Einleitung

Ein Weg zur Verbesserung der Qualität von Unterricht bildet das Angebot fachdidaktisch innovativer Unterrichtskonzeptionen zur Unterstützung des Selbststudiums von Lehrkräften (Ball und Cohen 1996; Davis et al. 2016; Breuer et al. 2020; Roesken-Winter et al. 2021). Im Vergleich zu Lehrerfortbildungen oder zur kollaborativen Material(weiter)entwicklung von Lehrkräften und Forschenden setzt diese Strategie auf breiter Basis an, da Lehrkräfte im Berufsalltag ohnedies auf Materialien wie Schulbücher, Lehrpläne oder Handreichungen zurückgreifen und innovative Materialien niederschwellig und flächendeckend bspw. im Internet bereitgestellt werden können (Merzyn 1994; Ball und Cohen 1996; Härtig et al. 2012). Als Argument, um Lehrkräfte von der Nutzung innovativer Materialien zu überzeugen, wird im Sinne einer Angebots-Nutzungsstruktur die empirisch nachgewiesene Wirksamkeit der Materialien angeführt (Prediger et al. 2019; Schrader et al. 2020). Fachdidaktisch innovative materialgestützte Unterrichtskonzeptionen können die Unterrichtsqualität, das Professionswissen bzw. die Selbstwirksamkeitserwartungen von Lehrkräften sowie den Kompetenzzuwachs der Schülerinnen und Schüler erhöhen (Möller 2010; Tobias 2010; Burde 2018; Davis et al. 2017; Kartamiharja und Sopandi 2020).

Es liegen allerdings empirische Hinweise dafür vor, dass Lehrkräfte sich in Abhängigkeit von ihren Vorstellungen und der Darbietungsform teilweise wenig analytisch mit solchen Materialien auseinandersetzen und zum Teil nur wenig im Unterricht umsetzen (z. B. Roehrig et al. 2007; Vos et al. 2011; Land et al. 2015; Kleickmann et al. 2016; Siedel und Stylianides 2018). Insgesamt etablieren sich viele empirisch erfolgreich evaluierte Unterrichtskonzeptionen nicht flächendeckend in der Schulpraxis (Altrichter und Wiesinger 2004; Wilhelm und Hopf 2014). Wenngleich bereits relevante Einflussgrößen der Implementierung identifiziert werden konnten, mangelt es an Studien, die das Zusammenwirken verschiedener Faktoren im Feld genauer untersuchen, um ebendiese Diskrepanz zwischen aus der Literatur abgeleiteten implementationsförderlichen Materialmerkmalen und einer geringen Umsetzung in der Praxis zu erklären. Das gilt insbesondere für das Fach Physik. Daher analysiert das vorliegende Forschungsvorhaben exemplarisch anhand einer physikdidaktisch innovativen Unterrichtskonzeption das Nutzungsverhalten der Lehrkräfte im Feld. Die Konzeption wurde so gewählt, dass sie Materialmerkmale erfüllt, die eine Implementierung der Literatur zufolge im Unterricht erwarten lassen, um die zuvor beschriebene Diskrepanz zwischen implementationsförderlicher Faktoren der Materialgestaltung und einer möglicherweise geringen Umsetzung in der Praxis zu untersuchen.

Definition von materialgestützten Unterrichtskonzeptionen

Zur Sichtung des Forschungsstands und Einordnung der Untersuchung wurde zunächst eine theoretische Rahmung entwickelt. Zur Eingrenzung der Auswahl von Studien war dabei der Implementationsgegenstand festzulegen, also wie weit bzw. eng eine fachdidaktisch innovative materialgestützte Unterrichtskonzeption gefasst wird.

Zur Implementationsforschung liegen bislang vor allem Untersuchungen aus dem englischsprachigen Raum vor, in denen von (educative) curriculum materials die Rede ist. Dieser Begriff wird jedoch häufig wenig präzise und teilweise synonym zu den Begriffen curriculum, curriculum guide oder textbook verwendet (Remillard 2005), sodass in den Untersuchungen der Verbindlichkeitsgrad der Materialien und deren konkrete Ausgestaltung oftmals unklar bleiben. In diesem Beitrag wird der Begriff materialgestützte Unterrichtskonzeption als Übersetzung verwendet, der als Sammelbegriff für schriftliche Materialien dient, denen ein kohärentes Unterrichtskonzept zugrundeliegt. Materialgestützte Unterrichtskonzeptionen setzen sich in der Regel aus Materialien für Schülerinnen und Schüler, wie Texte, Aufgaben oder Versuchsanleitungen, sowie aus Materialien für Lehrkräfte, wie fachlichen Hintergrundinformationen, Darstellungen der Sachstruktur oder Vorschlägen für Unterrichtssequenzen, zusammen (vgl. Niehaus 2011). Darunter fallen Schulbücher, Lehr-Lernmittel, Handreichungen und Lehrpläne. Auf eine genaue Unterteilung, insbesondere in Hinsicht auf den Verbindlichkeitsgrad, musste zunächst verzichtet werden, da die vorliegenden Studien diesbezüglich nicht immer eindeutig Auskunft geben und überdies häufig Mischformen vorliegen. Dieses weitgefasste Begriffsverständnis schränkt jedoch die Vergleichbarkeit von Untersuchungen teilweise ein.

In diesem Beitrag werden ferner materialgestützte Unterrichtskonzeptionen als fachdidaktisch innovativ bezeichnet, wenn sie darauf abzielen, durch die Veränderung von sozialen Praktiken sowie von fachdidaktischem Wissen und Überzeugungen, die diesen sozialen Praktiken unterlegt sind, nachweislich und nachhaltig die Unterrichtsqualität zu verbessern (Altrichter und Wiesinger 2004).

Nutzung innovativer Unterrichtskonzeptionen durch Lehrkräfte

In der allgemeinen Implementationsforschung wird die Implementierung einer Innovation als Angebots-Nutzungsprozess mit der Innovation als Angebot für und deren Nutzung durch Lehrkräfte modelliert (Schrader et al. 2020). Der Fokus in diesem Beitrag richtet sich dabei bewusst auf Lehrkräfte als Individuum, da Lehrkräfte in Deutschland relativ frei und individuell sehr unterschiedlich in ihrer Materialauswahl agieren (Bromme und Hömberg 1981; Haas 1998; Tebrügge 2001; Neumann 2015). Die Materialnutzung von Lehrkräften beschreibt Remillard (2005) als reziprokes Wirkgefüge von Faktoren auf Seiten der Lehrkräfte und der Materialien (vgl. Davis et al. 2016), welches sich gut in die postulierte Angebots-Nutzungsstruktur einordnen lässt.

Das Angebot bildet eine fachdidaktisch innovative Unterrichtskonzeption, wobei sich eine hohe Qualität, das Vorliegen eines Wirkversprechens, eine flexible Handhabung sowie die Passung zu vorhandenen curricularen Vorgaben positiv auf die Implementierung durch Lehrkräfte auswirkt (Remillard 2005; Davis et al. 2016; Schrader et al. 2020). Weiterhin werden ausgehend von Materialanalysen educative features für Lehrkräfte gefordert, welche Informationen über fachliche Inhalte, naturwissenschaftliche Arbeitsweisen und den Umgang mit Schülervorstellungen bereithalten (Davis und Krajcik 2005). Ein hoher zeitlicher Aufwand zur Planung und Implementierung, eine hohe Komplexität sowie unerwünschte Nebenwirkungen wie ein Lernzuwachs der Schülerinnen und Schüler bei abnehmender Motivation werden hingegen als implementationshinderliche Materialmerkmale eingestuft (Schrader et al. 2020). Die postulierten Faktoren stehen im Einklang mit den Ergebnissen von Akzeptanzbefragungen von Lehrkräften sowie Bildungsadministratorinnen und -administratoren von Haenisch (1994) und Richter et al. (2018) zu Fortbildungen bzw. von Demuth (2008) zur Gestaltung einer materialgestützten Unterrichtskonzeption (Chemie im Kontext).

Die Nutzung durch Lehrkräfte wird durch das Materialangebot beeinflusst. Sie hängt aber ebenfalls von personenbezogenen Faktoren wie der professionellen Kompetenz, der Berufserfahrung, der implementationsgegenstandsbezogenen Motivation, der Innovationsbereitschaft und der Einschätzung, ob ähnliche Inhalte wie die des Implementationsgegenstands bereits im eigenen Unterricht umgesetzt werden, ab (Remillard 2005; Davis et al. 2016; Schrader et al. 2020). Subjektive Entscheidungsprozesse bei der Implementierung einer Innovation werden von Gregoire (2003) genauer modelliert und können plausibel auf die Nutzung innovativer Unterrichtskonzeptionen übertragen werden (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Modell der Implementierung fachdidaktisch innovativer materialgestützter Unterrichtskonzeptionen (adaptiert nach Gregoire 2003)

Demnach kann für die Nutzung unterschieden werden, ob seitens der Lehrkräfte ein Bedarf für eine fachdidaktisch innovative Unterrichtskonzeption besteht. Ein niedriger Bedarf führt zu einer heuristischen Auseinandersetzung mit der Konzeption, was je nach Bewertung in einer oberflächlichen oder in keiner Umsetzung resultiert. Zum Bedarf von Lehrkräften lässt sich aus zwei Befragungen von Physiklehrkräften in Deutschland ableiten, dass Lehrkräfte sich konkrete Maßnahmen für den Unterricht wünschen, die ohne großen Aufwand nutzbar sind (Merzyn 1994; Härtig et al. 2012), was sich mit Befunden aus Interventionsstudien zur Materialnutzung von Grundschullehrkräften im Fach Naturwissenschaften (Möller 2010; Davis et al. 2017) und aus einer Interviewstudie mit Mathematiklehrkräften der Sek I (Siedel und Stylianides 2018) deckt.

Ein hoher Bedarf führt nach Gregoire (2003) zu Stress oder Bedenken der Lehrkraft in Hinsicht auf die Umsetzung wegen einer notwendigen Änderung der eigenen Handlungspraxis. Aufgrund einer niedrigen Motivation in Bezug auf die Umsetzung oder nicht hinreichenden Fähigkeiten bzw. Möglichkeiten (z. B. Professionswissen oder externe Rahmenbedingungen) auf Seiten der Lehrkräfte kann ein hoher Bedarf nichtsdestotrotz in einer heuristischen Auseinandersetzung münden. Bei einer hohen Motivation und ausreichenden Fähigkeiten bzw. Möglichkeiten kommt es hingegen eher zu einer systematischen Auseinandersetzung, die je nach abschließender Beurteilung und verfügbaren Ressourcen in einer tiefgreifenden, einer oberflächlichen oder keiner Umsetzung mündet.

Sherin und Drake (2009) haben empirisch fundiert auf der Basis einer Interventionsstudie mit zehn Grundschullehrkräften die Handlungen von Lehrkräften bei der Auseinandersetzung und Nutzung von innovativen Unterrichtskonzeptionen in ähnlicher Weise in reading, evaluating und adapting während der Unterrichtsplanung, im Unterricht und in der Unterrichtsreflexion differenziert.

Die von Gregoire (2003) postulierten Entscheidungsprozesse können mit empirischen Evidenzen untermauert werden. Es liegen bspw. empirische Hinweise dafür vor, dass Lehrkräfte mit hohen Selbstwirksamkeitserwartungen offener für Innovationen sind (Charalambous und Philippou 2010). Niedrige Selbstwirksamkeitserwartungen können wiederum laut Erkenntnissen von Möller (2010) zu einer engen Orientierung an innovativen Unterrichtskonzeptionen führen, wenn diese die Lehrkräfte positiv unterstützen. Darüber hinaus wiesen Lehrkräfte mit wenig Berufserfahrung in einer Befragung zum eigenständigen Lernen aus den Niederlanden tendenziell eine höhere Innovationsbereitschaft bzw. einen höheren Bedarf an Anregungen für den Unterricht auf (Louws et al. 2017). Weiterhin bewerteten Lehrkräfte, zweier Interventionsstudien im Fach Chemie in der Sek I mit 27 (Roehrig et al. 2007) bzw. sechs teilnehmenden Lehrkräften aus den USA (McNeill 2009) zufolge, innovative Unterrichtskonzeptionen eher positiv, wenn diese konsistent zu ihren Überzeugungen waren oder eine geeignete Lösung für eine wahrgenommene Ist-Soll-Abweichung boten (vgl. Davis et al. 2017). Aus den vorgestellten Untersuchungen geht allerdings nicht immer eindeutig hervor, inwiefern die teilnehmenden Lehrkräfte die jeweilige Innovation nachvollzogen haben und lediglich eine geringe Umsetzungsbereitschaft aufwiesen oder das Innovationspotential aufgrund ihrer Überzeugungen nicht (vollständig) erkannt haben, da sich der Fokus auf den Zusammenhang zwischen dem Grad der Umsetzung und den Überzeugungen, aber nicht dessen Hintergründe richtete.

Ein niedriges fachdidaktisches Wissen kann laut einer Interventionsstudie mit zwei Mathematiklehrkräften weiterhin zu einer engen Orientierung an einer fachdidaktisch innovativen Unterrichtskonzeption führen (Sleep und Eskelson 2012). In einer weiteren Interventionsstudie mit zehn deutschen Physiklehrkräften, konnte ein niedriges fachdidaktisches Wissen sogar teilweise durch die Unterrichtskonzeption in Hinblick auf den Kompetenzzuwachs der Schülerinnen und Schüler kompensiert werden (Tobias 2010). Ein höheres fachdidaktisches Wissen kann sich jedoch positiv auf die Einschätzung des Mehrwerts der Innovation auswirken (Tobias 2010).

Neben diesen kognitiven Ressourcen rahmt Gregoire (2003) die Möglichkeiten der Auseinandersetzung und Implementierung einer Lehrkraft zusätzlich durch externe Faktoren, welche bei Schrader et al. (2020) und Remillard (2005) als Kontextfaktoren aufgeführt werden. Dazu zählen die Unterstützung durch die Schulleitung, der Austausch im Kollegium, die verfügbare Zeit für die Einarbeitung, die Zugänglichkeit von Materialien sowie Anschaffungskosten. Diese decken sich mit Befunden aus empirischen Untersuchungen unterschiedlicher Fächer, die das Materialnutzungsverhalten von Lehrkräften mittels Interviews (Kahlert et al. 2000), Fragebögen (Neumann 2015) bzw. in Interventionsstudien mit Unterrichtsvideographie und Unterrichtsnachbesprechungen (Davis et al. 2017; Matic und Glasnovic Gracin 2020) erhoben.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Materialnutzungsverhalten von Lehrkräften aufgrund des komplexen Wirkgefüges verschiedener Einflussfaktoren sehr unterschiedlich ausfallen kann (Roehrig et al. 2007; Choppin 2011; Vos et al. 2011; Davis et al. 2017). Trotz der Identifikation relevanter Einflussgrößen führt eine Optimierung einzelner, isolierter Faktoren nicht immer zu einer vermehrten Implementierung. Es fehlt an Studien, die das gesamte Set an Bedingungsfaktoren unter authentischen Bedingungen und damit Wirkmechanismen zwischen verschiedenen Faktoren untersuchen, um ebendiese Diskrepanz zwischen aus der Literatur abgeleiteten implementationsförderlichen Materialmerkmalen und einer geringen Umsetzung in der Praxis zu erklären. Weiterhin beziehen sich viele der vorliegenden Studien auf die Fächer Mathematik und Science in der Grundschule – Untersuchungen für das Fach Physik und für die Oberstufe liegen kaum vor. Es stellt sich darüber hinaus die Frage, inwieweit Erkenntnisse aus dem englischsprachigen Raum auf das deutsche Schulsystem übertragbar sind, da Lehrkräfte in Deutschland vergleichsweise große Entscheidungsspielräume in Bezug auf die Materialauswahl und Unterrichtsgestaltung haben (Westbury et al. 2015). Es herrscht daher ein Desiderat an Implementationsstudien für das Fach Physik in Deutschland, die gezielt den Prozess der Implementation einer evidenzbasierten, innovativen Unterrichtskonzeption bei einer freigestellten Nutzung ohne zusätzliche Fortbildung analysieren, um Bedingungen abzuleiten, unter denen sich das Wirkpotential solcher Angebote in Schule optimal entfalten kann (vgl. Schrader et al. 2020).

Beschreibung der untersuchten innovativen Unterrichtskonzeption

Basierend auf den aus der Literatur abgeleiteten Einflussfaktoren der Implementierung wurde kriteriengeleitet eine fachdidaktisch innovative Unterrichtskonzeption exemplarisch für die Untersuchung so ausgewählt, dass eine Implementierung im Unterricht zumindest teilweise zu erwarten war. Die Wahl fiel auf das Münchener Unterrichtskonzept zur Quantenmechanik (MILQ) von Müller (2003), welches zum einen erfolgreich empirisch evaluiert wurde (Müller 2003). Zum anderen ist es in der Sekundarstufe II verortet, für die bislang ein Desiderat an Implementationsstudien vorliegt. Weiterhin ist aufgrund der fachlichen und fachdidaktischen Herausforderungen von Quantenmechanik ein hoher Bedarf bei Lehrkräften zu erwarten. Eine ausführliche Darstellung des Auswahlprozesses ist bei Breuer (2021) nachzulesen.

MILQ wurde unter Berücksichtigung typischer Schülervorstellungen zur Quantenmechanik entwickelt und setzt sich intensiv mit Deutungsfragen der Quantenmechanik für die Entwicklung eines qualitativen Verständnisses auseinander. Dabei werden die in den Einheitlichen Prüfungsanforderungen (Kultusministerkonferenz 2004) vorgegebenen Themen für das Zentralabitur behandelt und einige wenige darüber hinaus. Die Kerninnovation von MILQ bildet folglich die zugrundeliegende Sachstruktur.

Das Unterrichtskonzept setzt sich aus einem Lehrtext, Arbeitsblättern, Simulationen sowie fachlichen und fachdidaktischen Hintergrundinformationen in Form von educative features zusammen und ist durch seine Einteilung in einen Basis- und Aufbaukurs für Grund- bzw. Leistungskurs flexibel einsetzbar. Es wurde den teilnehmenden Lehrkräften in Form eines Materialordners mit beigefügter DVD ohne zusätzliche Fortbildung o. Ä. zur Verfügung gestellt. In den Materialordner wurde zu Beginn ein Artikel über MILQ (Müller 2008) aus der Zeitschrift Praxis der Naturwissenschaften hinzugefügt, in dem auf sieben Seiten der Grundgedanke, die Gliederung und ein Überblick über die Evaluationsergebnisse von MILQ gegeben wird. Den teilnehmenden Lehrkräften gegenüber wurde betont, dass sie mit MILQ umgehen sollen, wie sie es für zielführend einschätzen, da eine möglichst authentische, freigestellte Nutzung von MILQ untersucht werden sollte.

Forschungsfragen

Aufgrund der festgestellten Desiderate untersucht das vorliegende Forschungsvorhaben die Wirkmechanismen während des Implementationsprozesses für das Fach Physik und die Sekundarstufe II in Deutschland. Untersucht wird dazu, wie Physiklehrkräfte sich mit der empirisch fundierten, fachdidaktisch innovativen Unterrichtskonzeption MILQ bei einer freigestellten Nutzung im Berufsalltag auseinandersetzen und das Material verwenden, um die Diskrepanz zwischen aus der Literatur abgeleiteten implementationsförderlichen Materialmerkmalen und einer geringen Umsetzung in der Praxis zu klären. Diese Fragestellung wird durch die folgenden Unterfragen konkretisiert:

  1. 1.

    Wie werden die als implementationsförderlich eingestuften Merkmale von MILQ wie die Unterstützung eines fachlich und fachdidaktisch anspruchsvollen Unterrichtsthemas, die empirisch nachgewiesene Wirksamkeit sowie die vielfältige Materialzusammensetzung von unterschiedlichen Lehrkräften wahrgenommen und (wie) wirken sich diese Materialmerkmale auf den Nutzungsprozess aus?

  2. 2.

    Wie wirken sich verschiedene Personenmerkmale wie das Professionswissen, die Vorstellungen zum Lehren und Lernen, die Innovationsbereitschaft und die Berufserfahrung auf subjektive Entscheidungsprozesse von Lehrkräften in Hinblick auf eine fundierte Nutzung von MILQ aus?

  3. 3.

    An welchen Stellen im Implementationsprozess kommen welche Kontextfaktoren zum Tragen?

  4. 4.

    Lassen sich typische Handlungsmuster des Nutzungsverhaltens beobachten?

Forschungsdesign

Zur Bearbeitung der Forschungsfragen wurde ein qualitativer Forschungsansatz gewählt, da sich aus dem bisherigen Forschungsstand noch keine Ansätze für eine systematische quantitative Untersuchung ableiten ließen. Fallstudien ermöglichen eine explorative Untersuchung der Wirkmechanismen zwischen den verschiedenen Faktoren während des Implementationsprozesses. Dabei wurde der Diversität und Komplexität des Zusammenspiels der verschiedenen Faktoren durch einen Multi-Methods-Ansatz mittels methodologischer Triangulation Rechnung getragen (vgl. Schrader et al. 2020).

Zur Erfassung des Implementationsprozesses von MILQ wurden in Anlehnung an Sherin und Drake (2009) halbstandardisierte Interviews zur Planung, Durchführung und Reflexion von Unterricht sowie Unterrichtsbeobachtungen thematisch festgelegter Unterrichtsstunden als Erhebungsinstrumente gewählt. Halbstandardisierte Interviews eignen sich für die vorliegende Untersuchung insofern, da auf diese Weise Vorstellungen, Überlegungen und Entscheidungen der teilnehmenden Lehrkräfte explorativ erfasst werden können (vgl. Krüger und Riemeier 2014). Darüber hinaus wurden Informationen über das Unterrichtsgeschehen, die Umsetzung von MILQ und die Nutzung alternativer Materialien im Unterricht gesammelt und die Unterrichtsstunden zu den Themen lichtelektrischer Effekt und Welleneigenschaften von Elektronen videographiert (vgl. Groeben et al. 1988).

Um den ersten Eindruck von MILQ und die Planung der Unterrichtsreihe zur Quantenmechanik zu erheben, wurde ein Interview zu Beginn der Unterrichtsreihe geführt. Beispielhafte Fragen aus dem Interviewleitfaden lauten: (a) Wie sind Sie bei der Planung der Unterrichtsreihe zur Quantenmechanik vorgegangen, (b) was sind für Sie wichtige Kriterien, ob Sie ein bestimmtes Material bei der Unterrichtsvorbereitung nutzen und (c) was war Ihr erster Eindruck vom bereitgestellten Konzept?

In zwei stimulated recalls wurden weiterhin die thematisch festgelegten Unterrichtsstunden mittels Unterrichtsprotokoll, Videoprompts und im Unterricht eingesetzten Materialien als Stimuli nachbesprochen, um genauere Informationen über die Ziele und Materialnutzung der Lehrkräfte zu gewinnen. Exemplarische Interviewfragen in den stimulated recalls waren: (a) Welche Ziele haben Sie in der beobachteten Unterrichtsstunde verfolgt, (b) auf welche Unterrichtsmaterialien haben Sie zur Planung dieser Stunde zurückgegriffen und (c) was war Ihnen bei der abgespielten Unterrichtssituation wichtig? In der Regel betrug der Zeitabstand zwischen Unterrichtsbeobachtung und stimulated recall zwei bis vier Wochen.

Zur Erfassung einer abschließenden Bewertung der Nutzung von MILQ und eines Fazits zur Unterrichtsreihe fand weiterhin ein Interview nach Beendigung der Unterrichtsreihe statt. Beispiele aus dem Interviewleitfaden des Abschlussinterviews lauten: (a) Was war Ihnen bei der Planung dieser Unterrichtsreihe wichtig, (b) würden Sie sagen, dass das bereitgestellte Unterrichtskonzept MILQ Ihre Unterrichtsreihe beeinflusst hat und (c) was hätten Sie sich an weiteren Unterstützungsmaßnahmen gewünscht?

Alle Interviews wurden von derselben geschulten Person geführt.

Stichprobe

Für die Entwicklung der Interviewleitfäden, die Optimierung des Forschungsdesigns und die Entwicklung eines Auswerteverfahrens wurde eine Pilotierung mit fünf Lehrkräften durchgeführt. Mit drei der Lehrkräfte wurde ausschließlich das Eingangsinterview geführt.

Für die Haupterhebung wurden Lehrkräfte nach theoretical sampling (Kuckartz 2018) ausgewählt. Es wurden bewusst Probanden mit unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen rekrutiert, um trotz eines geringen Stichprobenumfangs aussagekräftige Ergebnisse zu gewinnen. Dazu wurde zunächst nach Lehrkräften aus verschiedenen Bundesländern (Hessen, Niedersachsen, NRW und Mecklenburg-Vorpommern), mit unterschiedlich viel Berufserfahrung (ein Jahr bis 20 Jahre), mit unterschiedlichem Werdegang (Quereinstieg, reguläre Lehramtsausbildung) sowie mit Grund- bzw. Leistungskurs gesucht. Auf der Basis der bis dahin gewonnenen Ergebnisse zeichnete sich ab, dass sich eine größere Bandbreite an fachdidaktischer Erfahrung als fruchtbar für die Untersuchung erweisen könnte, weshalb daraufhin gezielt als weitere Fälle eine Lehrkraft mit einer abgeschlossenen Promotion in der Physikdidaktik und ein Fachleiter für das Fach Physik hinzugenommen wurden. Durch eine zeitversetzte Erhebung der Fälle wurden bis zum Erreichen einer empirischen Sättigung weitere Fälle rekrutiert (vgl. Krüger und Riemeier 2014).

Insgesamt setzt sich die Stichprobe aus elf Gymnasial-Lehrkräften (drei weibliche) zusammen. Da die Studienteilnahme freiwillig war, handelt es sich um eine Positivauswahl. Die Lehrkräfte wurden durch gezieltes Anschreiben von Schulen sowie Emailverteiler von Fortbildungen rekrutiert. Bei zwei Lehrkräften konnte aus organisatorischen Gründen nur eine Unterrichtsvideographie mit stimulated recall erhoben werden, was jedoch aufgrund des explorativen Ansatzes der Studie nicht als problematisch gesehen wird.

Datenauswertung

Zur Untersuchung von Wirkmechanismen verschiedener Einflussfaktoren während des Implementationsprozesses liegt der Fokus der Datenauswertung auf einer Analyse der geführten Interviews, um tiefgreifende Denkprozesse zu erfassen. Dazu wurden die Audiodateien der Interviews in einem ersten Schritt transkribiert. Zur Auswertung der Textdateien wurde basierend auf den Interviews aus der Pilotierung deduktiv-induktiv ein Kategoriensystem zur Erfassung typischer Einflussfaktoren der Materialnutzung entwickelt. Für die Beschreibung von Verhaltensweisen wurden zum einen Kategorien gemäß der inhaltlich strukturierenden Inhaltsanalyse gebildet (Kuckartz 2018). Diese haben einen vermehrt deskriptiven Charakter und wurden konkreten Textpassagen zugewiesen (z. B. empirisch nachgewiesene Wirksamkeit als Materialauswahlkriterium). Für die Bewertung von Handlungen wurden zum anderen Kategorien für eine evaluative qualitative Inhaltsanalyse gebildet (Kuckartz 2018). Diese sind stärker interpretativ und stellen eine Einschätzung der gesamten Person dar, weshalb für diese Kategorien ein gesamter Fall als Kodiereinheit festgelegt wurde (z. B. Selbstwirksamkeitserwartungen).

Die daraus entstandenen Subkategorien wurden Kategorien zugeordnet, welche wiederum unter den folgenden sechs Hauptkategorien subsumiert sind: (1) Vorstellungen zum Lehren und Lernen, (2) Vorgehen in der Unterrichtsplanung, (3) allgemeine Materialnutzung, (4) Aussagen zum bereitgestellten Unterrichtskonzept MILQ, (5) Aussagen zur Quantenmechanik und (6) Reflexion. Das Kategoriensystem umfasst also drei Hierarchieebenen und insgesamt 157 Subkategorien. Mit dieser Fülle an Subkategorien sollte gewährleistet werden, dass die Komplexität des Untersuchungsgegenstands differenziert abgebildet wird.

Für die Kodierung wurde ein Kodiermanual erstellt, welches neben einer Definition der jeweiligen Kategorie ein Ankerbeispiel und ggf. ein Abgrenzungsbeispiel enthält. Die Kodierung der Kategorien der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse erfolgte in zwei Schritten. Zuerst kodierten zwei geschulte Personen unabhängig voneinander die Kategorien der zweiten Hierarchieebene für das gesamte Datenmaterial mit der Software MAXQDA. Die prozentuale Übereinstimmung betrug 60 %. Nicht-Übereinstimmungen wurden konsensuell geklärt. In einem zweiten Schritt wurden für die jeweiligen Kategorien die Subkategorien von einer Person kodiert. Diese Zuweisungen wurden daraufhin von einer zweiten Person für das gesamte Datenmaterial auf ihre Plausibilität hin überprüft. Strittige Kodierungen wurden mittels diskursiver Konsensbildung gelöst. Aufgrund des hohen Umfangs an Subkategorien und möglichen Mehrfachkodierungen einer Textstelle wurde bei diesem Kodierschritt keine unabhängige Interrater-Übereinstimmung angestrebt und daher die Überprüfung der Kodierung der Subkategorien als angemessene qualitätssichernde Maßnahme angesehen (vgl. Schreier 2012).

Die evaluativen Kategorien wurden von zwei geschulten Personen unabhängig voneinander für alle Fälle vergeben. Die prozentuale Übereinstimmung betrug hierbei 58 %. Nicht-Übereinstimmungen wurden mittels diskursiver Konsensbildung verhandelt.

Die Interrater-Übereinstimmungen fielen trotz intensiver Kodierschulungen und mehrfacher Überarbeitung des Kodiermanuals (bspw. durch Ausschärfen von Kategorien oder Ergänzen von Abgrenzungsbeispielen) eher niedrig aus, was vermutlich auf die hohe Inferenz der Daten zurückzuführen ist (bspw. kann die Äußerung einer Lehrkraft, dass sie sich in bestimmten Gebieten der Quantenmechanik unsicher fühlt, je nach Kontext als realistische und souveräne Einschätzung der eigenen Wissensgrenzen oder als niedrige Selbstwirksamkeit eingeschätzt werden). Insofern können die Interrater-Übereinstimmungen als ausreichend bewertet werden (Wirtz und Caspar 2002). Um dennoch die Plausibilität der Kodierungen zusätzlich abzusichern, wurde das gesamte Textmaterial doppelt kodiert (vgl. Schreier 2012). Als weitere qualitätssichernde Maßnahme wurde zudem die Intrarater-Reliabilität bestimmt, um zu überprüfen, inwiefern die diskursive Konsensbildung Einfluss auf das Kodierverhalten hatte. Hierzu wurden während des Kodierprozesses knapp 20 % des Datenmaterials sowohl für die inhaltlich strukturierenden als auch für die evaluativen Kategorien vor der diskursiven Konsensbildung der betreffenden Interviews von einer Person nach einem Zeitabstand von mindestens sechs Wochen doppelkodiert. Die prozentuale Übereinstimmung liegt für die inhaltlich strukturierenden Kategorien bei 77 % und für die evaluativen Kategorien bei 67 %. Insgesamt wird die zeitliche Stabilität der Kodierungen daher als zufriedenstellend bewertet (vgl. Schreier 2012).

Ergebnisse

Im Folgenden werden die Ergebnisse entlang der Forschungsfragen vorgestellt (vgl. Breuer 2021).

FF1: Wahrnehmung und Einfluss materialbezogener Merkmale

Aus dem als Angebot für Lehrkräfte bereitgestellten Unterrichtskonzept MILQ wurden unterrichtsnahe Elemente wie Simulationen oder Arbeitsblätter positiv bewertet und auch im Unterricht eingesetzt, wobei sich die teilnehmenden Lehrkräfte hierbei oftmals auf unterschiedliche Elemente aus MILQ bezogen. Weiterhin scheint MILQ Lehrkräften geeignete fachliche Hilfestellungen zu liefern, da mehrere Lehrkräfte angaben, MILQ zur fachlichen Weiterbildung zu nutzen.

„[Das Kapitel aus MILQ über] Präparation habe ich mir mal durchgelesen, war ganz interessant, einfach mal darauf nochmal gestoßen zu sein, was Präparation [in der klassischen Physik und in der Quantenphysik] eigentlich bedeutet“ (M. P., I1, 132).Footnote 1

Für eine fachdidaktische Weiterbildung wurde MILQ hingegen nach Angaben der teilnehmenden Lehrkräfte nicht verwendet, allerdings berichteten ohnedies nur wenige Lehrkräfte, sich überhaupt fachdidaktisch weiterzubilden. Ein weiterer Grund könnte aber ebenfalls sein, dass fachdidaktische Informationen in MILQ nicht explizit für Lehrkräfte gekennzeichnet sind.

Kritik wurde vor allem am als zu hoch eingeschätzten Schwierigkeitsgrad, am hohen Umfang und an einer mangelnden Lehrplankongruenz geübt, was teilweise von vornherein zu einer wenig zeitintensiven Auseinandersetzung mit MILQ oder zu einer steinbruchartigen Nutzung führte. Allerdings wurden auch in Bezug auf die angeführten Kritikpunkte individuelle Unterschiede und teilweise widersprüchliche Einschätzungen (sowohl zwischen verschiedenen Personen als auch innerhalb einzelner Personen) festgestellt. So gingen einige Lehrkräfte trotz der Kritik an mangelnder Lehrplankongruenz in ihrem Unterricht inhaltlich über die Vorgaben des Lehrplans hinaus (z. B. indem sie die Unbestimmtheitsrelation unterrichteten, die im Kernlehrplan des Bundeslandes nicht vorgesehen war).

Die Gesamtbewertung von MILQ reichte von „total super“ (C. S., I2, 138) bis hin zu „so ein Sch …“ (K. S., I1, 252). Bemerkenswert ist, dass die empirische Evaluation der Wirksamkeit von MILQ keinerlei Erwähnung durch die Lehrkräfte fand und somit höchstwahrscheinlich kaum in die Beurteilung der Qualität einfloss. Vielmehr suggerieren Aussagen der teilnehmenden Lehrkräfte, dass die inhaltliche Qualität nicht immer ausschlaggebend bei der Materialauswahl war, sondern pragmatische Kriterien wie der erforderliche Arbeitsaufwand oder Kopieraufwand handlungsleitend waren – insbesondere, wenn die Wahl zwischen verschiedenen Materialien bestand. Aufgrund der großen individuellen Unterschiede können keine klaren Empfehlungen für die Gestaltung von MILQ gefolgert werden, stattdessen scheinen personenbezogene Merkmale die Wahrnehmung sehr zu steuern.

FF2: Einfluss personenbezogener Merkmale

Es wurden mehrere personenbezogene Merkmale festgestellt, die großen Einfluss auf das Materialnutzungsverhalten zu haben scheinen. Die didaktische Innovationsbereitschaft beeinflusst die Motivation in Bezug auf die Umsetzung von MILQ. Vier Personen wurden als eher didaktisch innovationsbereit eingestuft. Die didaktische Innovationsbereitschaft scheint gegenläufig zu einem extrem ausgeprägt pragmatischen Verhalten zu sein, das bei sieben Lehrkräften beobachtet wurde. Dieses hat ebenfalls großen Einfluss auf das Materialnutzungsverhalten.

„Also ich setzte manche Sachen nicht ein, weil mir das zu aufwändig ist, das dann zu realisieren“ (L. L., I2, 79).

Ferner filtern den Ergebnissen zufolge die Vorstellungen zum Lehren und Lernen die Wahrnehmung und die Auswahl von Elementen aus MILQ. Schülerorientierte Lehrkräfte suchten beispielsweise gezielt nach Texten, Aufgaben oder Simulationen, die von den Schülerinnen und Schülern bearbeitet werden konnten, wohingegen Lehrkräfte, für die Experimente bei der Unterrichtsplanung und -durchführung handlungsleitend waren, sich primär auf für sie neue Experimentiervorschläge konzentrierten.

Darüber hinaus prägten Vorstellungen zur Materialnutzung ebenfalls die Nutzung von MILQ. Einige teilnehmende Lehrkräfte wiesen ein sehr ausgeprägtes Autonomiebestreben („Ich bin ein Eigenbrötler“, C. J., I2, 24) und ein großes Bedürfnis nach Beibehaltung des eigenen Konzepts zur Quantenmechanik auf, weshalb die betreffenden Lehrkräfte eine enge Orientierung an MILQ grundsätzlich ausschlossen:

„Ich finde, der [Rainer Müller] hat super Ideen, ja? […] Aber ich würde es [MILQ] trotzdem nicht eins zu eins so übernehmen, weil es muss halt eben auf einen zugeschnitten sein“ (C. J., I2, 24).

Ein hohes Autonomiebestreben schlug sich weiterhin teilweise in der selbstständigen Zusammenstellung unterschiedlicher Materialien nieder:

„Also ich konnte noch nie mir DAS Lehrbuch nehmen, das wir gerade haben, und NUR mit diesem Buch arbeiten“ (C. S., I1, 43).

Die teilnehmenden Lehrkräfte schienen folglich nicht nach einer sachstrukturell kohärenten Unterrichtskonzeption zu suchen, sondern nach einzelnen Elementen, die sie zu einer Unterrichtsreihe zusammenfügen bzw. in ihre Unterrichtsreihe integrieren konnten. Dieses Vorgehen konnte auch für die Berufsanfänger beobachtet werden, die noch kein ausgearbeitetes Konzept zur Quantenmechanik besaßen. Einige Lehrkräfte arbeiteten allerdings durchaus sehr eng mit einem Schulbuch und legten es gemäß ihren Vorstellungen zur Materialnutzung als Vergleichsmaßstab an alternative Materialien wie MILQ an.

„[MILQ] müsste ich ja streng genommen den Schülern zur Verfügung stellen. […] Ist das so viel Mehrwert, dass ich das mache, als dass ich im Alternativfall das [Schul-]Buch nehme?“ (F. K., I2, 54)

Weiterhin hängt vermutlich die Tiefe der fachdidaktischen Reflexion der Lehrkräfte mit der analytischen Durchdringung von MILQ zusammen. Es wurde bei allen teilnehmenden Lehrkräften ein geringer fachdidaktischer Fokus bei der Unterrichtsplanung und -reflexion festgestellt. Es wurden beispielsweise nur wenige explizite Schülervorstellungen zur Quantenphysik und kaum Strategien im Umgang mit ihnen genannt. Es fanden sich überdies sogar einige missverständliche fachliche Aussagen oder Aussagen, die auf Fehlvorstellungen hinweisen:

„Welle oder Teilchen – eine Mischung hat man nicht. […] Für jeweils das Experiment, was man gerade betrachtet, muss man sich halt das geeignete Modell herausgreifen“ (M. P., SR2, 33).

Die wenig fachdidaktisch geprägte Haltung prägte die Auseinandersetzung mit MILQ, die primär auf Sichtstrukturebene und teilweise wenig zeitintensiv erfolgte. Eine Auseinandersetzung mit der fachdidaktischen Innovation fand in den Interviews kaum statt. Die Lehrkräfte behielten vielmehr ihre bisherigen Handlungsroutinen bei, ohne sie tiefergehend zu hinterfragen. Es ist daher anzunehmen, dass die zentrale fachdidaktische Innovation von MILQ von keiner teilnehmenden Lehrkraft (vollständig) erkannt wurde.

Dieser Umstand führte zu einer sehr selektiven Implementierung von MILQ, wobei die von den Lehrkräften näher betrachteten und für den Unterricht ausgewählten Elemente von ihren Unterrichtszielen abhingen, welche oftmals kalkülorientiert geprägt waren.

FF3: Einfluss von Kontextfaktoren

Als Kontextfaktoren, die die Materialnutzung der teilnehmenden Lehrkräfte beeinflussten, waren curriculare Vorgaben entscheidend. Insbesondere die Vorbereitung auf das Zentralabitur wurde von den Lehrkräften als handlungsleitend beschrieben, was sich u. a. in der Auswahl der Aufgaben der Lehrkräfte widerspiegelte (Kalkülorientierung). Die angegebene Bedeutsamkeit curricularer Vorgaben wurde allerdings dadurch relativiert, dass ein Großteil der Lehrkräfte Themen wie Verschränkung oder die Unbestimmtheitsrelation im Grundkurs über die Lehrplanvorgaben ihres Bundeslandes hinaus unterrichteten.

Weiterhin empfanden viele teilnehmende Lehrkräfte ihre zeitlichen Ressourcen sowohl für die Unterrichtsplanung als auch für den Unterricht an sich als einschränkend, was oftmals in einem zeiteffizienten Materialnutzungsverhalten mündete und eine systematische Auseinandersetzung mit MILQ von vornherein unterband. Darüber hinaus förderte der Mangel an Realexperimenten zur Quantenphysik den Einsatz von Simulationen aus MILQ.

FF4: Handlungsmuster

Wie bereits berichtet, scheinen eine hohe didaktische Innovationsbereitschaft und ein ausgeprägt pragmatisches Verhalten gegenläufig zu sein. Weiterhin zeigte sich, dass Lehrkräfte, für die Experimente handlungsleitend waren, häufiger fehlende Experimente zur Quantenphysik als Kontextfaktor angaben. Die Vorstellungen zum Lehren und Lernen filtern folglich zum Teil die von den Lehrkräften wahrgenommenen Rahmenbedingungen. Aufgrund der Komplexität des Zusammenspiels verschiedener Wirkfaktoren können allerdings kaum belastbare Aussagen über den Einfluss einzelner Faktoren getroffen werden, weshalb die Betrachtung ganzer Merkmalsgruppen zur Ableitung von Wirkzusammenhängen vorgeschlagen wird.

Daher wurden in Anlehnung an Gregoire (2003) sowie Sherin und Drake (2009) auf einer globaleren Ebene zwischen verschiedenen Arten der Auseinandersetzung, Bewertung und Implementierung bezüglich MILQ, die bei unterschiedlichen Lehrkräften zu beobachten waren, unterschieden. Auf diese Weise konnten mittels Fallvergleichen trotz großer individueller Unterschiede Ähnlichkeiten im allgemeinen Materialnutzungsverhalten von MILQ festgestellt werden. Hinsichtlich der Auseinandersetzung lasen alle teilnehmenden Lehrkräfte MILQ kursorisch. Einige setzten sich mit bestimmten Elementen genauer auseinander – bspw., wenn diese die von ihnen verfolgten Ziele unterstützten. Ein conceptual change im Sinne von Gregoire (2003) konnte hingegen bei den Lehrkräften nicht beobachtet werden. Die betreffenden Lehrkräfte wiesen aber einen Bedarf an Unterstützungsmaßnahmen für die Quantenphysik auf, was auf fehlende Berufserfahrung bzw. eine hohe didaktische Innovationsbereitschaft zurückzuführen war. Drei Lehrkräfte setzten sich insgesamt wenig zeitintensiv mit MILQ auseinander. Es handelt sich dabei um erfahrene Lehrkräfte, die wenig Bedarf an zusätzlichen Materialien zur Quantenphysik hatten. Insgesamt erfolgte keine (kritisch-)rationale, fundierte Auseinandersetzung mit MILQ, was teilweise auf mangelnde Fähigkeiten bzw. Möglichkeiten zurückzuführen war.

Die Bewertung von MILQ fiel von acht Lehrkräften eher positiv und von den drei Lehrkräften, die sich wenig zeitintensiv mit MILQ auseinandersetzten, nicht gewinnbringend im Vergleich zu ihrem sonstigen Vorgehen aus. Dabei nahmen einige wenige Lehrkräfte eine Schülerperspektive ein, die meisten fokussierten sich jedoch auf ihre eigene Perspektive als Lehrkraft. Es ist bezeichnend, dass dabei der empirische Wirksamkeitsnachweis von MILQ (im Vergleich zu alternativen Materialien) auch auf Nachfrage hin für keine der teilnehmenden Lehrkräfte eine Rolle spielte.

Die Implementierung erfolgte bei den acht Lehrkräften, die MILQ eher positiv einschätzten, oberflächlich, indem sie gezielt ausgewählte Elemente in ihren Unterricht integrierten. Die anderen drei Lehrkräfte setzten MILQ nicht im Unterricht ein. Eine Umsetzung der zugrundeliegenden Sachstruktur von MILQ, die im Wesentlichen die fachdidaktische Innovation ausmacht, wurde nicht beobachtet.

Zusammenfassung

Die Bereitstellung fachdidaktisch innovativer Unterrichtskonzeptionen birgt das Potenzial einer Verbesserung der Qualität schulischen Unterrichts. Da sich allerdings viele empirisch erfolgreich evaluierte, innovative Unterrichtskonzeptionen nicht an Schulen verankern, untersuchte das vorliegende Forschungsprojekt den Implementationsprozess bei einer freien fakultativen Nutzung exemplarisch für die empirisch fundierte, fachdidaktisch innovative Unterrichtskonzeption MILQ. In der vorliegenden Untersuchung bestätigt sich die bereits vielfach beobachtete individuell sehr unterschiedliche Materialnutzung von Lehrkräften (vgl. Roehrig et al. 2007; Choppin 2011; Vos et al. 2011; Davis et al. 2017), weshalb ein Herausarbeiten einzelner zentraler Faktoren sowie eine klare Einteilung in Gelingens- und Hinderungsbedingungen aufgrund der Komplexität des Zusammenspiels verschiedener Determinanten der Materialnutzung von MILQ nur bedingt möglich war. Insofern sollte der Implementierungsprozess als doppelte Angebots-Nutzungsstruktur modelliert werden, bei der die Bereitstellung von MILQ ein Angebot für Lehrkräfte darstellt, dessen Nutzung durch die Lehrkräfte von Material‑, Personen- und Kontextfaktoren beeinflusst wird (vgl. Schrader et al. 2020). Auf dieser Grundlage erstellen Lehrkräfte ein Unterrichtsangebot, dessen Nutzung durch die Schülerinnen und Schüler wiederum komplexen Wirkmechanismen unterliegt. Folglich ist von keiner direkten Wirkung von Unterrichtskonzeptionen auf Unterricht auszugehen.

Auf einer übergeordneten Ebene wurden jedoch Ähnlichkeiten in der Auseinandersetzung, Bewertung und Implementierung von MILQ bei den teilnehmenden Lehrkräften festgestellt. Alle Lehrkräfte setzten sich kursorisch mit MILQ auseinander, einige beschäftigten sich mit ausgewählten Elementen genauer. Drei erfahrene Lehrkräfte äußerten keinen Bedarf an neuen Materialien zur Quantenphysik und lasen MILQ äußerst zeiteffizient. Wie bei Land et al. (2015) sowie Siedel und Stylianides (2018) konnten keine fachdidaktischen Weiterbildungsprozesse der Lehrkräfte basierend auf MILQ festgestellt werden. Insgesamt befasste sich keine der teilnehmenden Lehrkräfte mit der Tiefenstruktur von MILQ. Die Bewertung von MILQ erfolgte heuristisch und in der Regel auf der Basis von eigenen Vorstellungen und Interessen. Eine Änderung bestehender Vorstellungen aufgrund der Auseinandersetzung mit MILQ wurde nicht beobachtet. Ähnlich, wie dies in früheren Studien in den Fächern Mathematik und Science bereits festgestellt wurde, schätzten die teilnehmenden Physiklehrkräfte unterrichtsnahe Elemente besonders (vgl. Möller 2010; Davis et al. 2017; Siedel und Stylianides 2018). Je nach Bedarf der Lehrkräfte wurde MILQ entweder steinbruchartig in den Unterricht integriert (vgl. Kahlert et al. 2000; Tebrügge 2001) oder gar nicht implementiert. Es erfolgte keine Umsetzung der kohärenten Sachstruktur, die das fachdidaktische Potenzial von MILQ im Wesentlichen ausmacht.

Das bedeutet, gleichwohl MILQ aus theoretischer und empirischer Sicht eine qualitativ hochwertige Unterrichtskonzeption darstellt, scheint der innovative Charakter für Lehrkräfte nicht ersichtlich zu werden und es werden aus Perspektive der Lehrkräfte zu wenig konkrete Vorschläge auf Stundenebene gegeben, sodass die teilnehmenden Lehrkräfte auf der Basis ihrer Vorstellungen und Handlungsroutinen lediglich gezielt auf einzelne Elemente aus MILQ zurückgreifen.

Diskussion

Trotz der geringen Fallzahl erscheint es vor dem Hintergrund der Stichprobenzusammensetzung gemäß theoretical sampling und empirischer Sättigung sowie der positiven Verzerrung der Stichprobe aufgrund der freiwilligen Teilnahme plausibel anzunehmen, dass eine flächendeckende Implementierung der zentralen fachdidaktischen Innovation von MILQ über eine reine Bereitstellungsstrategie misslingen würde. Überdies ist zu vermuten, dass die heuristische Auseinandersetzung mit MILQ aufgrund einer subjektiv geringen Bedeutsamkeit der empirisch belegten Wirksamkeit, der teilweise geringen Einnahme der Lehrkräfte von Schülerperspektiven sowie einer pragmatischen Unterrichtsplanung in Teilen auch auf die Implementierung anderer Unterrichtskonzeptionen mit einer fachdidaktisch innovativen Sachstruktur übertragbar ist. Es sind folglich eingeschränkt Verallgemeinerungen der Befunde möglich, aber die Ergebnisse bedürfen der Überprüfung in Folgestudien mit anderem fachinhaltlichen und curricularen Fokus.

Es ist bezeichnend, dass der empirische Wirksamkeitsnachweis von MILQ, der bislang in der Literatur als Gelingensfaktor postuliert wurde (vgl. Schrader et al. 2020; Roesken-Winter et al. 2021), für die Beurteilung keine Rolle spielte. Das bedeutet, dass die Strategie der Bereitstellung evidenzbasierter Unterrichtskonzeptionen ihres zentralen Implementationsarguments im Vergleich zu alternativen Materialien beraubt wird und die Diskrepanz zwischen implementationsförderlichen Materialmerkmalen und geringer Umsetzung in der Praxis zum Teil erklären kann. Überraschend ist weiterhin das wenig innovationsbereite Materialnutzungsverhalten der unerfahrenen Lehrkräften im Gegensatz zu Studien aus anderen Domänen (vgl. Louws et al. 2017). Darüber hinaus zeigte sich ein sehr deutlicher Einfluss der Vorgaben für das Zentralabitur auf die Ziele der Lehrkräfte und damit auch direkt auf die Materialauswahl, weshalb die gewonnenen Erkenntnisse in Teilen vermutlich sehr spezifisch für die Sekundarstufe II geprägt sind, sodass weiterer Forschungsbedarf in Bezug auf die Bereitstellungsstrategie und die Nutzung physikalischer Unterrichtskonzeptionen in der Sekundarstufe I besteht.

Auch wenn in der bisherigen Literatur zur Bereitstellung von Materialien über ähnliche Schwierigkeiten und Herausforderungen berichtet wird (z. B. Roehrig et al. 2007; Sherin und Drake 2009; Vos et al. 2011; Siedel und Stylianides 2018), wurde in vorangehenden Studien bei einigen Probanden durchaus eine tiefgehende Implementierung der Innovation festgestellt. Insofern ist es bezeichnend, dass in dem vorliegenden Beitrag bei allen teilnehmenden Lehrkräften lediglich eine heuristische Auseinandersetzung mit MILQ und keine tiefergehende Implementierung beobachtet wurde, bei der die fachdidaktische Innovation von MILQ aufgegriffen wurde. Da es sich bei den bisherigen Studien allerdings größtenteils um Interventionsstudien handelt, ist von einem hohen Verbindlichkeitsgrad der Nutzung auszugehen. Bei einer freigestellten Materialnutzung scheinen sich aus theoretischer Sicht als implementationsförderlich angenommene Faktoren jedoch teilweise nicht als wirksam bzw. praktisch in der Umsetzung zu erweisen, was u. a. die festgestellte Diskrepanz zwischen implementationsförderlichen Materialmerkmalen und einer geringen Umsetzung in der Praxis begründen könnte.

Es lassen sich durchaus einige Schlüsse für eine Optimierung des Materialangebots von MILQ ziehen (wie z. B. eine Kennzeichnung von Kernelementen, was eine flexiblere Handhabung ermöglichen würde, ein engerer Bezug zu curricularen Vorgaben insbesondere in Hinblick auf typische Aufgabenformate im Zentralabitur und eine klarere Differenzierung von Materialien für Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler vor allem für Lehrtexte) (vgl. Choppin et al. 2018). Folgestudien sollten untersuchen, inwieweit dadurch langfristig eine schrittweise Etablierung innovativer Unterrichtskonzeptionen in der Unterrichtspraxis erreicht werden könnte und welcher Grad der Implementierung für eine Umsetzung der jeweiligen Innovation sowie die Adaption auf unterschiedliche Lerngruppen erstrebenswert ist (vgl. Choppin 2011).

Nichtsdestotrotz implizieren die gewonnenen Erkenntnisse, dass die Schwierigkeiten der Implementierung von innovativen Unterrichtskonzeptionen kein alleiniges Problem der Darreichungsform darstellen, sondern wohl wesentlich auf einer grundlegenderen Ebene anzusiedeln sind. Es ist zu vermuten, dass die freiwillige Bereitstellung und die große professionelle Autonomie deutscher Lehrkräfte zu einer sehr freien Materialnutzung und einem geringen Bedarf an kohärenten Konzeptionen (und eher zu einer modularen Implementierung) führt. Eine Veränderung bestehender Vorstellungen der Lehrkräfte alleine durch das Angebot innovativer Unterrichtskonzeptionen erscheint dadurch nur schwer zu erreichen.

Trotz der berichteten Schwierigkeiten sollte die Bereitstellung innovativer Unterrichtskonzeptionen für eine Implementierung auf breiter Basis weiterverfolgt werden, da Lehrkräfte ohnedies auf Unterrichtsmaterialien im Alltag zurückgreifen und die Bereitstellung von Materialien durch das Internet niederschwellig möglich ist. Vor dem Hintergrund des bisherigen Forschungsstandes und der gewonnenen Erkenntnisse dieser Studie bieten sich hierzu jedoch vor allem Innovationen an, die einen geringen Komplexitätsgrad aufweisen wie bspw. Kontextorientierung o. Ä. Komplexere Innovationen sollten durch Implementationsstrategien wie Fortbildungen oder kollaborative Materialentwicklung von Forschenden und Lehrkräften implementiert werden, wobei die Bereitstellung innovativer Unterrichtskonzeptionen eine wichtige Ergänzung darstellen kann, da Fortbildungen oder kollaborative Materialentwicklung aufgrund des hohen Aufwands in der Regel nur sehr lokal wirken.

Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf das Individuum bei der Materialnutzung, systemische und institutionelle Rahmenbedingungen wie der Austausch im Kollegium oder der Einfluss der Schulleitung wurden nicht näher untersucht. Um ein umfassenderes Bild über Wirkmechanismen bei der Materialnutzung zu erlangen, sollten zukünftige Untersuchungen auch den Einfluss dieser Faktoren auf die Materialnutzung näher analysieren.