1 Einleitung

Das Thema der evidenzbasierten Steuerung des Schulsystems ist seit mehr als zehn Jahren Bestandteil des deutschsprachigen bildungspolitischen und bildungswissenschaftlichen Diskurses. Mit dem Ziel einer Steigerung der Leistungsfähigkeit des Schulsystems sollen im Kontext evidenzbasierter Steuerung zum einen Entwicklungsentscheidungen im Rahmen von Bildungspolitik und -administration, zum anderen und insbesondere Entscheidungen im Kontext der Einzelschulentwicklung systematisch durch die Nutzung von Evidenzen fundiert werden. Hierzu werden mit gezielten Instrumenten und Verfahren Daten an Schulen erhoben und zurückgemeldet. Die datenbasierte Fundierung des Schulentwicklungshandelns wird als evidenzbasierte Schulentwicklung bezeichnet (vgl. z. B. Demski 2017). Zur Evidenzbasierung von Schulentwicklung sind inzwischen empirische Studien in beachtlichem Umfang vorgelegt worden. Diese zeigen, dass eine Nutzung rückgemeldeter Daten zur systematischen Fundierung des Schulentwicklungshandelns bis heute weitgehend ausbleibt, die Instrumente und Verfahren ihre intendierte Wirkung also kaum entfalten. Hierfür liegen einige Erklärungsansätze vor, aus welchen sich bisher jedoch keine Optionen zur nachhaltigen Förderung der Datennutzung ableiten lassen.

Der vorliegende Beitrag präsentiert eine dreifache Perspektiverweiterung auf evidenzbasierte Schulentwicklung. Aus dieser Perspektiverweiterung ergibt sich ein gänzlich neuer, den bislang vorliegenden Befunden übergeordneter Erklärungsansatz, der die anhaltenden Wirksamkeitsprobleme evidenzbasierter Schulentwicklung als Beziehungsproblematik zwischen Einzelschulen und Bildungspolitik und -administration begreift.

Der Beitrag umreißt zunächst knapp den theoretischen und empirischen Diskurs zur evidenzbasierten Schulentwicklung (Abschn. 2). Anschließend wird die Perspektive auf evidenzbasierte Schulentwicklung in dreierlei Hinsicht erweitert (Abschn. 3): Theoretisch wird evidenzbasierte Schulentwicklung unter Bezug auf die Weltbeziehungssoziologie (Rosa 2016) in erster Linie verstanden als Beziehungsgeschehen zwischen Einzelschule und Bildungspolitik und -administration, welche sich wechselseitig erreichen und transformieren sollen. In methodologischer Hinsicht wird ein neuer Zugang auf der Basis der Dokumentarischen Methode (Bohnsack 2014) – die dokumentarische Weltbeziehungsanalyse – entwickelt, der eine systematische Rekonstruktion dieses Beziehungsgeschehens erlaubt. Durch die Anwendung dieses Zugangs kann eine Perspektiverweiterung in empirischer Hinsicht durch eine eigene Studie realisiert werden. Über die Theoretisierung der Ergebnisse der empirischen Studie kann evidenzbasierte Schulentwicklung schließlich systematisch als mehrdimensionale Spannungsbearbeitung nachgezeichnet werden (Abschn. 4). In einem abschließenden Fazit (Abschn. 5) wird diskutiert, inwiefern sich hieraus ein übergeordneter Erklärungsansatz für die anhaltenden Wirksamkeitsprobleme evidenzbasierter Schulentwicklung ergibt.

2 Evidenzbasierte Schulentwicklung in Theorie und Empirie

„Evidenzbasierung von Bildungspolitik und Schulentwicklung meint, dass Entwicklungsentscheidungen auf der Basis von geprüften Informationen fallen und in ihrer Umsetzung empirisch evaluiert werden müssen“ (Altrichter et al. 2016). Schulen sollen sich einer stärkeren Überprüfung ihrer Qualität und Wirksamkeit unterziehen, da schulische Qualität nicht mehr schlicht angenommen wird, sondern nachgewiesen werden muss (vgl. Bellmann et al. 2016). Als Evidenzquellen für die Schulentwicklung gelten dabei – in einem eng gefassten Begriffsverständnis – Rückmeldungen aus den Verfahren und Instrumenten der Schulinspektion, der Vergleichsarbeiten und der zentralen Abschlussprüfungen (Demski 2017).

Dem Konzept der evidenzbasierten Schulentwicklung liegt ein idealtypischer Entwicklungszirkel zugrunde (Altrichter et al. 2016; Kallenbach 2022): Mit den gezielten und durch wissenschaftliche Methoden weitestgehend abgesicherten Verfahren und Instrumenten werden Daten an Einzelschulen erhoben. Diese stellen Informationen über das Erreichen vereinbarter Ziele und Erfolgskriterien (wie etwa Bildungsstandards) bereit. Im Anschluss an Aufbereitungs- und Rückmeldeprozesse werden diese Daten von Schulleitungen, Lehrkräften und ggf. weiteren Akteur*innen der Einzelschule sowie Akteur*innen aus Politik und Administration (z. B. der Schulaufsicht) rezipiert und interpretiert. Es werden Entwicklungsmaßnahmen abgeleitet und implementiert, die zu einer Steigerung der Qualität von Schule und Schulsystem im Sinne eines Erreichens der festgelegten Ziele und Erfolgskriterien führen sollen. Auf diese Weise soll die Einzelschule, aber auch das Schulsystem als Ganzes und damit die Politik und Administration weiterentwickelt werden.

In den letzten Jahren sind zahlreiche empirische Studien zur evidenzbasierten Schulentwicklung durchgeführt worden. Von 2010–2016 widmeten sich insb. Untersuchungen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Forschungsschwerpunkts „Steuerung im Bildungssystem“ (SteBis) der systematischen Erforschung von Wirkungen der Instrumente und Verfahren evidenzbasierter Schulentwicklung, von begünstigenden und entgegenstehenden Faktoren einer konstruktiven Nutzung der Datenrückmeldungen sowie von nicht intendierten Effekten evidenzbasierter Schulentwicklung (Tarkian und Thiel 2016). Demski (2017) legt zudem eine umfassende empirische Analyse des Steuerungsparadigmas evidenzbasierter Schulentwicklung vor. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen stützen vorherige BefundeFootnote 1 und zeigen zusammenfassend auf, dass die Instrumente und Verfahren ihre intendierte Wirkung auf die Schulentwicklung – die Nutzung rückgemeldeter Daten zur systematischen Fundierung von Entwicklungsentscheidungen – nur selten entfalten und damit eine geringe WirksamkeitFootnote 2 aufweisen: Die Instrumente und Verfahren stoßen bei Schulleitungen und Lehrkräften zwar auf eine grundsätzliche, wenn auch je nach Instrument und Verfahren unterschiedliche, Akzeptanz (Wurster et al. 2016; Böhm-Kasper et al. 2016; Demski 2017). Die rückmeldeten Daten aus diesen Instrumenten und Verfahren münden jedoch nicht in größerem Maße in Maßnahmen zur Veränderung von Unterricht und Schulleben und führen damit – anders als intendiert – kaum zu systematischer Schul- und Unterrichtsentwicklung (Zlatkin-Troitschanskaia et al. 2016; Wurster et al. 2016; Bellmann et al. 2016; Demski 2017). Über die geringe Wirksamkeit hinaus werden nicht intendierte Wirkungen (wie eine Ausrichtung der Unterrichtsinhalte an Testinhalten) sichtbar (Bellmann et al. 2016).

Erklärungsansätze für diese Wirksamkeitsprobleme werden von Altrichter et al. (2016) zusammengefasst und können ebenfalls durch die Studien im Rahmen des Forschungsschwerpunkts SteBis sowie die Untersuchung von Demski (2017) ergänzt werden. Es wird deutlich, dass sich die vorliegenden Erklärungsansätze zumeist in einer Kennzeichnung von Defiziten auf einzelnen EbenenFootnote 3 des Schulsystems erschöpfen, bislang jedoch nicht zu einer nachhaltigen Wirksamkeitssteigerung evidenzbasierter Schulentwicklung führen: So wird überwiegend auf Aspekte der unmittelbar praktischen Umsetzung evidenzbasierter Schulentwicklung rekurriert. Dabei liegt der Fokus zumeist einerseits auf Merkmalen der einzelschulischen Ebene, d. h. der Schulen und ihrer Akteur*innen (Zlatkin-Troitschanskaia et al. 2016; Brüsemeister et al. 2016; Wurster et al. 2016; Kuper et al. 2016; Demski 2017) – z. B. auf der Evaluationskultur einer Schule (Hosenfeld 2010) oder speziellem Vorwissen von Lehrkräften und Schulleitungen (Groß Ophoff 2013). Andererseits liegt der Fokus auf der politisch-administrativen Ebene, d. h. auf Merkmalen der Instrumente, Daten und Rückmeldungen (Demski 2017; Brüsemeister et al. 2016) – wie etwa der Lesbarkeit und Verständlichkeit der Ergebnisdarstellungen (Koch 2011).

Das Verhältnis bzw. die Beziehung zwischen der Einzelschule und den Instrumenten, Daten und Rückmeldeformaten – und damit zwischen der einzelschulischen und der politisch-administrativen Ebene – ist bislang erst in wenigen Studien in den Blick genommen worden. So etwa bei Dietrich (2016), der zeigt, dass schulische Akteur*innen im Rahmen der Schulinspektion ein tradiertes Verhältnis zwischen Administration auf der einen Seite und schulischen Akteur*innen auf der anderen Seite reproduzieren.Footnote 4

3 Perspektiverweiterungen auf evidenzbasierte Schulentwicklung

Die Perspektive auf evidenzbasierte Schulentwicklung soll im Folgenden in dreifacher Weise – theoretisch, methodologisch sowie empirisch – erweitert werdenFootnote 5. Dabei wird die bei Dietrich (2016) erkennbare Fokussierung der Beziehung zwischen einzelschulischer und politisch-administrativer Ebene aufgegriffen, wodurch die beiden Ebenen möglichst vollständig, d. h. auch über Aspekte der unmittelbar praktischen Umsetzung hinaus und mit ihrer je spezifischen Eigenlogik, berücksichtigt werden können. Auf diese Weise eröffnen sich neue Interpretationswege für das Gelingen und Nicht-Gelingen evidenzbasierter Schulentwicklung.

3.1 Theoretische Perspektiverweiterung: Evidenzbasierte Schulentwicklung als Beziehungsgeschehen

Der oben skizzierte idealtypische Entwicklungskreislauf zeigt, dass mit der Idee der evidenzbasierten Schulentwicklung nicht mehr von einer einseitigen Beeinflussung der Einzelschulen durch die politisch-administrative Ebene (etwa über Gesetze und Finanzmittel) ausgegangen wird, wie dies noch bis etwa in die 2000er Jahre der Fall war. Einzelschule und politisch-administrative Ebene sollen vielmehr eine Beziehung der Wechselseitigkeit einnehmen, indem beide Ebenen zu einer Veränderung der bestehenden Praxis beitragen.

Eine solche von Wechselseitigkeit geprägte Beziehung steht auch im Zentrum der Weltbeziehungssoziologie (Rosa 2016), welche als theoretisches Fundament der Perspektiverweiterung auf evidenzbasierte Schulentwicklung herangezogen wird: Sie nimmt die Beziehung zwischen Subjekt und umgebender Welt mit ihren Weltausschnitten (etwa anderen Subjekten, Gegenständen, Regelungen, Handlungsoptionen etc.) in den Blick.

Betrachtet man die Akteur*innen der einzelschulischen Ebene (Lehrkräfte, Schulleitung, weiteres pädagogisches Personal) als Subjekte einer solchen Beziehung, dann bildet die politisch-administrative Ebene mit ihren Entscheidungen und Maßnahmen einen Weltausschnitt, der die schulischen Akteur*innen in ihrer alltäglichen Arbeit umgibt. Zu diesem Weltausschnitt müssen sie sich stets in Beziehung setzen. Dieses In-Beziehung-Setzen ist geprägt von der Differenz zweier Wissensarten: dem Sinn der Akteur*innen für das Selbst und dem Wissen über die Welt mit ihren Weltausschnitten. Die Art der Beziehung hängt wesentlich davon ab, wie die Subjekte mit den Spannungen zwischen den beiden Wissensarten umgehen und wird beschrieben mit den beiden übergeordneten Weltbeziehungsmodi Resonanz und Entfremdung. Der Modus der Resonanz kennzeichnet sich durch eine wechselseitige Transformation von Subjekt und Welt(-ausschnitt) und weist damit wesentliche Parallelen zur Wechselseitigkeit zwischen einzelschulischer und politisch-administrativer Ebene im idealtypischen Entwicklungszirkel evidenzbasierter Schulentwicklung auf:

„Resonanz ist eine durch Af←fizierung und E→motion, intrinsisches Interesse und Selbstwirksamkeitserfahrung gebildete Form der Weltbeziehung, in der sich Subjekt und Welt gegenseitig berühren und zugleich transformieren. Resonanz ist keine Echo-, sondern eine Antwortbeziehung (…).“ (Rosa 2016).

Der Weltbeziehungsmodus der Entfremdung als Pendant zur Resonanz kennzeichnet sich vielmehr durch eine ausbleibende Wechselseitigkeit von Subjekt und Welt:

„Entfremdung bezeichnet eine spezifische Form der Weltbeziehung, in der Subjekt und Welt einander indifferent oder feindlich (repulsiv) und mithin innerlich unverbunden gegenüberstehen. (…) Entfremdung definiert damit einen Zustand, in dem die >Weltanverwandlung< [die wechselseitige Transformation; Anm. d. Aut.] misslingt, sodass die Welt stets kalt, starr, abweisend und nicht responsiv erscheint (…)“ (Rosa 2016).

Es wird deutlich: Aus weltbeziehungssoziologischer Perspektive wird mit der evidenzbasierten Schulentwicklung eine resonante Beziehung zwischen politisch-administrativer und einzelschulischer Ebene angestrebt. Eine weltbeziehungssoziologisch fundierte Untersuchung der Beziehung zwischen einzelschulischer und politisch-administrativer Ebene bietet also die Möglichkeit, diese Beziehung systematisch auf ihre Wechselseitigkeit im Sinne des idealtypischen Entwicklungskreislaufs evidenzbasierter Schulentwicklung hin in den Blick zu nehmen.

3.2 Methodologische Perspektiverweiterung: Entwicklung eines rekonstruktiven Zugangs zu Weltbeziehungen

Um Weltbeziehungen im Kontext evidenzbasierter Schulentwicklung systematisch untersuchen zu können, wurde – angesichts auftretender Schwierigkeiten der Erforschung von Weltbeziehungen mithilfe bestehender Methoden – in einem dreistufigen Prozess ein rekonstruktiver Zugang zu Weltbeziehungen auf der Basis der Dokumentarischen Methode (Bohnsack 2017) entwickelt (Kallenbach und Dedering 2021; Kallenbach 2022). In diesem selbst entwickelten Zugang werden zentrale Annahmen der Weltbeziehungssoziologie zur Metatheorie erhoben und ergänzen die metatheoretischen Annahmen der Dokumentarischen Methode sowie ihr Verfahren. Der neu entwickelte Zugang wird im Folgenden in Abgrenzung zum üblichen Verfahren der Dokumentarischen Methode als dokumentarische Weltbeziehungsanalyse bezeichnet:

In einer ersten Stufe wurden weltbeziehungssoziologische Annahme und metatheoretische Annahmen der Dokumentarischen Methode systematisch verglichen. Dabei wurden wesentliche Parallelen deutlich sowie einige, sich überwiegend ergänzende Unterschiede. So bieten etwa beide Ansätze eine praxeologische Erklärung für die Entstehung sozialer Wirklichkeit im Relationsgeschehen von Subjekt und Welt an. Dabei gehen beide Ansätze davon aus, dass Subjekt und Welt in einer existentiellen Beziehung zueinander stehen, welche erst ungerichtet ist und sich durch Erfahrung zunehmend richtet (Mannheim 1980; Rosa 2016).

Auf der Grundlage einer Zusammenführung der sich aufzeigenden Parallelen und sich weitgehend ergänzenden Unterschiede kann in einer zweiten Stufe die handlungspraktische Realisierung einer Weltbeziehung beschrieben werden, welche die metatheoretische Rahmung des entwickelten Zugangs bildet: Praxis als handlungspraktische Realisierung einer Weltbeziehung basiert, wie bereits knapp erläutert, auf der Differenz zweier Wissensarten: Dem eher kommunikativ vermittelten Wissen über Welt mit ihren einzelnen Weltausschnitten und ihrer normativen Beschaffenheit sowie dem eher konjunktiv und implizit vermittelten Sinn für das Selbst. Beide Wissensarten stehen in einem konstitutiven Spannungsverhältnis, welches im Rahmen von Praxis bearbeitet wird, und zwar im Modus der Resonanz oder Entfremdung. So lässt sich Praxis nach Rosa „ganz wesentlich als ständiges Oszillieren zwischen diesen beiden Evaluationsdimensionen rekonstruieren“ (Rosa 2016, S. 231) und ist gekennzeichnet „durch die Art und Weise, wie es [das Subjekt, Anm. der Autorin] mit den darin angelegten Spannungen und den sich daraus ergebenden Widersprüchen umgeht“. Die Handlungspraxis bildet wiederum den Raum neuer Erfahrungen. Narration als handlungspraktischer Akt und Kulturprodukt bildet ein Medium, mit dem das kommunikativ vermittelte sowie das konjunktiv und implizit vermittelte Wissen geäußert und damit rekonstruierbar werden. Abb. 1 zeigt eine vereinfachte Darstellung der handlungspraktischen Realisierung einer Weltbeziehung.

Abb. 1
figure 1

Vereinfachtes Darstellung der handlungspraktischen Realisierung einer Weltbeziehung; Zusammenführung weltbeziehungssoziologischer und metatheoretischer Annahmen der Dokumentarischen Methode

Über methodologische Ableitungen konnte in einer dritten Stufe schließlich ein Verfahren entstehen, welches weitgehend dem der Dokumentarischen Methode entspricht, aber eine methodologisch fundierte Rekonstruktion von Weltbeziehungen erlaubt:

  • So wird in einer formulierenden Interpretation des jeweils erhobenen Materials zunächst das sprachlich-theoretisch hervorgebrachte Wissen der Beforschten über die gegenüberliegende Welt und ihre Weltausschnitte fokussiert.

  • In einer reflektierenden Interpretation wird die kollektive, handlungspraktische Realisierung der Weltbeziehung durch die Beforschten sichtbar und kann expliziert werden. Hier wird der Blick auch auf die beiden Weltbeziehungsmodi der Resonanz und Entfremdung gerichtet.

  • Im Rahmen von Diskurs- bzw. Falldarstellungen werden die rekonstruierten, fallspezifischen homologen Muster bzw. Charakteristika eines jeden Falls nachvollziehbar zusammengefasst.

  • Durch systematische Vergleiche der fallspezifischen Rekonstruktionen wird eine Lösung vom Einzelfall vollzogen, womit eine Bildung von Idealtypen der handlungspraktischen Realisierung einer Weltbeziehung im untersuchten Kontext möglich wird.

  • Als letzten Schritt beinhaltet das Verfahren einen systematischen Rückbezug der Rekonstruktionen auf die in Stufe 2 beschriebene handlungspraktische Realisierung einer Weltbeziehung im Sinne einer rekonstruktiven Weiterentwicklung des Zugangs.

3.3 Empirische Perspektiverweiterung: Rekonstruktion von Weltbeziehungen im Kontext evidenzbasierter Schulentwicklung

Zur Anwendung des oben beschriebenen Zugangs wurde im Juni 2018 je eine Gruppendiskussion (Bohnsack 2014) an drei allgemeinbildenden, staatlichen Schulen geführt, die anonymisiert als Ruby-Bridges-Schule, Klara-Zetkin-Schule und Frida-Kahlo-Schule bezeichnet werden. Die Erhebung wurde im Land Berlin durchgeführt, da hier seit den Jahren 2004/2005 „systematisch ein fast idealtypisches Regime Neuer Steuerung aufgebaut“ (Thiel 2019) wird. Anhand der Bewertung der schulentwicklungsbezogenen Datennutzung durch den letzten Schulinspektionsbericht wurden drei Schulen ausgewählt, mit welchen eine maximale Kontrastierung (gut bewertete Datennutzung – neutral bewertete Datennutzung – besonders kritisch bewertete Datennutzung) erreicht werden konnte. Die drei Diskussionsgruppen setzen sich jeweils aus der Schulleitung und drei bis fünf konzeptionell und administrativ an Schulentwicklung beteiligten Lehrkräften einer Schule zusammen. Die Gruppendiskussionen wurden entsprechend der „reflexiven Prinzipien“ nach Bohnsack (2014) initiiert und durchgeführt. Jede Diskussion begann mit einem Impuls, in welchem die Diskussionsgruppe nach ihrem Umgang mit den Instrumenten und Verfahren externer Evaluation gefragt wurden. Unter dem Begriff der externen Evaluation werden in Berlin die Instrumente evidenzbasierter Schulentwicklung im engeren Sinne (Demski 2017): Lernstandserhebungen, zentrale Abschlussprüfungen und Schulinspektionen, zusammengefasst. Auf diese Weise wird mit den Gruppendiskussionen das In-Beziehung-Setzen der Beforschten zum ihnen gegenüberliegenden Weltausschnitt der Instrumente und Verfahren evidenzbasierter Schulentwicklung auf zweifache Weise sichtbar: Zum einen durch die Inhalte des Gesprochenen, zum anderen durch den Akt der Diskussion selbst. Die Gruppendiskussionen wurden nach dem Transkriptionssystem „talk in qualitative social research“ (TIQ) transkribiert (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014). Anhand der entwickelten dokumentarischen Weltbeziehungsanalyse wurden die Gruppendiskussionen hinsichtlich der Praxis des In-Beziehung-Setzens der Beforschten zum ihnen gegenüberliegenden Weltausschnitt der Instrumente und Verfahren evidenzbasierter Schulentwicklung ausgewertetFootnote 6. Im Erhebungs- und Auswertungsprozess wurde sich an den durch Steinke (1999) und Bohnsack (2005) formulierten Gütekriterien bzw. Standards qualitativer Forschung orientiert.

Im Folgenden werden ausgewählte Ergebnisse der vorgenommenen Weltbeziehungsanalyse präsentiert. Dabei steht die Frage im Vordergrund, wie sich die Praxis der evidenzbasierten Schulentwicklung innerhalb ihrer Resonanz- und Entfremdungsverhältnisse gestaltet. Zur Beantwortung werden zunächst wesentliche Ergebnisse hinsichtlich der Resonanz- und Entfremdungsverhältnisse im Kontext evidenzbasierter Schulentwicklung zusammengefasst. Anschließend werden zwei zentrale Praktiken – die Fokussierung des Normativen als Dilemma und das gemeinsame Schwächen der externen Evaluation – präsentiert und anhand exemplarischer Transkripte illustriert.

Resonanz- und Entfremdungsverhältnisse: Externe Evaluation als entfremdeter Weltausschnitt

Die Rekonstruktionen der empirischen Studie zeigen, dass die Beziehung zwischen den schulischen Akteur*innen und dem Weltausschnitt der der externen Evaluation mit ihren Instrumenten und Verfahren als Teil der politisch-administrativen Ebene nicht durch den auf Wechselseitigkeit beruhenden Modus der Resonanz geprägt ist. Vielmehr wird deutlich, dass evidenzbasierte Schulentwicklung insgesamt durch eine ausgeprägte Entfremdung gekennzeichnet ist. Diese wird etwa über Entwürfe der externen Evaluation als „unberechenbar“, „langweilig“, „wenig auffordernd“ (Fall Frida-Kahlo-Schule), „unsinnig“ (Clara-Zetkin-Schule) und „uninteressant“ (Ruby-Bridges-Schule) sowie in der Ablehnung einer Auseinandersetzung mit der externen Evaluation sichtbar.

Die ausgeprägte Entfremdung erstreckt sich über die Ebene der Schule selbst bis in den Unterricht hinein. So zeigen sich etwa Praktiken bzw. Versuche des Verfügbarmachens eines guten Evaluationsbestehens durch die Schulentwicklung und den Unterricht. Dabei werden Schulentwicklung und Unterricht insofern instrumentalisiert, dass nicht (mehr), wie eigentlich angestrebt, das Lernen der Schüler*innen im Zentrum der Praxis steht, sondern das Erzielen guter Evaluationsergebnisse (z. B. über die schulweite Reduktion von Unterrichtsinhalten auf Prüfungsinhalte oder einer Konditionierung der Schüler*innen auf das Bestehen einer solchen Prüfung).

Auf den Ebenen der Schule selbst sowie des Unterrichts kommt im Zusammenhang mit der ausgeprägten Entfremdung, d. h. gewissermaßen als Reaktion auf diese, auch Resonanz zum Ausdruck. So konnte in allen drei Fällen eine Praxis der resonanzstiftenden Vergemeinschaftung unter Lehrkräften und zwischen Lehrkräften und Schüler*innen rekonstruiert werden. Diese resonanzstiftende Vergemeinschaftung zeigt sich beispielsweise durch das gemeinsame Amüsieren der schulischen Akteur*innen über die externe Evaluation oder durch die Eröffnung der Analogie einer Fußballmannschaft, bestehend aus Lehrkraft und Schüler*innen.

Praxis evidenzbasierter Schulentwicklung: Fokussierung des Normativen als Dilemma

Eine wesentliche Praxis, die in den drei untersuchten Fällen rekonstruiert werden konnte, besteht in einer Fokussierung des Normativen, d. h. der umgebenden Welt, als Dilemma: So wird immer wieder deutlich, dass die Akteur*innen sich in der Bearbeitung des Themas der externen Evaluation insbesondere auf ihr Wissen über die Welt mit ihren einzelnen Weltausschnitten und ihrer normativen Beschaffenheit konzentrieren, während eine Praxis evidenzbasierter Schulentwicklung nur selten zur Sprache kommt: Dies wird etwa dadurch sichtbar, dass die Akteur*innen bereits im direkten Anschluss an den Einstiegsimpuls, der explizit zu Erzählungen über die Praxis der Schulentwicklung auffordert, normative Anforderungen an die Schulentwicklung aushandeln. Auch der weitere Verlauf der Diskussionen ist durch die Aushandlung dieser Anforderungen geprägt, während das praktische Schulentwicklungsgeschehen selten thematisiert wird. Die Fokussierung des Normativen spiegelt sich auch über die Formalstruktur der Diskussion wider, die sich durch Theoretisierungen und Abstrahierungen als bevorzugte Modi der Diskussion kennzeichnet, wobei Praxiserzählungen oder -berichte nahezu vollständig ausbleiben.

Innerhalb dieser Aushandlung normativer Anforderungen an die evidenzbasierte Schulentwicklung thematisieren die Akteur*innen stets mehrere Weltausschnitte und setzen diese ins Verhältnis. Dieses Verhältnis wird als ein Dilemma entworfen, indem beide Weltausschnitte sich gegenseitig einschränken bis ausschließen:

Die Akteur*innen des Falls Ruby-Bridges-Schule beziehen sich neben dem Weltausschnitt der externen Evaluation auf einen Weltausschnitt, der aus selbstgesetzten Ansprüchen bezüglich guten Unterrichts besteht. Das Verhältnis beider Weltausschnitte wird als „kontraproduktiv“ bezeichnet. Die Akteur*innen des Falls Frida-Kahlo-Schule stellen der externen Evaluation einen Weltausschnitt der Rahmenlehrpläne gegenüber. Dieser besteht aus Anforderungen der politisch-administrativen Ebene an die Schule, welche sich auch mit selbst gesetzten Anforderungen decken. Das Verhältnis der beiden Weltausschnitte wird etwa über die durchgängige Präsenz zweier „Handlungslogiken“ beschrieben, die als ein „riesen Problem“ gekennzeichnet wird. Im Fall Clara-Zetkin-Schule wird der externen Evaluation kein weiterer Weltausschnitt gegenübergestellt. Vielmehr wird die externe Evaluation als aus zwei Weltausschnitten – der Individualisierung und der Standardisierung – bestehend entworfen. Auch diese beiden Weltausschnitte werden in ein dilemmatisches Verhältnis gesetzt. So stehen sich Individualisierung und Standardisierung in den Entwürfen dieses Fall „einfach im Weg“.

Der folgende Transkriptausschnitt zeigt die Konklusion einer Passage des Falls Frida-Kahlo-Schule und illustriert die Fokussierung des Normativen und den Entwurf evidenzbasierter Schulentwicklung als normatives Dilemma:

figure a

Nachdem im Verlauf der Passage die Weltausschnitte der externen Evaluation und der Rahmenlehrpläne beschrieben, unterschieden und ins Verhältnis gesetzt wurden, fasst D die zentralen Inhalte der Passage konkludierend zusammen. Dabei werden die externe Evaluation und die Rahmenlehrpläne zunächst noch einmal als zwei differente Weltausschnitte entworfen, die mit bestimmten Anforderungen an eine Praxis verbunden sind und den schulischen Alltag „durchgehend“ prägen.

Hierbei wird zum einen das abstrahierende und theoretisierende Vorgehen sichtbar: So erhebt D die beschriebenen Anforderungen gleich zu Beginn der Konklusion zu „Handlungslogiken“ und einem „Prinzip“. Das entworfene Problem verortet D auf „metatheoretische[r]“ Ebene und theoretisiert bzw. abstrahiert es dadurch in besonderer Weise – nämlich als Theorie der Theorie.

Zum anderen wird der dilemmatische Entwurf beider Handlungslogiken und damit Weltausschnitte deutlich: So fordere eine Handlungslogik dazu auf, „in = ner sehr kreativen und freien Art und Weise, Schüler zu befähigen, ähm Dinge zu tun (.) Kompetenzen zu erlangen“. Durch den Entwurf des Aufforderungscharakters, der performanzorientierten und schüler*innenbezogenen Zieldimensionen und der freien und kreativen Vorgehensweise wird im Kontext der Gesamtpassage ersichtlich, dass es sich um den Weltausschnitt der Rahmenlehrpläne handelt. Die hierzu kontrastierte „andere“ Handlungslogik „verlangt“ von den Akteur*innen hingegen „operationalisierbare, quantifizierbare (.) Ergebnisse“, womit ihr – im Vergleich zum Aufforderungscharakter der Rahmenlehrpläne – eine ausgeprägtere Autorität zugeschrieben wird. Diese andere Handlungslogik wird im Folgenden als der externen Evaluation übergeordnet, aber zugehörig entworfen.

Es wird eine Gegensätzlichkeit und Unvereinbarkeit beider Weltausschnitte deutlich: Die beiden Weltausschnitte werden als unterschiedliche Seiten konstruiert, auf welche sich jeweils zu „schlagen“ ist. Als eine kausale Folge dieser Gegensätzlichkeit („und dadurch“) entwirft D, dass weniger leicht zu evaluierende „Fähigkeiten oder oder Tätigkeiten“ durch die Konzentration der externen Evaluation auf messbare Ergebnisse in den Hintergrund geraten. Es lässt sich erkennen, dass die Realisierbarkeit des Weltausschnitts der Rahmenlehrpläne durch den Weltausschnitt der externen Evaluation eingeschränkt bzw. ausgeschlossen wird.

Praxis evidenzbasierter Schulentwicklung: Gemeinsames Schwächen des entfremdeten Weltausschnitts der externen Evaluation

Eine weitere wesentliche Praxis der drei untersuchten Fälle bildet das gemeinsame Schwächen des entfremdeten Weltausschnitts der externen Evaluation. Während die zuvor beschriebene Praxis der Fokussierung des Normativen sich auf die Beschaffenheit der umgebenden Welt als dilemmatisches Konstrukt bezieht, besteht diese Praxis vielmehr aus einem In-Beziehung-Setzen der Akteur*innen zu den beiden thematisierten Weltausschnitten. Dabei steht vor allem der entfremdete Weltausschnitt der externen Evaluation im Vordergrund, der durch unterschiedliche Praktiken zu schwächen versucht wird. Gleichzeitig werden hierdurch die praktischen Realisierungsmöglichkeiten des jeweils anderen Weltausschnitts erhöht.

Im Fall der Ruby-Bridges-Schule kann das Schwächen externer Evaluation über ihr gemeinsames Minimalisieren durch Auslagern, Simulieren und Banalisieren rekonstruiert werden. Im Fall Frida-Kahlo-Schule erfolgt das Schwächen der externen Evaluation als ein gemeinsames Hinterfragen und Verstehen externer Evaluation – was im Kontext der für diesen Fall spezifischen Konstruktion externer Evaluation als System umfassender Täuschung und Manipulation zu verheimlichten Zwecken als eine Praxis des Schwächens zu verstehen ist. Im Fall der Clara-Zetkin-Schule wird die externe Evaluation als bedeutungslos entworfen und durch das Kollegium, welches hingegen als ein aus sich selbst heraus funktionierendes Gefüge konstruiert wird, ignoriert.

Der folgende Transkriptausschnitt zeigt eine Elaboration einer Passage des Falls Ruby-Bridges-Schule, welche die Praxis des gemeinsamen Schwächens des entfremdeten Weltausschnitts der externen Evaluation durch die fallspezifische Praxis des Minimalisierens durch Auslagern aus der Schulpraxis illustriert:

figure b

In dieser Elaboration sprechen die Akteur*innen C, D und E über die verpflichtende Durchführung von Tests zur Lernausgangslage von Schüler*innen („LALs“), die von den Akteur*innen zum Weltausschnitt der externen Evaluation gezählt werden. Dabei konstruieren die Akteur*innen zwei Bereiche bzw. Orte – im Unterricht und außerhalb des Unterrichts.

Gleich zu Beginn der Elaboration führt D aus, dass sie „diese LALs“ in Deutsch schon vorher machen, d. h. bevor das Schuljahr und damit der regelmäßige Unterricht beginnen. Es zeigt sich, dass die Tests zur Lernausgangslage aus dem Bereich des Unterrichts ausgelagert werden, indem die Durchführung in den Bereich außerhalb des Unterrichts verlagert wird. Nachdem die Akteur*innen im Wechsel weitere Fächer erörtern, für welche die LALs durch ein zeitliches Vorziehen aus dem Zeitraum ausgelagert werden, führt D aus, „somit wird das ja aus dem Unterricht rausgezogen“. Mit dem Begriff des Rausziehens expliziert D die Praxis des Auslagerns nahezu. So wird durch die besondere Betonung der Silbe „raus“ eine Bewegung deutlich, mit der etwas aus dem Bereich des Unterrichts herausgenommen, ausgelagert und ins Externe gebracht wird. Gleichzeitig zeigt die Begriffswahl des Rausziehens, dass dieses Auslagern keinen einfachen Akt, sondern ein mit Kraft und Anstrengung verbundenes Ziehen darstellt. Es wird deutlich, dass die LALs eine Last bzw. eine Belastung für den Unterricht darstellen. Auch durch die weitere Ausführung, dass eine Lehrkraft bereits vor Jahren einen Sprachstandstest erstellt habe, der durch seine zeitliche Verortung „nicht noch mit in den Unterricht rein“ komme, wird die Unterscheidung der beiden Bereiche und das Auslagern noch einmal sichtbar.

D schließt ihre*seine Ausführung mit einer Bewertung dieses Auslagerns ab, indem sie*er unter besonderer Betonung angibt, das sei für die Kolleg*innen natürlich „großartig“. Es wird erkennbar, dass dem Auslagern der Tests zur Lernausgangslage als Teil des Weltausschnitts externer Evaluation eine sehr große Bedeutung beigemessen wird.

Über die zusätzliche Kontrastierung der Akteur*innen als Gemeinschaft („wir“) und „diese[n] LALs“ als etwas Distanziertes, kommt zudem zum Ausdruck, dass die Praxis des Auslagerns eine gemeinschaftliche Praxis darstellt.

4 Theoretisierung: Evidenzbasierte Schulentwicklung als mehrdimensionale Spannungsbearbeitung

Wie im Rahmen der theoretischen und methodologischen Perspektiverweiterung gezeigt wurde, kann Praxis aus weltbeziehungssoziologischer Perspektive grundsätzlich als ein „ständiges Oszillieren“ zwischen zwei „Evaluationsdimensionen“ (Rosa 2016, S. 231), dem Wissen über die Welt und dem Sinn für das Selbst, betrachtet werden. Praxis bildet also aus theoretischer Sicht bereits konstitutiv eine zweidimensionale Spannungsbearbeitung. Werden die Ergebnisse der empirischen Perspektiverweiterung an diese theoretischen Annahmen rückgebunden, wird deutlich, dass die Praxis im Falle der evidenzbasierten Schulentwicklung deutlich komplexer ausfällt und eine mehrdimensionale Spannungsbearbeitung darstellt (Abb. 2):

  • So entwerfen die Akteur*innen bereits die Welt, welche die Schulentwicklungspraxis umgibt, als ein Spannungsgefüge aus sich widersprechenden, in einem dilemmatischen Verhältnis stehenden Weltausschnitten. Dieses Spannungsverhältnis innerhalb der Welt selbst wird in den drei untersuchten Fällen über intensive Aushandlungen zum Verhältnis der beiden unterschiedlichen Weltausschnitte bearbeitet (1).

  • Zu jedem einzelnen dieser Weltausschnitte stehen die Akteur*innen mit ihrem Sinn für das Selbst in einem Spannungsverhältnis. Die Bearbeitung dieses Spannungsverhältnisses vollzieht sich insbesondere über das gemeinsame Schwächen eines der beiden Weltausschnitte – der entfremdeten externen Evaluation – zugunsten der Realisierungsmöglichkeiten des jeweils anderen Weltausschnitts (2).

  • Gleichermaßen stehen die Akteur*innen schließlich im theoretisch bereits herausgearbeiteten Spannungsverhältnis zur Welt insgesamt, die im Falle evidenzbasierter Schulentwicklung als dilemmatische rekonstruiert werden konnte. Die Bearbeitung dieses Spannungsverhältnisses wird sowohl über die Aushandlungen zum Verhältnis der beiden unterschiedlichen Weltausschnitte als auch über das gemeinsame Schwächen der entfremdeten externen Evaluation sichtbar (3).

Abb. 2
figure 2

Evidenzbasierte Schulentwicklung als mehrdimensionale Spannungsbearbeitung

Anhand der rekonstruierten Praktiken wird zudem deutlich, dass die normativen Anforderungen evidenzbasierter Schulentwicklung – in den drei untersuchten Fällen jeweils als Weltausschnitt der externen Evaluation – im Rahmen dieser mehrdimensionalen Spannungsbearbeitung nicht in der intendierten Weise in die Praxis der Schulentwicklung vordringen: So vollzieht sich die handlungspraktische Bearbeitung der initiierten Themen der evidenzbasierten Schulentwicklung zum einen wesentlich über eine Spannungsbearbeitung innerhalb des Wissens über die Welt, indem die Diskussionen jeweils von einer Fokussierung des Normativen und intensiven Aushandlungen des dilemmatischen Verhältnisses der externen Evaluation zu einem anderen Weltausschnitt geprägt sind. Eine konkrete Praxis evidenzbasierter Schulentwicklung im Sinne einer datenbasierten Schulentwicklungspraxis thematisieren die Akteur*innen hingegen nicht.

Zum anderen wird der Weltausschnitt externer Evaluation, im Zusammenhang mit der ausgeprägten Entfremdung, über die Praktiken ihres gemeinsamen Schwächens durch die Akteur*innen aktiv aus der Schulentwicklungspraxis auszuschließen versucht. Dieses Ausschließen der externen Evaluation aus der Schulentwicklungspraxis, welches die Spannungsbearbeitung zwischen Sinn für das Selbst und Wissen über die Welt kennzeichnet, bildet einen Versuch des (einseitigen) Auflösens des normativen Dilemmas zuungunsten der externen Evaluation.

5 Fazit: Ein übergeordneter Erklärungsansatz für anhaltende Wirksamkeitsprobleme

Im Rahmen der vorliegenden Perspektiverweiterung auf evidenzbasierte Schulentwicklung konnten zum einen einzelne Praktiken und Verhältnisse innerhalb evidenzbasierter Schulentwicklung rekonstruiert werden (Abschn. 3.3). Diese einzelnen Praktiken und Verhältnisse fügen sich in den bereits bestehenden Stand der Forschung ein und stützen die vorliegenden Befunde: Es zeigt sich, dass der Weltausschnitt der externen Evaluation in den drei Fällen jeweils in einem dilemmatischen Verhältnis zu einem anderen Weltausschnitt steht, d. h. nicht mit anderen Anforderungen an die Schulentwicklung vereinbar ist. Dies schließt etwa an eine Untersuchung von Demski (2017) an, nach welcher den Instrumenten und Verfahren der Vergleichsarbeiten, zentralen Abschlussprüfungen und Schulinspektionen ein großer Abstand, d. h. eine geringere Passung, zur konkreten Unterrichts- und damit auch Schulpraxis durch schulische Akteur*innen zugeschrieben wird. Auch die rekonstruierten Praktiken des Schwächens der externen Evaluation finden sich in ähnlicher Weise in vorliegenden Studien wieder. In einer Studie von Bellmann et al. (2016) konnten etwa nicht intendierte Nebenfolgen evidenzbasierter Schulentwicklung erkannt werden, wie beispielsweise eine starke Konzentration der schulischen Akteur*innen auf das Testbestehen (beispielsweise durch Verengungen des Curriculums), eine gezielte Konditionierung der Schüler*innen oder Selektionsprozesse der zu prüfenden Schüler*innen bei einer gleichzeitigen Vernachlässigung längerfristiger Bildungsprozesse.

Über die weltbeziehungssoziologische Theoretisierung der Rekonstruktionen (Kap. 4) ergibt sich zum anderen und darüber hinaus ein übergeordneter Erklärungsansatz für den vorliegenden Stand der Forschung. Dieser beschreibt die anhaltenden Wirksamkeitsprobleme im Rahmen evidenzbasierter Schulentwicklung als eine Beziehungs- und damit Schnittstellenproblematik zwischen den schulischen Akteur*innen und dem Weltausschnitt der externen Evaluation, d. h. zwischen einzelschulischer und politisch-administrativer Ebene. Dabei wird die Relevanz der Beziehung zwischen den Ebenen des Schulsystems für das Gelingen evidenzbasierter Schulentwicklung hervorgehoben. Durch die Rekonstruktion der Weltbeziehungen der schulischen Akteur*innen im Kontext evidenzbasierter Schulentwicklung und ihre praktische Realisierung wird insbesondere die einzelschulische Ebene dabei möglichst vollständig und mit ihren Eigenlogiken in den Blick genommen. Hiermit kann ein Beitrag zu einer theoretischen Fundierung von Schulentwicklung als bestehendes Desiderat (Asbrand et al. 2021) geleistet werden.

In dieser Perspektive wird die Komplexität evidenzbasierter Schulentwicklung erkennbar, die als mehrdimensionale Spannungsbearbeitung theoretisiert werden konnte: So bildet die umgebende Welt im Kontext evidenzbasierter Schulentwicklung eine konstitutiv dilemmatische, wodurch eine „schlichte“, zweidimensionale Spannungsbearbeitung zwischen Selbst und Welt zur Genese evidenzbasierter Schulentwicklungspraxis nicht ausreicht. Vielmehr müssen zusätzliche Spannungen zwischen den beiden Weltausschnitten selbst als auch zwischen den Akteur*innen und den einzelnen Weltausschnitten bearbeitet werden. Im Zusammenhang mit der Entfremdung zwischen Akteur*innen und externer Evaluation vollzieht sich die mehrdimensionale Spannungsbearbeitung zuungunsten einer Realisierung der Anforderungen evidenzbasierter Schulentwicklung.

Es muss jedoch bedacht werden, dass die Rekonstruktionen keine Prozesse abbilden: Inwiefern das ausbleibende Vordringen der Anforderungen evidenzbasierter Steuerung in die Praxis der Schulentwicklung ein Dauerhaftes ist, wird nicht ersichtlich. So wäre es beispielsweise auch denkbar, dass die mehrdimensionale Spannungsbearbeitung im weiteren Verlauf in die Eröffnung neuer Anschlussmöglichkeiten zwischen den beiden Weltausschnitten sowie zwischen den Akteur*innen und dem Weltausschnitt externer Evaluation mündet.

Damit ergeben sich forschungspraktische Implikationen für die Erforschung evidenzbasierter Schulentwicklung bzw. Steuerung im Schulsystem im Allgemeinen: So hebt die eingenommene Perspektiverweiterung den Mehrwert einer stärkeren Integration der Beziehungsidee in diesen Forschungsbereich hervor. Dabei zeigt sich eine rekonstruktive Herangehensweise als besonders geeignet, indem die Eigenlogiken der einzelnen Ebenen berücksichtigt werden. Anschließende Forschungen können etwa noch stärker auf die Beziehungen zwischen den Ebenen des Schulsystems fokussieren und beispielsweise verschiedene Beziehungsmodi differenzieren und hinsichtlich ihres Potentials für wechselseitige Transformation voneinander abgrenzen. Hiermit würden auch durch Altrichter (2015), Dietrich (2018) und Langer (2019) formulierte Desiderata und Herausforderungen der Forschung aus Educational-Governance-Perspektive aufgegriffen, die den Studien zur evidenzbasierten Schulentwicklung und Steuerung im Schulsystems oftmals zurgrundeliegt.