1 Einleitung

Mit der Selbstenttarnung des NSU und mit den Jahren der juristischen und politischen Bearbeitung im Rahmen des Prozesses am Oberlandesgericht München sowie in verschiedenen Ausschüssen des Bundestages und vieler Landtage wurde deutlich, der NSU, die Entstehung des NSU und sein Wirken lassen sich weder auf die drei Namen reduzieren, die in diesem Zusammenhang genannt werden, noch auf die fünf Angeklagten, die am Oberlandesgericht München vor Gericht standen. Der NSU wurde zu einer terroristischen Vereinigung aufgrund gesellschaftlicher Ermöglichungsbedingungen, die rassistische Diskurse ebenso beinhalteten wie die Verharmlosung rechtsextremer Organisierung und Gewalt. Darauf wiesen die Anwält:innen der Nebenklage im Prozess gegen die Angeklagten des NSU-Komplexes über Beweisanträge und vor allen Dingen in ihren Abschlussplädoyers noch einmal hin (von der Behrens 2018, hier vor allem die Plädoyers von Antonia von der Behrens, Carsten Ilius und Peer Stolle; Quent 2016).

Gerade in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre, also in den Jahren, in denen sich der NSU-Komplex radikalisierte bis sich der NSU dann zu einer Terrorzelle formierte, lässt sich ein starkes Ansteigen rechtsextremer Gewalt beobachten. In Westdeutschland zeigen sich Kontinuitäten bereits seit der Zeit vor 1990 (Manthe 2019). Das Jahr 1980 stellt neben dem Jahr 1992 einen Höhepunkt rechtsextremen Terrors dar (Billstein 2020, S. 20). Seit 1945 wurden in der Bundesrepublik nach aktuellem Kenntnisstand mehr als 300 Menschen von rechtsextremen und rechtsmotivierten Täter:innen getötet. Ein öffentliches Erinnern an sie gibt es in den wenigsten Fällen. Zwar lässt sich nach der Selbstenttarnung des NSU erkennen, dass sich in einzelnen Orten Initiativen gründen, um an Opfer rechtsextremer Gewalt zu erinnern (Fischer 2018), es muss jedoch ein grundlegendes Fehlen von Erinnern und Gedenken festgestellt werden. Die Narrative beschränken sich auf die Erwähnung der immer selben Orte wie Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen und werden jetzt aktualisiert mit Hanau und Halle. Die Vielzahl rechtsextremer Morde wird so jedoch nicht im Geringsten abgebildet.

Das fehlende Erinnern an die Todesopfer rechtsextremer Gewalt erscheint erklärungsbedürftig angesichts der Bedeutung, die Erinnern und Gedenken in der Bundesrepublik in Bezug auf den Nationalsozialismus zugeschrieben wird. Warum, so ließe sich fragen, wird das Erinnern an die Opfer rechtsextremer Taten nicht oder nur so wenig zum Bestandteil des Erinnerungsdiskurses in Deutschland? Welches sind die gesellschaftlichen Kontexte, in denen Erinnern sich entwickelt? Wer sind die Akteur:innen? An welche Diskurse wird angeschlossen und was wird wie in dem jeweiligen Erinnern repräsentiert? Für den Anschlag in Mölln zeigt sich beispielsweise, dass die Stadt relativ schnell öffentliches Erinnern etablierte. Ein Bestandteil dieser Gedenkveranstaltungen war dabei die Möllner Rede. Familie Arslan, deren Angehörige Bahide Arslan, Ayşe Yilmaz und Yeliz Arslan ums Leben kamen, sah sich bei der Auswahl der Redner:innen nicht ausreichend berücksichtigt bzw. ihre Vorschläge wurden nicht aufgegriffen. Ibrahim Arslan, der als siebenjähriger Junge den Brandanschlag überlebte, organisiert daher seit 2013 die „Möllner Rede im Exil“, bei der ihm Themen wie Rassismus und Kritik an Umgangsweisen mit Rechtsextremismus wichtig sind.Footnote 1 Dies verweist auf Dynamiken der Aushandlungen des Erinnerns rechtsextremer Gewalt. Aushandlungen des öffentlichen Erinnerns unterliegen gesellschaftlichen Verhältnissen der Betrauerbarkeit, die Judith Butler mit Anerkennung und Anerkennbarkeit des zerstörten Lebens in Verbindung bringt (Butler 2010). Damit beschreibt Erinnern einen machtvollen Prozess.

In diesem Beitrag gehe ich ausgehend von dem Mord an Sadri Berisha, den rechtsextreme Täter 1992 im Landkreis Esslingen verübten, der Frage nach, welche gesellschaftlichen Dynamiken zu einem Fehlen von Erinnern führen. Dieser Mord ist insofern interessant, als das Gericht den politischen Hintergrund der Tat eindeutig feststellte, ihn also als rechtsextreme Tat einstufte und dies als Begründung für ein höheres Strafmaß der Täter geltend machte. Diese eindeutige juristische Anerkennung fehlt in vielen anderen Fällen. Die Tat fand vor allem während des Prozesses bundesweite mediale Aufmerksamkeit. Trotzdem wird ihr nicht die entsprechende gesellschaftliche Bedeutung zugesprochen, ein öffentliches Erinnern an das Opfer fehlt in der Gemeinde bislang völlig. Damit stellt das fehlende Erinnern in Kemnat eher den Regelfall als die Ausnahme dar.

Im Folgenden werde ich zunächst die Tat und ihren politischen Kontext beschreiben, dann theoretische Zugänge zu Erinnern diskutieren und das diesem Text zugrunde liegende Konzept des doing memory erläutern, wobei im Kontext rechtsextremer Gewalt von einem undoing memory gesprochen werden muss. Mit diesem theoretischen Hintergrund rekonstruiere ich die Dynamiken des (un)doing memory des Mordes an Sadri Berisha im Landkreis Esslingen, um so Mechanismen aufzuzeigen, die sich möglicherweise auf andere Taten und Orte übertragen lassen.

2 Der Mord an Sadri Berisha

In der Nacht vom 8. auf den 9. Juli 1992 wurde Sadri Berisha (55) in Kemnat von Skinheads im Schlaf mit einem Baseballschläger brutal erschlagen. Sahit Elezay (damals 46), der mit Sadri Berisha das Zimmer des Arbeiterwohnheims teilte, wurde ebenfalls mit einem Baseballschläger attackiert und sehr schwer verletzt. Er überlebte.

Die Täter hatten vor der Tat getrunken, rechte Musik und Reden von Adolf Hitler gehört. Kurze Zeit später zogen sie mit Baseballschlägern bewaffnet los, mit dem Ziel, rassistische Gewalt auszuüben (Böker 1992). Auch wenn die Polizei zunächst nicht von einem rechten Hintergrund ausgegangen war, konzentrierte der lokale Polizeibeamte die Tätersuche der eingerichteten Sonderkommission „Ball“ doch schnell auf ortsbekannte Skinheads. Fünf ortsansässige Neonazis und zwei Neonazis, die aus Leipzig kamen und in der Region arbeiteten, wurden für die Tat verantwortlich gemacht.

Sadri Berisha und Sahit Elezay, die Opfer des Anschlags, kamen beide aus dem Kosovo und lebten und arbeiteten zu diesem Zeitpunkt seit mehr als 20 Jahren in der Region. Die Familie von Sadri Berisha, seine Frau und seine beiden Kinder, waren im Kosovo geblieben. Sein Leichnam wurde zur Beerdigung in das Dorf seiner Familie überführt. Sahit Elezay war von der Bundesregierung nach der Tat erlaubt worden, seine Familie nach Deutschland zu holen.

Der Mord in Kemnat fand zwischen den Ausschreitungen in Hoyerswerda (September 1991) und Rostock-Lichtenhagen (August 1992) sowie vor dem Anschlag in Mölln (November 1992) statt. Er lässt sich also in die Serie der rassistischen und rechtsextremen Gewalttaten Anfang der 1990er-Jahre einordnen. Das politische Klima dieser Zeit darf dabei nicht aus dem Blick verloren werden und soll anhand zweier Daten in Erinnerung gerufen werden: Bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg im April 1992 zogen zum ersten Mal die Republikaner mit einem Stimmenanteil von knapp elf Prozent in den Landtag ein. In Ostfildern, der Stadt, zu der Kemnat gehört, wurde zum Zeitpunkt der Tat die Einrichtung einer Unterkunft für Geflüchtete geplant. In einer Fernsehreportage, die der Süddeutsche Rundfunk kurz nach der Tat im August 1992 sendete, brachten die Anwohner:innen ihre Antihaltung zu dieser Unterkunft deutlich zum Ausdruck (Schütz 1992).

Im April 1993 wurde das Urteil gegen die Täter bei großem medialen Interesse gesprochen. Der Haupttäter erhielt eine lebenslange Haftstrafe. Der Richter ordnete die rassistischen und neonazistischen Beweggründe der Tat als solche ein und verwehrte daher die Möglichkeit der Bewährung und Hafterleichterung (Weinberg 1993) für den im Anschluss an das Urteil 25 Jahre im Gefängnis Inhaftierten. Die anderen Täter wurden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.

Obwohl die Tat juristisch eindeutig als rechtsextremer Terrorakt eingestuft wurde, die politischen Hintergründe der Tat somit als solche relevant gemacht wurden und der Fall bundesweit und regional öffentlich für Aufsehen sorgte, fehlt öffentliches Erinnern und Gedenken an Sadri Berisha völlig. Die Tat ist aus dem Diskurs praktisch verschwunden. Es stellt sich daher die Frage, wie sie an gesellschaftlicher Relevanz und Bedeutungszuschreibung verloren hat.

3 (un)doing memory – (Nicht)Erinnern als soziale Praxis

Für die Analyse von Dynamiken des Erinnerns bzw. des Nicht-Erinnerns ist es zunächst notwendig, sich mit theoretischen Zugängen zu Erinnern auseinanderzusetzen. Da diese Auseinandersetzungen in Deutschland vor allem in Bezug auf den Nationalsozialismus stattfinden, greife ich auf diese wissenschaftlichen Ansätze zurück. Ich konzentriere mich dabei auf wesentliche konzeptionelle und theoretische Überlegungen, die für die Analyse von Erinnern an Todesopfer rechtsextremer Gewalt relevant werden können.

3.1 Erinnern, Geschichte, Gedächtnis – begriffliche Annäherungen

Astrid Erll fasst Erinnern – und dabei ist nicht das individuelle, sondern gesellschaftliche Erinnern gemeint – als „Formen des kollektiven Bezugs auf Vergangenheit“ (2017, S. 11). Gerade im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus wird das kollektive Gedächtnis zu einem theoretischen Konzept, das sich im Diskurs durchgesetzt hat. Der ursprüngliche Gedanke geht auf Maurice Halbwachs zurück, der neben dem individuellen auch ein soziales Gedächtnis konzeptionalisierte (Halbwachs 2012), wobei er im Französischen den Begriff mémoire verwendet, was im Deutschen auch als Erinnerung übersetzt werden könnte. Der Ansatz des sozialen Gedächtnisses wurde aufgegriffen und weiterentwickelt von Jan und Aleida Assmann, die ihn um das kollektive und kommunikative Gedächtnis ergänzten. Ein zentrales Moment bei Jan und Aleida Assmanns Konzeption des kulturellen Gedächtnisses ist die Verbindung zur Identitätsbildung von sozialen Gruppen (Erll 2017, S. 24 ff.). Gerade dieses identitätsstiftende Moment steht in der Kritik der Vereindeutigung, die der Vielschichtigkeit von Erinnerungsprozessen nicht gerecht wird. Zudem wird die fehlende Machtanalyse im Konzept des kulturellen Gedächtnisses kritisiert (vgl. z. B. Siebeck 2013).

Oliver Marchart (2005) spricht nicht von Erinnerung, sondern von Erinnern und nimmt eine diskurstheoretische Perspektive ein. Dabei fragt er nach hegemonialen Diskursen und verworfenen Positionen. Dies schließt an die Auseinandersetzungen von Iwona Irwin-Zarecka (1994) an, die im Rahmen ihrer Analyse der Erinnerungsdiskurse im Polen der 1980er-Jahre herausarbeitet, dass im hegemonialen Diskurs um die Gestaltung der Gedenkstätte in Auschwitz das Erinnern an die Verfolgung und Vernichtung von Jüd:innen und Juden nur marginal thematisiert wurde. Dies bedeutet jedoch nicht, dass dieses Erinnern bei den Jüd:innen und Juden in Polen, aber auch außerhalb Polens, nicht mehr vorhanden war. Ihr geht es darum, die Aushandlungen des Erinnerns und damit die Herstellungen von Hegemonie und Verwerfung genauer in den Blick zu nehmen (vgl. ausführlicher Fischer 2018).

Für die Analyse des Erinnerns und des fehlenden Erinnerns an Todesopfer rechtsextremer Gewalt stellen diese Überlegungen einen wichtigen Bezugsrahmen dar. Ausgehend von den Debatten lässt sich fragen, welche Quellen für die Deutungen rechtsextremen Terrors herangezogen werden, welche Diskurse um Erinnern hegemonial werden und welche Positionen im Diskurs marginalisiert werden. In der hier vorgenommenen Analyse beziehe ich mich weniger auf das Konzept des Gedächtnisses, sondern frage vielmehr nach den Aushandlungsprozessen des Erinnerns.

3.2 Erinnern als Soziale Praxis: doing memory

Wie stark Erinnern ausgehandelt bis umkämpft ist, wie um Deutungen und Deutungshoheiten gerungen wird und welche Rolle dabei auch erinnerungspolitischen zivilgesellschaftlichen Initiativen zukommt, darauf verweist Jenny Wüstenberg (2020) in ihrer Rekonstruktion der Geschichte zivilgesellschaftlichen Erinnerungsaktivismus in Deutschland seit 1945. In ihrer Forschung fokussiert sie auf zivilgesellschaftliche Akteur:innen und deren Bedeutung für Aushandlungen des Erinnerns und Verschiebungen von Diskursen. Sie arbeitet zudem heraus, wie sich repräsentative und normative Komponenten des Erinnerns – also Formen des Erinnerns und gesellschaftliche Haltungen zu den entsprechenden historischen Ereignissen – verschieben können, in Widerspruch zueinander stehen und wieder in Einklang gebracht werden durch neue Aushandlungsprozesse (Wüstenberg 2020, S. 318 ff.). Sie verweist darauf, die normativen Komponenten des Erinnerns in die Analyse einzubeziehen: Wie soll Geschichte repräsentiert werden? Wie sollen Ereignisse erinnert werden? Gerade die Widersprüche zwischen dem, was Erinnern repräsentiert, und dem, was Erinnern repräsentieren soll, erklären wichtige Dynamiken der Aushandlungen (ebd.).

Für die Rekonstruktion von Erinnern erscheint es vor diesem Hintergrund bedeutsam, Erinnern als soziale Praxis zu verstehen und damit als Handeln von sozialen Akteur:innen, die gesellschaftlich positioniert sind und die ihr Handeln auf Diskurse beziehen bzw. deren Handeln von Diskursen mehr oder weniger explizit fundiert ist (für das Verhältnis von Diskurstheorie und Praxeologie siehe Reckwitz 2008). Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive entwickelten Erika Fischer-Lichte und Getrud Lehnert (2000) bereits den Ansatz des doing memory. Sie beziehen sich auf die Performativität von Erinnern. Gabriele Rosenthal (2010) versteht Erinnern als kulturelle Praxis und erkennt „Regeln des Erinnerns“ (151), die gesellschaftlich ausgehandelt, zeitlich gebunden, aber über längere Zeiträume hinweg in Veränderung befindlich sind und die rekonstruiert werden können.

Anders als das Konzept des Gedächtnisses fokussiert der Ansatz des doing memory nicht bestimmte Formen des Erinnerns und ihre gesellschaftliche Bedeutung. Im Fokus der Analyse stehen vielmehr gesellschaftlich positionierte Akteur:innen, ihre Praktiken und ihre diskursiven Bezüge in den Aushandlungen um Deutungsmacht über historische Ereignisse. Mit ihren Analysen des doing memory zu den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen 1992 und dem Mord an Mehmet Turgut durch den NSU in Rostock arbeiten Tanja Thomas und Fabian Virchow beispielsweise heraus, wie Rassismus auch Erinnerungspraktiken prägt und wie sich dies sowohl in den Praktiken als auch in den Repräsentationen widerspiegelt (Thomas und Virchow 2019).

Dieser Ansatz erlaubt somit, auch Erinnerungspraktiken zu rekonstruieren, die zu einem Fehlen von öffentlichem Erinnern geführt haben, wie dies im Kontext rechtsextremer Gewalt relativ häufig der Fall ist. Dieses Fehlen von Erinnern bedeutet nicht unbedingt Vergessen, sondern – wie Iwona Irwin-Zarecka es spezifiziert – „displacement (or replacement) of one version of the past by another“ (Irwin-Zarecka 1994, S. 118). Denn die Erfahrungen und das Erinnern sind oftmals bei den Akteur:innen noch vorhanden, die von den Taten unmittelbar oder mittelbar betroffen sind.

4 Methodisches Vorgehen

Die empirische Forschung zu dem Mord an Sadri Berisha fand im Rahmen eines zweisemestrigen Lehrforschungsprojektes mit Studierenden der Sozialen Arbeit an der Hochschule Esslingen statt, das im Sommersemester 2017 startete. Die meisten Studierenden waren zum Zeitpunkt der Tat noch gar nicht geboren, kannten die Zeit Anfang der 1990er-Jahre aus eigener Erfahrung nicht. Manche Studierende hatten selbst Migrationsgeschichte in der Familie, was für die Auseinandersetzung mit den empirischen Ergebnissen vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen mit Alltagsrassismus für die Gruppe von wichtiger Bedeutung war.

Da es bis auf einen BlogeintragFootnote 2 kein öffentliches Erinnern gab, bestand ein wichtiger Teil des Lehrforschungsprojekts in der Rekonstruktion der Geschehnisse. Dafür waren die Hauptquellen lokale, regionale und überregionale Medienberichterstattung vom Zeitpunkt der Tat im Juli 1992 bis zum Ende des Prozesses gegen die Täter im April 1993, sowie Zeitungsberichte, die sich in den Folgejahren auf die Tat bezogen. Der Fokus der Medienanalyse lag auf der Positionierung unterschiedlicher Akteur:innen im Diskurs sowie deren Deutungen des Geschehens (Lucius-Hoene und Deppermann 2004).

Die Studierenden führten zusätzlich leitfadengestützte Interviews mit Akteur:innen der Kommunalpolitik, Medienvertreter:innen, Sozialarbeiter:innen und einem ehemals als rechtsorientiert geltenden Jugendlichen. Die Interviewpartner:innen fanden wir vor dem Hintergrund der Medienanalyse. Bereits hier wird eine Problematik deutlich: Akteur:innen, die im damaligen Diskurs präsent waren, ließen sich für die Rekonstruktion auch 25 Jahre später wieder finden. Akteur:innen, die im damaligen Diskurs marginalisiert waren – und dazu gehören, so viel sei vorweg genommen, Migrant:innen und migrantisierte Personen – waren deutlich schwieriger zu finden. Die Interviews fokussierten auf die Frage, wie die Akteur:innen 25 Jahre später die Tat und den gesellschaftlichen Umgang damit beschreiben, wie sie ihre eigenen Praktiken erzählen und welche Rolle dabei aktuelle Entwicklungen in Bezug auf Rechtsextremismus und Rassismus spielen. Die Interviews wurden rekonstruktiv analysiert, um Deutungsmuster in Bezug auf Praktiken des Erinnerns herauszuarbeiten. In der Kontrastierung mit den Medienberichterstattungen lässt sich somit analysieren, inwieweit sich Veränderungen in der Sicht auf die Tat ergeben haben und wie diese zu Erinnerungspraktiken in Bezug gesetzt werden können.

Zusätzlich zu diesen Analysen besuchten wir den Tatort. Wir legten Fotos aus Zeitungsartikeln von 1992 zugrunde, um das Haus und damit den Tatort zu finden. Die Arbeiterunterkunft existiert nicht mehr. Auf dem Grundstück steht jetzt ein Betrieb, der sich bruchlos einordnet in das architektonische Ensemble des Industriegebietes, das inzwischen in dem Ortsteil entstanden ist. Die Studierenden begannen in umliegenden Betrieben nach Personen zu suchen, die sich möglicherweise an den Mord erinnern. Bei dieser kleinen Feldstudie zeigte sich bereits eine Struktur: Angehörige der Mehrheitsgesellschaft bagatellisierten den Mord oder wollten nicht darüber sprechen. Zwei ältere Männer jedoch, die selbst als Arbeitsmigranten nach Deutschland gekommen waren, erinnerten sich an Sadri Berisha, an die Nacht des Übergriffs und an ihre Angst in der Zeit danach. Ein Interview zu ihren Erfahrungen zu führen, erschien ihnen jedoch nicht vorstellbar. Im Folgenden stelle ich einige Muster dar, die wir in der Berichterstattung gefunden haben und aktualisiere diese mit Ergebnissen aus den Interviews.

5 Die Unmöglichkeit der Sehnsucht nach Normalität – Rekonstruktionen

Der Übergriff auf die Arbeiterunterkunft, bei dem Sadri Berisha getötet und Sahit Elezaj schwer verletzt wurde, lässt sich zunächst als krisenhaftes Ereignis in der Gemeinde beschreiben. In den ersten Tagen nach dem Mord und dem Bekanntwerden des rechtsextremen Hintergrunds der Tat zeigt sich in den Zeitungsberichten umfassend ein Verweis auf Entsetzen. Zu Wort kommen Bürger:innen ohne Migrationsgeschichte in Kemnat genauso wie Politiker:innen auf Kommunal- und Landesebene. Die Tat selbst wird in den Medien als „abscheulich“, „dumpf“, „Untat“ oder „Bluttat“ beschrieben. Mit dieser Wortwahl wird die Tat emotionalisiert und verurteilt. Da die Begriffe in zahlreichen Artikeln mit der Wut, dem Entsetzen und der Angst der Bürger:innen in Verbindung gebracht werden, scheint die Tat nicht als ein rechtsextremer Angriff auf Migrant:innen eingeordnet zu werden, sondern als ein Moment, in dem die Täter außer Kontrolle geraten sind und damit die in der Gemeinde aus Sicht der Dominanzgesellschaft herrschende Ordnung störten. Dies kommt beispielsweise in der Überschrift des Artikels in den Stuttgarter Nachrichten vom 11.07.1992 zum Ausdruck: „Nach der abscheulichen Tat sitzt der Schock noch tief“. Der Schock, das zeigt sich in der Berichterstattung, bezieht sich nicht nur darauf, dass ein Mensch aus rassistischen Gründen getötet wurde, sondern auch darauf, dass dies ausgerechnet in dieser Gemeinde passiert war. Besonders deutlich wird dies in der Aussage einer Bürgerin, die auch als Überschrift eines Artikels über die Reaktionen der Bürger:innen in Kemnat gewählt wurde: „Wir sind doch so ein friedliches Dorf“ (Esslinger Zeitung 1992a). Diese Wahrnehmung der Gemeinde steht im Widerspruch zu der Existenz einer gewaltbereiten – im damaligen Sprachgebrauch – Skinhead-Szene, die es in Kemnat offensichtlich schon seit den 1980er-Jahren gab.

Aus den Berichten lassen sich Emotionalisierungen des Diskurses herausarbeiten, die jedoch diffus und unkonkret bleiben. Die politischen Hintergründe der Tat und damit auch die Menschen, die durch gewaltbereite rechtsextreme Skinheads besonders gefährdet und bedroht sind, werden in den Artikeln und von den dort zitierten Akteur:innen jedoch nicht benannt. Die allgemeine und diffuse Thematisierung der Bedrohung könnte sich als Form der Solidarisierung im Sinne eines „gemeint sind wir alle“ interpretieren lassen. Da sich die Perspektive der Migrant:innen jedoch als Leerstelle im Diskurs erweist und sich so gut wie keine Bezüge zu Migrant:innen und deren Erleben und Erfahrungen im Rahmen des Anschlags finden lassen, liegt der Schluss der Aneignung der Bedrohungssituation näher. Dies ist anschlussfähig an das, was das DISS-Institut Duisburg in einer Medienanalyse der Berichterstattung nach den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen herausgearbeitet hat (DISS 1993). Taten und Täter werden als Bedrohung und Störung des Kollektivs, des als ‚Eigenes‘ konstruierten eingeordnet. Als Lösung, so die Analyse des DISS, wird die Verschärfung des Asylrechts gefordert. Dies findet sich auch in der Berichterstattung über den Mord in Kemnat.

5.1 Ringen um Deutungshoheit: Orte von Gewicht

Bereits kurz nach der Tat begannen in Kemnat die Aushandlungen um deren Einordnung. Die Polizei hatte die Täter relativ schnell gefasst, blieb aber trotzdem zunächst dabei, einen politischen Hintergrund auszuschließen. Neben der konkreten Solidarisierung mit den Familien über Geldsammlungen und einer Traueranzeige mit 700 Unterschriften fanden in den zwei Wochen nach der Tat drei Gedenkkundgebungen statt. Ein Schweige- und Trauermarsch wurde von der Stadt Ostfildern organisiert, von der Kemnat ein Stadtteil ist. Es sprachen Bürgermeister, Kirchenvertreter und andere lokale Akteur:innen und ca. 300 Bürger:innen nahmen teil. Zu den anderen beiden Kundgebungen hatten antifaschistische Gruppen aufgerufen. Die erste mit dem Motto „Demonstration gegen Rassismus und Faschismus“ fand zwei Tage nach der Tat statt. In einem Artikel der Esslinger Zeitung wird berichtet, dass „die Stuttgarter Demo-Szene jedoch weitgehend unter sich blieb“. Nur wenige Kemnater Bürger:innen hätten sich angeschlossen. Erst am Tatort seien noch Arbeiter aus dem Wohnheim und der Umgebung gewesen sowie Kosovar:innen aus der Region, die nach Kemnat gekommen waren, um an der Überführung des Leichnams von Sadri Berisha in den Kosovo beizuwohnen. Zitiert wird der Neffe von Sadri Berisha: Man habe sich in Deutschland in Sicherheit gewähnt vor den Kämpfen im ehemaligen Jugoslawien „und jetzt das“. Die Aktivist:innen der Demonstration verwiesen auf die Mitverantwortung der lokalen Bevölkerung, die eine Stimmung geschaffen habe, die solche Taten ermögliche. Dies wies der Erste Bürgermeister zurück. Er selbst nahm nicht an der Demonstration teil und ordnete die Tat im Einvernehmen mit der Polizei nicht als politisch ein, sondern als kriminellen Akt. Darauf lasse, so wird er in der Berichterstattung zitiert, bereits das „riesige Vorstrafenregister“ der Täter schließen (Esslinger Zeitung 1992b). Diese Berichterstattung findet sich ähnlich auch in anderen Artikeln über die Demonstration.

In der Positionierung der Akteur:innen im Diskurs werden Zugehörigkeitskonstruktionen sichtbar. Die Demonstrant:innen, die den politischen Hintergrund der Tat ebenso thematisierten wie die Verantwortung der Mehrheitsgesellschaft, werden als von außen kommend dargestellt. Damit wird deren Deutung verräumlicht und externalisiert, vielleicht sogar isoliert. Die Kemnater Bürger:innen grenzen sich ab, indem sie sich der Demonstration nicht anschließen. Diese körperliche und räumliche Distanzierung wird vom Ersten Bürgermeister in Worte gefasst, indem er das Deutungsangebot der Polizei aufgreift und die Tat als Gewalttat ohne politischen Hintergrund einordnet. Diese bereits kurz nach der Tat vom Bürgermeister eingeführte Diskursfigur des gewalttätigen, außer Kontrolle geratenen Exzesses wird sich im weiteren Verlauf der Analyse noch als handlungsleitend herausstellen. Die migrantischen Arbeiter:innen und Unterstützer:innen der Familie Berisha aus dem Kosovo werden im Text nicht als Kemnater Bürger:innen beschrieben. Wie selbstverständlich werden sie zu Anderen konstruiert, deren Wahrnehmung der Tat denen, die von außen kommen, zugeordnet und damit ebenfalls externalisiert werden.

In der Berichterstattung über die dritte Demonstration, zu der ein Antifaschistisches Aktionsbündnis aufgerufen hatte und die knapp zwei Wochen nach dem Schweigemarsch stattfand, zeigt sich eine Verstärkung der eben herausgearbeiteten Externalisierung bis hin zur Kriminalisierung. Die Demonstration wird dargestellt wie ein Überfall auf die Gemeinde, bei der letztendlich doch weniger zu Schaden gekommen sei als befürchtet. In der Berichterstattung wird als Tenor der Kemnater Bevölkerung wiedergegeben: „Einmal demonstrieren hätte gereicht“, wichtiger sei es, die Familien zu unterstützen (Esslinger Zeitung 1992d). Dies verweist auf die implizite Forderung, es solle auch wieder Ruhe einkehren in der Gemeinde.

Diesem Bedürfnis nach Ruhe lassen sich konkrete Praktiken zuordnen, auf die der damalige Sozialarbeiter, der mit den gewaltbereiten rechtsorientierten Jugendlichen mit dem akzeptierenden Ansatz (Krafeld 2016) arbeitete, im Interview zu sprechen kommt. Der Bürgermeister habe gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den Demonstrant:innen und den rechtsorientierten Jugendlichen befürchtet. Gemeinsam hätten sich darauf verständigt, mit den rechtsorientierten Jugendlichen nach Bayern in einen Biergarten zu fahren, wo sie auf Kosten der Stadt trinken konnten, was sie als attraktives Angebot einschätzten. Auch in der Berichterstattung taucht dieser Ausflug auf, was darauf schließen lässt, dass dieses Vorgehen als legitim und sinnvoll angesehen wurde. Auch 25 Jahre später ordnet der Sozialarbeiter sein damaliges Handeln als sinnvoll ein:

es war gut (.) war gut würde ich wieder (.) so zustimmen (2) zum sagen okay dann kostet es die stadt (.) ein tausender und dafür (.) äh seid ihr nicht da und ihr habt euch auch selber geschützt (Interview Sozialarbeiter, 520–522).

Der Sozialarbeiter erzählt dies als würde er mit den damaligen Jugendlichen sprechen und sie von der Richtigkeit des Vorgehens überzeugen. Wenige Zeilen vor dieser Passage verwendete er das Wort „evakuieren“ im Zusammenhang mit der Fahrt nach Bayern und entwirft so bereits das Bild der vor einer drohenden Katastrophe zu schützenden Jugendlichen. Dieser Schutz, so lässt sich dem Zitat entnehmen, habe in diesem Fall nicht viel gekostet. Dies legt die Assoziation des Nutzens nahe und verweist auf die Konstruktion eines Problems, das es zu lösen gilt und das als lösbar eingeschätzt wird. Die Argumentationsmuster für die Problematisierung variieren jedoch. Während der Bürgermeister Krawalle und schlechte Presse verhindern will, liegt die Intention des Sozialarbeiters darin, die rechtsorientierten Jugendlichen zu schützen bzw. sie in die Lage zu versetzen, sich selbst zu schützen.

5.2 Konstruktion der Tat als isoliertes Problem

Wie oben bereits herausgearbeitet, wird die Diskursfigur der außer Kontrolle geratenen gewaltbereiten Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen ohne Thematisierung der politischen Motivation für die Tat handlungsleitend in Kemnat. Bereits kurz nach der Tat zeigt sich die Auseinandersetzung um die mobile Jugendarbeit als wichtiges Thema in der Berichterstattung. Nach einem gewaltsamen Übergriff in Kemnat ein Jahr zuvor war sie gestartet worden. Es wurde der akzeptierende Ansatz angewendet, der seinen Ursprung in der Suchthilfe hat und der von Josef Krafeld auf die Arbeit mit rechtsextremen bzw. rechtsorientierten Jugendlichen übertragen wurde (vgl. z. B. Krafeld 2016). Anfang der 1990er-Jahre wurde dieser Ansatz als Erfolgsrezept gegen die Zunahme rechtsextremer Übergriffe angesehen. Die damalige Bundesjugendministerin Angela Merkel legte als Folge der Übergriffe in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda ein entsprechendes Bundesprogramm auf, das die Anwendung dieses Ansatzes förderte. Der akzeptierende Ansatz wurde von Beginn an auch kritisch diskutiert, weil er die Gefahr beinhaltet, Räume für rechtsextreme Radikalisierung und Organisierung zur Verfügung zu stellen (Bruns 2019; Kleffner 2015).

In der Auseinandersetzung in Kemnat sind es letztendlich immer dieselben Sprecher:innen, die im öffentlichen Diskurs zu Wort kommen. Dabei handelt es sich um diejenigen, die die mobile Jugendarbeit eingeführt haben – wie der Bürgermeister und der Sozialdezernent – und um den Sozialarbeiter, der in dieser Zeit eingestellt wird. Schon am 17.07.1992, also gut eine Woche nach der Tat, erklärt der Bürgermeister die mobile Jugendarbeit zum Erfolg.

Entsprechend entscheidet die Stadt, diese auszubauen. Die Esslinger Zeitung titelt ihren Bericht mit „Ostfildern macht mobil“ (Esslinger Zeitung 1992c) und verweist dabei auf die Kriegsmetapher der Mobilmachung, die im Widerspruch zum Erfolgsnarrativ steht. Dieses Erfolgsnarrativ taucht in der Berichterstattung kontinuierlich auf bis ins Jahr 1997, als der Sozialarbeiter seine Arbeit dort beendet, weil er sich – wie er in der Berichterstattung zitiert wird – überflüssig gemacht habe (z. B. Buchmeier 1997). Die rechtsorientierten und rechtsextremen Jugendlichen waren als Auslöser:innen des Problems identifiziert worden. Das Handeln wird damit nur auf sie konzentriert. Mit dem scheinbaren Auflösen der Szene scheint auch das Problem gelöst zu sein.

Die Berichterstattung arbeitet mit Kriegsmetaphorik, wie z. B. „beendete Mission“, die auf die Wehrhaftigkeit der Gemeinde verweisen kann, aber im Kontext der Sozialen Arbeit auch auf das erfolgreiche ressourcenorientierte Arbeiten mit den Adressat:innen.

Dieses Erfolgsnarrativ dominiert auch in den Interviews mit dem damaligen Bürgermeister und der Journalistin, die viel über den Fall geschrieben hat. Der Sozialarbeiter selbst sagt auch rückblickend im Interview, er würde das „im Grundsatz wieder so machen“. Gleichzeitig räumt er mit der zeitlichen Distanz ein, dass nicht nur seine Arbeit, sondern der Mord selbst eine wichtige Rolle für das Abwenden der rechtsorientierten Jugendlichen von der rechtsextremen Szene gespielt habe. Diese Einordnung unterstützt Horst Schmidt.Footnote 3 Er war als Jugendlicher Teil der rechtsorientierten Szene und ist heute im sozialen Bereich tätig. Rückblickend betrachtet er sowohl seine Jugend als auch die Jugendarbeit kritisch. Er selbst war zum Zeitpunkt der Tat mit der mobilen Jugendarbeit bei einer Freizeit in Ungarn. Er beschreibt den Mord als das Ereignis, durch das sich für ihn und seine Gruppe viel verändert habe:

Das, also der Mord hat die Stimmung bei uns komplett verändert. Also ich glaube der hat bei uns die Augen geöffnet. Also in unserer Kleingruppe. Und die anderen Gruppen, da wurde es nach dem Mord meiner Meinung nach auch relativ ruhiger. Also die, die sind auch eher abgewandert in die gewaltbereite Fußballszene (Horst Schmidt, 309–313).

Die Passage benennt den Mord als Schreckensmoment, als Moment des Aufwachens. Dabei differenziert Horst Schmidt seine Gruppe, der er weniger Gewaltbereitschaft und Überzeugung zuschreibt, von den „anderen Gruppen“, aus denen die Täter kamen. Diese seien nach wie vor rechtsextrem und gewaltbereit, aber in einer anderen Szene und nicht mehr in der Gemeinde. Das Problem hat sich in seiner Deutung nicht gelöst, sondern räumlich verlagert.

Das im öffentlichen Diskurs immer wieder angeführte Erfolgsnarrativ verweist auf die Konstruktion des Mordes als isoliertes Problem, das erfolgreich gelöst und abgeschlossen wurde. Dieses Motiv wird auch heute noch aufgerufen. Spätestens mit der Bekämpfung der vermeintlichen Ursache scheint die Rückkehr in die Normalität und die Ordnung der Gemeinde wieder hergestellt. Implizit wird dabei eine Normalität angenommen, die nicht für alle gleichermaßen gilt. Für die Einordnung der Sozialen Arbeit als Erfolg macht es zudem einen großen Unterschied, dass rückblickend auch dem Mord selbst eine große Bedeutung zugeschrieben wird.

5.3 Ausblenden der migrantischen Perspektive

Im medialen Diskurs sind Menschen mit Migrationsgeschichte nur marginal repräsentiert. In einigen Artikeln wird zwar über die Opfer und ihre Familien berichtet, dabei kommen allerdings vor allem nicht-migrantische Sprecher:innen, wie beispielsweise der Arbeitgeber von Sadri Berisha zu Wort, der über ihn spricht (z. B. Stuttgarter Zeitung 1992). In der Thematisierung werden Sadri Berisha und Sahit Elezay auf ihre Positionen als Arbeitsmigranten und Opfer reduziert, indem immer wieder auf ihre Nationalität verwiesen wird und auf ihr hartes Arbeiten für die Familie im Kosovo. Es sind nur sehr wenige Artikel zu finden, die sich mit der Frage beschäftigten, was die Tat für die Menschen bedeutete, die mit ihr gemeint waren. In zwei Artikeln wird beschrieben, wie die Tat bei Migrant:innen in der Region eingeordnet wurde. Zitiert werden Arbeiter, die weiterhin in der Unterkunft – dem Tatort – wohnten. Sie berichten über ihre Angst und darüber, dass zwar Menschen vorbeikämen und manche Blumen niederlegten, aber niemand mit ihnen spreche (Stiefel 1992). Sie unterstreichen die Notwendigkeit der Verteidigung, indem sie beispielsweise Türen verbarrikadieren. Dabei kommt zur Sprache, dass es in dem Arbeiterwohnheim aus Kostengründen kein Telefon gibt, so dass sie im Zweifelsfall nicht einmal die Polizei rufen können (Heinz 1992).

Sowohl die Konstruktion des Mordes als isoliertes Problem als auch das Bemühen um eine Rückkehr in die Normalität kann nur aus dominanzgesellschaftlicher Perspektive ohne Einbeziehen migrantischer Erfahrungen gelingen. Die Rückkehr zur Normalität impliziert eine Normalität, in der Rassismus ein fester Bestandteil ist (Jäger 2010). Das Einbeziehen migrantischer Erfahrungen, das lässt sich aus heutiger Perspektive schließen, hätte genau diese Normalität möglicherweise in Frage gestellt. Die Konstruktionsprozesse der Problematisierung und Isolierung des Problems blenden die gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen von Rassismus und Rechtsextremismus aus und unterstellen, auch für die Angehörigen und Familien oder für diejenigen, an die die Tat eine Botschaft senden sollte, sei das Problem gelöst (zum Botschaftscharakter rechter Gewalt siehe z. B. Coester 2018). Gerade der weitere Verlauf der Geschichte rechtsextremer Anschläge lässt für die indirekt Betroffenen nicht zu, das Problem als gelöst anzusehen. Was heißt dies nun für Erinnerungspraktiken?

6 Praktiken der Normalisierung und undoing memory

Wenn Erinnern, wie oben ausgeführt, mit Astrid Erll als ein kollektives Hinwenden zu Vergangenem verstanden wird, bedarf es gesellschaftlicher Verständigungen darüber, was als relevant für Erinnern eingeordnet wird. Im Fall Kemnat lassen sich Praktiken rekonstruieren, die einer Relevanzsetzung für Erinnern entgegenwirken. Vielmehr verweisen die Praktiken auf die Reduktion der Tat auf individuelles Gewalthandeln, auf die Konstruktion eines isolierten Problems und damit verbunden auf den Versuch der Wiederherstellung einer Normalität des Status quo ante. Diese Praktiken lassen sich als Bestandteile von undoing memory einordnen, da sie genau nicht darauf ausgerichtet sind, immer wieder den Moment der Krise in Erinnerung zu rufen. Im Gegenteil: Erinnern würde die aus dominanzgesellschaftlicher Sicht wieder hergestellte Ordnung stören (zum störenden Moment von Gegenerzählungen im Kontext von Erinnern vgl. Lierke und Perinelli 2020). Entsprechend lassen sich auch keine Artikel finden, in denen über Initiativen für einen Gedenkort berichtet wird. Der Bürgermeister schätzt im Interview entsprechend ein, es dürfte in Kemnat nur noch wenige geben, die sich erinnern oder erinnern wollen. „Ich glaube, die meisten würden sagen: ‚Ja, da gab es einmal etwas.‘“ Im Gespräch schreibt er den Jugendlichen und den Studierenden die Verantwortung dafür zu, das Erinnern wach zu halten und unterstützt dieses Ansinnen. Er selbst benennt sich im Interview nicht als Akteur des Erinnerns oder in der Verantwortung, die aus seiner damaligen Amtszeit hätte erwachsen können.

In Kemnat wurde die lokale Deutungsmacht von Repräsentant:innen der Dominanzgesellschaft ausgehandelt, was zu einem hegemonialen Narrativ der Entpolitisierung führte. Deutungen und das Erinnern der marginalisierten Diskurspositionen – hier die migrantischen Erfahrungen, aber auch die Positionen antifaschistischer Gruppen – wurden verworfen, externalisiert und auch räumlich im Außen verortet. Die Reduktion des Problems auf den Umgang mit rechtsorientierten Jugendlichen und das vermeintlich erfolgreiche Agieren in diesem Zusammenhang hatten bereits kurz nach der Tat deren kollektive Dethematisierung zur Folge, die sich – darauf verweisen die Analysen der Interviews – im Laufe der Zeit verstetigte. So wurde eine Hürde hergestellt, die kollektive Hinwendungen zur Tat mit der Intention des öffentlichen Erinnerns zur Herausforderung werden lässt.

Ausgelöst von den Forschungen und Nachfragen im Rahmen des Lehrforschungsprojektes wurde Ende 2019 der Mord an Sadri Berisha bei einer Veranstaltung in Kemnat öffentlich zum Thema. Im Publikum saßen einige Personen, die ihre Rassismuserfahrungen in den 1990er-Jahren und heute sowie ihre Erinnerungen an die verschiedenen Anschläge thematisierten – auch die Erinnerungen an den Mord an Sadri Berisha. Die Unterschiede in den Deutungen der Tat(en) und im Erinnern daran wurden offensichtlich. Wenn Jenny Wüstenberg, wie oben ausgeführt, auf mögliche Diskrepanzen zwischen der Repräsentation von Erinnern und den normativen Haltungen zum Vergangenen verweist, lässt sich hier also feststellen, dass auch das fehlende Erinnern in gewisser Weise etwas repräsentiert, das normativ in Kemnat nicht mehr ungebrochen zeitgemäß erscheint. Diese Diskrepanzen können neue bzw. andere Erinnerungspraktiken auslösen. Der Wunsch, Erfahrungen mit Rassismus und Erinnerungen an rassistische Anschläge im öffentlichen Diskurs durch Praktiken des Erinnerns sichtbar werden zu lassen, wurde von Personen mit Rassismuserfahrungen in der Veranstaltung als wichtig eingeordnet und in den Diskurs eingebracht. Es entstand die Idee, Gedenken an Sadri Berisha zu initiieren. Inwieweit dies gelingt, wird von den Machtkonstellationen der Akteur:innen im doing memory abhängen.

Für das Verstehen des weitgehenden Fehlens des Erinnerns an Todesopfer rechtsextremer Gewalt stehen noch umfassendere wissenschaftliche Analysen aus, die auch Vergleiche von undoing memory in verschiedenen Kommunen zu unterschiedlichen Zeiten ermöglichen. Für ein umfassendes Verständnis des Erinnerns an Todesopfer rechtsextremer Gewalt und damit des gesellschaftlichen Umgangs mit den Wirkungsweisen rechtsextremer Gewalt würde dies Rekonstruktionen an möglichst vielen, vielleicht sogar allen Orten erfordern, um Muster und Systematiken des doing und (un)doing memory herausarbeiten zu können.

Solche Forschungen erfordern, wie dies hier auch der Fall war, eine Mischung aus historischer und analytischer Rekonstruktion. Gerade die historische Quellenlage läuft jedoch Gefahr, Diskursmacht zu reproduzieren, da die dominanten Sprecher:innen zum Zeitpunkt des Geschehens auch in der Gegenwart leichter zu finden sind. Aufgabe einer solchen Forschung muss es also sein, auch die verworfenen und marginalisierten Positionen zu erkennen, zu finden und zu hören. Dazu gehören die unmittelbar Betroffenen, aber auch diejenigen, die mit der Tat gemeint waren. Diese sind – das zeigen aktuelle Entwicklungen beispielsweise in der Initiative 19. Februar in Hanau oder in der Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex – wichtige Akteur:innen in Erinnerungspraktiken. In Kemnat fehlen sie bislang.

Die Auseinandersetzungen um den NSU-Komplex haben zu Veränderungen geführt. In einzelnen Städten sind Initiativen entstanden, die recherchieren und Gedenkaktivitäten organisieren (für einen Überblick siehe Bündnis Tag der Solidarität – Kein Schlussstrich, Dortmund 2020). Welche diskursiven Veränderungen sich daraus in den jeweiligen Orten ergeben, wer die Akteur:innen des Erinnerns sind und welche Ermöglichungsbedingungen sich herausarbeiten lassen, ist noch eine offene wissenschaftliche Frage.