Einleitung

Biologielehrkräfte sollen im Kontext bioethischer Fragestellungen die Bewertungskompetenz von Schüler:innen fördern (KMK 2005, 2020). Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe: Empirische Untersuchungen zeigen, dass Biologielehrkräfte sich im Umgang mit der Ergebnisoffenheit und Dynamik eines diskursiven Unterrichts oftmals nicht kompetent genug fühlen (Alfs 2012; Borgerding und Dagistan 2018; Bossér et al. 2015; Mrochen und Höttecke 2012; Kruse 1998; Pohlmann 2019; Steffen und Hößle 2015). Zusätzlich beklagen sie einen Mangel an entsprechenden Unterrichtsmaterialien (Alfs 2012; Steffen und Hößle 2015). Angesichts der allseitigen Verfügbarkeit von Schulbüchern in Deutschland überrascht die Wahrnehmung der Lehrkräfte, es fehle an Material. Eine genaue Betrachtung von Schulbüchern aus fachdidaktischer Perspektive ist daher sinnvoll, um den wahrgenommenen Materialmangel genauer zu charakterisieren.

Schulbücher unterliegen meist einer kultusministeriellen Zulassung und werden als legitime Lehrplaninterpretation betrachtet (Wiater 2005). Als zielgerichtet konstruierte Lehr-Lern-Medien enthalten sie aufeinander abgestimmte Materialien, wie Texte, Abbildungen und Aufgaben (Bölsterli Bardy 2015). Sie sind daher ein wichtiges Hilfsmittel für die didaktische Strukturierung, Auswahl von Themen und Unterrichtsvorbereitung (Beerenwinkel und Gräsel 2005; Digisi und Willett 1995; Heyneman 2006; Tulip und Cook 1993). Insbesondere Schulbuchaufgaben haben eine wichtige Funktion für den Erwerb fachspezifischer Konzepte und die Kompetenzentwicklung von Schüler:innen (Doyle 1983; Edwards 2014; Jatzwauk 2007; Keller und Reintjes 2016; Sterkl und Weixlbaumer 2019).

Die Übernahme curricularer Reformen wie der Kompetenzorientierung in Schulbücher erfolgt in einigen Fällen nur mit großer zeitlicher Verzögerung. Dies kann dazu führen, dass Schulbücher und Schulbuchaufgaben die curricularen Vorgaben sowie aktuelle fachdidaktische Erkenntnisse nicht angemessen repräsentieren (Andersson-Bakken et al. 2020; Gracin 2018; Yang et al. 2019; Yu et al. 2022). Nachdem mit den Bildungsstandards im Jahr 2005 erstmals Kompetenzen für den Kompetenzbereich Bewerten formuliert wurden, stellt sich die Frage, inwiefern Schulbücher für das Fach Biologie tatsächlich Aufgaben bereitstellen, welche diese Kompetenz fördern.

Die Analyse von Schulbüchern und Aufgaben stellt einen etablierten Ansatz in der naturwissenschaftsdidaktischen Forschung dar (Vojiř und Rusek 2019), doch beziehen sich bisher nur wenige Studien explizit auf die Repräsentation bioethischer Themen (Garrecht et al. 2022; Morris 2014; Tramowsky und Eichler 2020). Eine themenübergreifende und kompetenzorientierte Analyse von Schulbuchaufgaben im Bereich Bewerten steht derzeit noch aus. Diese kann dazu beitragen, den wahrgenommenen Materialmangel zu charakterisieren sowie Schlussfolgerungen für die Weiterentwicklung von Aufgaben zur Förderung der Bewertungskompetenz in Biologieschulbüchern zu ziehen.

Mit der vorliegenden explorativen Studie wird deswegen untersucht, i) in welchem Umfang Biologieschulbücher Aufgaben zur Förderung von Bewertungskompetenz enthalten, ii) auf welche Dimensionen von Bewertungskompetenz sich diese Aufgaben beziehen und iii) wie sich diese Aufgaben über die Klassenstufen der Sekundarstufe I verteilen.

Zu diesem Zweck wurden die Aufgaben aus insgesamt 72 in Deutschland für den Biologieunterricht in der Sekundarstufe I zugelassenen Schulbüchern integrativ-inhaltsanalytisch untersucht (Früh 2015). Die Analyse erfolgte unter Bezugnahme auf das Oldenburger Modell der Bewertungskompetenz (Hößle und Alfs 2016; Reitschert und Hößle 2007) sowie auf eine fachdidaktische Systematisierung bioethischer Themenfelder (Harms und Kattmann 2020).

Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass nur ein geringer Anteil an Schulbuchaufgaben auf die Förderung von Bewertungskompetenz abzielt, und innerhalb dieses Anteils wiederum wesentliche Dimensionen von Bewertungskompetenz nicht angemessen adressiert werden. Diese Befunde werden vor dem Hintergrund des Oldenburger Strukturmodells der Bewertungskompetenz sowie der Annahme, dass Schulbücher für Lehrkräfte als implizites Curriculum fungieren, diskutiert.

Theoretische Bezugspunkte

Zum Verhältnis von Lehrplänen, Schulbüchern und Lehrpersonen

Mit Einführung der Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss im Fach Biologie (KMK 2005) und der Konzeption zur Nutzung der Bildungsstandards für die Unterrichtsentwicklung (KMK 2010) wurde eine grundlegende Neuausrichtung der Lehrpläne sowie der Schulbücher im Fach Biologie initiiert. Ein zentrales Motiv dieser Reform ist es, den Kompetenzerwerb von Schüler*innen messbar zu machen (KMK 2010). Die Auseinandersetzung mit bioethischen Themen im Biologieunterricht soll die Kompetenz Bewerten fördern. Biologielehrkräfte nehmen jedoch einen Mangel an geeigneten Unterrichtsmaterialien wahr, um dieser Aufgabe gerecht zu werden (Alfs 2012; Ekborg et al. 2013; Steffen und Hößle 2015). Um den Eindruck der Lehrkräfte einzuordnen, wird im Folgenden das Verhältnis von Lehrplänen, Schulbüchern und Lehrkräften im Kontext bildungspolitischer Reformen charakterisiert.

LehrpläneFootnote 1 spielen als bildungspolitisches Steuerungsinstrument eine zentrale Rolle für die Festlegung fachspezifischer Kompetenzen und Wissensbestände. Sie „kodifizieren und normieren“ den Fachunterricht (Wiater 2005, S. 41) und regeln, was Schüler:innen zu einem bestimmten Zeitpunkt während ihrer Schulbildung wissen und können sollen.

Schulbücher folgen den Lehrplänen in Bezug auf die darin anvisierten Lern- bzw. Kompetenzentwicklungsziele. Mit Blick auf bildungspolitische Zielsetzungen werden bei der Erstellung von Schulbüchern relevante fachbezogene Wissensbestände und Kompetenzen konkretisiert und rekontextualisiert; d. h. für schulische und unterrichtliche Kontexte selektiert, verändert, hervorgehoben oder geringer gewichtet (Adick 1992; Bernstein 1990; Singh 2002; Stein 1980). An der Erstellung von Schulbüchern sind Personengruppen aus unterschiedlichen Organisationen beteiligt (z. B. Verlagswesen, Schul- und Unterrichtsforschung, Lehrkräfte). Schulbücher sind damit Ergebnis eines Aushandlungsprozesses, der sich an den Partikularinteressen der Beteiligten, aber auch an staatlichen Zulassungskriterien orientiert (Wiater 2005). In einigen Bundesländern unterliegt die Zulassung von Schulbüchern kultusministerieller Kontrolle (z. B. Bayern, Niedersachsen), in anderen Bundesländern sind Lehrmittel allgemein oder für spezifische Fächer zulassungsfrei (z. B. Hamburg, Sachsen). Die Entscheidung über die Nutzung eines bestimmten Lehrmittels obliegt letztlich den Fachkollegien an den Schulen.

Durch den stark normierten Entwicklungsprozess und die kultusministerielle Kontrolle bei der Zulassung von Schulbüchern erfolgt für Lehrkräfte eine verlässliche, inhaltliche Relevanzsetzung: „Was im Schulbuch steht, gilt in einer besonderen, pädagogisch-didaktisch legitimierten Weise. Es ist kanonisiert, es ist subjekt-neutral und es gilt nahezu abschließend“ (Adick 1992, S. 706). Somit haben Schulbücher für Lehrkräfte eine hohe Relevanz für die Unterrichtsvorbereitung sowie die didaktische Strukturierung des Unterrichts (Beerenwinkel und Gräsel 2005; Knight 2015).

Curriculare Reformen wie die Einführung der Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss verändern die Zieldimensionen des Fachunterrichts und erfordern häufig die Veränderung etablierter unterrichtlicher Routinen und individueller Schwerpunktsetzungen der Lehrkräfte (Remillard 2005; Remillard und Heck 2014). Schulbücher können diese Veränderungen unterstützen, indem sie den Lehrkräften Sicherheit und Struktur geben (Remillard et al. 2014). Sie werden in diesem Zusammenhang als wichtige Treiber für Innovationen gesehen, indem sie ermöglichen, sich schrittweise mit den curricularen Neuerungen auseinanderzusetzen (Hutchinson und Torres 1994; Van den Akker 1988). Schulbücher machen zudem anhand der darin enthaltenen Texte, Abbildungen und Aufgaben konkret, wie die curricularen Neuerungen von Fachkollegien umgesetzt werden können. Dadurch dienen sie auch als Professionalisierungswerkzeug für Lehrkräfte (Hutchinson und Torres 1994).

Auch wenn Schulbücher die curricularen Anforderungen nicht vollständig abbilden, kann der höhere Konkretisierungsgrad des Schulbuchs dazu führen, dass es für Lehrkräfte eine curriculare Funktion übernimmt. Sie arbeiten dann die darin zur Verfügung gestellten Materialien ab, anstatt das eigentliche Curriculum heranzuziehen und eigenständig zu interpretieren (Clandinin und Connelly 1992; Craig et al. 2008). Hier zeigt sich, wie wichtig die Aktualisierung von Schulbüchern für die Implementation curricularer Reformen in die Unterrichtspraxis ist.

Schulbuchaufgaben und fachspezifische Aufgabenkultur

Ein zentrales Element von Schulbüchern sind Aufgaben. Diese stellen eine Form von Paratext dar, der Aktivitäten für Lernende vorschlägt, ihre Aufmerksamkeit lenkt und sie in Form von Fragen oder Anweisungen zum Handeln auffordert (Andersson-Bakken et al. 2020; Doyle 1983; Gracin 2018). Sie strukturieren das Unterrichtsgeschehen, schaffen Anlässe zur Auseinandersetzung mit fachbezogenen Problemstellungen und bieten Diagnosemöglichkeiten für Lehrkräfte (Keller und Reintjes 2016).

Schulbuchaufgaben können eine kompetenzförderliche Lernkultur begünstigen (Reusser und Reinhardt 2017). Dazu müssen sie kompetenzorientiert im Sinne der Bildungsstandards sein, d. h. sich explizit auf fachbezogene Kernideen beziehen, lebensnah und anschaulich sein sowie spezifische Aktivitäten von Lernenden evozieren (Reusser 2013; Sterkl und Weixlbaumer 2019; Wilhelm und Luthiger 2015). Idealerweise beziehen sich Aufgaben auch auf fachdidaktisch fundierte Kompetenzmodelle, um gezielte Instruktion und Diagnostik zu ermöglichen. Zur Kompetenzförderung müssen sie zudem von den Lehrkräften tatsächlich im Unterricht eingesetzt und didaktisch eingebettet werden. Kompetenzen sollen dabei ab Klasse 5 gefördert und bis zum Abschluss von Klasse 10 bzw. 12 elaboriert und ausdifferenziert werden (KMK 2005, 2020).

Jedes Fach entwickelt als Teil seiner Fachkultur eine Aufgabenkultur, die einen teilweise impliziten Rahmen für die Formulierung von Aufgaben, die Festlegung von Aufgabeninhalten und die Auswahl der Anforderungsniveaus bietet. Die fachspezifische Aufgabenkultur ist, ähnlich wie die Fachkultur selbst, recht stabil und konstituiert sich mitunter unabhängig von curricularen Reformen (Andersson-Bakken et al. 2020; Höttecke und Silva 2011). Weichen curriculare Reformen weit von der bestehenden Fach- und Aufgabenkultur ab, kann es zur Verzögerung ihrer Umsetzung kommen, beispielsweise bei der Formulierung neuer Aufgaben für Schulbücher und deren Einsatz im Unterricht oder Abschlussprüfungen (Heidinger et al. 2021; Kühn 2010). Das ist insbesondere bei der Förderung von Bewertungskompetenz zu berücksichtigen, da sich im Bereich bioethischer Fragestellungen natur- und geisteswissenschaftliche Fachkulturen wechselseitig beeinflussen. Reflexive und deliberative Momente werden häufig der geisteswissenschaftlichen Fachkultur zugeschrieben und finden daher nur schwer Eingang in den Biologieunterricht (Dittmer 2010; Mrochen und Höttecke 2012).

Empirische Befunde zu Aufgaben in naturwissenschaftlichen Schulbüchern

Schulbuchanalysen sind gängige Praxis naturwissenschaftsdidaktischer Forschung. Sie zielen meist auf konzeptuelle Analysen von Texten und Abbildungen. Nur wenige Studien untersuchen Schulbuchaufgaben selbst genauer (Vojíř und Rusek 2019). Analysen chinesischer, norwegischer, englischer, luxembourgischer und deutscher Schulbücher zeigen, dass Schulbuchaufgaben fachdidaktische Erkenntnisse und curriculare Neuerungen kaum und häufig erst mit großer zeitlicher Verzögerung aufgreifen. Die in den analysierten Schulbüchern enthaltenen Aufgaben zielen zudem häufig auf die Reproduktion von Wissen und das Ausführen vorgegebener Schritte anstatt auf eine eigenständige Auseinandersetzung mit Sachverhalten (Andersen 2019; Andersson-Bakken et al. 2020; Garrecht et al. 2022; Yang et al. 2019).

Im Kontext bioethischer Unterrichtsthemen deuten die wenigen Studien auf Spannungen zwischen reformierten Curricula und Schulbuchinhalten hin. Garrecht et al. (2022) untersuchten, inwiefern intendiertes Curriculum (Lehrplan, Schulbücher, Lehrkräftebildung) und implementiertes Curriculum (Unterrichtserfahrungen) zum Thema Tierversuche übereinstimmen. Die Analyse zeigt, dass die Schulbücher trotz curricularer Verankerung des Themas nur wenige Aufgaben zur Auseinandersetzung mit der ethischen Dimension von Tierversuchen beinhalten. Diese Aufgaben waren vorwiegend geschlossen und setzten viel Eigenverantwortung der Lehrkräfte voraus, um zum Kompetenzerwerb der Lernenden beizutragen. Die Befunde sind konform mit den Ergebnissen einer Analyse norwegischer Schulbücher (Andersson-Bakken et al. 2020), die zeigt, dass der Anteil von Aufgaben, die Schüler:innen zu einer eigenständigen Beurteilung auffordern, gering ist und nur bei spezifischen Themen (z. B. nachhaltige Entwicklung) mehr als 10 % umfasst. Eine Analyse von drei englischsprachigen Schulbüchern für Naturwissenschaften für die Sekundarstufe I (Morris 2014) deutet darauf hin, dass die Auseinandersetzung mit bioethischen Themen wie Reproduktionsmedizin und Klimawandel vorwiegend aus fachwissenschaftlicher Sicht erfolgt und gesellschaftliche sowie ethische Perspektiven verkürzt dargestellt werden. Mikelskis-Seifert et al. (2013) untersuchten Schulbuchaufgaben (n = 9187) für die naturwissenschaftlichen Fächer, die in Niedersachsen und Baden-Württemberg zum Einsatz kommen. Sie stellten fest, dass nur circa 2,5 % der Aufgaben Bewertungskompetenz adressierten. Die meisten Aufgaben forderten Schüler:innen nicht zur Bewertung eines naturwissenschaftlichen Sachverhaltes auf, sondern lediglich zum Vergleich verschiedener Positionen.

Die Studien zeigen, dass Schulbücher für das Fach Biologie die ethische Dimension nur unzureichend abbilden – nicht nur in Deutschland. Für deutsche Schulbücher deutet sich an, dass sie die curricularen Vorgaben im Sinne der Reformierung nicht hinreichend umsetzen. Für den Bildungsauftrag des Biologieunterrichts und die Kompetenzentwicklung der Schüler:innen ist diese Situation problematisch, da sowohl die Förderung der Kompetenz Bewerten (Alfs 2012; Steffen und Hößle 2015) als auch das Formulieren kompetenzorientierter Aufgaben (Heidinger et al. 2021; Kühn 2010) für Lehrkräfte jeweils ein Novum und damit potenziell eine Herausforderung darstellt. Die Analyse von Schulbüchern aus fachdidaktischer Perspektive trägt dazu bei, das Problem besser zu verstehen.

Biologiedidaktische Perspektiven auf Bewertungskompetenz

Kompetenzstrukturmodelle operationalisieren Kompetenzbereiche entlang von Teilkompetenzen. Letztere lassen sich wiederum in Niveaustufen unterteilen und bieten damit eine Grundlage für die Konzeption und Validierung von Entwicklungsmodellen (Bögeholz et al. 2018; Dittmer et al. 2019). Zudem werden Unterrichtsmodelle aus ihnen abgeleitet, die auf die Diagnose und gezielte Förderung der Fähigkeiten von Schüler:innen abzielen.

Bisher existieren drei Strukturmodelle für Bewerten (Eggert und Bögeholz 2006; Böttcher et al. 2016; Reitschert und Hößle 2007), die je eine andere Zieldimension im Unterricht haben (Dittmer et al. 2019; Leubecher et al. 2020). Das Göttinger Modell zielt auf Entscheidungsfindung im Kontext nachhaltiger Entwicklung. Es teilt Bewerten in drei Teilkompetenzen. Im Mittelpunkt steht das diskursive Entscheiden in komplexen Gestaltungssituationen nachhaltiger Entwicklung (Bögeholz et al. 2004, 2018; Eggert und Bögeholz 2006). Das Hildesheimer Modell (Böttcher et al. 2016) stellt das Argumentieren in den Fokus. Entsprechend zielt es auf das Entwickeln, Prüfen und Gewichten von Argumenten (Böttcher et al. 2016; Meisert und Böttcher 2019; Jafari und Meisert 2022). Das Oldenburger Modell der Bewertungskompetenz zielt auf individuelle Urteilsfähigkeit in dilemmatischen Situationen und teilt Bewerten in sieben Teilkompetenzen, wie beispielsweise Folgenreflexion, Perspektivwechsel und ethisches Basiswissen (Bögeholz et al. 2018; Dittmer et al. 2019; Reitschert und Hößle 2007).

Alle Unterrichtsmodelle streben einen kumulativen Erwerb von Bewertungskompetenz an und folgen einer eigenen Logik, die sich im Zusammenhang der jeweiligen Teilkompetenzen ausdrückt. Die Unterrichtsmodelle schlagen unterschiedliche Schrittfolgen vor, während der Schüler:innen beispielsweise ethische Konflikte beschreiben, Handlungsoptionen und berührte Werte identifizieren und abschließend entweder ein eigenes Urteil fällen (Hößle und Alfs 2016) oder eine gemeinsame Entscheidung treffen (Bögeholz et al. 2018; Böttcher et al. 2016). Auf Grundlage der Strukturmodelle werden weitere Materialien, wie Aufgabensets, für den Biologieunterricht konzipiert (z. B. Lübeck 2018), die im Gegensatz zu Schulbuchaufgaben jedoch keine normierende Funktion haben.

Forschungsfragen

Eine systematische Analyse von Schulbuchaufgaben zur Förderung der Bewertungskompetenz trägt zum einen dazu bei, den von Biologielehrkräften berichteten Materialmangel zu charakterisieren und gegebenenfalls Schlussfolgerungen für die Aufwertung von Schulbüchern für das Fach Biologie abzuleiten. Zum anderen gibt sie Aufschluss über die fachspezifische Aufgabenkultur im Bereich des Bewertens und die Rolle des Mediums Schulbuch für curriculare Reformen. Mit Blick auf den Forschungsstand verfolgt diese Studie die folgenden drei Fragen:

  1. 1.

    Wie groß ist der Anteil von Schulbuchaufgaben zur Förderung von Bewertungskompetenz in Schulbüchern für das Fach Biologie?

  2. 2.

    Inwieweit bilden diese Schulbuchaufgaben verschiedene bioethische Themenfelder und Dimensionen von Bewertungskompetenz ab?

  3. 3.

    Inwiefern unterscheiden sich Schulbuchaufgaben für unterschiedliche Klassenstufen hinsichtlich bioethischer Themenfelder und Dimensionen von Bewertungskompetenz?

Methoden

Zur Beantwortung der Forschungsfragen wurden für den Biologieunterricht in der Sekundarstufe I zugelassene Schulbücher (n = 72) integrativ-inhaltsanalytisch untersucht (Früh 2015). Die integrative Inhaltsanalyse hat zum Ziel, Textmengen hinsichtlich interessierender Merkmale zu sowohl zu klassifizieren als auch zu quantifizieren. Dazu werden deduktive und induktive Analyseschritte miteinander kombiniert. Im Codiervorgang werden Textstellen vorab definierten Kategorien zugeordnet. Als Ergebnis des Codiervorgangs stehen Codierungen. Diese werden anschließend einer Häufigkeitsanalyse und oftmals auch weiterführenden inferenzstatistischen Analysen unterzogen (Früh 2015).

Um die Stichprobe zu bestimmen, wurde eine Recherche in den Lehrmitteldatenbanken der einzelnen Kultusministerien durchgeführt. Diese ergab bundesweit 306 Einträge. Die Auswahl der zu analysierenden Schulbücher orientierte sich an folgenden Kriterien: Die Schulbücher sollten frühestens ab 2012 zugelassen sein, um eine ausreichend große Zeitspanne für die Überarbeitung ab Einführung der Bildungsstandards für den mittleren Schulabschluss im Fach Biologie zu gewährleisten. Zudem wurden nur Schulbücher für die Sekundarstufe I an Gymnasien einbezogen, und es wurden Schulbücher von Verlagen ausgeschlossen, die ausschließlich Lehrmittel für einzelne Bundesländer produzieren. Am Ende des Auswahlprozesses verblieb eine Liste mit 113 Einträgen bzw. 80 individuellen Titeln, die letzten davon erschienen im Jahr 2017. Die Schulbuchverlage (Cornelsen, Cornelsen/Volk und Wissen, Klett, Schroedel, Westermann) stellten 72 dieser 80 Titel bereit (Tab. 1). Der Großteil dieser Titel ist den einschlägigen Schulbuchserien der Verlage zuzuordnen (z. B. Fokus Biologie, Natura, Linder Biologie). Es wird davon ausgegangen, dass die gezogene Stichprobe die Grundgesamtheit der für die Sekundarstufe I zugelassenen Schulbücher für das Fach Biologie zum Erhebungszeitpunkt angemessen abbildet.

Tab. 1 Beschreibung des Stichprobenumfangs unter Berücksichtigung von Verlag und Erscheinungsjahr

Als Codiereinheit wurden Schulbuchaufgaben festgelegt. Zur Abgrenzung einer Aufgabe wurden formale Kriterien (z. B. Nummerierung, Handlungsaufforderung) berücksichtigt. Klassifizierung und Quantifizierung der Aufgaben stützen sich auf ein Kategoriensystem (Tab. 2). Dieses wurde theoretisch hergeleitet, um induktive Kategorien ergänzt und einem Qualitätssicherungsprozess unterzogen.

Tab. 2 Finales Kategoriensystem inklusive Kategoriendefinitionen

Die theoretische Herleitung des Kategoriensystems basiert auf den von Harms und Kattmann (2020) vorgeschlagenen sechs bioethischen Themenfeldern sowie den sieben Teilkompetenzen des Oldenburger Strukturmodells der Bewertungskompetenz (Hößle und Alfs 2016; Reitschert und Hößle 2007). Bioethische Themenfelder sind als Kategorien geeignet, da biologische Inhalte betont werden, statt Themen nach berührten Werten oder Argumenten zu ordnen. Mit der Entscheidung für das Oldenburger Strukturmodell wird eine Fokussierung auf individuelle Urteilsprozesse vorgenommen, während diskursives Entscheiden (Eggert und Bögeholz 2006) sowie eine Differenzierung des Argumentierens (Böttcher et al. 2016) nicht berücksichtigt werden. Dem Strukturmodell nach sind ethisches Basiswissen und das Identifizieren der moralisch-ethischen Relevanz grundlegend für das Argumentieren und das Beurteilen. Die Stärke des Oldenburger Ansatzes liegt darin, eine themenunabhängige sowie feinkörnige und damit breit gefächerte Auflösung von Bewertungskompetenz zu ermöglichen, die mit Blick auf die Zielstellung des vorliegenden Beitrags angemessen ist.

Das theoretisch hergeleitete Kategoriensystem sowie die zugehörige Codiervorschrift wurden in mehreren Schritten weiterentwickelt. Im ersten Schritt wurden Schulbücher aus dem Präsenzbestand des Autor:innenteams genutzt, um das Kategoriensystem sowie die Kategoriendefinitionen anhand von ca. 1000 Aufgaben in einem diskursiven Prozess zu erproben. Dabei wurde die globale Kategorie Aufgabe zur Förderung von Bewertungskompetenz eingeführt: Um dieser Kategorie zugeordnet zu werden, muss eine Schulbuchaufgabe mindestens ein bioethisches Themenfeld und mindestens eine Teilkompetenz adressieren. Damit wird sichergestellt, dass Aufgaben, die beispielsweise ausschließlich auf fachbezogenes Argumentieren abzielen und keine Bezüge zu Werten erfordern, ausgeschlossen werden. Zusätzlich wurde der Operationalisierungsgrad der Aufgaben als weitere Dimension eingeführt, da einige Aufgaben ausschließlich W‑Fragen enthielten.

Eines der anfangs verfügbaren Schulbücher wurde im zweiten Schritt zufällig ausgewählt und alle darin enthaltenen Aufgaben (n = 864) von drei geschulten Codierenden mithilfe des ergänzten Kategoriensystems codiert, um die Interraterreliabilität bei der Codierung der globalen Kategorie Aufgabe zur Förderung von Bewertungskompetenz zu bestimmen. Diese betrug αKrippendorff = 0,82, was als „gute“ Übereinstimmung zwischen den drei Codierenden zu bewerten ist (Hayes und Krippendorff 2007, S. 78).

Im dritten Schritt wurden die Schulbuchverlage kontaktiert. Diese stellten eine Auswahl von Schulbüchern bereit. Die Gesamtstichprobe der in den Schulbüchern enthaltenen Aufgaben (n = 39.464) wurde von drei geschulten Codierenden arbeitsteilig mithilfe des ergänzten Kategoriensystems codiert. Bei Unsicherheiten in Bezug auf einzelne Codierungen wurden die Aufgaben in einen gesonderten Aufgabenpool überführt und unter den Codierenden diskursiv Konsens hergestellt.

Zur Bestimmung der Interraterreliabilität auf Ebene der Teilkompetenzen und der bioethischen Themenfelder wurde in einem letzten Schritt eine Teilstichprobe von ca. 25 % der als bewertungskompetenzorientiert eingestuften Aufgaben gezogen (n = 800). Diese Aufgaben wurden mithilfe des finalen Kategoriensystems von einer geschulten Person zweitcodiert. Für jede Kategorie wurde die Übereinstimmung zwischen den Codierenden nach Hayes und Krippendorff (2007) berechnet. Die mittlere Übereinstimmung ist bei den Teilkompetenzen des Oldenburger Strukturmodells als „sehr gut“ (MWα = 0,87; SDα = 0,06) und bei den bioethischen Themenfeldern als „gut“ (MWα = 0,83; MWα = 0,07) einzustufen. Die höchste Übereinstimmung liegt bei den Kategorien Beurteilen (αKrippendorff = 0,91) und Sozialethik (αKrippendorff = 0,88) vor, und die niedrigste Übereinstimmung bei den Kategorien Perspektivwechsel (αKrippendorff = 0,75) sowie Wissenschaftsethik (αKrippendorff = 0,69). Insgesamt wird davon ausgegangen, dass mithilfe des finalen Kategoriensystems eine zuverlässige Codierung von Schulbuchaufgaben im Hinblick auf deren Bewertungskompetenzorientierung vorgenommen werden kann. Die etwas geringere Übereinstimmung zwischen den Codierenden bei der Kategorie Wissenschaftsethik ist ggf. auf die geringe Anzahl entsprechender Aufgaben zurückzuführen und wird bei der Interpretation der Befunde berücksichtigt.

Beim Codieren der in der Stichprobe enthaltenen Aufgaben wurden Aufgabeninhalt, Handlungsaufforderung und Aufgabenkontext (z. B. ergänzende Texte, Abbildungen, Diagramme) berücksichtigt. Mehrfachzuordnungen waren möglich, wenn eine Aufgabe mehrere Operatoren enthielt oder Bezüge zu mehr als einer Bereichsethik herstellte. Einige Handlungsaufforderungen wurden grundsätzlich mehreren Kategorien in der Dimension „Teilkompetenzen“ zugeordnet, da Operatoren wie z. B. „Nimm Stellung“ mehrere Teilkompetenzen adressieren (Tab. 3). Einige Schulbücher enthalten Methodenseiten auf denen explizit die Methode des Bewertens vorgestellt wird. Diese Seiten wurden aus der Analyse ausgeschlossen, weil sie zwar Schritte zur Bewertung eines Sachverhalts vorstellen, aber keine Aufgaben enthalten, die zur Auseinandersetzung mit einem konkreten bioethischen Thema auffordern. Damit wurden sie nicht als bewertungskompetenzorientiert eingestuft. Zudem enthalten die Schulbücher keine Querverweise von den bewertungskompetenzorientierten Aufgaben auf diese Methodenseiten.

Tab. 3 Beispielcodierung einer Schulbuchaufgabe mit Mehrfachzuordnung für Teilkompetenzen

Für die Datenanalyse wurden den Codes gemäß der integrativen Inhaltsanalyse (Früh 2015) numerische Äquivalente zugeordnet. Dies geschah im binären Format durch Zuweisung einer „1“ bei Entsprechung einer Aufgabe bzw. Teilaufgabe mit der Kategoriendefinition und einer „0“ bei Nichtentsprechung. Datenmanagement und Datenanalyse erfolgten mit dem Programm RStudio (RStudio Team 2020). Der Datensatz wurde vor der Datenanalyse bereinigt, indem beispielsweise Rechtschreibfehler und doppelte Eingaben korrigiert wurden. Zudem wurde die Anzahl der Codierungen auf Plausibilität überprüft. Entsprechend der Zielstellung kamen vorwiegend Verfahren der deskriptiven Statistik zum Einsatz. Im Rahmen einer Themen- und Frequenzanalyse werden absolute und relative Häufigkeiten für einzelne Codierungen oder Kombinationen aus verschiedenen Kategorien berichtet.

Ergebnisse

Gesamtanteil von Schulbuchaufgaben zur Förderung der Bewertungskompetenz

Von den 39.464 untersuchten Aufgaben der Gesamtstichprobe wurden insgesamt 3191 als bewertungskompetenzorientiert eingestuft. Das arithmetische Mittel für den Anteil der bewertungskompetenzorientierten Aufgaben in den 72 untersuchten Schulbüchern liegt bei MW = 8,5 % (SD = 3,8 %). Dieser Wert variiert nur gering in Abhängigkeit von Verlag, Klassenstufe und Veröffentlichungsjahr (Tab. 4). Von den 3191 bewertungskompetenzorientierten Aufgaben waren insgesamt 28,1 % unzureichend operationalisiert (z. B. W‑Frage oder uneindeutiger Operator).

Tab. 4 Anteile von Aufgaben zur Förderung von Bewertungskompetenz in den untersuchten Schulbüchern insgesamt sowie in Abhängigkeit von Verlag, Klassenstufe und Veröffentlichungsjahr

Zugeordnete Teilkompetenzen und bioethische Themenfelder

Die 3191 identifizierten Aufgaben zur Förderung der Bewertungskompetenz werden im Folgenden in Hinblick auf die anvisierten Teilkompetenzen sowie die angesprochenen bioethischen Themenfelder charakterisiert. Aufgrund von Mehrfachzuordnungen (mehr als eine Teilkompetenz oder mehr als ein angesprochenes bioethisches Themenfeld pro Aufgabe) liegen im Ergebnis 5471 Codierungen vor, die eine Einschätzung der relativen Häufigkeit der Teilkompetenzen, der angesprochenen bioethischen Themenfelder, sowie der jeweiligen Kombinationen aus Teilkompetenzen und bioethischen Themenfeldern in der Gesamtstichprobe zulassen.

Argumentieren ist mit 50 % die am häufigsten zugeordnete Teilkompetenz. Es folgen in abnehmender Häufigkeit Wahrnehmen und Bewusstmachen der eigenen Einstellung (16,8 %), Beurteilen (12,6 %), Folgenreflexion (10,2 %), Perspektivenwechsel (8,2 %) und Wahrnehmen und Bewusstmachen der moralisch-ethischen Relevanz (2,2 %). Die Teilkompetenz Ethisches Basiswissen konnte bei keiner Aufgabe codiert werden. Sozialethik ist mit 48,7 % das am häufigsten zugeordnete bioethische Themenfeld. Es folgen in abnehmender Häufigkeit Umweltethik (19,4 %), Sexualethik (13,1 %), Tierethik (11,8 %), Medizinethik (6,0 %) und Wissenschaftsethik (1,1 %). In den Kombinationen aus Teilkompetenzen und bioethischen Themenfeldern zeigen sich deutliche Unterschiede in der relativen Häufigkeit (Abb. 1; Tab. 5).

Abb. 1
figure 1

Anteile der Kombinationen aus Teilkompetenzen und bioethischen Themenfeldern in der Stichprobe (n = 3191 Aufgaben zur Förderung der Bewertungskompetenz in 72 Schulbüchern). (ARG Argumentieren, EE Wahrnehmen und Bewusstmachen der eigenen Einstellung, BU Beurteilen, FR Folgenreflexion, PW Perspektivwechsel, MER Wahrnehmen und Bewusstmachen der moralisch-ethischen Relevanz, EB Ethisches Basiswissen, WISS Wissenschaftsethik, MED Medizinethik, TIER Tierethik, SEX Sexualethik, UMW Umweltethik, SOZ Sozialethik)

Tab. 5 Absolute und relative Häufigkeit der Aufgaben nach Zuordnung zu bioethischen Themenfeldern und Teilkompetenzen

Den größten Anteil der Kombinationen nehmen Argumentieren und Sozialethik (26,2 %) ein. Der kleinste Anteil entfällt auf die Kombination aus Wahrnehmen und Bewusstmachen der moralisch-ethischen Relevanz und Wissenschaftsethik (0,01 %). Insgesamt machen die vier häufigsten Kombinationen annähernd 50 % aller Codierungen in der untersuchten Stichprobe aus (Argumentieren und Sozialethik, Argumentieren und Umweltethik, Argumentieren und Sexualethik sowie Sozialethik und Wahrnehmen und Bewusstmachen der eigenen Einstellung). Die anderen 50 % der Codierungen sind auf die übrigen 32 Kombinationen verteilt. Die Kombinationen aus Medizinethik und Wissenschaftsethik sowie mit der Teilkompetenz Bewusstmachen der moralisch-ethischen Relevanz machen weniger als 1 % aller Codierungen aus. In absoluten Zahlen ausgedrückt bedeutet das: Für die seltener vorkommenden 32 Kombinationen aus Teilkompetenzen und bioethischen Themenfeldern, die zusammen 50 % der Codierungen ausmachen, liegen jeweils pro Kombination nur 50 Codierungen oder weniger vor.

Teilkompetenzen in Abhängigkeit von der Klassenstufe

Die Verteilung der Teilkompetenzen in den verschiedenen Klassenstufen entspricht den Unterschieden im Anteil der codierten Teilkompetenzen insgesamt, das heißt, sie zeigt keine eindeutigen Trends im Verlauf der Sekundarstufe I (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Prozentualer Anteil der codierten Teilkompetenzen in Abhängigkeit der Klassenstufe. (ARG Argumentieren, EE Wahrnehmen und Bewusstmachen der eigenen Einstellung, BU Beurteilen, FR Folgenreflexion, PW Perspektivwechsel, MER Wahrnehmen und Bewusstmachen der moralisch-ethischen Relevanz, EB Ethisches Basiswissen)

Bioethische Themenfelder in Abhängigkeit der Klassenstufe

Im Gegensatz zu den Teilkompetenzen gibt es für die bioethischen Themenfelder deutliche Unterschiede zwischen den Klassenstufen (Abb. 3). Sozialethik wurde über alle Klassenstufen hinweg am häufigsten codiert, wobei in Klassenstufe 7/8 fast dreiviertel aller Codierungen auf Sozialethik entfallen. Umweltethik wurde über alle Klassenstufen am zweithäufigsten codiert – in Klassenstufe 9/10 nehmen umweltethische Themen ein Drittel aller Codierungen ein. Tierethik wurde fast ausschließlich in Klassenstufe 5/6 zugeordnet und umfasst dort fast ein Drittel aller Codierungen. Für Medizinethik ist eine Zunahme der Codierungen mit steigender Klassenstufe zu beobachten. Die insgesamt wenigen Codierungen für Wissenschaftsethik konzentrieren sich auf Klassenstufe 9/10.

Abb. 3
figure 3

Prozentualer Anteil der codierten bioethischen Themenfelder in Abhängigkeit der Klassenstufe. (WISS Wissenschaftsethik, MED Medizinethik, TIER Tierethik, SEX Sexualethik, UMW Umweltethik, SOZ Sozialethik)

Diskussion

Das Ziel dieser Studie bestand darin, den von Lehrkräften berichteten Mangel geeigneter Materialien zur Förderung von Bewertungskompetenz (Alfs 2012; Steffen und Hößle 2015) genauer zu charakterisieren. Unter der Annahme, dass Schulbücher für Lehrkräfte ein zentrales Medium für die Unterrichtsplanung und -gestaltung darstellen, erfolgte eine Analyse von 72 deutschen Schulbüchern für das Fach Biologie. Dabei wurden die enthaltenen Aufgaben hinsichtlich der adressierten Teilkompetenzen von Bewerten und bioethischen Themenfeldern quantifiziert.

Die Befunde lassen sich wie folgt zusammenfassen: Insgesamt stellen Aufgaben zur Förderung der Bewertungskompetenz nur einen geringen Anteil an Schulbuchaufgaben. Hinzu kommt, dass ein erheblicher Teil dieser Aufgaben unzureichend operationalisiert ist. Prinzipiell kann dennoch davon ausgegangen werden, dass Lehrkräfte in jeder Klassenstufe Aufgaben zur Förderung von Bewertungskompetenz vorfinden, die sie für die Unterrichtsgestaltung nutzen können. Das Angebot variiert allerdings hinsichtlich der Teilkompetenzen und bioethischen Themenfelder: Der bei weitem größte Anteil der Schulbuchaufgaben zielt auf Argumentieren, während andere Dimensionen von Bewertungskompetenz seltener adressiert werden. Die Teilkompetenz ethisches Basiswissen wird von keiner Aufgabe adressiert. Das Verhältnis der adressierten Teilkompetenzen zueinander ähnelt sich in den einzelnen Klassenstufen. Inhaltlich orientieren sich die Schulbuchaufgaben an den Lehrplanthemen, (z. B. Tierethik in Klassenstufe 5/6, Sozialethik in Klassenstufe 7/8, Umweltethik in Klassenstufe 9/10). Es werden alle bioethischen Themenfelder angesprochen, medizinethische und wissenschaftsethische Themen sind in den Aufgabenstellungen jedoch kaum vertreten.

Diese Befundlage bietet eine mögliche Erklärung für den von Biologielehrkräften beklagten Materialmangel: Schulbücher stellen nicht auseichend Material in Form von Aufgaben bereit, mit dem Biologielehrkräfte bewertungskompetenzorientierten Biologieunterricht planen und durchführen können.

Der hohe Anteil an Aufgabenstellungen mit Bezug zur Teilkompetenz Argumentieren erscheint nachvollziehbar und gut begründet: Argumentieren stellt eine wichtige Fähigkeit im Kontext ethischer Urteilsbildung und gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse dar und ist auch in anderen fachdidaktischen Modellen von Bewerten zentral (Bögeholz et al. 2018; Böttcher et al. 2016; Meisert und Böttcher 2019; Dittmer et al. 2019). Aus Perspektive des Oldenburger Modells der Bewertungskompetenz bedarf dieser Befund allerdings einer detaillierteren Betrachtung: Das Oldenburger Modell zielt auf individuelle Urteilsbildung auch durch Reflexion der ethischen Dimension. Teilkompetenzen, die auf die Auseinandersetzung mit der ethischen Dimension (ethisches Basiswissen und Wahrnehmen und Bewusstmachen der moralisch-ethischen Relevanz) abzielen, sind eine wichtige Grundlage für die Teilkompetenz Argumentieren. Argumentieren verlangt die Bezugnahme auf divergierende Werthaltungen und daraus resultierende Konflikte (Reitschert und Hößle 2007). Tritt die Analyse der moralisch-ethischen Relevanz, der berührten Werte und eigener moralischer Intuitionen hinter das Formulieren und Abwägen von Argumenten zurück, so kann auch die Teilkompetenz Argumentieren nicht vollumfänglich erworben werden. Folgt man dieser Logik, lässt sich der Anspruch ableiten, den Anteil an Schulbuchaufgaben für die grundlegenden Teilkompetenzen in den Schulbüchern zu erhöhen. Hier soll jedoch keine Gleichgewichtung der Aufgaben zur Förderung der Teilkompetenzen nahegelegt werden. Vielmehr wird betont, dass Lehrkräfte auf ein ausreichendes Angebot an Aufgaben zurückgreifen können sollten, um die Kompenzen einer konkreten Lerngruppe gezielt zu fördern. Schulbücher sollten dieses Angebot bereitstellen.

Der geringe Anteil an Aufgaben zur Förderung von Bewertungskompetenz in der untersuchten Stichprobe deckt sich mit Befunden aus bisherigen Studien zur Repräsentation bioethischer Themen und zu Aufgaben zur Förderung von Bewertungskompetenz in deutschsprachigen Schulbüchern (vgl. Garrecht et al. 2022; Mikelskis-Seifert et al. 2013). Zwar liegt der Prozentsatz an Aufgaben zur Förderung von Bewertungskompetenz hier mit durchschnittlich 8,5 % höher als bei Mikelskis-Seifert et al. (2013), jedoch erscheint der Unterschied mit Blick auf den von Lehrkräften wahrgenommenen Materialmangel marginal. Die berichteten Ergebnisse bestätigen damit auch Befunde zur Übernahme curricularer Reformen und fachdidaktischer Erkenntnisse in Schulbücher (Andersen 2019; Bakken und Andersson-Bakken 2021; Yang et al. 2019). Für den Kompetenzbereich Bewerten (KMK 2005) zeigt sich, dass die Integration in die Schulbücher für das Fach Biologie noch nicht in ausreichendem Maße erfolgt ist. Es ist anzunehmen, dass Selektions- bzw. Rekontextualisierungsprozesse bei der Aufgabenkonstruktion (Adick 1992; Bernstein 1990; Singh 2002) dazu führen, dass curriculare Veränderungen im Bereich Bewerten unzureichend berücksichtigt werden. Und das, obwohl sie dazu beitragen sollten, dass diese curricularen Reformen bei der Konstruktion von Schulbuchaufgaben umgesetzt werden. Somit liegt folgender Schluss nahe: Wenn Biologieschulbücher für Lehrkräfte die Funktion eines impliziten Curriculums übernehmen, ist mit aktuell verfügbaren Schulbüchern eine adäquate und vollumfängliche Förderung von Bewertungskompetenz nicht realisierbar (Clandinin und Connelly 1992; Craig et al. 2008). Darüber hinaus können Schulbücher keine Funktion in der Professionalisierung von Lehrkräften im Bereich Bewerten übernehmen (Hutchinson und Torres 1994; Remillard et al. 2014; Van den Akker 1988). Um beides leisten zu können, bedarf es einer Aufwertung von bewertungskompetenzorientierten Aufgaben in Schulbüchern.

Der von Biologielehrkräften berichtete Mangel von Material zur Förderung von Bewertungskompetenz kann sich sowohl aus dem geringen Anteil an Schulbuchaufgaben ergeben, als auch aus Schwerpunktsetzungen hinsichtlich der Teilkompetenzen und bioethischen Themenfelder. So werden Lehrkräfte, die auf die Wahrnehmung der moralisch-ethischen Dimension, auf individuelle Reflexions- und Urteilsprozesse oder generell auf eine nachdenkliche Auseinandersetzung mit der Problemstellung abzielen, seltener in Schulbüchern fündig. Um diese Hypothese zu untermauern, bedarf es allerdings einer weiterführenden Analyse der Eigenschaften der Schulbuchaufgaben hinsichtlich Operatoren, Inhalten und Bedingungen. Die Beschreibung der Aufgabenqualität wird weitere Erkenntnisse darüber generieren, wie die Aufgaben didaktisch eingebettet werden müssen und was sie entsprechend von Lehrkräften in der Unterrichtsvorbereitung fordern. Insbesondere Aufgaben zum Argumentieren sind dazu interessant, da diese eine zentrale Fähigkeit im Kontext der Bewertungskompetenz ansprechen, die in allen Modellen von Bewerten unterschiedlich ausgedeutet wird (Bögeholz et al. 2018; Böttcher et al. 2016; Reitschert und Hößle 2007).

Auf Grundlage der vorliegenden Analyse ist davon auszugehen, dass Schulbücher Biologielehrkräfte nur in begrenztem Maße dabei unterstützen, Bewertungskompetenz von Schüler:innen zu fördern. Angesichts der Schwierigkeiten, die Lehrkräfte bei der Konstruktion kompetenzorientierter Aufgaben haben (Heidinger et al. 2021; Kühn 2010) und der Unsicherheit bei der Vorbereitung und Durchführung bewertungskompetenzorientierten Biologieunterrichts (Alfs 2012; Garrecht et al. 2022; Steffen und Hößle 2015) legt dieser Befund nahe, dass Schulbücher gezielt weiterentwickelt werden müssen. Die Herausforderung dabei besteht darin, dass fachdidaktische Modelle für Bewertungskompetenz, Kompetenzdefinitionen der Bildungsstandards und die individuellen Perspektiven der an der Aufgabenkonstruktion beteiligten Personen und Institutionen unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Diese verschiedenen Perspektiven müssten zunächst transparent gemacht und diskursiv ausgehandelt werden (Hutchinson und Torres 1994; Van den Akker 1988), bevor qualitativ hochwertige Aufgaben zur Förderung von Bewertungskompetenz in Schulbücher für das Fach Biologie implementiert werden können.

Limitationen

In der vorliegenden Untersuchung wurden Merkmale von Schulbuchaufgaben untersucht, die mit Bewertungskompetenz in Zusammenhang stehen. Allgemeine Qualitätskriterien für kompetenzorientierte Aufgaben, wie verwendete Operatoren, Inhalte, Bedingungen und Maßstäbe sowie Offenheit und Lebensweltbezug (Stuppan et al. 2023) wurden nicht analysiert. Dadurch ist eine Beurteilung der Aufgabenqualität eingeschränkt. Ebenso wurden keine digitalen Zusatzmaterialien und Handreichungen für Lehrkräfte in die Analyse eingeschlossen, da davon ausgegangen wurde, dass diese keinen hinreichenden Mehrwert für die Beschreibung der Kompetenzorientierung liefern. Der im Zuge der Analyse erstellte Datensatz erlaubt jedoch die Analyse weiterer Aufgaben, auch unter anderen theoretischen Perspektiven und Fragestellungen.

Wie bei anderen Schulbuchanalysen auch (beispielsweise Wernecke et al. 2016) kann keine Aussage über die Nutzung der Aufgaben im Unterricht getroffen werden. Schulbücher sind zwar eine zentrale Ressource für den Biologieunterricht, ihr Einsatz hängt allerdings davon ab, für welche Lehrmittel sich die Fachkollegien an den Schulen entscheiden. Trotz des Beitrags, den Schulbücher potenziell zur Begründung unterrichtlicher Entscheidungen leisten, obliegt die Verantwortung für die Ausgestaltung des Unterrichts, insbesondere Zielsetzung und Instruktion, letztlich den einzelnen Lehrpersonen (Adick 1992; Sterkl und Weixlbaumer 2019). Somit wird hier keine Beurteilung der Qualität von Biologieunterricht vorgenommen, sondern die Eigenschaft von Schulbuchaufgaben betont, Angebot und Orientierung für Lehrkräfte zu bieten.

Implikationen

Die vorliegende Studie leistet einen Beitrag zur Beschreibung des Status quo der Kompetenzorientierung in Schulbüchern für den Bereich ethischen Bewertens knapp 20 Jahre nach Einführung der Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss. Zwei Aspekte sind aus Sicht der Autor:innen für weitere Forschung besonders relevant: Erstens ist von Interesse, wie Biologielehrkräfte Schulbücher tatsächlich zum Planen und Durchführen bewertungskompetenzorientierten Biologieunterrichts nutzen und welche fachdidaktischen Begründungen sie für ihre Entscheidungen heranziehen (Großmann und Krüger 2022). Zweitens sind qualitative Untersuchungen von Teilstichproben aus der vorliegenden Untersuchung sinnvoll, um die Qualität der Aufgaben genauer zu beschreiben. Insbesondere die Aufgaben zum Argumentieren sollten hinsichtlich Operatoren und konkreter Erwartungen an Schüler:innen analysiert werden.

An dieser Stelle ist zu betonen, dass hier keine Beurteilung einzelner Schulbücher vorgenommen wurde. Das Ziel war eine Gesamtschau über alle Schulbücher hinsichtlich Bewertungskompetenz im Zuge der Reformierung durch die Bildungsstandards. Aus unterrichtspraktischer Sicht ergeben sich folgende Überlegungen: Vor allem fehlen Aufgaben, die von Schüler:innen explizit fordern, die ethische Dimension zu erkunden, z. B. indem sie Werte und Normen sowie daraus resultierende Wertekonflikte im Kontext bioethischer Themen beschreiben. Solche Aufgaben müssen das bestehende Angebot ergänzen. Zusätzlich sollte ein höherer Anteil von Aufgaben zur Förderung von Bewertungskompetenz bereitgestellt sowie das Angebot an Aufgaben zu verschiedenen bioethischen Themenfeldern oder Teilkompetenzen breiter aufgefächert werden.

Die bereits existierenden Unterrichtsmodelle zur Förderung von Bewertungskompetenz (Bögeholz et al. 2004; Eggert und Bögeholz 2006; Hößle und Alfs 2016; Meisert und Böttcher 2019) könnten sowohl vorhandene als auch neu entwickelte Schulbuchaufgaben sinnvoll rahmen, indem sie diese in einem konkreten unterrichtlichen Kontext zielgerichtet miteinander in Beziehung setzen. Dies würde auch kumulativen Kompetenzerwerb ermöglichen, beispielsweise indem einzelne Schritte der Unterrichtsmodelle mit Aufgaben zu bioethischen Fragstellungen eingeführt werden und dann sukzessiv die Komplexität der Aufgabenstellung erhöht oder der bioethische Kontext variiert wird.

Die Frage danach, wie viele Aufgaben für diese kumulative Förderung von Bewertungskompetenz notwendig und wann sie im Unterricht einzusetzen sind, lässt sich nicht leicht und erst recht nicht auf Grundlage der hier vorgestellten Analyse beantworten. Aus Sicht der Autor:innen bietet Bewertungskompetenz aber eine mögliche Legitimation, um die ethische, politische und soziale Dimension der Naturwissenschaft Biologie im Biologieunterricht aufzuwerten, und damit den Beitrag des Faches zur Allgemeinbildung zu unterstreichen. Mit Blick auf die besondere Charakteristik der Lebenswissenschaften und die Lebensweltrelevanz biologischer Themen könnte Bewertungskompetenz eine treibende Kraft für einen Biologieunterricht mit umfassendem Bildungsanspruch darstellen: Indem komplexe lebensrelevante Fragen an den Anfang von ausgesuchten Lernbereichen gestellt werden, kann biologisches Fachwissen sinnstiftend für Schüler:innen werden. Ohne das Fachwissen können diese Fragen nämlich nicht befriedigend beantwortet werden. In diesem Dienst müssen qualitativ hochwertige Schulbuchaufgaben stehen.

Ein Ansatz, der auf die Aufwertung von Bewertungskompetenz im Biologieunterricht zielt, muss allerdings nicht nur die Schulbücher, sondern vor allem die Professionalisierung der Lehrkräfte berücksichtigen. Denn selbst wenn Schulbücher ausreichend gute Aufgaben beinhalten, heißt das noch nicht, dass Lehrkräfte sie auch einsetzen. Und wenn sie das tun, so ist damit noch nicht sichergestellt, dass sie mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen im Unterricht auch umgehen können. Das betrifft die eingangs beschriebenen Herausforderungen der Ergebnisoffenheit, die Moderation sowie den Umgang mit der eigenen Meinung vor der Klasse. Die Aus- und Fortbildung von Lehrkräften muss also vieles leisten: Sie muss Lehrkräfte dabei unterstützen, die vorhandenen bewertungskompetenzorientierten Aufgaben als solche zu identifizieren sowie eigenständig entsprechende Aufgaben zu formulieren, um diese gezielt zur Kompetenzentwicklung von Schüler:innen im Unterricht zu nutzen. Darüber hinaus sollte die Aus- und Fortbildung Lehrkräfte darin trainieren, diskursive Unterrichtsphasen konstruktiv zu moderieren.