Zusammenfassung
Wie und wann Schüler*innen in der Schule von Ungerechtigkeiten sprechen, wird im vorliegenden Beitrag hinsichtlich seiner Funktionslogiken und unter Bezugnahme auf positionierungsanalytische Ansätze untersucht. Welche Funktionen kommen der immer wiederkehrenden Thematisierung von Ungerechtigkeit bei der Bewältigung des Schulalltags zu? Ungerechtigkeiten in der Schule werden von Schüler*innen da thematisiert, wo sich gesellschaftliche Fragen zur Bedeutung von Gerechtigkeit entfachen: hier im Rahmen von Praktiken des Strafens, der Differenzierung zwischen Schüler*innen, der Sitzplatzvergabe und der Leistungsmessung. Die Verhandlungen von (Un)Gerechtigkeit geben nicht nur Aufschluss über die Perspektive von Schüler*innen, sondern auch über schulische Funktionslogiken. Die Beurteilung von etwas oder jemandem als (un)gerecht bedarf einer Praxis des Differenzierens und Bewertens, die von schulischen Strukturen und Gerechtigkeitsdiskursen durchzogen und mit Fremd- und Selbstpositionierungen verbunden ist. Mit einer analytischen Perspektive darauf lassen sich solcherart Schüler*innen-Urteile deshalb auch zur Reflexion pädagogischer Praxis nutzen.
Abstract
How and when pupils speak of injustice at school is examined in this article with regard to its functional logic and with reference to positioning-analytical approaches. What functions are related to the recurring topic of injustice while coping with everyday school life? Pupils broach the issue of injustice at school when social questions arise about the meaning of justice: in the context of practices of punishment, the differentiation of students, the grant of seats and performance measurement. The negotiation of (in)justice not only shed light on the perspective of pupils but also in the functional logic of school. The assessment of somebody or something as in(justice) requires a practice of differentiation and evaluation, which is pervaded by the functional logic of school and discourses of justice and combined with self-positioning and external positioning. With an analytical perspective, pupils’ opinion on injustice can therefore be used to reflect on pedagogical practice.
Notes
Wir beziehen uns auf das ethnographische Forschungsprojekt „GanztagsSchulKulturen“ (Laufzeit von 2009 bis 2014 unter der Leitung Barbara Friebertshäuser & Sophia Richter), in dem über einen Zeitraum von einem Schuljahr hinweg vier fünfte Klassen mehrmals in der Woche forschend begleitet und anschließend zwei der vier Klassen bis zu ihrem Schulabschluss in weiteren zwei Erhebungsphasen interviewt wurden. Die in dem Untersuchungszeitraum des ersten Jahres entstandenen rund 90 Feldbeobachtungsprotokolle und die 82 ethnographischen Interviews mit Schüler*innen sind die Materialgrundlage dieses Beitrags (s. Kap. 4).
Gegenstand seiner professionstheoretischen Auseinandersetzung sind Arbeitsbeziehungen innerhalb der Sozialen Arbeit, die sich auf theoretischer Ebene auf Schule übertragen lassen.
Die Schüler*innen wurden über das Schuljahr hinweg mehrmals wöchentlich von einem Forschungsteam (bestehend aus sechs Ethnographinnen) forschend begleitet und am Ende des Schuljahres interviewt. Gegenstand der Interviews war die gemeinsam geteilte Praxis des Schuljahres, sodass sich der Interviewleitfaden mit offenen erzählgenerierenden Fragen auf Situationen und Erlebnisse sowie auf Beobachtungen der Ethnographinnen bezog.
In dem Beitrag sind alle Namen durch Pseudonyme ersetzt.
Fairness und Gerechtigkeit liegen in ihrem Sinnverständnis nah beieinander, auch weil es historisch verschiedenen Gerechtigkeitskonzeptionen gibt, unter die neben einer allgemeinen Gerechtigkeitsauffassung, „in der gerecht ist, was dem Gesetz bzw. bestimmten Regeln entspricht“ (Landweer 2011, S. 372) auch die Idee des fairen Tauschs bzw. einer ausgleichenden bzw. korrektiven Gerechtigkeit (ebd.) besteht. Im Alltagsverständnis werden beide Begriffe durchaus synonym gebraucht und für unsere Zusammenhänge sind beide Zuschreibungen gleichermaßen bedeutsam.
Dass Schüler*innen ihren Lehrer*innen nur in seltenen Fällen die Beurteilungen als Ungerechtigkeit mitteilen, wird auch in anderen Studien beschrieben. Rund die Hälfte der Schüler*innen habe es nicht gewagt, gegen die ungerechte Beurteilung aufzubegehren, da ein Einspruch nichts nutze oder mit der Angst vor Nachteilen einhergehe (Krumm und Weiß 2000a, S. 76). Den Autor*innen zufolge ist dies angesichts schulischer Erziehungsziele wie Selbständigkeit und Kritikfähigkeit bedenklich.
Das Gerechtigkeitsprinzip des sozialen Gruppenproporzes wendet sich gegen die Absehung von der sozialen Herkunft, da zahlreiche gesellschaftliche Gruppen benachteiligt sind und somit die jeweiligen ‚Startchancen‘ andere seien. Vor diesem Hintergrund müssten die Aufstiegschancen von Kindern aus benachteiligten Gruppen zumindest solange erhöht werden, bis alle sozialen Gruppen den gleichen Anteil an privilegierten Positionen einnähmen (Gill 2008, S. 42).
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Richter, S., Langer, A. Im Namen der Gerechtigkeit? Ungerechtigkeitsthematisierungen von Schüler*innen als Positionierungen. Z f Bildungsforsch 11, 137–153 (2021). https://doi.org/10.1007/s35834-021-00298-3
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