1 Einleitung: Akzeptanz von Verteilungsregeln

In nahezu allen modernen Gesundheitssystemen kommt es vor allem aufgrund demografischer Veränderungen sowie des medizinisch-technischen Fortschritts zu einer erhöhten Nachfrage nach Gesundheitsleistungen, der jedoch in aller Regel nur beschränkte Ressourcen gegenüberstehen. Einerseits erscheint daher zwar die Notwendigkeit einer Auswahl dessen, was solidarisch finanziert werden soll, unausweichlich; andererseits ist diese Notwendigkeit aber bisher in der öffentlichen Diskussion wenig akzeptiert und zum Teil noch immer tabuisiert [1].

Die in diesem Aufsatz dargestellten Ergebnisse sind eingebettet in die Forschung der interdisziplinären DFG-Forschergruppe FOR 655 zum Thema „Priorisierung in der Medizin, insbesondere im Rahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung“ [2]. Neben theoretischen Arbeiten werden die Präferenzen verschiedener Gruppen von Bürgerinnen und Bürgern zu Art und Umfang medizinischer Versorgung ermittelt. Dabei beziehen sich die Präferenzen auf eine Reihenfolgenbildung von medizinischen Leistungen, die Priorisierung, oder auf Fragen der Rationierung als Entscheidung über Umfang oder Ausschluss von Leistungen.

Ein wesentliches Ziel der im Folgenden zusammengefassten Studien ist es, Einblicke in die Akzeptanz oder Ablehnung verschiedener, in der theoretischen und normativen Literatur vorgeschlagener Verteilungsprinzipien und darauf aufbauender Verteilungsregeln zu erhalten. Dem Ansatz des „Empirical Social Choice“ [35] folgend werden Befragten dabei abstrakte hypothetische Entscheidungsprobleme zur Verteilung medizinischer Ressourcen geschildert, in denen konkurrierende Prinzipien zu unterschiedlichen Lösungsvorschlägen führen. Der Ansatz ist also ausdrücklich explorativ und dient der Identifizierung wichtiger Charakteristika von Verteilungsregeln knapper Gesundheitsressourcen und der Prüfung ihrer Akzeptanz.

Wir geben eine Übersicht über den theoretischen Rahmen einer Serie von Entscheidungsexperimenten und fassen wesentliche Erkenntnisse zusammen. In Abschn. 2 werden zunächst mit Hilfe von Gesundheitsproduktionsfunktionen die grundlegenden Strukturen der unterschiedlichen Verteilungssituationen dargestellt. Zudem werden einige in der normativen Theorie diskutierte Verteilungsregeln sowie die von diesen in den Situationen induzierten Allokationen beschrieben. Abschnitt 3 enthält einen Überblick über eine Sequenz von Studiendesigns und beschreibt knapp die Methodik der bisher von uns durchgeführten Experimente, deren wichtigste Ergebnisse in Abschn. 4 vorgestellt werden. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf einer Reihe von Befragungsexperimenten, die zwischen 2008 und 2010 mit Studierenden unterschiedlicher Fachrichtungen in Halle und Jena durchgeführt wurden [6, 7]. Ergänzend wird auf eine vorhergehende [8] sowie eine soeben ausgewertete Studie eingegangen, um ein möglichst umfassendes Bild unserer bisherigen Erkenntnisse anzubieten. Eine Diskussion sowie Schlussfolgerungen und Implikationen beschließen den Aufsatz in Abschn. 5.

2 Methodik

2.1 Gesundheitsproduktionsfunktionen

Eine Vielzahl von Kriterien und Maßzahlen für Gerechtigkeit wird diskutiert, wenn es um die Zuordnung medizinischer Ressourcen auf Patienten geht [911]. Für eine kontrollierte experimentelle Erforschung im Rahmen konstruierter Entscheidungssituationen ist es allerdings notwendig, sich auf einige besonders relevante Aspekte und Verteilungsprinzipien pro Studie zu beschränken. Manche dieser Prinzipien sind traditionell tief in normativen Konzepten verankert und beanspruchen nicht selten kontextunabhängige Allgemeingültigkeit. Hierzu gehören Gleichheits-, Proportionalitäts- oder Effizienzgedanken. Andere Prinzipien werden eher für spezifische Kontexte vorgeschlagen. Ein Beispiel könnte die Berücksichtigung von Mindestbedarfen sein.

Für die hier vorgestellten Experimente entwarfen wir Entscheidungssituationen, in denen Entscheider in die Rolle eines Arztes (einer Ärztin) versetzt wurden, und eine beschränkte medizinische Ressource, in diesem Fall Behandlungszeit, auf Patienten aufteilen sollten. Patienten wurden abstrakt durch Charakteristika beschrieben, die individuell unterschiedliche Werte annahmen. Dabei unterscheiden wir zwei Situationsstrukturen. In der ersten wird zunächst für jeden Patienten ein Mindestbedarf an Behandlungszeit angegeben, der die Bedeutung eines Schwellenwertes für die Wirksamkeit seiner Behandlung hat. Wenn diese Zeit nicht aufgewendet wird, kann kein Behandlungserfolg erzielt werden. Zu denken ist etwa an den Zeitaufwand für Diagnosen oder nicht direkt heilende Maßnahmen. Die Wirksamkeit des Einsatzes von Behandlungszeit wird über einen zweiten Wert, einen Wirksamkeitsfaktor, abgebildet.

In den Instruktionen zu den von uns durchgeführten Experimenten wurden implizit spezielle Gesundheitsproduktionsfunktionen verwendet. Die Funktion zu der soeben beschriebenen Struktur ist exemplarisch für den allgemeinen Zwei-Personen-Fall in Abb. 1 dargestellt. Der zusätzliche Gewinn eines Patienten i an Gesundheit ΔG i ist abhängig von der Menge an zugeteilter Behandlungszeit a i . In dieser Situationsstruktur wird bis zum Mindestbedarf m i keine zusätzliche Gesundheit erzeugt; ab dem Mindestbedarf wird die gesamte Behandlungszeit mit dem Wirksamkeitsfaktor e i multipliziert. Der aktuelle Gesundheitszustand ist nicht gesondert quantifiziert. Stattdessen ist eine Entscheidung über Zuwächse an Gesundheit erforderlich. Auf der Basis der so bestimmten Wirkungen werden Auszahlungen für Patienten und Ärzte definiert. Die Annahme von Mindestbedarfen führt zu einer Sprungstelle in der Funktion. Insgesamt geben die in Abb. 1 exemplarisch für zwei Patienten dargestellten Gesundheitsproduktionsfunktionen also an, dass sowohl der Mindestbedarf als auch der Gewinn an Gesundheit pro erhaltene Einheit an Behandlungszeit für Patient 1 größer ist als für Patient 2. Ein Hinzufügen eines oder mehrerer Patienten mit anderen Merkmalsausprägungen wäre allerdings ebenfalls leicht zu veranschaulichen.

Abb. 1
figure 1

Situationsstruktur 1 – Mindestbedarf und Wirksamkeit (Bemerke: Patient i ist charakterisiert durch einen Mindestbedarf (m i ), und einen Wirksamkeitsfaktor (e i ). Daraus ergibt sich aufgrund der Zeit-zuteilung (a i ) der Gesundheits-zugewinn (ΔG i ).)

Aufbauend auf den Ergebnissen der Experimente zur ersten Situationsstruktur haben wir eine weitere Befragungsstudie durchgeführt. Erste Erkenntnisse hieraus liegen gerade erst vor, werden in Abschn. 4 aber dennoch kurz zusammengefasst. Die zugrundeliegende zweite Situationsstruktur, die wiederum durch eine Klasse von Gesundheitsproduktionsfunktionen ausgedrückt werden kann, ist in Abb. 2 dargestellt. Neben den Wirkungsfaktoren der Behandlungszeit wird hier nun auch der individuelle Gesundheitszustand vor der Behandlung S i angeben. Somit sind Vergleiche zwischen den ursprünglichen und den aufgrund der zugeordneten Behandlungszeit erreichbaren Gesundheitszuständen G i möglich. Dafür verzichteten wir auf die Dimension der Mindestbedarfe, so dass die resultierenden Gesundheitsproduktionsfunktionen linear sind. Im Beispiel in Abb. 2 ist sowohl das gesundheitliche Ausgangsniveau als auch der Zugewinn an Gesundheit pro Behandlungszeiteinheit für Patient 1 höher als für Patient 2, doch sind andere Kombinationen wiederum möglich.

Abb. 2
figure 2

Situationsstruktur 2 – Gesundheitszustand und Wirksamkeit (Bemerke: Patient i ist charakterisiert durch einen aktuellen Gesundheitszustand (S i ) und einen Wirksamkeitsfaktor (e i ). Daraus ergibt sich aufgrund der Zeitzuteilung (a i ) der neue Gesundheits-zustand (G i ).)

Jede Form einer im Experiment verwendeten Gesundheitsproduktionsfunktion weist zwangsläufig eine vereinfachte Struktur auf. Die Gruppe der anwendbaren Verteilungsregeln hängt dann von der Struktur dieser Funktionen sowie den individuellen Werten der enthaltenen Faktoren ab. Grundsätzlich wären selbstverständlich weitere Alternativen möglich. Insgesamt ist es das Ziel dieser Sequenz von Studien, Aussagen darüber zu generieren, welche Aspekte der Beschreibung einer Wirkung von Behandlung in die Entscheidung der Probanden eingehen und in welcher Form sie jeweils berücksichtigt werden. Hieraus lassen sich Aussagen über die Akzeptanz verschiedener Verteilungsprinzipien sowie Eigenschaften von Verteilungsregeln ableiten.

2.2 Verteilungsregeln

In den meisten Experimenten wurden den Probanden Verteilungen der Behandlungszeit vorgeschlagen, die sich nach unterschiedlichen in der eingangs erwähnten Literatur diskutierten Verteilungsregeln ergeben würden. Allerdings war es auch möglich, eigene Vorschläge zu machen. Zudem sollten Befragte in manchen Studien ihr Vorgehen schriftlich erläutern. Insbesondere diese letzten beiden Aspekte verstärken den explorativen Charakter der Untersuchungen. Durch die Konstruktion von theoriebasierten Vorschlägen wurde es möglich, die Entscheidungen der Teilnehmer im Experiment theoretischen Verteilungsprinzipien zuzuordnen. Damit konnte untersucht werden, welchen Einfluss systematische Veränderungen der Verteilungssituationen auf die Wahl der den Entscheidungen zugrundeliegenden Prinzipien hatten.

In unserer Analyse verstehen wir unter Verteilungsregeln theoretisch definierte Vorschriften, die abhängig von den Rahmenbedingungen der Verteilungssituation eine Zuordnung der Behandlungszeit auf Patienten vornehmen. Diese Verteilungsregeln können sich wiederum auf ein einzelnes Verteilungsprinzip oder auf eine Kombination von Prinzipien stützen. Solche Vorschriften werden zunächst danach systematisiert, welche Art von Information sie verarbeiten. Olsen [12] spricht hierbei vom „Distribuendum“. Verteilungsregeln können sich auf verschiedene Variablen beziehen, auf Ressourcenmengen, auf Wirkungen von Behandlungen oder auf die Gesundheitszustände von Patienten [13]. Da wir in einigen bisher durchgeführten Experimenten, wie in der experimentellen Wirtschaftsforschung üblich, mit monetären Anreizen gearbeitet haben, wurden hierbei zu jedem Verteilungsvorschlag die Patientenauszahlungen und die Arztauszahlung angegeben, die ggf. realisiert würden. Verteilungsregeln können sich daher auch auf monetäre Auszahlungen für Teilnehmer beziehen.

Neben der Unterscheidung anhand des Distribuendums können Verteilungsregeln weiterhin danach unterschieden werden, wie sie Information verarbeiten [10]. Wir gehen im Folgenden detaillierter auf ein Beispiel der Situationsstruktur 1 ein, in welcher Informationen zur verfügbaren Ressourcenmenge sowie zu den individuellen Wirksamkeiten und Mindestbedarfen gegeben werden. Sie bildet die Basis für die im Folgenden ausführlich betrachteten Ergebnisse [6]. Anschließend werden weitere Prinzipien, die in der zweiten Situationsstruktur bedeutsam sein könnten, kurz erläutert.

Es gibt Regeln, die sich auf die Ressource selbst konzentrieren und die Höhe der Wirksamkeit außer Betracht lassen [14]. Dazu gehört z. B. die Regel der „Gleichaufteilung“ der vorgegebenen Ressourcenmenge. Auch die Regel, zunächst alle Mindestbedarfe zu erfüllen und dann die restliche Menge gleich aufzuteilen, bezieht sich in erster Linie auf Ressourcenmengen. Letztere Regel nennen wir „Truncated Split“, im Folgenden abgekürzt mit TS. Zu den Regeln, welche die Wirksamkeit einbeziehen, gehört ein utilitaristisches Verfahren U, das die Summe der Wirkungen bei allen Patienten maximiert. Dieses Prinzip liegt zum Beispiel den Kosten-Nutzen-Erwägungen in der Gesundheitsökonomik zugrunde, wird in empirischen Untersuchungen jedoch häufig abgelehnt [1417]. Des Weiteren kann das utilitaristische Prinzip U dadurch modifiziert werden, dass zunächst die Mindestbedarfe aller Patienten erfüllt werden und die verbleibende Behandlungszeit utilitaristisch verteilt wird. Diese Regel wird als „Truncated Utilitarianism“, TU, bezeichnet [18, 19]. Eine Verteilung kann aber auch egalitär bezogen auf die durch die Zeitzuteilungen erzeugten Wirkungen auf Gesundheit sein [3, 13, 17]. Wenn Egalität in Gesundheitszuwächsen nicht realisierbar ist, kann das sogenannte Leximin-Prinzip für die Gesundheitszuwächse zur Anwendung kommen. Dieses würde eine Verteilung der Wirkungen wählen, die nach einer lexikografischen Ordnung Minima maximiert. Daher bezeichnen wir diese Regel als „Leximin in Payoffs“, LP.

Zur weiteren Veranschaulichung sei die folgende Entscheidungssituation aus der in Ahlert, Funke und Schwettmann [6] sowie Ahlert und Funke [7] vorgestellten Studie betrachtet: Ein Zeitbudget von 1.000 Einheiten ist auf drei Patienten zu verteilen. Patient 1 benötigt eine Mindestmenge von 400 Einheiten, die Behandlung dieses Patienten hat einen Wirksamkeitsfaktor von 3. Bei Patient 2 ist die Mindestmenge 100 und der Faktor 2, bei Patient 3 ist die Menge 200 und der Faktor 1. Im Fragebogen der Studie wurden für dieses Zuteilungsproblem die fünf in Tab. 1 aufgeführten Lösungen vorgeschlagen. Dabei sind jeweils die Mengen an Zeit pro Patient, die erzielten Wirkungen bei jedem Patienten und die Auszahlung für den Arzt als Summe der Patientenauszahlungen angeben.

Tab. 1 Beispiel 1 – Drei-Personen-Situation mit ausreichender Ressourcenmenge

Vorschlag (a) ordnet die gesamte Menge dem Patienten zu, bei dem eine Behandlung die größte Wirksamkeit hat, im Beispiel ist das Patient 1. Die Patienten 2 und 3 werden nicht behandelt. Dieser Vorschlag entspricht der Regel U. Gleichzeitig maximiert er die Arztauszahlung. In Vorschlag (b) wird nur ein Patient ausgegrenzt, Patient 3, bei dem die Behandlung die geringste Wirksamkeit hat. Patient 2 bekommt seine Mindestmenge und Patient 1 das verbliebene Budget. Vorschlag (b) ist ein Kompromiss zwischen U und TU. TU ist in Vorschlag (c) realisiert. Jeder Patient wird behandelt, bekommt seine Mindestmenge, und das verbliebene Budget geht an Patient 1. Vorschlag (d) ist nach der Verteilungsregel TS konstruiert. Wenn jeder Patient seine Mindestmenge bekommen hat, bleiben noch 300 Einheiten übrig, die hier gleich verteilt werden. Vorschlag (e) entspricht dem Lexikografischen Prinzip in Zugewinnen an Gesundheit LP. Zunächst wird keine Person ausgeschlossen. Wenn alle Mindestmengen verteilt sind und somit bei allen Patienten positive Wirkungen entstehen, werden im Beispiel weitere Mengen so verteilt, dass sie jeweils der oder den Person(en) gegeben werden, für welche die Wirkungen am geringsten sind. Dies führt dazu, dass Patient 1 außer der Mindestmenge nichts bekommt, Patient 2 bekommt zur Mindestmenge 100 hinzu, Patient 3 wird für die geringe Wirksamkeit durch 300 zusätzliche Einheiten kompensiert. Die Patienten 2 und 3 haben in der Wirkung beide 400 erzielt und stehen damit so gut wie möglich da, auch wenn sie nicht die Wirkung von 1.200 des Patienten 1 erreichen können.

Dieses Beispiel wird im Fragebogen in einer anderen Verteilungssituation dadurch variiert, dass bei unveränderten Patientencharakteristika das Budget auf 600 Einheiten reduziert wird. In diesem Fall ist es nicht möglich, alle Mindestbedarfe zu erfüllen. Einige der oben erläuterten Verteilungsregeln lassen sich auch hier anwenden und finden sich unter den Verteilungen, die in Beispiel 2 in Tab. 2 dargestellt sind, wieder. Der Entscheider muss festlegen, welchen Patienten er ausschließt, oder ob er gar zwei Patienten unberücksichtigt lässt. Nach der Regel U in Vorschlag (a) wird wiederum nur Patient 1 behandelt. Wird der Patient mit dem kleinsten Wirksamkeitsfaktor ausgeschlossen, so würden entsprechend TU in Vorschlag (b) Personen 1 und 2 mit Mindestmengen versorgt und der Rest der Behandlungszeit Person 1 mit dem höchsten Wirksamkeitsfaktor zugeordnet. Vorschlag (c) entspricht dem Prinzip LP, Vorschlag (d) beinhaltet egalitäre Auszahlungen für Personen 2 und 3 und schließt Person 1 aus.

Tab. 2 Beispiel 2 – Drei-Personen-Situation mit nicht-ausreichender Ressourcen-menge

Wie bereits in Abschn. 2.1 beschrieben, haben wir in einer jüngst durchgeführten Studie neben den Wirksamkeitsfaktoren auch Informationen zu den Gesundheitszuständen zweier Patienten vor der Behandlung angegeben, dafür jedoch auf die Angabe von Mindestbedarfen verzichtet. Der erreichbare Gesundheitszustand kommt damit als neues Distribuendum hinzu, so dass sich der Gleichheitsgedanke, wie in der empirischen Literatur schon häufiger gezeigt wurde, auch hierauf beziehen kann [13]. Diese Nachfolgestudie war ebenfalls explorativ ausgerichtet, ließ eigene Vorschläge und verbale Kommentare zu und bot zusätzliche Allokationsvorschläge an, die nicht-theoriebasiert waren, aber Kompromisse zwischen anderen Vorschlägen darstellten.

3 Studiendesigns

Die hier vorgestellten Experimente entstammen einer Sequenz von insgesamt bisher vier Studien, die sich mit dem Entscheidungsverhalten von Probanden in medizinischen Verteilungssituationen beschäftigen.

Studie 1 [8] hat erste allgemeine Erkenntnisse in recht komplexen Situationen geliefert. Die einzelnen Situationen folgten der Struktur 1 mit sieben Patienten, die sich anhand ihrer Mindestbedarfe und Wirksamkeitsfaktoren unterschieden. Da Teilnehmer die Verteilungen hier, anders als in den nachfolgenden Studien, völlig frei wählen konnten, war es nicht möglich, jede Aufteilung eindeutig einer Regel zuzuordnen. Die Zuteilungen auf die Patienten wurden bei der statistischen Auswertung als mehrdimensionaler Vektor dargestellt. Eine Abstandsrelation zwischen den Zuteilungsvektoren ermöglichte Vergleiche von Entscheidungen mit idealtypischen Verteilungen. Über ein statistisches Verfahren wurden die gewählten Verteilungen der nächstgelegenen idealtypischen Verteilung zugeordnet, sofern sie „nahe genug“ lagen.

An diesen Laborexperimenten nahmen 136 Studierende der Ökonomie und der Medizin teil, deren Verteilungsentscheidungen analysiert und miteinander verglichen wurden. Auch wurde das Verhalten im medizinischen Kontext dem in einem eher neutralen gegenübergestellt. Die Verteilungssituationen waren dabei von den Zahlenwerten her identisch gewählt, es unterschieden sich allerdings die Formulierungen in den Instruktionen. Die Akteure im neutralen Kontext hießen Verteiler statt Arzt/Ärztin, die Patienten wurden Empfänger genannt, und es wurde ein rein monetäres Verteilungsproblem beschrieben. Bei der Auswertung der Experimente war es daher möglich, die Verteilungsentscheidungen von verschiedenen Studierendengruppen in verschiedenen Kontexten zu vergleichen.

Als Antwort auf die Problematik der Interpretation der gewählten Verteilungen mittels theoretischer Konzepte enthielten die Situationen in der Studie 2 [6], über die im Folgenden ausführlich berichtet wird, einfachere, systematisch variierte Verteilungsprobleme mit zwei oder drei Patienten sowie eine Auswahl von vordefinierten Verteilungsvorschlägen, die auf theoretisch diskutierten Verteilungsregeln basieren. Im Rahmen explorativer Studien hat es sich bewährt, zusätzlich die Option eines eigenen Vorschlags vorzusehen [20].

Für die Studie 2 haben wir in den Jahren 2008 bis 2010 mehrere Classroom-Experimente in ökonomischen, medizinischen und juristischen Lehrveranstaltungen an den Universitäten Halle und Jena durchgeführt. Wir berichten hier über Experimente, an denen 162 Ökonomiestudenten im 3. Studienjahr, 107 Medizinstudenten im 4. Studienjahr und 59 Jurastudenten im 3. Studienjahr teilgenommen haben.

Die Fragebögen enthielten Verteilungssituationen, in denen die Zahl der Patienten, die verfügbaren Behandlungszeiteinheiten und die Reihenfolge der Situationen systematisch variiert wurden. Eine weitere Besonderheit unserer Experimente war erneut, dass parallel zu den Fragebögen mit medizinischer Rahmenbedingung jeweils eine Teilgruppe der Ökonomie- und Jurastudenten mit einem eher neutral formulierten Fragebogen konfrontiert wurde. Die Instruktionen beider Versionen finden sich im Anhang.

Die monetären Anreize wurden, wie schon im Laborexperiment, entscheidungsabhängig realisiert. Allerdings wurden nicht alle Entscheidungen aller Subjekte ausgezahlt. Es wurde ein Anteil aller Entscheidungen zur Auszahlung ausgelost. Insgesamt erhielten 15 bis 20 % zufällig bestimmte Teilnehmer einen Geldbetrag. Die Auszahlung für einen Verteiler in einer zufällig ausgewählten Entscheidungssituation entsprach dem Payoff in Eurocent in dem von ihm in dieser Situation gewählten Verteilungsvorschlag. Gleichzeitig wurden die Wirkungen für die Patienten in Geld umgerechnet und an zufällig zugeloste Teilnehmer in der Rolle der Patienten ausgezahlt. Dadurch wurde ein monetärer Anreiz für die Verteiler induziert, sich utilitaristisch zu verhalten, denn in den meisten unserer experimentellen Verteilungssituationen sind die utilitaristischen Verteilungen gleichzeitig solche, die die Auszahlung des Verteilers maximieren, da sein Payoff proportional zu den durch seine Entscheidung insgesamt erzeugten Wirkungen definiert ist (vgl. erneut die beiden Beispiele in Abschn. 2.2). Weicht ein Verteiler von der auszahlungsmaximierenden Allokation ab, so zeigt dies, dass er bereit war, seine eigene Auszahlung für die von ihm gewählte Verteilung und damit für das realisierte Prinzip aufzugeben.

Die Erkenntnisse daraus flossen anschließend in ein weiteres Experiment mit Medizinstudenten der Martin-Luther-Universität ein [21]. In dieser Studie 3 wurde zusätzlich die Möglichkeit gegeben, Begründungen für das gewählte Vorgehen zu äußern. Diese Äußerungen wurden mittels Textanalyse ausgewertet, auf deren Ergebnisse wir im Ergebnisteil kurz eingehen.

Die bisher beschriebenen Experimente sind vom Typ her komplexe Diktatorspiele, in denen der Verteiler im Rahmen der vorgegebenen Möglichkeiten seine eigene Auszahlung und die der anderen Teilnehmer bestimmt [22, 23]. Es ist vielfach experimentell gezeigt worden, dass in Diktatorspielen ohne monetäre Auszahlungen die Maximierung der eigenen Auszahlung weniger häufig verfolgt wird, als wenn die Payoffs tatsächlich in Form von Geldzahlungen realisiert werden [24]. Wenn es nichts kostet, fair zu sein, verteilen mehr Probanden fair, als wenn sie eigene monetäre Auszahlungen dafür aufgeben müssen.

In der zuletzt durchgeführten Studie 4 hatten insgesamt 162 Studierende aus ökonomischen und juristischen Lehrveranstaltungen in einem Classroom-Experiment eine Sequenz von 16 Entscheidungssituationen zu beantworten, in denen eine medizinische Ressource auf jeweils zwei Patienten aufzuteilen war. Die Situationen folgten der in Abschn. 2.1 vorgestellten Struktur 2. Zudem sollten die Studierenden angeben, welche Informationen sie in den Situationen hauptsächlich einbezogen haben; auch waren die von ihnen angewandten Verteilungsregeln zu beschreiben. In dieser Studie verzichteten wir auf monetäre Auszahlungen verzichtet. Die Teilnehmenden fungierten in den Experimenten als Entscheider, die von der Verteilung weder als Patient noch durch eine Auszahlungsfunktion selbst betroffen waren. Hier wurde also keine Norm monetär induziert; dem Abweichen von einer Norm standen damit keine Kosten in Form entgangener Auszahlungen beim Entscheider oder anderen Subjekten gegenüber. Diese Position wird in normativen Ansätzen in der Regel zugrunde gelegt (siehe insbesondere Konow [25] für eine Diskussion).

4 Ergebnisse

Die wesentlichen Ergebnisse der einzelnen, aufeinander aufbauenden Studien werden nun in ihrer zeitlichen Reihenfolge vorgestellt. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf den Ergebnissen der Studie 2.

In den Laborexperimenten der Studie 1 wurde insbesondere deutlich, dass Ökonomiestudenten eher als Medizinstudenten darauf zielten, ihre eigene Auszahlung recht hoch zu halten, insbesondere im neutralen Design. Im medizinischen Kontext entschieden sie hingegen weniger eigennützig, wobei das Entscheidungsmuster der Ökonomiestudenten gleichzeitig weniger einheitlich wurde. Medizinstudenten verhielten sich hingegen generell eher nicht auszahlungsmaximierend, insbesondere nicht im medizinischen Kontext. Sie kompensierten auch häufiger eine geringere Wirksamkeit einer Behandlung durch eine größere Zuwendung. Auffällig war bereits bei dieser Studie, dass im medizinischen Design eine große Mehrheit der Medizinstudenten und auch der Ökonomiestudenten Allokationen wählten, in denen möglichst viele Patienten versorgt wurden.

Die Entscheidungssituationen der Studie 1 waren aufgrund der hohen Patientenzahl und der freien Wählbarkeit der Verteilungen sehr komplex. Die Entscheidungsprobleme der nachfolgenden Studien waren in dieser Hinsicht einfacher. Die Ergebnisse der Studie 2 werden anhand der zuvor erklärten Drei-Personen-Situationen beschrieben. Weitere Ergebnisse der ebenfalls im Fragebogen enthaltenen Zwei-Personen-Situationen finden sich in Ahlert, Funke und Schwettmann [6]. Betrachten wir zunächst die Ergebnisse des Beispiels 1 mit einer Ressourcenmenge, die ausreicht, um sämtliche Mindestbedarfe der drei Personen zu berücksichtigen.

In Tab. 3 sind zunächst die im Fragebogen angebotenen Verteilungen aufgeführt. Zudem ist in der Tabelle angegeben, welche der in Abschn. 2.2 erläuterten Verteilungsregeln zu der jeweiligen Allokation führt. Diese Information wurde den Befragten im Fragebogen allerdings nicht gegeben. Weiterhin werden die relativen Antworthäufigkeiten sowohl nach Kontexten als auch nach Studienfach untergliedert. Zu bemerken ist hierbei, dass die Medizinstudenten lediglich das medizinische Design erhielten. Durch diese Untergliederung der Gesamtstichprobe werden die einzelnen Gruppen zwar recht klein, doch liegt ein Hauptaugenmerk dieser explorativen Studie auf den möglichen Unterschieden zwischen den beiden Kontexten sowie den drei Studienfächern.

Tab. 3 Ergebnisse der Drei-Personen-Situation mit ausreichender Ressourcen-mengea

Im Vorhinein war nicht klar, ob es ein einziges Prinzip gibt, dem die überwiegende Mehrheit der Befragten folgt. Den Ergebnissen in der Tab. 3 ist jedoch zu entnehmen, dass sich die Antworten der Befragten auf mehrere Allokationen verteilten. Zudem gab es einen Anteil an Befragten, die eigene Verteilungsvorschläge machten. Die von uns vorgeschlagene Liste an Allokationen war demnach nicht umfassend. Dennoch erfolgte die Wahl der Verteilung offensichtlich nicht zufällig oder willkürlich. Vielmehr wurden vor allem zwei Verteilungsvorschläge unterstützt, die im Einklang mit den zweistufigen Verteilungsregeln „Truncated Utilitarianism“ (TU) oder „Truncated split“ (TS) stehen. Beide Regeln berücksichtigen zunächst sämtliche Mindestmengen und lassen daher keinen Empfänger ohne Ressourcen und Gesundheitszugewinn. Hinsichtlich der Verteilung der verbleibenden Ressourcenmenge unterscheiden sie sich jedoch voneinander: Während TU auf den Wirksamkeitsfaktor abzielt und der Person die gesamte Restmenge zuteilt, die damit den höchsten Zugewinn erzielt, verlangt TS die Gleichverteilung dieser Restmenge. Demnach geben die beiden in unserer Studie prominentesten Regeln unterschiedliche Antworten auf die Fragen, welche Art von Informationen einbezogen werden sollen und wie diese Informationen zu verarbeiten sind. Weiterhin ist zu beobachten, dass Allokationen, die sich aus dem Leximin-Prinzip (LP) ergeben, von einem substantiellen Teil der Befragten gewählt wurden. Auch diese Verteilungsregel zielt auf die Konsequenzen der Ressourcenverteilung ab, doch wird hier ein Angleichen der Konsequenzen – gemessen in Gesundheitszugewinnen – oder Auszahlungen – angestrebt, ohne jedoch einen Empfänger auszuschließen, falls Gleichheit nicht erreichbar ist.

Betrachtet man nun die Antworthäufigkeiten der einzelnen Studienfächer, so wird in beiden Kontexten deutlich, dass die Verteilung gemäß TU sehr viel häufiger von Ökonomiestudenten gewählt wurde, während sich Jurastudenten in beiden Kontexten und vor allem Medizinstudenten im medizinischen Kontext eher für die Allokation entschieden, die sich aus der Regel TS ergibt. Hierin zeigt sich ein wichtiger Unterschied zwischen den einzelnen Disziplinen, den wir auch in anderen Situationen und Experimenten beobachten konnten [6, 8]. Ökonomiestudenten scheinen eher als die anderen beiden Gruppen auf eine möglichst hohe Produktivität zu achten. Zudem wird vor allem im neutralen Kontext deutlich, dass Verteilungen, die die eigene Auszahlung auf Kosten einer oder mehrerer anderer Personen erhöhen, vornehmlich von Ökonomiestudenten gewählt wurden.

In Beispiel 2 wurde für die Drei-Personen-Situation der Fall einer nicht-ausreichenden Ressourcenmenge dargestellt. Diese Situation wurde Medizin- und Ökonomiestudenten vorgelegt. Dabei interessieren uns vor allem zwei Fragestellungen, zu denen wir im Folgenden einige Erkenntnisse verbal darstellen.

Erstens war es, wie bereits in Abschn. 2.2 erläutert, von Interesse, welchen Verteilungsregeln Befragte in diesen Situationen folgten. Wir interpretieren die Entscheidung als einen zweistufigen Prozess, in dem der Entscheider zunächst bestimmt, welche Person(en) weniger als ihre Mindestmenge bekommen soll(en), bevor er anschließend die eigentliche Ressourcenaufteilung vornimmt. Die große Mehrheit aller Befragten in unseren Experimenten entschied sich in der Drei-Personen-Situation dafür, Person 3 weniger als die erforderliche Mindestmenge zuzuteilen. Diese Person war dadurch gekennzeichnet, dass sie bei mittlerer Mindestmenge den geringsten Produktivitätsfaktor aufwies. Die geringe Wirksamkeit einer Behandlung scheint also für die große Mehrheit der Teilnehmer ein akzeptiertes Ausschlusskriterium zu sein. Die beiden anderen Patienten erhielten ihre Mindestmengen. Anschließend gaben vor allem Ökonomiestudenten der Person 1 die gesamte verbleibende Ressourcenmenge und wählten somit wiederum die sich aus der Verteilungsregel TU ergebende Allokation. Medizinstudenten entschieden sich hingegen häufiger dafür, 400 Einheiten an Person 1 und 200 Einheiten an Person 2 zu geben. Diese Allokation folgt wiederum aus der Regel „Leximin in Payoffs“ (LP).

Zweitens wurde die Abfolge der Situationen in der Studie 2 in unterschiedlichen Fragebogenversionen systematisch variiert, um Reihenfolgeneffekte untersuchen zu können. Während zum Beispiel einem Teil der Befragten zunächst die Drei-Personen-Situation mit ausreichender Ressourcenmenge (Beispiel 1) und dann der Fall mit nicht-ausreichender Menge (Beispiel 2) präsentiert wurde, war diese Reihenfolge für andere Befragte umgekehrt. Vergleicht man nun Antworten auf die Situation mit ausreichender Menge in beiden Sequenzversionen, so zeigen sich deutliche Unterschiede. Wurde vorab die Situation mit nicht-ausreichender Menge geschildert, so scheinen Befragte anschließend deutlich häufiger die gesundheitlichen Konsequenzen der Allokation mit einbezogen zu haben. Vor allem in der Gruppe der Medizinstudenten wurde in diesem Fall viel häufiger die Verteilung gewählt, die der Regel TU entspricht. Doch auch für Ökonomiestudenten sind in beiden Kontexten Reihenfolgeneffekte beobachtbar. Wurde zunächst die Situation mit nicht-ausreichender Menge geschildert, so ließ ein größerer Teil der Befragten anschließend in Beispiel 1 mindestens einen Patienten oder Empfänger unberücksichtigt, auch wenn die Ressourcenmenge dann für eine Berücksichtigung aller Mindestmengen ausreichte. Die kognitive Auseinandersetzung mit der Notwendigkeit, wegen Ressourcenknappheit nicht alle medizinischen Behandlungen durchführen zu können, lenkt offenbar den Fokus bei vielen Entscheidern auf die Wirksamkeit von Behandlungen und legt ihnen das Ausschlusskriterium der geringsten Wirksamkeit nahe. Dieser Fokus scheint bei etlichen Entscheidern erhalten zu bleiben, selbst wenn bei einer nachfolgenden Entscheidung die Ressourcenmenge weniger begrenzt ist [7].

Einige der bisher gemachten Beobachtungen konnten im Rahmen der Textanalyse in der Studie 3 bestätigt werden [21]. Hier zeigte sich, dass viele der befragten Medizinstudierenden tatsächlich die von ihnen gewählten Verteilungen mit Motiven begründeten, die im Einklang mit den entsprechenden theoretischen Konzepten stehen. Zudem stand für die Befragten im medizinischen Kontext die Beachtung von Mindestmengen im Vordergrund, während im neutralen Design ein größeres Gewicht auf die eigene Auszahlung gelegt wurde. Eigene Verteilungsvorschläge der Teilnehmenden wurden häufig als Kompromiss zwischen divergierenden Motiven beschrieben.

Abschließend soll auf einige erste Ergebnisse der Studie 4 eingegangen werden. Erneut zeigte sich auch hier, dass es nicht das eine Prinzip zu geben scheint, dem alle Befragten in allen Situationen folgen. Dennoch ließ sich beobachten, dass für viele Befragte Gleichheit hinsichtlich der Gesundheitszugewinne wichtiger war als Gleichheit in Bezug auf die zugeteilte Ressourcenmenge oder die Gesundheitszustände, welche in dieser Studie, anders als in unseren vorherigen Experimenten, zusätzlich einbezogen wurden. Es zeigte sich analog zur Studie 3, dass die Menge der angewendeten Verteilungsregeln umfangreich ist und auch komplexe Formen enthält. Wir beobachteten die Anwendung von Schwellenwerten für zu erreichende Gesundheitszustände, die den ersten Schritt von „truncated principles“ bilden, die dann in einem zweiten Schritt mit anderen Regeln kombiniert die Allokation definieren. Andere vorgeschlagene Regeln haben zum Ziel, die schlechtergestellte Person stärker zu unterstützen, ohne jedoch die Gesundheitszustände vollständig auszugleichen. Hierdurch kommt in gewisser Weise eine Beschränkung des Gleichheitsprinzips zum Ausdruck. Solche Formen konditionalen Entscheidens, nach denen die Zuteilung abhängig von den konkreten Parametern der Situation angepasst wurde, ließen sich häufig beobachten. Insgesamt lehnten es viele der Befragten in ihren verbalen Antworten ab, Patienten gänzlich unbehandelt zu lassen, und hielten sich in ihren getroffenen Entscheidungen daran. Dies entspricht dem in der Studie 2 festgestellten Wunsch, zunächst allen Patienten die Mindestmenge zuzuteilen. Das Prinzip, möglichst niemanden unbehandelt zu lassen, scheint damit ein sehr wichtiges, allen weiteren Verteilungsüberlegungen vorgelagertes Prinzip zu sein.

5 Diskussion und Schlussfolgerungen

In diesem Aufsatz haben wir einige Ergebnisse einer Serie explorativer Entscheidungsexperimente zur Akzeptanz von Verteilungsregeln in der Gesundheitsversorgung zusammengefasst. Zudem wurde mit Hilfe der im Design der Experimente verwendeten Gesundheitsproduktionsfunktionen eine theoretische Klammer der einzelnen Studien präsentiert. Die wesentlichen studienübergreifenden empirischen Ergebnisse sollen nun noch einmal zusammenfassend diskutiert werden. Zudem gehen wir auf einige gesundheitspolitische Implikationen sowie Limitationen der Studien ein.

Eine erste wesentliche Erkenntnis aller Studien besteht in der Pluralität von Verteilungsregeln. So gibt es nicht das eine Prinzip oder die eine Regel, die in den Entscheidungen offenbart wird. Dennoch lassen sich Eigenschaften dieser Verteilungsregeln identifizieren, die von einer Mehrzahl der Befragten entweder gewünscht oder abgelehnt werden. Hierzu gehört einerseits die Erkenntnis, dass die reine Summenmaximierung von Gesundheitszugewinnen, wie sie vielen ökonomischen Evaluationsverfahren als Ziel zugrunde liegt, abgelehnt wird. Dieses Ergebnis findet sich tatsächlich in vielen empirischen Arbeiten wieder [1417].

Ein wesentlicher Nachteil eines solchen Maximierungskalküls liegt in der möglichen Konsequenz, Alternativen mit geringerem Wirksamkeitsfaktor gänzlich unberücksichtigt zu lassen. Eine Vermeidung dieser Konsequenz wurde bereits in anderen empirischen gesundheitsökonomischen Arbeiten beobachtet [14, 17]. In unseren Experimenten in den Studien 1 bis 3 kam es recht selten zu einem Versorgungsausschluss von Patienten, wenn sie verfügbare Ressourcenmenge ausreichte, um alle Mindestbedarfe zu berücksichtigen. Auch in Studie 4 wurde nur sehr selten ein Patient nicht versorgt. Zudem resultierten offenbar einige Kompromissvorschläge der Studie 4 aus dem Wunsch, zunächst möglichst beiden Patienten Behandlungszeit zuzuteilen.

Die Beobachtung von Reihenfolgeneffekten legt die Hypothese nahe, dass es sich bei der Akzeptanz von Priorisierung sowie dem Ausschluss von Leistungen um einen Lernprozess handeln könnte. Für viele Entscheider scheint der Ausschluss von Patienten auch in hypothetischen Situationen eines Experiments eine schwere Entscheidung zu sein, die umgangen wird, wenn es nicht erforderlich ist. Ist ein Entscheider erst einmal in die Situation gekommen, sich auf den Ausschluss eines Empfängers oder Patienten festlegen zu müssen, so prägt dies selbst dann zukünftige Entscheidungen, wenn in nachfolgenden Situationen kein Ausschluss erforderlich ist. Zur Erklärung dieses Phänomens wurde in unserem Forschungsteam ein mentales Modell entwickelt [7].

Statt der reinen Summenmaximierung der Gesundheitszugewinne folgten viele Befragte Gleichheitskonzepten, die sich allerdings auf unterschiedliche Variablen beziehen können. Hierbei scheinen für viele Teilnehmende die Konsequenzen der Behandlung, abgebildet durch Zugewinn an Gesundheit oder erreichtes Gesundheitsniveau, von Bedeutung zu sein, während etwa Ressourcengleichheit in der Regel nur von einer (substantiellen) Minderheit befürwortet wird. Dieses Ergebnis änderte sich auch dann kaum, als in Studie 4 Informationen zu den Gesundheitsniveaus der Patienten vorlagen. Es ist jedoch zu bemerken, dass der Konflikt zwischen Gleichheit an Gesundheit und Gleichheit an Gesundheitszugewinnen häufig kontextabhängig gelöst wird [3, 13, 14, 17].

Im Hinblick auf die individuellen Eigenschaften von Befragten zeigte sich insbesondere, dass Entscheidungen zur gerechten Verteilung von Ressourcen im Gesundheitswesen unter anderem vom Studienhintergrund der Befragten geprägt waren. Während in der Studie 2 Studierende der Wirtschaftswissenschaften häufiger die Maximierung der erreichbaren Gesundheitszugewinne unter der Beachtung der Mindestbedarfe anstrebten, fokussierten juristische und medizinische Studierende eher auf die Verteilung der Ressourcen oder auf die Gesundheitszugewinne der Patienten im Rahmen des Leximin-Prinzips. Zum einen legt dieses Ergebnis nahe, dass Forscher der einzelnen Disziplinen bei der Entwicklung von Allokationsmechanismen selbst von ihrer fachlichen Ausrichtung beeinflusst werden könnten. Zum anderen kann angenommen werden, dass die fachliche Zusammensetzung von Entscheidungsgremien im Gesundheitssystem einen unmittelbaren Einfluss auf die Regelfindung zur Allokation knapper Ressourcen durch diese Gremien hat, da ein jeweils fachspezifischer Ethos die Entscheidungen beeinflusst. Daher kann vermutet werden, dass bei interdisziplinär zusammengesetzten Gremien eine Notwendigkeit zu komplizierten Kompromissen besteht, welche die verschiedenen Normenkategorien einbeziehen müssen.

Natürlich unterliegen die von uns berichteten Experimente und Ergebnisse einer ganzen Reihe von Einschränkungen, auf die hier nur kurz eingegangen werden soll. Erstens vertreten die Teilnehmer an unseren Experimenten als Studierende aus maximal drei unterschiedlichen Fachdisziplinen eine sehr spezifische Bevölkerungsgruppe. Die Generalisierbarkeit der Ergebnisse ist also zu hinterfragen. Zweitens sind die geschilderten Entscheidungssituationen sehr abstrakt und hypothetisch und ermöglichen drittens in jeder Studie nur die Anwendung einer eingeschränkten Gruppe von Verteilungsprinzipien. Auch wenn ein Ableiten allgemeingültiger Ergebnisse so nicht möglich ist, liegt eine Vielzahl bedeutsamer kontextabhängiger Beobachtungen vor. Es soll noch einmal ausdrücklich der explorative Charakter der Studien hervorgehoben werden. Das Hauptinteresse besteht vor allem darin, potentiell gewünschte und unerwünschte Eigenschaften bestimmter Verteilungsregeln in der Gesundheitsversorgung zu identifizieren. So legt etwa die deutliche Ablehnung eines Behandlungsausschlusses von Patienten dahingehend gedeutet nahe, Prinzipien, die einen Ausschluss von Behandlungen zur Folge haben würden, kritisch zu hinterfragen. Dabei ist zunächst unerheblich, ob eine solche Ablehnung nur von einer spezifischen Bevölkerungsgruppe formuliert wird. Dennoch ist es das weitergehende Ziel dieser empirischen Forschungsarbeiten, ein umfassenderes Bild der Akzeptanz von Verteilungsregeln zu gewinnen. Die hier vorgestellten Arbeiten sind nur ein Schritt in Richtung dieses Ziels. Sie sollen Eingang finden in normative Überlegungen, aber auch in größere Repräsentativbefragungen. Gerade dies ist ein wesentlicher Forschungsinhalt zahlreicher in der DFG-Forschergruppe FOR 655 zusammengeschlossener Teilprojekte. Die von uns angestoßenen explorativen Experimente werden derzeit um weitere Stichproben ergänzt. So werten wir auch eine Fragebogenuntersuchung mit Studierenden aus Kristiansand in Norwegen aus, um den Einfluss unterschiedlicher sozioökonomischer Charakteristika der Teilnehmenden detaillierter untersuchen zu können. Wir sind davon überzeugt, mithilfe dieser Studien wichtige Erkenntnisse über die Präferenzen der Teilnehmenden in Bezug auf die Allokation von auch in Zukunft immer knapper werdenden medizinischen Ressourcen liefern zu können.