs ist keine ideale und zeitlose Form, die obendrein eine Geschichte hätte. Das Problem besteht also nicht darin, sich zu fragen, wie und warum er zu diesem Zeitpunkte hat auftauchen und Gestalt annehmen können. Er ist durch und durch historisch: Fragment der Geschichte, Einheit und Diskontinuität in der Geschichte selbst, und stellt das Problem seiner eigenen Grenzen, seiner Einschnitte, seiner Transformationen, der spezifischen Weisen seiner Zeitlichkeit eher als seines plötzlichen Auftauchens inmitten der Komplizitäten der Zeit. (Foucault 1981, S. 170)

Diskurse aus linguistischer Perspektive sind text- und aussagenübergreifende Wissensformationen, die unter anderem sprachlich konstituiert werden und zwar durch verschiedene Kommunikationsformen, also Textsorten und kommunikative Gattungen. Die Linguistik konzentriert sich auf die sprachliche Formation von Diskursen, wenngleich Diskurse über Sprache hinausgehen (so sind auch Architekturen, Körperpraktiken, Institutionen Teile bzw. Elemente von Diskursen). Im Anschluss an Foucault hat sich in der Linguistik im Rahmen der Kritischen Diskurslinguistik und der Diskurssemantik ein Diskursbegriff etabliert, der sich mit verschiedenen Merkmalen, die mehr oder weniger realisiert sein müssen, beschreiben lässt und der auch literarische Textexemplare als Teile von Diskursen auffasst, denn – so Foucault –,

es gibt keine Aussage im allgemeinen, keine freie, neutrale und unabhängige Aussage; sondern stets eine Aussage, die zu einer Folge oder einer Menge gehört, eine Rolle inmitten der anderen spielt, sich auf sie stützt und sich von ihnen unterscheidet: sie integriert sich stets in einen Aussagemechanismus, in dem sie ihren Anteil hat, und sei dieser auch noch so leicht und so unscheinbar. (Foucault 1981, S. 144).

Diskurse lassen sich als thematisch gebundene Text- und Aussagenverbünde beschreiben, die über ihre Oberflächenstruktur zugänglich sind (vgl. Busse/Teubert 1994; Warnke 2007; Warnke/Spitzmüller 2008; Spieß 2011). Die Texte und Aussagen erscheinen als Ereignisse im Diskurs seriell und sukzessive, somit ist der Diskurs durch eine gewisse Dynamik und Prozessualität gekennzeichnet, die u.a. von außersprachlichen Faktoren und sozialen Praktiken bedingt sind. Diskurse finden im Raum der Öffentlichkeit statt und sind auf (Massen‑)Medialität angewiesen, sie sind dialogisch und intertextuell (vgl. dazu ausführlich Spieß 2011, Kap. 2.3) konfiguriert. Warnke (2007) beschreibt Diskurse als Praktiken:

Wenngleich hier jeweils konkrete Äußerungen einen DiskursFootnote 6 etabliert haben, so ist es nie die einzelne Aussage, die das Feld der Präsenz zu konfigurieren in der Lage wäre, es sind vielmehr anonyme Praktiken, die singuläre Äußerungen auf koexistierende Bedingungen beziehen (Warnke 2007, S. 15)

und eine geordnete Praxis konstituieren, also eine Wissensformation mit diskursiv etablierten und diskursiv geltenden Normen begründen. Die Aussagen/Texte/kommunikativen Gattungen als wesentliche Elemente im Diskurs nehmen dabei immer schon eine diskursiv hervorgebrachte Position ein, die im Diskurs eine bestimmte Funktion ausfüllt (vgl. Warnke 2007, S. 15). Das gilt auch für literarische Texte, die als Akteure Stimmen im Diskurs sind und sich zum diskursiven Sachverhalt positionierenFootnote 7, was in erster Linie sprachlich geschieht. Diskurse werden in linguistischer Perspektive in ihren verschiedenen Dimensionen beschrieben, zu denen die situativ-kontextuelle, die thematische, die funktionale und die formale Dimension gehört. Diskurse bestehen aus unterschiedlichen sprachstrukturellen Ebenen; d.h. prinzipiell spielen von der phonologischen über die morphologische, syntaktische, lexikalische bis zur textübergreifenden Ebene alle Ebenen in der Diskurskonstitution eine Rolle. Innerhalb von Diskursen gibt es unterschiedliche Diskursakteure, die durch Positionierungs- und Wertungshandlungen den Diskurs strukturieren.

3 Empirische Analyse

3.1 Zum Analysekorpus

Ästhetisch-literarische Texte sind entsprechend der hier zugrunde liegenden Diskursauffassung als Teil des kommunikativen Haushalts (vgl. Luckmann 1986, 1988) und damit als Stimmen im Diskurs aufzufassen, die »Kommunikationsangebote mit Sinnoption [darstellen]« (Spieß 2016, S. 445).

Im Hinblick auf die in verschiedenen BioethikdiskursenFootnote 8 thematisierte Problemstellung der Verwertbarkeit bzw. der Verzweckung des Menschen lassen sich verschiedene literarische Texte ausmachen, die diese Frage zum Gegenstand haben. Der Analyse dieses Beitrags liegen zwei Romane zugrunde, die sich mit der Problematik befassen, Menschen unter bestimmten Bedingungen als »Ersatzteillager« für andere Menschen einzusetzen. Es handelt sich dabei zum einen um den Roman von Ninni Holmqvist Die EntbehrlichenFootnote 9 und zum anderen um den Kinder- und Jugendroman von Birgit Rabisch Duplik Jonas 7.Footnote 10 Über die zentrale Diskurseigenschaft des thematischen Zusammenhalts (vgl. Busse/Teubert 1994) sind sie als Elemente des bioethischen Diskurses aufzufassen und den Protagonisten der Romane in Summe sowie der jeweiligen Erzählinstanz kann die Rolle von Diskursakteuren in den jeweiligen Diskursen zugeschrieben werden. Durch die Figuren der Romane werden bioethische Themen, die sich mit dem medizinischen Umgang mit Menschen reflektierend auseinandersetzen, eingeführt und narrativ entfaltet. Die Bewertung des menschlichen Handelns auf der Ebene der Romanwelten einerseits und auf der Ebene des Diskurses als Stimmen/Positionen im Diskurs andererseits erfolgt durch die je spezifische Figurenkonstellation und -führung innerhalb der Romane. Der Inhalt der Romane lässt sich wie folgt kurz zusammenfassen:


a) Zum Inhalt des Romans Die Entbehrlichen

Im Roman Die Entbehrlichen entwirft die Autorin eine Gesellschaft, die den Nutzen bzw. die Nützlichkeit der Menschen für die Gesellschaft in den Vordergrund stellt, insofern die Menschen nach dem Kriterium der Produktivität und Nützlichkeit in »Entbehrliche« und »Benötigte« eingeteilt werden. Zur Kategorie der Benötigten zählen alle diejenigen, die Familien- und Betreuungsaufgaben zu leisten haben oder gesellschaftlichen Erfolg vorweisen können, die Entbehrlichen sind alleinstehende, unverheiratete und kinderlose Personen. Letztere werden mit ihrem 50. Geburtstag in ein Sanatorium eingewiesen. Dort müssen sie ihre Nützlichkeit für die Gesellschaft erweisen, indem sie für psychologische Tests, Humanexperimente und Organspenden bis hin zur letzten Operation, der sogenannten ›Endspende‹, die den Tod des Spenders bedeutet, zur Verfügung stehen. Die Protagonistin Dorrit Wegner gehört zu den Entbehrlichen. Nach ihrer Einweisung in das Sanatorium, im Roman auch »Einheit« genannt, arrangiert sie sich mit dem Leben dort und beginnt den in der Einheit vorhandenen Luxus und Komfort zu genießen. Erst die Begegnung mit einem Menschen, der ihr sehr viel bedeutet, lässt die Protagonistin mit Furcht an das Lebensende denken und das gesellschaftliche System hinterfragen.

b) Zum Inhalt des Romans Duplik Jonas 7

Abgeschottet von der Außenwelt lebt Jonas in einem Hort, in dem die Bewohner in besonderer Weise auf ihre Gesundheit achten müssen. Warum sie das machen müssen, ist den Bewohnern nicht bekannt. Sie leben dort als Klone bzw. genetische Zwillinge von in der Welt draußen lebenden Personen, für die sie als so genanntes ›Ersatzteillager‹ aufgezogen wurden. Sie werden von den Menschen ›draußen in der Welt‹ Dupliks genannt. Hin und wieder befällt einzelne der jugendlichen Bewohner und Kinder in dem Hort der »Fraß«. Der »Fraß« gilt im Hort als Krankheit, bei der Körperteile amputiert oder Organe entnommen werden müssen, denn nur das kann Heilung bringen. In diesem Glauben werden die Dupliks im Hort belassen. Tatsächlich ist es aber so, dass der genetische Zwilling der Außenwelt das amputierte Körperteil oder entnommene Organ benötigt. Nachdem der genetische Zwilling des Protagonisten Jonas, Jonas Helcken, durch seinen Vater von der Existenz eines Klonzwillings erfährt, der ihm nach einem Unfall die Augen gespendet hat, gerät er in Zweifel über die gesellschaftlich etablierten Normen. Er entscheidet sich, gegen diese Normen anzukämpfen, u.a. befreit er den Duplik Jonas aus dem Hort und engagiert sich politisch, tritt in Talkshows auf etc.

Die Romane und ihre narrative Struktur nehmen eine besondere Rolle in bioethischen Diskursen ein. Während Texte und Äußerungen im öffentlich-politischen Diskurs wie politische Reden, Stellungnahmen, Kommentare, Berichte, Petitionen etc. nicht-fiktionaler Art der Standardwelt zuzurechnen sind, sind Romane im Anschluss an Adamzik der Bezugswelt des Spiels und der Phantasie zuzuordnen, in der es um Fiktionen geht und die der Standardwelt gegenübersteht, wenngleich Standardwelt und die Welt des Spiels sich gegenseitig bedingen und voneinander abhängen (vgl. Adamzik 2 2016, S. 118 f., vgl. auch Adamzik 2017, S. 115–117). Die der Analyse zugrunde liegenden Romane weisen alle eine narrative Struktur auf, insofern von singulären Ereignissen/Geschehnissen/ Erfahrungen (Singularität) in ihrer zeitlichen Abfolge (Temporalität) erzählt wird, wobei die dargestellten Ereignisse nicht nur zeitlich geordnet sind, sondern auch räumlich, zeitlich und kausal aufeinander bezogen werden (Kontiguität).Footnote 11 Somit trifft die Minimaldefinition von Martínez »Erzählen ist Geschehensdarstellung + x« auf beide Romane zu (vgl. Martínez 2017, S. 2–3).Footnote 12 Ebenso kann die von Labov/Waletzky (1967) für Alltagsnarrationen herausgearbeitete Grundstruktur festgestellt werden, die aus den Elementen orientation, complication, evaluation, resolution und coda (Labov/Waletzky 1967, S. 32 ff.) besteht.Footnote 13

In ihrer spezifischen sprachlichen Ausgestaltung der Themen, die durch Fiktionalität gekennzeichnet und als Dystopien konstruiert sind, nehmen beide Romane Bezug auf gesellschaftlich brisante Themen wie Humanversuche, Transplantationsmedizin und Organspende, Forschung an und mit menschlichem (Zell)material. Sie nehmen nicht nur Bezug, vielmehr positionierenFootnote 14 sie sich zu konfliktreichen, umstrittenen bioethischen Sachverhalten und haben im Diskurs nicht nur eine poetische/ästhetische Funktion, sondern als Stellung beziehende Stimme im Diskurs fungieren sie zudem meinungsbildend und einstellungsmodifizierend, insofern sie narrativ Argumente für oder gegen bioethische Sachverhalte in den Diskurs einspeisen. Die beiden Funktionen greifen somit ineinander und sind nicht strikt zu trennen. Wie diese diskursiven Strategien der Meinungsbekundung konkret realisiert werden, soll im folgenden Abschnitt erläutert werden.

3.2 Diskursive Strategien

Die hier zugrundeliegenden Diskursstimmen in Form von Romanen, die sich mit bioethischen Themen auseinandersetzen, stellen – betrachtet man sie im Gesamtzusammenhang bioethischer Diskurse – Komplexargumentationen dar, die aber in narrativen Strukturen diskursiv zur Geltung gebracht werden, d.h. in den hier untersuchten Fällen stellt die Erzählung/der Plot als solcher eine als Narration verpackte argumentative Stimme im Diskurs dar.

Als KomplexargumentationenFootnote 15 positionieren sich die literarischen Stimmen (durch die erzählte Geschichte und die Konstellation der Romanprotagonist*innen) zu gesellschaftlich umstrittenen Themen unserer Alltagswelt. Innerhalb der Erzählung spielt die Evaluation eine besondere Rolle, die das erzählte Geschehen bewertet und somit die argumentative Funktion der Narration stützt. Die Argumentationen, die sich auch als ArgumentationsmusterFootnote 16 manifestieren, kommen im Romanplot dabei nicht immer dadurch zur Geltung, dass es ein explizites Für und Wider im Hinblick auf einen Sachverhalt gibt, sondern sie zeigen sich indirekt im Gesamtgefüge der erzählten Ereignisse beispielsweise durch Reflexionen, Handlungen oder Gespräche der Romanprotagonist*innen, innerhalb derer musterhaft Teile von Argumentationen angeführt werden. Sie sind sozusagen in die narrative Struktur eingewoben, so dass sie interpretativ erschlossen werden müssen. Das wird an den Belegen 1–3 aus dem Roman Die Entbehrlichen, aber auch in den Belegen 4–7 aus dem Roman Duplik Jonas 7 deutlich.

3.2.1 Die Entbehrlichen

(1) »Ich begann eine kürzere Erzählung über eine alleinstehende Frau um die fünfundvierzig, die ein missgebildetes Kind geboren hatte […]. Es war unsicher, ob das Kind mehr als Wochen, Tage, Stunden überleben würde. Und falls es gegen alle Vorzeichen die erste, sehr kritische Zeit überlebte, würde es wahrscheinlich ein hilfloser Klumpen werden, ohne Sehkraft, Gehör, Geruchs‑, Geschmackssinn und Gefühl, ohne Fähigkeit, andere Menschen zu erkennen oder sich ihnen anzuschließen. Ein fressendes Paket, das sein Leben lang rund um die Uhr Betreuung brauchte und das die Mutter ohne massive Unterstützung der Gesellschaft unmöglich pflegen konnte. Die Frage war: Ist diese Mutter dann als Elternteil im praktischen, konkreten Sinn des Wortes zu betrachten? Ist sie als benötigt zu betrachten? Die Frage war: Ist man benötigt, wenn man Nachkommen gebiert, die sich nie an einen binden und nie einen eigenen Beitrag leisten können?« (Holmqvist 2016, S. 92)

Die Protagonistin Dorrit, die zur Kategorie der entbehrlichen Menschen gehört, schreibt in ihrer freien Zeit im Sanatorium selbst an einer Erzählung. Wir haben es hier also mit einer Erzählung innerhalb der Erzählung zu tun, die aber die Normen der erzählten Romanwelt aufgreift, spezifiziert und zuspitzt. In der Erzählung der Protagonistin Dorrit wird der Wert des Lebens eines Kindes mit Beeinträchtigung in Frage gestellt. Durch die Infragestellung des Lebenswertes eines Kindes mit Beeinträchtigung im Zusammenhang mit der Kategorisierung in »benötigte« und »entbehrliche« Menschen wird, wenn man das Romanende im Blick hat, die Absurdität des Gesellschaftssystems, das in benötigte und entbehrliche Menschen einteilt, vor Augen geführt. Das Wider gegen den Sachverhalt der Einteilung auf der Erzählebene zeigt sich an der Infragestellung der Einteilungskategorien. In der erzählten Passage kommt das Nutzenargument in Form der Frage Ist man benötigt, wenn man Nachkommen gebiert, die sich nie an einen binden und nie einen eigenen Beitrag leisten können? zur Geltung. Das Nutzenargument wird innerhalb der Erzählung verwendet, einerseits um die Erzählung fortzuführen, andererseits aber auch, um durch die Zuspitzung auf der Erzählebene Kritik an der utilitaristischen/konsequentialistischen Diskursposition auf der Ebene des gesellschaftlich geführten Bioethikdiskurses zu üben, was aber nur deutlich wird, wenn man das Romanende mitbetrachtet. Die Kritikfunktion wird innerhalb der Narration (vgl. Beleg 1) nur erreicht durch die Etablierung einer weiteren, fiktionalen Narration, die als Reflexion auf das im Roman geltende Gesellschaftssystem im Allgemeinen und auf das Nutzenargument im Besonderen gelesen werden kann. Durch die Frage, die in dieser Erzählung aufgeworfen wird (Ist man benötigt, wenn man Nachkommen gebiert, die sich nie an einen binden und nie einen eigenen Beitrag leisten können?) nimmt die Erzählung im Diskurs zugleich auch die Funktion einer sprachlich komplexen Warnungshandlung vor einem solchen Gesellschaftssystem ein, insofern hier der Nutzenbegriff in Frage gestellt wird.

Die Kritik an einer solchen Gesellschaftsform sowie der Roman als sprachlich komplexe Warnungshandlung werden vor dem Hintergrund des Romanendes deutlich, die Protagonistin gerät nämlich selbst in Widerspruch zu den im Roman etablierten Gesellschaftsnormen und leidet zusehends an den gesellschaftlichen Normen, was letztlich dazu führt, dass sie durch die ›freiwillige Endspende‹ ihren Freitod wählt.

Auch in einem Gespräch zwischen den Protagonistinnen Alice, Dorrit und Elsa (Beleg 2), die alle drei in der Einheit leben und eines Tages zur Endspende bestimmt werden, wird das Nutzenkriterium in Frage gestellt, wenn Alice die These aufstellt, dass alle ein Recht zu leben haben. Die Kritik an einem solchen Gesellschaftssystem wird deutlich durch den ironischen Kommentar von Elsa Wie edel du bist, der die Aussage bewertet, und durch die ironische Antwort von Alice Ja, so edel bin ich. Ihr könnt mich die heilige Alice nennen. Ironisch gebrochen wird die Situation auch dadurch, dass hier mit der in der erzählten Welt strittigen These Jeder Mensch hat das Recht auf Leben operiert wird; eine solche Auffassung hat im fiktionalen Gesellschaftssystem keinen Platz, denn die drei Protagonistinnen haben aufgrund bestimmter Umstände, die sie als für die Gesellschaft nicht benötigte ausweisen, ab ihrem 50. Lebensjahr kein Recht auf Leben und Unversehrtheit mehr, und darum wissen sie auch. Sie werden nur noch im Hinblick auf ihren Nutzen als Organspenderinnen und Versuchspersonen im System betrachtet.

(2) »Hätte ich gewusst, was für ein relativ einfacher Eingriff das ist«, sagte Alice eines Nachmittags, als wir alle drei in der Sauna saßen, sie und Elsa einander gegenüber jeweils in einer Ecke auf der obersten Bank und ich auf der mittleren Bank unter Elsa, »hätte ich mir sehr gut vorstellen können, auf völlig freiwilliger Basis eine Niere zu spenden, einfach so, draußen in der Gesellschaft.«

»Meinst du?«, sagte Elsa und klang aufrichtig erstaunt. »Einer benötigten Prachtmutti mit fünf prächtigen Kindern und wachstumsbegünstigendem Job? Freiwillig? Ist das dein Ernst?«

»Ja, aber für so eine soll es natürlich nicht sein! Oder nein, im Ernst, alle haben das Recht zu leben. Auch Prachtmuttis.«

»Ach so?«, sagte Elsa. »Was du nicht sagst. Wie edel du bist!«

»Ja, so edel bin ich. Ihr könnt mich die heilige Alice nennen.« (Holmqvist 2016, S. 131)

Auf der diskursiven textübergreifenden Ebene geht die Narration eine enge Verbindung mit der ArgumentationFootnote 17 ein, insofern Narrationen Argumente gegen die Verzweckung des Menschen auf der nicht-argumentativen Ebene stützen und erzählerisch gestalten, indem sie auf der affektiven Ebene durch das Hervorrufen von Anteilnahme bzw. Emotionalität gegenüber dem erzählten Sachverhalt Einstellungen modifizieren oder Begründungen stützen; die Erzählung kann somit als Argument gelesen werden (vgl. Girnth/Burggraf 2019a und 2019b). Weil die Begründungsschemata in die Erzählung und den Fortgang der erzählten Geschichte eingebettet sind, werden durch die Erzählung Einstellungsmodellierungen gegenüber dem umstrittenen Sachverhalt vorgenommen. Die Einstellungsmodellierung kann z.B. über die Thematisierung, Darstellung und Auslösung von Emotionen oder über Bewertungen von Sachverhalten durch entsprechende Lexik erfolgen. Damit hat die Narration im Zusammenspiel mit der Argumentation zugleich eine wertende Funktion und steht somit im Dienst der Persuasion (vgl. Girnth/Burggraf 2019b, S. 566–571; Klein 2019, S. 181–186). Deutlich wird eine solche Wertungshandlung in Beleg 1 an den Bezeichnungen eines Kindes mit Beeinträchtigung als fressendes Paket oder als hilfloser Klumpen. Diese Bezeichnungen konzeptualisieren das Kind als Objekt und nicht als Mensch, dessen gesellschaftlicher Nutzen innerhalb des Romans in Frage gestellt wird. Auf Diskursebene fungiert diese Position aber durch ihre Zuspitzung in Form der Verneinung des Lebensrechts als Kritik am Gesellschaftssystem im Roman und letztlich auch als Kritik an Positionen im gesellschaftlichen Diskurs, die beeinträchtigtem Leben das Lebensrecht absprechenFootnote 18. In Beleg 2 konfrontiert Alice ihre Begleiterinnen mit dem Prinzipientopos vom Recht auf Leben für alle und stellt damit eine alternative ethische Position zur Diskussion, die in der erzählten Welt aber nicht realisiert wird. Damit positioniert sich der Roman auf Diskursebene gegenüber dem im Roman entworfenen Gesellschaftssystem als kritische Stimme.

Eine weitere Textstelle, die die utilitaristische Ausrichtung des im Roman etablierten Gesellschaftssystems reflektiert, stellt Beleg 3 dar. Hier versucht die Protagonistin Dorrit den Tod von Majken nach deren Endspende zu verarbeiten, wobei sie psychotherapeutische Hilfe im Sanatorium erhält. Dabei wird von Dorrit über das Für und Wider der Endspende im Hinblick auf deren Nutzen reflektiert. Beleg 3 stammt aus der Szene, in der Dorrit sich mit der Endspende auseinandersetzt.

(3)»Weißt du, wer Majkens Bauchspeicheldrüse bekommen hat?« Ich musste mich räuspern, bevor ich antworten konnte: »Nein. Oder doch: eine Krankenschwester mit vier Kindern.« Arnold beugte sich schräg nach vorn, nahm eine Mappe von dem kleinen Tisch neben dem Sessel, in dem er saß, öffnete sie und nahm eine Fotografie heraus, die er mir gerade reichen wollte, als er innehielt:

»Selbstverständlich ist es nicht nur diese eine Person, die dank Majken ihr Leben zurückbekommt. Ihr Herz kann an jemanden gegangen sein, ihre Lungen an einen anderen, die Niere – denn ich nehme an, sie hatte nur noch eine – an wieder einen anderen und die Leber ebenso. Und eine Menge mehr ist herausgenommen und zur Aufbewahrung in unsere Organ- und Gewebebanken gegangen. Ein einziger hirntoter Körper kann bis zu acht Personen das Leben retten. Die Entfernung und die Transplantation der übrigen Organe und Gewebe ist sozusagen ein Bonus, wenn ein bestimmtes Organ, in diesem Fall die Bauchspeicheldrüse, während einer geplanten und genau vorbereiteten Transplantation von einem bestimmten Spender mit der richtigen Blutgruppe und so weiter an einen bestimmten Empfänger geht. Und das hier«, jetzt beugte er sich wieder vor und reichte die Fotografie, »ist also die Empfängerin von Majkens Bauchspeicheldrüse.« […] Auf dem Foto in meiner Hand war eine Frau mit vier Kindern im Vorschulalter abgebildet, von denen zwei Zwillinge waren. Die Frau sah müde und alt aus, ihr Gesicht ungesund schlaff und ausgezehrt. »Sie ist mit diesen Kindern allein«, erklärte Arnold. »Ihr Partner – der Vater der Kinder – ist vor zwei Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen.« (Holmqvist 2016, S. 102)

In Beleg 3 wird die Argumentation für die Spendepraxis in der im Roman entworfenen Gesellschaft in Form des Argumentationsmusters vom Heilen und Helfen realisiert.Footnote 19 Das Muster kann folgendermaßen formuliert werden: Weil durch den Tod eines entbehrlichen Menschen vielen benötigten Menschen geholfen werden kann, ist dieser zu akzeptieren/zu befürworten. Mit der in der Erzählepisode eingebetteten Argumentation, dass durch Majkens Tod vielen ›benötigten‹ Menschen geholfen wurde, soll Dorrit dazu gebracht werden, den Tod Majkens (und auch ihren eigenen in Aussicht stehenden Tod) zu akzeptieren und für sinnvoll zu halten. Die Struktur der in die Narration integrierten Argumentation lässt sich (wie in Tab. 1 ersichtlich) aus dem Text rekonstruieren, wobei die strittige These sprachlich im Text nicht expliziert wird.

Tab. 1 Rekonstruktion des Argumentationsmusters vom Heilen und Helfen

Für die narrative Struktur des Romans ist das aus der Argumentation resultierende Muster des Heilens und Helfens konstitutiv, denn es ist Teil der dargestellten Geschehnisse. Narration und Argumentation hängen demzufolge sehr eng zusammen. Durch die innere Auseinandersetzung mit der Frage, was sinnvoll im Leben ist, versucht die Protagonistin ihr Schicksal zu akzeptieren und die utilitaristische Sichtweise der Verwertung des Menschen scheint ihr zunächst dabei zu helfen; bis zu dem Punkt der Geschichte, in der sie erfährt, dass sie ein Kind bekommt. Die Schwangerschaft wird im Sanatorium ebenfalls nutzenorientiert betrachtet, insofern das Kind als benötigt betrachtet und gegen den Willen von Dorrit zur Adoption freigegeben wird; Dorrit behält trotz der Schwangerschaft, die normalerweise in der im Roman entworfenen Gesellschaft den Status einer benötigten Person begründet, im Sanatorium den Status der Entbehrlichen bei, denn die Mitglieder der Einheit können nicht mehr zurück in das gesellschaftliche Leben treten. Durch die drastische Darstellung der Nutzenperspektive nimmt der Roman als Komplexargumentation im Abgleich mit der Standardwelt im Diskurs eine kritische Rolle im Hinblick auf die Verzweckung und Verwertung des Menschen ein.

Indem die Geschichte von Dorrit erzählt wird, wird der/die Rezipient*in dazu angehalten, sich in die Welt der Protagonistin einzufühlen und Empathie zu zeigen, zugleich aber auch die erzählte Welt mit der eigenen Standardwelt abzugleichen und die Standardwelt zu reflektieren. Zur Standardwelt gehört das Wissen um biomedizinische und biotechnische Eingriffe in den Menschen und um die bioethische Reflexion solcher Techniken und Verfahren in Gesellschaft und Politik.

3.2.2 Duplik Jonas 7

Auch im Kinder- und Jugendroman Duplik Jonas 7 kommt die Argumentationsfigur des Nutzens und der Nützlichkeit in Form des Topos vom Heilen und Helfen zur Geltung, wenn das Dupliksystem, die Erzeugung von Klonen zum Zwecke der Verfügbarkeit passgenauer Organe, erläutert wird und Jonas durch seinen Vater von seinem Duplik, gegen dessen Erzeugung die Mutter sich vergeblich gewehrt hat, erfährt.

(4) »Und sie hat nachgegeben?« »Aber sicher doch. Als du geboren wurdest, war die ganze Aufregung und die ewige Diskussion um die Ethik der Duplikhaltung auch schon wieder abgeflaut. Es ist doch ganz klar, dass es geradezu eine moralische Pflicht ist, alles medizinisch und technisch Mögliche zu tun, um die Gesundheit eines Menschen zu erhalten, oder etwa nicht? In ein paar Jahren sind übrigens ganz entscheidende neue Schritte in dieser Richtung zu erwarten, wie mir Professor Reimann vorhin erklärt hat. […] Nun, bisher kann man ja nur aus Embryonalzellen Dupliks herstellen, die dann von einer Leihmutter ausgetragen werden. Bald wird man aber auch aus Zellen Erwachsener Dupliks produzieren! Der Vorteil liegt auf der Hand: Du kannst zum Beispiel von einem Fünfzigjährigen einen Duplik erzeugen. Phänomenal, nicht? Das löst endlich das bisher größte Problem: die Gleichaltrigkeit.« (Rabisch 2019, S. 52 f.)

Der Topos vom Helfen und Heilen wird im Text durch die als rhetorische Frage verpackte Forderung Es ist doch ganz klar, dass es geradezu eine moralische Pflicht ist, alles medizinisch und technisch Mögliche zu tun, um die Gesundheit eines Menschen zu erhalten, oder etwa nicht? realisiert. Im Beleg 4 wird die Duplikhaltung nicht negativ bewertet oder kritisch reflektiert, vielmehr wird sie unhinterfragt akzeptiert; die Weiterentwicklung der Technik hin zum Klonen aus Zellen erwachsener Personen wird zudem als Fortschritt bewertet, was durch die Bewertung der zu entwickelnden Technik mit dem positiv wertenden Nomen Vorteil und dem elliptisch realisierten Prädikativum phänomenal deutlich wird.

Kritisch bewertet wird diese ethische Norm im Fortlauf der Erzählung erst, wenn der Protagonist Jonas Helcken nach einer von seinem Duplik empfangenen Spende beginnt, die Spendepraxis nach und nach in Frage zu stellen. So überlegt er, ob und inwiefern sich sein Duplik von ihm im Besonderen und Dupliks von Menschen im Allgemeinen unterscheiden. Diese Infragestellung wird im Roman v.a. initiiert durch ein nach der erfolgten Augentransplantation geführtes Gespräch von Jonas mit seinem Vater und die im Anschluss an das Gespräch einsetzenden Reflexionen über die Klonpraxis, die u.a. in den Textpassagen (5–7) realisiert sind, aber auch durch die Auseinandersetzung mit seiner Schwester, die als Aktivistin gegen die Klonpraxis politisch vorgehen und Jonas für ihre Aktionen gewinnen möchte, und über die Fragen danach, wer ein Lebensrecht hat und wer nicht, wer mit welchen Einschränkungen leben darf oder nicht (Rabisch 2019, S. 79).

(5) »Plötzlich fühlt er sich leer, ausgepumpt. Zuerst dieser Schock: transplantierte Augen! Abstoßungsgefahr! – und dann die Erlösung: Duplikaugen! […] Doch dieses Vakuum füllt sich plötzlich mit einem Bild, dem Bild seines Dupliks, der jetzt wohl auch in einem Klinikbett liegt, mit einem Verband um die Augen. Aber er wird nicht sehen können, wenn man ihn von dem Verband befreit. Ob sein Duplik darunter leidet, blind zu sein? Natürlich hat Jonas schon in der Schule gelernt, dass Dupliks völlig andersartige Lebewesen sind als Menschen. Äußerlich zwar ähnlich, ja sogar identisch mit dem Menschen, dessen Gesunderhaltung sie dienen. Aber von ihrem Gefühlsleben weiß man ebenso wenig wie von den Gefühlen eines Schimpansen. […] Natürlich haben die auch Gefühle. Aber eben keine menschlichen.« (Rabisch 2019, S. 56 f.)

In Beleg 5 wird nicht nur die Frage reflektiert, ob ein Duplik Gefühle hat, sondern es wird die für den Roman zentrale Frage nach dem Status von Dupliks in Form des Differenztopos/-musters gestellt. Das Muster lässt sich wie folgt abstrahieren: Weil Dupliks andere Lebewesen als Menschen sind/einen anderen Status als Menschen haben, verhalten sie sich/fühlen/handeln sie auch anders und sind anders zu behandeln.

Empathie mit dem Duplik wird innerhalb der Narration durch die Frage Ob sein Duplik darunter leidet, blind zu sein? erzeugt, an die sich Reflexionen der Frage nach dem Status von Dupliks im weiteren Fortlauf des Romans anschließen.

(6) Darf man todkranke Menschen von ihren Leiden erlösen oder ist das Mord? Ist ein Mensch verpflichtet, seine Gene zu kennen um (sic) der Gesellschaft durch vermeidbare Krankheiten nicht zur Last zu fallen, oder darf er einfach drauflosleben? […] Je mehr sie darüber lasen und diskutierten, umso unlösbarer fand er diese Fragen. Und trotzdem sah er ein, dass sie in einer Gesellschaft beantwortet und eindeutig geregelt werden mussten. Das war nur durch demokratische Mehrheitsentscheidungen möglich. […] Auch das Problem der Duplikhaltung hatte ihm immer Unbehagen bereitet. Auf der einen Seite erschien es ihm logisch, dass Wesen, die speziell zu Verwertungszwecken hergestellt wurden, nicht mit Menschen auf eine Stufe gestellt werden konnten. Zum anderen waren sie eben doch aus demselben Material gemacht und von daher vielleicht doch … menschenähnlich? Ach, er hasst diese Zweifel. Das ganze System ist schon in Ordnung so. Sonst wären ja nicht so viele dafür. Aber entscheiden sich Menschen in der Mehrheit nicht für das, was für sie persönlich von Vorteil ist? Was aber hat das noch mit Moral zu tun? Was würden Dupliks dazu sagen? Jonas musste lachen. Ein absurder Gedanke. Oder? Was für ein Wesen mag ein Duplik sein? Wie denkt er? Wie empfindet er seine Blindheit? Weiß er, was ihn plötzlich blind gemacht hat? Kennt er seine Bestimmung? (Rabisch 2019, S. 59 f.)

Im Streitgespräch zwischen Jonas und Ilka um das System der Duplikhaltung finden sich ebenso wie im Roman Die Entbehrlichen die zwei in bioethischen Debatten immer wieder auftauchenden, grundlegenden Argumentationstypen, die als Prinzipientopoi (u.a. in Form des Lebensrechtstopos in Beleg 2 und in Form des DifferenztoposFootnote 20 in Beleg 6) und als Nutzen- bzw. Konsequenzentopi (u.a. in Form des Topos vom Helfen und Heilen oder des Topos von der Leidvermeidung) realisiert werden und die zwei unterschiedliche ethische Paradigmen darstellen: die Prinzipienethik bzw. deontologische Ethik (u.a. im Anschluss an Immanuel Kant) und die konsequentialistische/utilitaristische Ethik (im Anschluss an Jeremy Bentham).Footnote 21 Im Text stehen sie für zwei unterschiedliche Positionen, die im Hinblick auf die Duplikhaltung im ersten Teil des Romans zunächst durch Ilka und Jonas verkörpert werden.

(7) »Warum sagst du das so zynisch? Was ist falsch daran, nur möglichst gesunde Kinder zur Welt kommen zu lassen? Denkst du vielleicht auch mal an all das Leid, das eine schwere Krankheit oder Behinderung für das Kind und die Eltern bedeutet?«

»Falsch finde ich, dass die Gesellschaft bestimmt, wer ein Lebensrecht hat und wer nicht. Und die Maschen werden ja immer enger gezogen. Eltern dürfen sich gar nicht mehr für ein behindertes Kind entscheiden. Ein Embryo, der nicht der DIN-Norm entspricht, ist nur noch gut für die verbrauchende Forschung.« (Rabisch 2019, S. 79)

Der konsequentialistische Argumentationstyp in Form des Topos von der Leidvermeidung ist im Gesprächsausschnitt durch folgende Struktur realisiert: Es wird die strittige These sowie ein Argument, das die strittige These in eine unstrittige überführen soll, sprachlich realisiert, die sich aus dem Text (wie in Tab. 2 aufgeführt) rekonstruieren lässt.

Tab. 2 Rekonstruktion des Argumentationsmusters von der Leidvermeidung

Die zu einer vollständigen Argumentation zugehörige Schlussregel, die die strittige These in eine unstrittige These überführen soll, wird im Textausschnitt sprachlich nicht realisiert. Sie muss von den Rezipient*innen aus These und Argument erschlossen werden. Argumentationen dieser Art finden sich innerhalb der erzählten Geschichte an vielen Stellen, auf einer mittleren Abstraktionsebene kommt in Beleg 7 das Argumentationsmuster bzw. der Argumentationstopos der LeidvermeidungFootnote 22 (als eine Spezifikation des Topos vom Heilen und Helfen) zur Geltung, der sich als Muster folgendermaßen formulieren lässt: Weil Krankheit und Behinderung schweres Leid und große Belastung bedeuten, sollten Krankheit und Behinderung vermieden werden.

Dieses Argumentationsmuster wird von Jonas’ Vater sowie von Jonas selbst bis zum Gespräch zwischen Ilka und Jonas verwendet, um die Duplikhaltung zu rechtfertigen. Auch im Roman Duplik Jonas 7 konfigurieren die Argumentationsmuster, die in der erzählten Welt zur Geltung gebracht werden, eine Komplexargumentation, die auf Diskursebene Kritik an der Verwertung des Menschen ausspricht.

4 Fazit: Diskurssemantische Grundfiguren als Strukturelemente

Die in die Narration integrierten argumentativen Strukturen, die in den Romanen als Argumentationsmuster realisiert werden, lassen sich auf Diskursebene in zwei Grundtypen ethischen Argumentierens differenzieren, die sich linguistisch als diskursive Grundfiguren beschreiben lassen (vgl. Busse 1997 und Scharloth 2005). Diese Grundfiguren kommen nicht nur im literarischen Kommunikationsbereich vor, sondern stellen ein wichtiges Element verschiedener bioethischer Diskurse dar (vgl. Spieß 2011). Sie tauchen somit kommunikationsbereichsübergreifend in verschiedenen bioethischen Teildiskursen auf und strukturieren diese.

In den der Analyse zugrundeliegenden Texten werden sie immer wieder verwendet, jeweils aber sprachlich unterschiedlich realisiert. Diskursive Grundfiguren strukturieren den Diskurs auf funktionaler und tiefensemantischer Ebene.Footnote 23

Diskursive Grundfiguren ordnen textinhaltliche Elemente, steuern u.U. ihr Auftreten an bestimmten Punkten des Diskurses, bestimmen eine innere Struktur des Diskurses, die nicht mit der thematischen Struktur der Texte, in denen sie auftauchen, identisch sein muß, und bilden ein Raster, das selbst wieder als Grundstruktur diskursübergreifender epistemischer Zusammenhänge wirksam werden kann. Diskursive Grundfiguren sind in diesem Sinne nicht unbedingt an einen bestimmten Diskurs gebunden oder auf einen einzigen Diskurs beschränkt, sondern sie können selbst wiederum in verschiedenen Diskursen zugleich auftauchen; dadurch tragen sie zu interdiskursiven Beziehungen bei, die auf Diskursebene vielleicht demjenigen entsprechen, was im Bezug auf die Textebene in der Textlinguistik als intertextuelle Beziehungen untersucht worden ist. (Busse 1997, S. 20)

Im vorliegenden Beitrag wird im Anschluss an Busse (1997) das Konzept der diskurssemantischen Grundfiguren dahingehend erweitert, dass diese in erster Linie funktional interpretiert werden und sich neben semantischen Aspekten des Diskurses auch auf die argumentative Struktur von Diskursen beziehen lassen. In den vorliegenden Texten spielen die diskursiven Grundfiguren des Nutzens (Nutzentopoi) und der Grundfigur des vorgängigen moralischen Prinzips (Prinzipientopoi) eine zentrale Rolle (vgl. hierzu auch Spieß 2011, S. 529–537). Die herausgearbeiteten Argumentationsmuster/-topoi lassen sich jeweils einem der beiden Grundfiguren zuordnen. Die beiden Grundfiguren sind teildiskursübergreifend, sie spielen u.a. im Diskurs um die humane embryonale Stammzellforschung, im Diskurs um PID, in Diskursen um das Lebensende und im Diskurs um Transplantation eine zentrale Rolle (vgl. hierzu Spieß 2011, 2012, im Druck, vgl. Domasch 2012) und konkretisieren sich in den Diskursen (und speziell in den beiden Romanen) als Topos vom Heilen und Helfen, Topos der Leidvermeidung, Topos vom ökonomischen Nutzen oder als Prinzipientopoi (Topos vom Recht auf Leben, Topos der Zweckfreiheit menschlichen Lebens).

Die Grundfigur des Nutzens zeigt sich im Roman von Holmqvist bereits im Titel Die Entbehrlichen, die bei Kenntnis des Romanplots den Schlussprozess in Gang setzt, dass jeder Mensch einen gesellschaftlichen, und das heißt im Roman in erster Linie auch einen ökonomischen Nutzen erbringen muss. Diese Grundfigur wird durch den Topos vom Heilen und Helfen und den Topos der Leidvermeidung in beiden Romanen realisiert. Diese Topoi lassen sich dem konsequentialistischen bzw. utilitaristischen Argumentationstyp zuordnen. In den Romanen spielen aber auch Prinzipientopoi eine Rolle, die dem deontologischen Argumentationstyp zugeordnet sind und die den intrinsischen Wert von Handlungen etc. begründen, quasi als vorgängiges moralisches Prinzip. Sie lassen sich als Grundfigur von der unbedingten Existenz des Menschen beschreiben. Diese Grundfigur kommt vor allem dann zur Geltung, wenn die Protagonist*innen der Romane die Handlungen (ihre eigenen und die anderer Protagonist*innen im Roman) und das in den Romanen geltende gesellschaftliche System sowie die damit verbundenen Normen kritisch reflektieren.

Beide Romane können als kritische Positionen in Diskursen um bioethische Fragestellungen betrachtet werden, insofern sie durch die Narration Kritik an der Verwertung des Menschen üben. Durch ihre Kritik am Nutzendenken vertreten sie implizit die in Bioethikdiskursen auftauchende Position der deontologischen Ethik, wonach Handlungen nicht nur nach dem Nutzen oder den Folgen bewertet werden, sondern moralisches Handeln aufgrund eines intrinsischen Charakters, also einer Pflicht/eines Sollens evaluiert wird. Im Jugendroman werden die verschiedenen Argumente durch die Protagonisten etabliert und werden dadurch innerhalb des Romans zum Gegenstand der Reflexion; im Roman Die Entbehrlichen werden ebenso durch die Protagonist*innen Argumente etabliert und Positionen reflektiert, es wird aber zusätzlich mit der Strategie der Emotionalisierung gearbeitet.

Durch die narrative Struktur positionieren sich die Texte als Stimmen im Diskurs zum umstrittenen Diskursgegenstand, die diesen mithilfe der konstruierten, fiktionalen Erzählwelt bewerten und deuten. Im Falle beider Romane wird im Rahmen der Erzählstruktur Stellung bezogen zum Gegenstand der Verwertung des Menschen. Insofern in der Fiktion die Protagonist*innen als ›Ersatzteillager‹ oder ›Experimentierfeld‹ im Dienst anderer Menschen figuriert werden, wird durch die in den Romanen getroffene Zuspitzung der Verwertung des Menschen nach utilitaristischen bzw. konsequentialistischen Maßstäben Kritik an utilitaristisch und konsequentialistisch geprägten Positionen im gesellschaftlichen und/oder politischen Diskurs geübt.