1 Einleitung

Obwohl das pädagogisch-psychologische Wissen (Pedagogical Knowledge, PK) als wesentliche Facette professioneller Handlungskompetenz betrachtet wird (Baumert und Kunter 2006), lag der Fokus der berufs- und wirtschaftspädagogischen Forschung in jüngster Zeit vor allem auf der Erforschung des fachlichen (Content Knowledge; CK) und fachdidaktischen Wissens (Pedagogical Content Knowledge; PCK). So verweisen Seifried und Wuttke (2015, S. 140) darauf, dass sich existierende Studien vor allem auf die Modellierung des fach- und fachdidaktischen Wissens, insbesondere in der Domäne Rechnungswesen, konzentrieren. Während für das CK und PCK erste empirische Studien vorliegen, ist weitgehend unklar, welche Rolle das Konstrukt PK in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik (BWP) spielt. Wie der vorliegende Literaturreview zeigt, wird das PK in der BWP-Literatur (mit wenigen Ausnahmen, z. B. Oser et al. 2010) allenfalls randständig behandelt. Diesem Desiderat widmet sich der Beitrag, indem das Konstrukt für die BWP diskutiert wird. Eine nähere Betrachtung des PK in der BWP ist aus folgenden zwei Gründen von zentraler Bedeutung:

  1. 1.

    In Deutschland, Österreich und der Schweiz (DACH) besucht die Mehrheit der Jugendlichen eine berufsbildende Institution (D: 58 %, A: 77 %, CH: 65 %; OECD 2010, S. 305). In diesem Beitrag wird gezeigt, wie sich Lehr-Lern-Prozesse bzw. die Lernkontexte in berufsbildenden Schulen, Berufsschulen und im Betrieb von jenen in allgemeinbildenden Schulen unterscheiden. Dies wirft die Frage auf, inwiefern das PK von Lehrpersonen in berufsbildenden Institutionen und von Ausbilder/inne/n in Betrieben spezifischen Anforderungen genügen muss und daher anders als in der Allgemeinbildung zu operationalisieren ist; insbesondere wenn versucht wird, das Konstrukt nicht nur ausbildungsnah, sondern im Sinne von Neuweg (2014) anforderungsnah und kontextualisiert – und damit prädiktiv valider – zu operationalisieren.

  2. 2.

    Es ist fraglich, inwiefern PK für die Vorhersage professionellen Handelns im Unterricht relevant ist. Klafki (1994) argumentiert über das Verhältnis von Allgemeiner Didaktik und Fachdidaktik, dass allgemeindidaktische Aussagen hypothetische Verallgemeinerungen darstellen, die im Fach konkretisiert und auf ihre Haltbarkeit hin geprüft werden müssen (These 2, S. 51 f). Fachdidaktiken müssen eine „Übersetzung“ und „kritische Erprobung“ allgemeindidaktischer Aussagen leisten (ebd.). In diesem Zusammenhang ist bspw. Aff (2009/2010, S. 13) der Ansicht, dass PK ohne Fachbezug träges Wissen bleibe (siehe auch Dubs 2002), weil sich didaktische Modelle oder lerntheoretische Befunde im Fach konkretisieren. In diesem Beitrag wird davon ausgegangen, dass dieselben Argumente für die in Tab. 1 dargestellten Dimensionen des PK gelten. Die Nutzung eines domänenunabhängigen Konstrukts PK in der BWP erscheint uns daher diskussionswürdig.

Tab. 1 Dimensionen des pädagogischen Wissens und ihre zentralen Merkmale (Lenske et al. 2015)

2 Forschungsfragen

Voss et al. (2015, S. 194) zeigen in ihrem Literaturreview, dass PK meist fachunabhängig definiert wird. Bei genauerer Betrachtung der Subdimensionen sind diese in den bisher durchgeführten Studien selten inhaltlich identisch definiert (vgl. Neuweg 2014, S. 593), weisen aber eine große Schnittmenge auf. Tab. 1 zeigt die Subdimensionen nach Lenske et al. (2015, S. 229 f.).

Das Merkmal der Domänenunabhängigkeit sowie die Genese des PK aus allgemeinbildenden Domänen heraus und mit ausschließlichem Fokus auf den Lernort Schule wirft aus Sicht der BWP-Forschung die Frage auf, inwiefern ein solches Konstrukt auch für die Erfassung professioneller Kompetenz berufsbildender Lehrender geeignet ist. Konkret wird folgenden Forschungsfragen nachgegangen:

  1. 1.

    Welche Rolle nimmt das Konstrukt PK bisher in der BWP-Forschung ein und wie wird es dort definiert?

  2. 2.

    Inwiefern müssten bestehende Konstruktdefinitionen an die Spezifika der Berufsbildung angepasst werden, um PK prädiktiv-valide zu erfassen?

Forschungsfrage 1 wird im Rahmen eines umfassenden, systematischen Literaturreviews beantwortet. Forschungsfrage 2 dagegen wird auf Basis von Überlegungen zur Typologie des Lehrerwissens und zu Spezifika der Berufsbildung (charakteristische Merkmale von Lehr-Lern-Prozessen in der Berufsschule und dem Betrieb) diskutiert.

3 Erste Forschungsfrage: Die Rolle des PK in der BWP-Forschung

Wie eingangs angeführt, scheint PK bisher kein prioritäres Forschungsfeld der BWP zu sein. Ob dies tatsächlich der Fall ist und unter welchen Definitionen und Operationalisierungen das PK in der BWP allenfalls erforscht wird, prüfen wir auf Basis eines systematischen Literaturreviews (SLR, Cooper 1984).

3.1 Methodisches Design des systematischen Literaturreviews

3.1.1 Identifikation bestehender Arbeiten

Söll et al. (2014) analysierten das Publikationsverhalten in der Wirtschafts- und Berufspädagogik und zeigten, dass wissenschaftliche Zeitschriften (etwa 40 % des Publikationsaufkommens) auch in dieser von Monographien (20 %) und Sammelbänden (40 %) traditionell stark geprägten Wissenschaftsdisziplin hohe Bedeutung besitzen. Daher stützt sich der vorliegende systematische Literaturreview alle genannten Publikationstypen:

  1. 1.

    Auf Publikationen in wissenschaftlichen Zeitschriften, die im ReputationsrankingFootnote 1 nach Söll et al. (2014, S. 518) als Journals mit einer wesentlichen oder außerordentlichen Bedeutung identifiziert wurden und über ein Review-Verfahren (Double-Blind) verfügen: Empirische Pädagogik, Instructional Science, Journal of Economic Education, Journal of Moral Education, Journal of Vocational Education and Training, Learning and Instruction, Review of Educational Research, Unterrichtswissenschaft, Vocations and Learning, Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Zeitschrift für Pädagogik. Diese Liste wird um Publikationsorgane ergänzt, die ebenfalls eine zentrale Stellung in der BWP genießen, aber im Söll et al.-Ranking nicht aufgeführt werden (Empirical Research in Vocational Education and Training) oder zum Zeitpunkt der Recherche kein Peer-Review-Verfahren bzw. „nur“ ein herausgeberbasiertes Review-Verfahren einsetzten (wissenplus und bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik online).

  2. 2.

    Auf Monographien und Sammelbände. Zur Identifikation relevanter Arbeiten wurden die berufs- und wirtschaftspädagogischen Reihen der in der BWP „populärsten“Footnote 2 Verlage (Springer, wbv, Peter Lang, Schneider Verlag Hohengehren, Franz Steiner, Barbara Budrich, VEP, Klinkhardt, Beltz, Kohlhammer, Waxmann) durchsucht. Da mit diesem Vorgehen Werke außerhalb der genannten Reihen und Verlage nicht identifiziert werden können, wurde darüber hinaus in den Onlinekatalogen der Universitäten dreier zentraler BWP-Standorte (Frankfurt/Main, Mainz, Linz) sowie der Deutschen NationalbibliothekFootnote 3 recherchiert.

3.1.2 Suchalgorithmus und Ein- und Ausschlusskriterien

Für die schlagwortbasierte Recherche in jenen Medien, die eine Onlineabfrage erlauben, wurden folgende Suchbegriffe verwendet (Zwei-Wort-Begriffe wurden mit „“ eingegeben):

  1. a.

    spezifisch: pädagogisch-psychologisches Wissen, pädagogisches Wissen, psychologisches Wissen, pedagogical knowledge, psychological knowledge, teacher knowledge, teacher competence

  2. b.

    allgemein: Klassenführung, Individualisierung, Leistungsbeurteilung, classroom management, individualization, student-cent, student-orientation, student assessment, student evaluation

Die Voreinstellungen der Abfragetools der jeweiligen Medien wurden beibehalten. Bei allen Zeitschriften, die keine digitale Suche zuließen (in Tab. 2 mit a gekennzeichnet), wurden sämtliche Jahrgänge in der Bibliothek manuell durchsucht. Dabei wurde anhand der Titel beurteilt, ob der Beitrag potentiell eine Antwort auf die Forschungsfrage liefern könnte. War dies der Fall, dann wurde der Abstract geprüft. Selbiges Vorgehen erfolgte bei den Monographien und Sammelbänden. Mit Blick auf die Ergebnisdiskussion waren vor allem die Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik und die bwp@ hilfreich. Im Hinblick auf den Veröffentlichungszeitraum wurde keine Einschränkung vorgenommen. Ab Schritt 3 (Abschnitt Daten-Extraktion) wurden dagegen nur Publikationen mit Bezug zur DACH-Region berücksichtigt.

Tab. 2 Anzahl identifizierter Publikationen im Extraktionsverlauf

3.1.3 Daten-Extraktion

Schritt 1

In den eingangs angeführten Zeitschriften, Verlagen und Bibliothekskatalogen wurde mit den erwähnten Suchbegriffen nach relevanten Publikationen gesucht. Bei Zeitschriften, die traditionell stärker auf Lehr-Lern-Prozesse im Unterricht fokussieren (z. B. Review of Educational Research), führte dies teilweise zu einer hohen Anzahl an Suchtreffern, die bspw. das Konzept der Klassenführung aus Schülersicht enthielten. Daher wurden Suchabfragen mit mehr als 50 Treffern (meist bei sehr allgemeinen Suchbegriffen) bspw. um das Wort Lehrer ergänzt.Footnote 4 Im ersten Schritt wurde die Anzahl der 3168 Treffer (summiert, inkl. der manuellen Suchtreffer) in Tab. 2 festgehalten.

Schritt 2

Die Treffer aus Schritt 1 wurden auf Basis des jeweiligen Titels oder bei nicht aussagekräftigen Titeln auf Basis des Abstracts sowie der Inhaltsverzeichnisse und -beschreibungen bezüglich ihrer Relevanz für die Beantwortung der Forschungsfrage geprüft. Bei den manuell durchsuchten Journals ist dieser Schritt in Schritt 1 integriert. Im Schritt 2 reduzierte sich die Zahl auf 464 Artikel, Bücher und Sammelbände, deren Titel, Abstract, Inhaltsverzeichnisse bzw. ‑beschreibungen darauf schließen ließ, etwas über die Rolle des PK in der BWP zu erfahren.

Schritt 3

Aus den Abstracts bzw. Zusammenfassungen und gegebenenfalls den Methodenteilen dieser 464 Werke wurden die folgenden Informationen extrahiert: (1) Ist der Artikel der BWP-Forschung zuzuordnen? Dies war dann der Fall, wenn bspw. die untersuchte Stichprobe Lehrende im Berufsbildungsbereich umfasste, wenn die Arbeit BWP-Konzepte (wie das Lernfeldkonzept) oder Ausbildende fokussierte. (2) Behandelt der Beitrag einen Aspekt der Professionskompetenz im weiteren Sinne? Darunter fallen neben pädagogischem Wissen auch fachdidaktisches Wissen und Überzeugungen. Wurden beide Fragen bejaht, so wurde die Publikation beibehalten. Dieses Vorgehen führte zu 123 identifizierten BWP-Publikationen.

Schritt 4

Auf Basis der Informationen in Schritt 3 erfolgte eine erneute Einschätzung der Relevanz der Beiträge für die Beantwortung der Forschungsfrage. Konkret wurden Arbeiten ausgeschlossen, die ausschließlich das fachliche, fachdidaktische Wissen und Lehrerüberzeugungen ohne Bezug zum pädagogisch-psychologischen Wissen erfassten oder allgemeine Diskussionen zu Professionalisierungsansätzen enthielten. Eingeschlossen wurden Arbeiten, die das pädagogische Wissen allgemein oder spezifische Facetten davon, seine/deren Rolle im beruflichen Lehrerbildungssystem oder die Diagnosekompetenz thematisierten. Nach diesem Schritt verblieben 39 als relevant eingestufte Publikationen, welche die Basis für die Analyse und Synthese (Tab. 3) bilden.

Tab. 3 Review-Cluster zum Konstrukt des pädagogisch-psychologischen Wissens in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik

3.2 Befunde des systematischen Literaturreviews (Reporting)

Die in Schritt 4 extrahierten 39 BWP-Publikationen ließen sich in vier Cluster zusammenfassen (Tab. 3)Footnote 5. In Cluster A flossen Publikationen ein, die in der Theoriediskussion um die berufliche Lehrerausbildung die Rolle des pädagogischen Wissens bzw. der pädagogischen Kompetenz erörtern. Cluster B und C stehen in stärkster Beziehung zur Forschungsfrage, da sie versuchen, Facetten des PK empirisch zu erforschen. Dabei sind in Cluster B Arbeiten gesammelt, die meist mehrere PK-Facetten simultan untersuchen, während die Arbeiten in Cluster C auf spezifische Dimensionen fokussieren. Cluster D weist insofern Bezüge zur Forschungsfrage auf, weil sie Publikationen zur Frage der Lerngelegenheiten für das PK in der Gewerbelehrerausbildung enthält. Die meisten Beiträge stammen aus der Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, was auf eine domäneninterne Diskussion des PK hinweist.

3.3 Diskussion des systematischen Literaturreviews

Auf Basis eines systematischen Literaturreviews wurde in der ersten Forschungsfrage nach der Bedeutung des PK in der berufs- und wirtschaftspädagogischen Forschung gefragt. Die Ergebnisse belegen, dass keine einschlägigen Studien existieren, die konkret das pädagogische Wissen in der BWP aus theoretischer, insbesondere aber empirischer Perspektive untersuchen (eine Ausnahme bildet Oser et al. 2010). Jene Arbeiten, die im Literaturreview identifiziert wurden, weisen im besten Fall eine Nähe zur Forschungsfrage auf. D. h., sie erfassen Fähigkeitsaspekte einer (angehenden) Lehrperson mit Selbsteinschätzungsskalen, die ein sehr heterogenes Feld von Konstrukten, die dem PK zuzuordnen sind, widerspiegeln (Cluster B, z. B. Seifried 2009a). Mit Domänenbezug sind lediglich die Aspekte der Diagnose- und Fehlerkompetenz erforscht (Cluster C, z. B. Warwas et al. 2015; Türling 2014). In Summe zeigt sich aber immerhin, dass die PK-Dimensionen nach Voss et al. (2015) in den BWP-Arbeiten (vorwiegend auf Basis von Fremd- und Selbsteinschätzungen) Gegenstand von Untersuchungen waren (mit Ausnahme der Individualisierung). Wir stellen im Folgenden ausgewählte Befunde dar, die für die Beantwortung der Forschungsfrage eine Rolle spielen:

  • Klassenführung: Aus Mayrs Arbeiten (2006, 2002) lässt sich ableiten, dass Maßnahmen der Klassenführung in berufsbildenden Schulen eine andere Bedeutung zukommen, als dies Studien für den allgemeinbildenden Bereich (insbesondere mit jüngeren Schüler/innen) nahelegen. So scheint die Bedeutsamkeit der Lehrinhalte eine besondere Rolle zu spielen, während Maßnahmen der Verhaltenskontrolle für die Altersgruppe in der Berufsbildung weniger relevant sind.

  • Unterrichtsmethoden: Oser et al. (2010) stellen ein Instrument zur Erfassung professionellen Handlungswissens im Bereich „Gruppenunterricht“ vor, dessen Beurteilungsbasis diskursiv mit BWP-Lehrpersonen ausgehandelt wurde und so dem BWP-Kontext gerecht wird. So zeigt sich, dass manche der erfassten spezifischen Qualitätsdimensionen von Gruppenarbeit (z. B. transparente Kommunikation der Lernziele, informatives und unterstützendes Feedback zu den Leistungen) ein Konglomerat aus PK und Kontextwissen – es fragt sich, ob das schon PCK ist – darstellen.

  • Leistungsbeurteilung und Feedback: Baumgartner (2015) und Türling (2014) zeigen die Bedeutung professionellen Handelns von Lehrpersonen im Umgang mit Fehlern von Lernenden im BWP-Kontext auf. Aus dieser fachdidaktisch operationalisierten Kompetenzfacette lassen sich allgemeindidaktische Aspekte ableiten (siehe Tab. 3, Cluster C), für die wiederum gefragt werden kann, ob sie für den BWP-Kontext (insbesondere dem Lernort Betrieb) besonders zentral sind.

Da in den angeführten Studien fast nie pädagogisches Wissen erfasst wurde, sind aus dem Literaturreview insgesamt kaum belastbare Aussagen zur Definition des PK in der BWP ableitbar. Daher wird im Folgenden ein Theorierahmen zur Weiterentwicklung des Konstrukts PK für die BWP vorgestellt, in dem sich die dargestellten Studien verorten lassen.

4 Zweite Forschungsfrage: Anpassung des PK-Konstrukts vor dem Hintergrund von Berufsbildungsspezifika

Obwohl die Subdimensionen des PK bisher domänenübergreifend modelliert und gemessen wurden, werfen sie bezüglich der Domänenunabhängigkeit Fragen auf, da sie mindestens folgende Aspekte unberücksichtigt lassen: Die Wissenstypologie nach Neuweg (2014) und die Spezifika der Berufsbildung (vgl. die Diskussion der Domänenspezifitäten von Seifried und Ziegler 2009). Eine Vernachlässigung dieser Aspekte im Rahmen der Konstruktoperationalisierung birgt die Gefahr einer nicht validen Erfassung der Kompetenz von Lehrpersonen. Daher empfiehlt sich eine Strategie, bei der das Konstrukt PK nicht nur theoretisch bzw. Top-down (bspw. auf Basis von existierenden Definitionen; vgl. Hartig et al. 2012; Bühner 2011), sondern auch Bottom-up im Zusammenspiel mit den Anforderungssituationen des Kontexts bzw. der Domäne (bspw. auf Basis von criterion situations; vgl. Shavelson 2010; Hartig et al. 2012; Bühner 2011) operationalisiert wird.

4.1 Top-down-Perspektive: Theorie zur Typologie des Lehrerwissens im Kontext der Berufsbildungsspezifität

Dem Top-down-Ansatz folgend lässt sich die Domänenabhängigkeit von PK entlang zweier theoretischer Konzepte diskutieren: (1) der Wissenstypologie (Neuweg 2014) und (2) dem von uns eingeführten Ausmaß der Berufsbildungsspezifität (Seifried und Ziegler 2009).

Wissenstypologie:

Neuweg (2014) unterscheidet neben dem Ausbildungswissen (Typ 1), das implizite Wissen (die mentalen Strukturen, Typ 2) und die von außen rekonstruierte Logik des Lehrerhandelns (Können, Typ 3). Während für Wissenstyp 1 ein fachindifferentes PK operationalisierbar ist, erscheint dies für Wissenstyp 2 insbesondere aber Wissenstyp 3 kaum möglich: „weil – gerade auf der Ebene von ‚Wissen 3‘ – exakt zu bestimmen wäre, für welche Teile pädagogischen Wissens überhaupt behauptet werden kann, dass sie nicht erst in fachspezifischen Unterrichtssituationen kontextuiert werden müssten und insofern tatsächlich fachindifferent sind“ (Neuweg 2014, S. 594). Da sich PK hier erst in Abhängigkeit der Situation herausbildet, spricht Neuweg (2015, S. 381) auch vom „das komme darauf an“-Wissen, womit gemeint ist, dass Expertise kontextsensitiv ist und das Richtige aus Sicht der Expert/inn/en hochgradig vom Anwendungskontext abhängig ist. Dieser Anwendungskontext für PK unterscheidet sich im berufsbildenden Bereich vermutlich vom allgemeinbildenden, weshalb im Rahmen der Konstruktdefinition auch die zweite Linie der Berufsbildungsspezifität zu beachten ist.

Berufsbildungsspezifität:

Modelle professioneller Handlungskompetenz (Baumert und Kunter 2006) suggerieren auf den ersten Blick, es handle sich bei CK, PK und PCK um trennscharfe Kompetenzfacetten. Neuere Studien wie von Heinze et al. (2016) zeigen aber, dass es „dazwischenliegende“ Wissensfacetten gibt. So beschreiben sie eine schulbezogene, kontextualisierte Fachwissensdimension (School-Related Content Knowledge, SRCK), die weder CK noch PCK repräsentiert. In Anlehnung an dieses Konzept gehen wir von einem Kontinuum zwischen einem fachindifferenten PK und Domain-Related Pedagogical Knowledge (DRPK) aus. Letzteres ist dem PCK sehr nahe, ist aber weniger stark von fachlichen Konzepten bestimmt. So wäre Wissen über die Bilanzmethode fachdidaktisches Wissen, während Wissen über Kerschensteiners Bildungstheorie dem DRPK zuzuordnen wäre (siehe auch die Hinweise zur Fehlerkompetenz).

Wir unterscheiden nach dem Grad der Anwendbarkeit traditioneller PK-Dimensionen (siehe Tab. 1) im berufsbildenden Bereich drei Stufen der Berufsbildungsspezifität:

  • Auf Stufe 1 verorten wir Dimensionen des PK, für die belegt werden kann, dass sie kontextunabhängig sind.

  • Auf Stufe 2 verorten wir Dimensionen des PK, die kontextabhängig sind, weil an Lehrpersonen in der BWP andere Anforderungen (z. B. aufgrund einer anderen Schülerklientel) gestellt werden als an Lehrpersonen im allgemeinbildenden Bereich.

  • Auf Stufe 3 verorten wir Dimensionen des PK, die entweder inhaltlich deutlich verschieden zwischen der Allgemein- und der Berufsbildung sind oder spezifisch für die BWP sind.

An dieser Stelle könnten im Sinne der Modellierung domänenspezifischer Professionalität nach Seifried und Ziegler (2009) Aspekte der Mikro- (Inhaltsbereich, die unterrichteten Adressat/inn/en) und Makroebene (institutioneller Rahmen, Bezugssystem) des Berufsbildungssystems in Hinblick auf seine Spezifität analysiert werden, um anschließend Konsequenzen für das PK abzuleiten und es auf den drei genannten Stufen einzuordnen. Aus Platzgründen fokussieren wir im nächsten Abschnitt auf den Mikro-Aspekt „Leitprinzipien beruflicher Pädagogik“.

4.2 Bottom-up-Perspektive: Anforderungssituation – Leitprinzipien beruflicher Pädagogik

Häufig werden Konstruktoperationalisierungen auch unmittelbar im Feld, z. B. aus Criterion Situations abgeleitet (vgl. Shavelson 2010; Hartig et al. 2012; Bühner 2011). Für das PK von Lehrpersonen in den kaufmännischen Berufsschulen und für Ausbildende im Betrieb bedeutet dies, dass ihre Anforderungssituationen systematisch analysiert werden müssten. Spezifisch für die Berufsbildung ist, dass diese typischen Anforderungssituationen über drei Lernorte hinweg variieren: Berufsschule, Ausbildungsbetrieb, überbetriebliche Einrichtungen. Aus Platzgründen werden exemplarisch charakteristische Merkmale von Lehr-Lern-Prozessen für den Lernort Berufsschule vorgestellt und analysiert, welche Rolle dem PK der Lehrkräfte zukommt. Die Literatur (z. B. Dehnbostel 2010; Rebmann et al. 2011) skizziert mehrere zentrale Leitideen der Didaktik beruflicher Bildung:

  1. 1.

    Ziel aller Lehr-Lern-Bemühungen ist die berufliche Handlungskompetenz. Darunter ist die Einheit von Fachkompetenz, Sozialkompetenz und Personalkompetenz zu verstehen, die Individuen befähigt, in beruflichen Situationen kompetent zu handeln. Dieses Ziel aller Lehrbemühung hat für das PK der Lehrperson Konsequenzen: z. B. fragt Walter (1996), wie diese komplexe Kompetenz im Rahmen der Leistungsbeurteilung festgestellt und beurteilt werden könnte (Stufe 2).

  2. 2.

    Eng mit dem Konzept der beruflichen Handlungskompetenz ist das Lernfeldkonzept mit der Ausrichtung des Lernprozesses an Unternehmensprozessmodellen verknüpft. Lernfelder sind thematische Einheiten, die an beruflichen Aufgabenstellungen und Handlungsabläufen orientiert sind. „Nicht die Fachsystematik, sondern die Systematik des Handelns in beruflichen Situationen ist also zum zentralen Kriterium für die Planung und Gestaltung von Berufsschulunterricht gemacht worden“ (Rebmann et al. 2011, S. 214). Ausbildungsinhalte sind darüber hinaus so auszuwählen, dass sie typische Arbeits- und Geschäftsprozesse eines Betriebes abbilden (ebd., S. 176). Auch diese Leitideen bleiben nicht ohne Konsequenzen für das PK. So diskutiert bspw. Schäfer (1999), inwiefern die Fragen der Didaktischen Analyse vor dem Hintergrund des Lernfeldkonzepts zu beantworten sind. Beispielsweise wäre die Exemplarität von Lernfeldern anders zu bestimmen als jene von Fachinhalten (Stufe 2).

  3. 3.

    Aus den Punkten 1 und 2 ist der Bezug der Lehr-Lern-Prozesse zum Lernort Betrieb deutlich geworden. Berufsschullehrer/innen sollten im ständigen Kontakt mit den Lehrenden in den Betrieben stehen (siehe z. B. Pfeifer 1991 für Lehrer-Ausbilder-Konferenzen) und benötigen daher Wissen über die anderen Lernorte und Bereitschaften zu eine/r gelingende/n Lernortkooperation (z. B. über Herausforderungen der Lernprozesse im Betrieb) (Stufe 3).

Die skizzierten Merkmale berufsbildungsbezogener Lehr-Lernmerkmale lassen diversifizierte Anforderungen an das PK der Lehrenden vermuten. Im Folgenden wird versucht, die Top-down- als auch Bottom-up-Perspektive in einem Theoriemodell zu verbinden.

4.3 Konsequenzen für die Adaption des PK

4.3.1 Konsequenz 1 – Berücksichtigung berufsbildungsspezifischer PK‑Wissenstypen

Soll erstens möglichst prädiktiv-valides PK erfasst und zweitens der Forschungsstand zum Expertenwissen eingeschlossen werden, so erscheint eine Operationalisierung des PK entlang der beiden Theoriekonzepte „Wissenstypen“ und „Berufsbildungsspezifität“ unumgänglich. Kombiniert man die beiden Konzepte, so entstehen berufsbildungsspezifische PK-Wissenstypen (1A bis 3C), die wir am Beispiel der PK-Dimension „Lernmotivation“ zu verdeutlichen versuchen.

Das domänenübergreifende Ausbildungswissen 1A deckt sich mit der Modellierung in der Allgemeinbildung (Tab. 1). Wissen über die Selbstbestimmungstheorie (SBT) ist auch für Lehrende in der BWP relevant, wie auch in der BWP empirisch bestätigt werden konnte (Helm 2016). Im Unterschied zu 1A ist 1B bereits berufsbildungsbezogen, indem der Lernort berücksichtigt wird. Velten und Schnitzler (2013) zeigen, dass im Betrieb andere motivationsförderliche Kontextmerkmale (Basic Needs) relevant sind als jene, die in der Schule relevant sind (vgl. auch die Ausführungen zur Klassenführung). Dies sollten BWP-Lehrende wissen, um professionell handeln zu können. 1C ist noch stärker als 1B auf den Berufsbildungskontext abgestimmt. Helm (2016) zeigte, dass die intrinsische Motivation eine geringe Vorhersagekraft für kaufmännische Schülerfähigkeiten besitzt, daher ist denkbar, dass andere Motivationstheorien als die SBT erklärungsbedeutsamer sind und daher als PK bei Lehrenden in der BWP verfügbar sein sollten.

Während Wissenstypen der Kategorie 1 Ausbildungswissen umfassen, stellen jene der Kategorie 2 implizites Wissen dar. 2A repräsentiert implizites Wissen (u. a. Überzeugungen) von Lehrpersonen darüber, wie man Schüler/innen allgemein motivieren kann. Häufig sehen Lehrpersonen im selbstgesteuerten Lernen motivierende Wirkung, sodass Lehrerüberzeugungen oft in die dichotomen Kategorien konstruktivistisch-orientierter vs. instruktional-orientierter Lehrertyp unterteilt werden (vgl. Seifried 2009b). 2B enthält dagegen implizites, berufsbildungsspezifisches Wissen, das sich nicht in diese Dichotomie einordnen lässt. So zeigte Seifried (2009b), dass die Grundorientierungen bei kaufmännischen Lehrpersonen darüber hinaus in eine dritte Kategorie des systematik-orientierten Mischtypen eingeordnet werden. Demgegenüber gibt es Hinweise, dass Ausbilder/innen sich selten als Lehrende sehen und entsprechende Vorstellungen (implizites Wissen) nicht vorliegen oder sich gänzlich anders (Modellrolle; z. B. Rausch 2009) gestalten (2C).

Wissenstypen der Kategorie 3 ist gemein, dass sich erst durch das Verfahren der Rekonstruktion der Handlungslogik von Lehrpersonen zeigt, ob überhaupt Könnerschaft erfasst wird. 3A-Wissen zeichnet sich dadurch aus, dass es über Verfahren erfasst wird, welche die Handlungslogik von Lehrpersonen rekonstruieren, ohne den Kontext zu berücksichtigen (z. B. Lenske et al. 2015). 3B-Wissen dagegen wird über Verfahren erfasst, die versuchen, dem Kontext gerecht zu werden (z. B. Advokatorischer Ansatz von Oser et al. 2010; Videoclips von Seidel et al. 2010 oder Marx et al. 2017). Schließlich sollte 3C-Wissen über Verfahren erfasst werden, die explizit für Lehrpersonen der Berufsbildung entwickelt wurden, d. h. beispielsweise Videovignetten aus Lernorten der BWP verwenden.

Die Erläuterungen zu Tab. 4 verdeutlichen, dass jede traditionelle PK-Dimension (Tab. 1) in allen neun Wissenstypen verortet werden könnte. Es ist aber fraglich, ob die vier Dimensionen das komplexe Konstrukts PK in der BWP inhaltlich valide abdecken. Hier ist weiterer Forschungsbedarf angedeutet.

Tab. 4 Typologie des berufsbildungsspezifischen, pädagogischen Lehrerwissens am Beispiel der „Lernmotivation“

4.3.2 Konsequenz 2 – weiterführende Arbeiten

Während die Wissenstypologie in der Literatur weite Verbreitung gefunden hat, müsste insbesondere die hier skizzierte Berufsspezifität von PK im Rahmen von weiteren Validierungsstudien vertieft werden. Im Zusammenhang damit müssten auch die neun Wissenstypen diskutiert und hinsichtlich ihrer prädiktiven Validität für professionelles Handeln erforscht werden.

Dies ist insbesondere deshalb nötig, da der Literaturreview zeigte, dass Analysen zu pädagogisch-psychologischen Anforderungssituationen von Lehrpersonen als auch Ausbildenden in der BWP kaum existieren. Zudem ist darüber hinaus anzunehmen, dass die unterschiedlichen Lernorte und Professionalisierungsansätze zu bedeutsamen Unterschieden im PK zwischen Lehrenden führen: Daher muss erstens die PK-Operationalisierung zielgruppenspezifisch erfolgen. Zweitens ist zu berücksichtigen, inwiefern die Wissenstypen durch die in den Professionalisierungsansätzen ermöglichten Lerngelegenheiten überhaupt entwickelt werden können.

Die weiterführende Forschung zur Eingrenzung des Konstrukts des PK in der BWP sollte neben den hier diskutierten Aspekten weitere berufsbildungsspezifische (Mikro‑)Aspekte einbeziehen: Auch die jeweiligen gelehrten Inhaltsbereiche sowie die unterrichteten Zielgruppen an den Lernorten repräsentieren integrale Bestandteile eines domänen-orientierten PK-Begriffs (vgl. Seifried und Ziegler 2009). Für die differenzierte Definition des PK in der BWP müssten weitere empirische Grundlagen, z. B. mithilfe von Arbeitsplatzanalysen und Delphi-Studien gelegt werden, um zu klären, welche Subdimensionen des PK sowohl bei Wissenschaftler/inne/n als auch Praktiker/inne/n der BWP konsensual als unverzichtbares pädagogisches Wissen gelten (vgl. erste Ansätze dazu bei Marx et al. 2017).

4.3.3 Konsequenz 3 – erweiterte Konstruktdefinition

Vor dem Hintergrund der hier dargestellten Überlegungen schlagen wir für weiterführende Arbeiten in Anlehnung an Voss et al. (2015) eine differenzierte Definition für das PK in der Berufsbildung vor:

PK von BWP-Lehrkräften umfasst Kenntnisse über das Lernen und Lehren, die sich auf die Gestaltung von Unterrichtssituationen beziehen und sich aus domänenunabhängigen sowie -abhängigen Wissenselementen zusammensetzen. Dabei lassen sich die domänenabhängigen Elemente entlang dem Grad der Berufsbildungsspezifität (u. a. Lehr-Lern-Merkmale, Professionalisierungsansätze, Länderspezifika) spezifizieren.

5 Ausblick

Die diesen Beitrag leitenden Fragen nach der Rolle des PK sowie nach den notwendigen Anpassungen der Definition des PK in der BWP wurden auf Basis (a) eines systematischen Literaturreviews sowie (b) einer Analyse der Berufsbildungsspezifika (z. B. Leitprinzipien) beantwortet. Das Lehrerbildungssystem ist in der BWP ein – im Vergleich zum allgemeinbildenden Sektor – sehr heterogenes Feld. Diese Heterogenität führt zur Frage, ob die unterschiedlich ausgebildeten und in unterschiedlichen Lernkontexten (Schule und Betrieb) arbeitenden Lehrpersonengruppen differenziertes PK benötigen, um professionell handeln zu können. Der systematische Literaturreview zeigte, dass bis dato in der BWP keine Studien existieren, die sich explizit mit dem PK theoriegeleitet oder empirisch beschäftigen. Hier ergibt sich ein weites Forschungsfeld. In diesem Beitrag wurden ein Theoriekonzept und eine erweiterte Konstruktdefinition vorgestellt, die als Grundlage zur Diskussion über die Eignung des in der Allgemeinbildung verwendeten PK-Konstrukts zur Erfassung des pädagogischen Wissens von Lehrenden in der Berufsbildung und als Ausgangspunkt für weitere Forschungsarbeiten dienen sollen.