1 Einleitung

Die Mathematikdidaktik unterhält ein eigentümliches Doppelverhältnis zu ihren Untersuchungsgegenständen (vgl. Niss 1999, S. 5–6; Steinbring 1998, S. 164–166): Einerseits versteht sie sich als eine theoretische Disziplin, deren Aufgabe in der wissenschaftlichen Erkenntnis der verschiedenen Arten, Formen und Ausprägungen der mathematischen Bildungspraxis besteht. Andererseits verfolgt die Mathematikdidaktik jedoch nicht bloß theoretische Erkenntnisinteressen, sondern begreift sich zugleich auch als eine praktische Disziplin. Sie will die mathematische Bildungspraxis nicht nur theoretisch erkennen, sondern sie will sie auch praktisch normieren und gestalten. Das heißt: Sie will normative Leitlinien ausarbeiten, an denen man bestehende mathematische Bildungspraxen messen und mittels derer man sie auf dem Weg ihrer Fortentwicklung unterstützen kann. Die Mathematikdidaktik ist also nicht nur Wissenschaft von der mathematischen Bildungspraxis, sondern sie ist auch Wissenschaft für sie. Sie behandelt nicht nur theoretische Fragen, die das Sein der mathematischen Bildungspraxis betreffen, sondern auch praktische Fragen nach ihrem Sein-Sollen.

Die idealtypische Unterscheidung zwischen theoretisch und praktisch gerichteter Forschung bezieht sich dabei nicht auf die Gegenstände der Mathematikdidaktik, sondern auf die Art und Weise, in der diese Gegenstände forschend befragt und erfasst werden. Jeder Gegenstand mathematikdidaktischen Forschens kann sowohl – in theoretischer Richtung – darauf befragt werden, wie er ist und sein kann, als auch – in praktischer Richtung – darauf untersucht werden, wie er sein soll. Man kann sich den Unterschied, der zwischen diesen beiden Forschungsrichtungen besteht, auch anhand der folgenden Überlegung klarmachen: Wenn sich herausstellt, dass eine mathematische Bildungspraxis in Wirklichkeit ganz anders beschaffen ist, als sie in theoretischer Forschung beschrieben wurde, dann muss die theoretische Forschung ihre Beschreibung von dieser Praxis eben entsprechend ändern. Wenn sich dagegen herausstellt, dass eine mathematische Bildungspraxis ganz anders beschaffen ist, als sie – gemäß der in praktischer Forschung gewonnenen Normen – beschaffen sein sollte, dann muss nicht sie, die praktische Forschung, sondern vielmehr die beforschte Praxis sich ändern.

Dass sich die beiden Forschungsrichtungen auf diese Weise idealtypisch unterscheiden lassen, heißt jedoch nicht, dass theoretische und praktische Interessen nicht in einem einzigen Forschungsvorhaben kombiniert werden könnten, oder gar, dass sich die Mathematikdidaktik auf lange Frist für eine dieser beiden Forschungsrichtungen entscheiden müsste. Man wird vielmehr sagen können, dass der disziplinäre Charakter der Mathematikdidaktik gerade in dieser ‚Janusköpfigkeit‘ (vgl. Lerman 2018, S. v) besteht: Die Mathematikdidaktik ist eine theoretisch-praktische Wissenschaft, sie ist theoretische und praktische Disziplin zugleich.

Aus diesem theoretisch-praktischen Doppelcharakter, der die Mathematikdidaktik als Wissenschaftsdisziplin auszeichnet, ergibt sich nun ein grundlegendes methodologisches Problem (vgl. Abb. 1). Denn: Wie kann die Mathematikdidaktik ihre beiden Forschungsrichtungen miteinander verbinden? Wie kann sie methodisch vorgehen, wenn sie sowohl theoretisch erkennen will, was in der mathematischen Bildungspraxis vor sich geht, als auch praktische Vorschläge dafür unterbreiten und rechtfertigen möchte, was dort vor sich gehen sollte?

Abb. 1
figure 1

Der theoretisch-praktische Doppelcharakter der Mathematikdidaktik und das Sein-Sollen-Problem

Dass man es hier in der Tat mit einem schwerwiegenden methodologischen Problem zu tun hat, zeigt ein kurzer Blick in die Philosophiegeschichte. Denn spätestens seit Hume (2007, S. 302) wächst in der Philosophie das Bewusstsein dafür, dass von einem Satz über ein Sein nicht ohne weiteres auf einen Satz über ein Sollen geschlossen werden kann und umgekehrt. Und doch muss die Kluft, die zwischen theoretischen und praktischen Forschungsfragen besteht, irgendwie in der mathematikdidaktischen Forschung überwunden werden. Wenn die Mathematikdidaktik ihrem theoretisch-praktischen Doppelcharakter gerecht werden will, muss sie das Sein-Sollen-Problem also irgendwie lösen – nur wie?Footnote 1

Ein mathematikdidaktischer Forschungsbereich, in dem sich diese Frage wie unter einem Brennglas studieren lässt, ist die Erforschung der Normen der mathematischen Bildungspraxis. Da alle Fragen der Kritik und Verbesserung bestehender mathematischer Bildungspraxen letztlich nur mit Blick auf gewisse Normen beantwortet werden können, sind Normen seit jeher ein mathematikdidaktisches Forschungsthema. Wer z. B. eine bestehende mathematische Bildungspraxis kritisieren möchte, benötigt dafür einen normativen Maßstab, der an diese Praxis angelegt wird und vor dem sie als verbesserungswürdig erscheint; und wer einer solchen verbesserungswürdigen Praxis dann eine neue Entwicklungsrichtung vorzeichnen möchte, steht wiederum vor der Frage, wie man denn die Normen, die das Wohin dieser Entwicklung kennzeichnen, in einer mathematischen Bildungspraxis faktisch etablieren kann.

Mathematikdidaktische Forschungen zur Normenfrage treten dabei sowohl in theoretischer als auch in praktischer Richtung auf. Ein klassisches Beispiel für mathematikdidaktische Forschungsbemühungen, die auf die praktische Normierung der Bildungspraxis abzielen, kann in Heinrich Winters Abhandlungen über die allgemeinbildenden Ziele des Mathematikunterrichts gesehen werden (Winter 1975, 1996). Neben solchen Untersuchungen, die aus der praktischen Forschungsrichtung entspringen und für gewisse Dimensionen der mathematischen Bildungspraxis normative Vorgaben formulieren, stößt man in der mathematikdidaktischen Literatur aber auch noch auf einen anderen Zugang zur Normenfrage. Man trifft nämlich auch auf Forschungsbemühungen, die in theoretischer Richtung liegen und sich der empirischen Rekonstruktion der sozialen Interaktionsprozesse verschreiben, durch welche Normen im Mathematikunterricht faktisch Geltung erlangen (z. B. Voigt 1995; Yackel und Cobb 1996). Hier werden Normen also nicht durch die mathematikdidaktische Forschung ausgearbeitet und dann als Zielvorgaben an eine bestehende mathematische Bildungspraxis herangetragen, sondern man interessiert sich vielmehr zunächst für die Normbestände der Bildungspraxen selbst. Man rekonstruiert dann z. B., wie Lehrende und Lernende in der Unterrichtsinteraktion aushandeln, wann die Lösung einer Problemstellung als mathematisch elegant gilt (Voigt 1995, S. 196–198), was eine Begründung zu einer mathematischen Begründung macht (Yackel und Cobb 1996, S. 467–473), oder was es in diesem Sozialzusammenhang heißt, ‚good-at-math‘ zu sein (Ruef 2021).

Für die Mathematikdidaktik ergibt sich hieraus ein erheblicher Reflexionsbedarf. Insbesondere stellt sich die Frage, welche Forschungsmethoden die beiden Zugänge zur Normenfrage jeweils erfordern. Es muss, mit anderen Worten, geklärt werden, wie sich die empirische Rekonstruktion faktischer Normbestände und die Ausarbeitung konstruktiver Normvorschläge konkret angehen lassen – und auch: wie sich diese beiden Zugänge zueinander verhalten.

Das Ziel dieses Beitrags ist es, diese Fragen genauer in den Blick zu nehmen und auf diese Weise einen methodologischen Beitrag zur Lösung des Sein-Sollen-Problems zu leisten. Dabei werde ich versuchen, die beiden skizzierten Zugänge zur Normenfrage miteinander ins Gespräch zu bringen. Als Konsequenz wird sich im Verlauf des Beitrags nach und nach die Idee einer mathematikdidaktischen Normenforschung abzeichnen, welche einerseits über die Erkenntnismittel verfügt, um die Richtigkeit gewisser Normen zu begründen, die aber andererseits auch Antworten auf die Frage geben kann, wie man solchen, gut begründeten Normen denn eine positive Geltung verschaffen kann, was man also etwa als Lehrkraft konkret tun kann, wenn man diese Normen unter den faktischen Bedingungen eines schulisch organisierten Mathematikunterrichts etablieren will.

Zur Entfaltung dieser Idee benötige ich vier Schritte: Zunächst werde ich einige grundlegende Unterscheidungen im Reich der Normen einführen und so den Untersuchungsgegenstand der mathematikdidaktischen Normenforschung genauer eingrenzen (2.). Dies wird mich zu einem methodologischen Problem – dem Problem der Normenbegründung – führen, das für die Grundlegung einer mathematikdidaktischen Normenforschung im obigen Sinne gelöst werden muss. Der Hauptteil des Beitrags wird daher der Frage gewidmet sein, ob und inwieweit sich Normen für die mathematische Bildungspraxis in einsichtiger Weise begründen lassen (3.–4.). Aus der Beschäftigung mit dem Problem der Normenbegründung wird sich dann ergeben, dass in der mathematikdidaktischen Normenforschung zwei grundverschiedene Weisen des Forschens aufeinandertreffen, nämlich die rationale und die empirische Forschungsweise. Worin genau der Unterschied zwischen diesen beiden Weisen des Forschens besteht und inwiefern sie im Rahmen der Normenforschung miteinander kooperieren können, wird mich in den folgenden beiden Abschnitten beschäftigen (5.–6.). Zum Abschluss des Beitrags werde ich die vorherigen Überlegungen schließlich in der Idee einer mathematikdidaktischen Normenforschung zusammenführen (7.).

2 Was ist mathematikdidaktische Normenforschung?

Mathematikdidaktische Normenforschung richtet ihr Forschungsinteresse auf die wirklichen und möglichen Normen mathematischer Bildungspraxen. Ein konkretes Beispiel für eine mathematische Bildungspraxis wäre der Mathematikunterricht einer bestimmten Schulklasse; ein weiteres Beispiel wäre der Praxiszusammenhang einer Mathematikvorlesung, also z. B. einer Analysis-Vorlesung an einer deutschen Universität einschließlich des Übungs- und Korrekturbetriebs. Unter den wirklichen Normen einer mathematischen Bildungspraxis verstehe ich ferner all diejenigen Normen, die in dieser Praxis faktisch eine positive Geltung erlangt haben. Worin die wirklichen Normen einer bestimmten Bildungspraxis bestehen, das entscheidet sich im alltäglichen Vollzug dieser Praxis. Es entscheidet sich dadurch, dass im Praxisvollzug bestimmte Verhaltensweisen angenommen und andere abgelehnt werden, sodass sich auf lange Sicht ‚Erwartungserwartungen‘ (Lensing 2021, S. 179–182; Luhmann 2015, S. 411–417) bilden, die das Geschehen regulieren, aus dem sie selbst hervorgegangen sind. So mag eine Mathematiklernende etwa erwarten, dass von ihr erwartet wird, dass sie pünktlich zum Unterricht erscheint, ihre Hausaufgaben macht und sich in ihren mathematischen Begründungen allein auf mathematische Gründe stützt. Derartige Erwartungserwartungen nehmen nun den Charakter von Normen an, wenn sie auch in Fällen der Erwartungsenttäuschung unverändert festgehalten werden: So mag die Lernende die Erfahrung machen, dass die drei obigen Erwartungen auch und gerade dann weiter aufrechterhalten werden, wenn jemand im Mathematikunterricht gegen sie verstößt – also etwa zu spät zum Unterricht erscheint, die Hausaufgaben vergisst oder in der gemeinsamen Besprechung einer Begründungsaufgabe außermathematische Gründe ins Feld führt. Wirkliche Normen können, mit anderen Worten, als kontrafaktisch stabilisierte Erwartungserwartungen (Lensing 2021, S. 312–314; Luhmann 2015, S. 437) konzeptualisiert werden: Ob die Beteiligten sich faktisch so verhalten, wie es die Norm besagt, oder nicht, die Normativität der Norm besteht gerade darin, dass dies ein Unterschied ist, der für ihren Fortbestand keinen Unterschied macht. Selbst wenn sich die halbe Klasse auf außermathematische Gründe beruft, so folgt daraus nicht, dass die Erwartungserwartung angepasst wird, dass es also etwa von nun an so gehandhabt wird, dass man im Mathematikunterricht begründen kann, wie immer man will.

Sieht man nun von der Frage ab, ob sich eine Norm in einer mathematischen Bildungspraxis faktisch etabliert hat und hält bloß fest, dass sie in irgendeiner derartigen Praxis positive Geltung erlangen könnte, so gelangt man zum Begriff der möglichen Norm. Jede wirkliche Norm ist damit immer auch eine mögliche Norm, aber es lassen sich unzählige mögliche Normen angeben, die wohl noch in keiner mathematischen Bildungspraxis je eine positive Geltung erlangt haben (‚Mathematiklehrkräfte sollen je eine grüne und eine rote Socke tragen‘, ‚Über die Wahrheit eines mathematischen Satzes soll stets durch die Befragung eines Orakels entschieden werden‘ usw.).Footnote 2

Sofern sich die mathematikdidaktische Normenforschung für die Erforschung der wirklichen Normen mathematischer Bildungspraxen interessiert, kann sie nur als empirische Forschung erfolgen. Wer etwa wissen will, welche Normen im Mathematikunterricht einer bestimmten Schulklasse positive Geltung erlangt haben (z. B. Ruef 2021), welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede die unterrichtlichen Normbestände in einem gewissen Vergleichsbereich aufweisen (z. B. Lopez und Allal 2007), oder wie sich – in einer gewissen historischen Periode – normative Vorgaben für die Ausbildung von Mathematiklehrkräften gebildet und weiterentwickelt haben (z. B. Schubring 1983), der fragt nach faktischen Verhältnissen und muss sich daher notwendigerweise auf Erfahrung berufen. Ob man eine Einzelfallstudie durchführt, vergleichende Untersuchungen vornimmt oder historische Entwicklungen nachzeichnet, in allen drei Fällen kann mit Recht von empirischer Forschung gesprochen werden, da sich derartige Forschungsvorhaben nur auf der Grundlage von Dokumentationen des realen Bildungsgeschehens verwirklichen lassen. Dass im Fall historischer Untersuchungen aktuelle Erfahrung nicht mehr möglich erscheint und daher Berichte von Zeitzeugen, institutionelle Erlässe, Lehrbücher und sonstige relevante Dokumente als Datengrundlage dienen, ändert an dieser Sachlage nichts. Denn historische Quellen sind ja letztlich nichts anderes als dokumentierte vergangene Erfahrung. Es mag an dieser Stelle hilfreich sein, darauf hinzuweisen, dass eine Berufung auf ‚Erfahrung‘ in der empirischen Normenforschung stets bedeutet, dass gewisse Interpretationsleistungen erbracht werden müssen. Normen lassen sich nicht mit den Sinnen wahrnehmen, sondern nur durch höherstufige Akte des Deutens, Interpretierens oder Verstehens erfassen. Sie werden im Vollzug der mathematischen Bildungspraxis als Strukturen hervorgebracht, sind also gewissermaßen ‚Selbstabstraktionen‘ (Luhmann 2015, S. 16) oder ‚Eigenkonstruktionen‘ der Praxis, welche dann in empirischer Forschung rekonstruiert werden.

Man kann sich nun leicht klarmachen, dass die Erkenntnismöglichkeiten einer mathematikdidaktischen Normenforschung mit der empirischen Erforschung der wirklichen Normen noch nicht vollständig erschöpft sind. Es ist nämlich nicht nur möglich, zu fragen, welche Normen in einer bestimmten mathematischen Bildungspraxis faktisch positive Geltung erlangt haben, sondern es kann immer auch danach gefragt werden, ob die Forderungen, welche diese Normen erheben, denn eigentlich zu Recht bestehen. Man kann eine gegebene Norm also nicht nur auf ihre Wirklichkeit befragen, sondern sie immer auch auf ihre Richtigkeit untersuchen. Unter einer richtigen Norm will ich dabei eine Norm verstehen, deren Geltungsanspruch sich durch eine einsichtige Begründung einlösen lässt.Footnote 3

Dass eine Mathematiklernende, um das obige Beispiel wieder aufzunehmen, erwartet, dass von ihr erwartet wird, sich in ihren Begründungen allein auf mathematische Gründe zu stützen, und dass diese Erwartung ferner auch und gerade dann aufrechterhalten wird, wenn doch mal wieder jemand außermathematische Gründe anführt, sichert der Norm ihre Wirklichkeit. Aber es besagt noch nichts für die Frage nach der Richtigkeit der Norm. Denn bei dieser Frage geht es nicht mehr darum, ob faktisch im Unterrichtsgeschehen allein mathematische Gründe akzeptiert werden und wie sich die Beteiligten faktisch im Fall von Normabweichungen verhalten. Sondern hier geht es um die Frage, ob ein solcher Anspruch an mathematische Begründungsprozesse eigentlich zu Recht erhoben werden kann. Es fragt sich, ob sich einsichtig begründen lässt, dass mathematische Begründungen allein mathematische Gründe enthalten sollen. Und nur falls eine einsichtige Begründung dieser Norm gelingt, kann davon gesprochen werden, dass hier nicht bloß eine wirkliche, sondern auch eine richtige Norm vorliegt.

Es kann also Normen geben, die in mathematischen Bildungspraxen faktisch eine positive Geltung erlangt haben, die aber einer kritischen Prüfung nicht standhalten, da sie sich nicht einsichtig begründen lassen. Und es kann ebenso Normen geben, die sich zwar einsichtig begründen lassen, die aber noch in keiner mathematischen Bildungspraxis je eine positive Geltung erlangt haben. In den Worten von Jürgen Habermas: „[E]ine faktisch geltende Norm [muss] nicht auch zu Recht bestehen, und richtige Normen müssen nicht faktische Geltung erlangen“ (Habermas 1989a, S. 149).

Für die mathematikdidaktische Normenforschung ergibt sich hieraus eine wichtige Konsequenz. Denn die vorangegangenen Überlegungen sensibilisieren dafür, dass sich die mathematikdidaktische Normenforschung einer Bildungspraxis nicht nur aus der theoretischen Forschungsrichtung heraus nähern und an der empirischen Rekonstruktion ihrer wirklichen Normbestände arbeiten kann. Nein, sie kann vielmehr auch mit praktischen Forschungsambitionen an ihren Untersuchungsgegenstand herantreten und das Gegebene von einem normativen Standpunkt aus in Frage stellen. Dabei kann sie einerseits die faktisch geltenden Normen auf ihre Richtigkeit prüfen und daraufhin die Normen, bei denen eine solche Richtigkeitsprüfung negativ ausfällt, einer berechtigten Kritik unterziehen. Und sie kann andererseits auch für bestimmte Bildungspraxen konstruktive Normvorschläge ausarbeiten, die ihre Überzeugungskraft daraus beziehen, dass sich die vorgeschlagenen Normen in einsichtiger Weise begründen lassen.

Der theoretisch-praktische Doppelcharakter, der das gesamte Feld der Mathematikdidaktik durchzieht, spiegelt sich also im Spezialbereich der mathematikdidaktischen Normenforschung. Und indem die mathematikdidaktische Normenforschung zwischen Rekonstruktion und Kritik hin und her pendelt, indem sie sowohl theoretische als auch praktische Forschungsinteressen verfolgt, scheint in ihr ‚im Kleinen‘ die Sein-Sollen-Problematik wieder auf. Es stellt sich, mit anderen Worten, erneut die Frage, wie sich theoretische und praktische Forschungsinteressen im gegebenen Fall miteinander verbinden lassen. Und es fragt sich weiter, wie das praktische Anliegen einer konstruktiven Normenkritik denn eigentlich methodisch angegangen werden kann: Wie lässt sich die Richtigkeitsfrage für Normen in mathematischen Bildungspraxen durch Gründe entscheiden? Wie kann der Geltungsanspruch, den eine bestimmte Norm erhebt, in einsichtiger Weise begründet oder widerlegt werden?

3 Einige Überlegungen zum methodologischen Problem der Normenbegründung

Die bisherigen Überlegungen haben ergeben, dass die mathematikdidaktische Normenforschung ihre Ziele in praktischer Forschungsrichtung nur erreichen kann, wenn sie sich an das Problem der Normenbegründung heranwagt. Da sowohl die Berechtigung zu einer Kritik bestehender Normverhältnisse als auch die Überzeugungskraft, die ein konstruktiver Normvorschlag entfalten kann, an die Möglichkeit gebunden sind, die Richtigkeit von Normen einsichtig zu begründen, stellt sich für die Mathematikdidaktik die Frage, wie eine solche Normenbegründung möglich ist.

In der Diskussion dieser Frage möchte ich von zwei paradigmatischen Beispielen ausgehen:

(1) Eine Mathematiklehrkraft soll, auch wenn sie es nicht erzählt, wissen, was Axiomatik ist, und sie soll diese Kenntnis ferner dort, wo sie kann, auch anwenden.Footnote 4

(2) Eine Mathematiklernende darf sich in ihren geometrischen Begründungen auf Messungen an gezeichneten Figuren stützen.

Dass es sich bei (1) und (2) um normative – und also: praktische – Sätze handelt, zeigt sich in der Auslegung ihres Sinns: Die Sätze sagen nämlich nicht, dass oder wie irgendetwas ist, sondern treffen eine Aussage darüber, wie etwas sein soll bzw. sein darf. Ob die Mathematiklehrkräfte also auch tatsächlich wissen, was sie – gemäß der Norm – wissen sollen, oder ob die Mathematiklernenden faktisch von ihrem Recht Gebrauch machen, ja, ob es überhaupt irgendwelche Lernenden oder Lehrenden gibt, die irgendetwas wissen oder tun könnten, davon sagen diese Sätze nichts. Schon diese erste Auslegung sensibilisiert damit für einen wesentlichen Unterschied zwischen normativen und theoretischen Sätzen: Es ist nicht nur so, wie Hume argumentiert hat, dass man von einem Satz über ein Sein nicht ohne weiteres auf einen Satz über ein Sollen schließen kann (Hume 2007, S. 302), sondern es gilt vielmehr auch umgekehrt, dass „Urteile über ein Sollen keine Behauptung über ein entsprechendes Sein einschließen“ (Husserl 1992c, S. 55). Dass auch Sätze über ein ‚Sein-Dürfen‘ hiervon nicht ausgenommen sind, erkennt man daran, dass sich jeder Satz über ein Sein-Dürfen in einen äquivalenten Satz über ein Sein-Sollen verwandeln lässt: bei dem, was sein darf, handelt es sich nämlich gerade um dasjenige, was nicht nicht sein soll – mit anderen Worten: „‚darf‘ [ist] die Negation von ‚soll nicht‘“ (Husserl 1992c, S. 55). Man wird daher wohl auch alle Sätze, die ein Sein-Dürfen aussprechen, zu den normativen Sätzen rechnen dürfen.

Dass den beiden ausgedrückten Normen ferner ein paradigmatischer Charakter zugesprochen werden kann, liegt daran, dass sie exemplarisch für zwei große Gruppen von Normen stehen: Während sich aus dem ersten Satz eine normative Verpflichtung für die Lehrkraft ergibt, nämlich die Pflicht, zu wissen, was Axiomatik ist, und diese Kenntnis ferner dort, wo sie kann, auch anzuwenden, spricht der zweite Satz eine normative Berechtigung aus, nämlich das Recht, sich als Mathematiklernende in geometrischen Begründungen auf Messungen an gezeichneten Figuren zu stützen.

Nach diesen Vorüberlegungen soll nun der Frage nachgegangen werden, ob und inwieweit sich diese beiden Sätze einsichtig begründen lassen. Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich an eine Analyse normativer Sätze anknüpfen, die Edmund Husserl im ersten Band seiner Logischen Untersuchungen vorgelegt hat. Husserl zeigt dort, dass sich aus normativen Sätzen stets ein theoretischer Gehalt herausschälen lässt und dass die Richtigkeit der ausgedrückten Normen in entscheidender Weise von der Wahrheit dieser theoretischen Gehalte abhängt. Seine Argumentation umfasst zwei Schritte. Im ersten Schritt argumentiert Husserl, dass sich jeder normative Satz in einen ihm äquivalenten wertenden Satz umformen lässt:

„Überhaupt dürfen wir als gleich, zum mindesten als äquivalent setzen die Formen: ‚Ein A soll B sein‘ und ‚Ein A, welches nicht B ist, ist ein schlechtes A‘, oder ‚Nur ein A, welches B ist, ist ein gutes A‘. Der Terminus ‚gut‘ dient uns hier natürlich im weitesten Sinne des irgendwie Wertvollen; er ist in den konkreten, unter unsere Formel gehörigen Sätzen jeweilig in dem besonderen Sinne der Werthaltungen zu verstehen, die ihnen zugrunde liegen, z. B. als Nützliches, Schönes, Sittliches u. dgl. Es gibt so vielfältige Arten der Rede vom Sollen, als es verschiedene Arten von Werthaltungen, also Arten von – wirklichen oder vermeintlichen – Werten gibt.“ (Husserl 1992c, S. 54)

Bei der Rede vom Sein-Sollen handelt es sich also um eine abgeleitete Rede. Sie entspringt letztlich aus einer bestimmten Werthaltung, welche das, was sein soll, als ein in irgendeiner Hinsicht Wertvolles und das, was nicht sein soll, als ein in dieser Hinsicht Wertloses auszeichnet (vgl. zu diesem wichtigen Punkt auch: Voigt 1995, S. 196). Es gibt nach Husserl also nicht nur eine einzige Art des Sollens, sondern so viele Arten des Sollens, wie es ‚verschiedene Arten von Werthaltungen‘ gibt. Die beiden obigen Sätze lassen sich damit in folgender Weise umformen:

(1′) Nur eine Mathematiklehrkraft, welche, auch wenn sie es nicht erzählt, weiß, was Axiomatik ist, und diese Kenntnis ferner dort, wo sie kann, auch anwendet, ist eine gute Mathematiklehrkraft.

(2′) Eine Mathematiklernende, welche sich in ihren geometrischen Begründungen auf Messungen an gezeichneten Figuren stützt, ist darum noch keine schlechte Mathematiklernende.

Im zweiten Fall habe ich das oben begründete Ableitungsverhältnis ausgenutzt, aus dem sich ergibt, dass sich ein Satz der Form ‚Ein A darf B sein‘ äquivalent in einen Satz der Form ‚Ein A, welches B ist, ist darum noch kein schlechtes A‘ umformen lässt (vgl. Husserl 1992c, S. 55).

Aus den wertenden Sätzen gewinnt Husserl dann in einem zweiten Schritt theoretische Sätze, indem er das wertende Interesse ausschaltet und die Beziehung zwischen Wert und Bewertetem „objektiv als eine Beziehung zwischen Bedingung und Bedingtem“ (Husserl 1992c, S. 60) interpretiert:

„So schließt z. B. jeder normative Satz der Form ‚Ein A soll B sein‘ den theoretischen Satz ein ‚Nur ein A, welches B ist, hat die Beschaffenheit C‘, wobei wir durch C den konstitutiven Inhalt des maßgebenden Prädikates ‚gut‘ andeuten […]. Der neue Satz ist ein rein theoretischer, er enthält nichts mehr von dem Gedanken der Normierung. Und umgekehrt, gilt irgendein Satz dieser letzteren Form und erwächst als ein Neues die Werthaltung eines C als solchen, die eine normierende Beziehung zu ihm erwünscht sein läßt, so nimmt der theoretische Satz die normative Form an: ‚Nur ein A, welches B ist, ist ein gutes‘, d. h. ‚Ein A soll B sein‘.“ (Husserl 1992c, S. 60)

Mit diesen Ausführungen ist nun klarer geworden, wie eine Normenbegründung verlaufen könnte. Zwar bleibt es dabei, dass sich Seinssätze und Sollenssätze, theoretische und normative Sätze nicht auseinander ableiten lassen. Will man aus der Sphäre des Seins in die Sphäre des Sollens gelangen, so muss dafür zunächst eine bestimmte Werthaltung erwachsen. Ob die normativen Sätze, die aus einer solchen Werthaltung hervorgehen, dann aber richtig sind, das hängt entscheidend davon ab, ob die entsprechenden theoretischen Sätze wahr sind. Eine wesentliche Vorbedingung einer jeden Normenbegründung besteht daher darin, die theoretischen Gehalte aus den normativen Sätzen herauszuschälen und sie auf ihre Wahrheit zu prüfen. Und falls diese Wahrheitsprüfung dann positiv ausfällt, so ist auch der normative Satz ein richtiger Satz bzw. die in ihm ausgedrückte Norm eine richtige Norm.

Die Richtigkeit der Norm bleibt jedoch stets auf die zugrunde gelegte Werthaltung zurückbezogen. Normative Richtigkeit ist, anders gesagt, immer nur relative Richtigkeit. Sie ist eine Richtigkeit, die auf den Grundwert der jeweils gewählten Wertsphäre (z. B. Nützlichkeit, Schönheit, Sittlichkeit usw.) zurückbezogen bleibt. Ändert sich die grundlegende Werthaltung, so können daher richtige Normen zu falschen werden und umgekehrt (vgl. Abschn. 5). Die Korrelationsverhältnisse zwischen theoretischen, wertenden und normativen Sätzen sind in Tab. 1 noch einmal zusammenfassend dargestellt.

Tab. 1 Zum Verhältnis zwischen praktischen (= normativen, wertenden) und theoretischen Sätzen

4 Zu den Möglichkeiten und Grenzen von Normenbegründungen

Um die Analyse der beiden Beispiele weiterzuführen, soll nun diskutiert werden, ob und inwieweit sich die beiden in (1) und (2) ausgedrückten Normen einsichtig begründen oder widerlegen lassen.

Zu (2): Der erste Schritt zur Normenbegründung besteht – nach Husserl – darin, die theoretischen Gehalte zu fixieren, welche in dem wertenden Satz (2′) implizit enthalten sind.

(2′) Eine Mathematiklernende, die sich in ihren geometrischen Begründungen auf Messungen an gezeichneten Figuren stützt, ist darum noch keine schlechte Mathematiklernende.

Will man aber in diesem Fall klären, worin der „konstitutive Inhalt des maßgebenden Prädikates ‚gut‘“ (Husserl 1992c, S. 60) besteht, so wird man gewisse Setzungen vornehmen müssen.Footnote 5 So könnte man z. B. ansetzen: ‚Eine gute Mathematiklernende zu sein‘, das bedeutet so viel wie ‚in der eigenen mathematischen Kompetenzentwicklung voranzuschreiten‘. Und der theoretische Gehalt des obigen Satzes könnte dann vielleicht wie folgt fixiert werden:

(2″) Eine Mathematiklernende, die sich in ihren geometrischen Begründungen auf Messungen an gezeichneten Figuren stützt, fehlt es darum nicht schon an geometrischer Begründungskompetenz.

Mit dieser Näherbestimmung des Wertprädikats ist der Gedanke der Normierung aus dem Satz (2′) verschwunden. Der Satz (2″) ist ein theoretischer Satz und kann nun auf seinen Wahrheitsgehalt geprüft werden. Dabei stellen sich jedoch sogleich weitere Fragen. Denn: Welche Mathematiklernenden sind hier gemeint? Auf welcher Stufe der mathematischen Entwicklung stehen die Lernenden, von denen in dem Satz etwas ausgesagt werden soll?

Sieht man sich etwa die Behandlungsweise von elementargeometrischen Fragestellungen in einer universitären Mathematikveranstaltung an, so wird man sagen können: Die Figuren, von denen hier die Rede ist, sind nicht durch Akte der Erfahrung gesetzte Realitäten, sondern vielmehr durch Akte der Idealisierung gewonnene Idealitäten (Husserl 1992b, S. 155; Schreiber 1980, S. 50–51). Die geometrischen Sätze handeln also gar nicht von den gezeichneten Figuren und können deshalb durch Messungen an ihnen auch weder begründet noch widerlegt werden. Zwar leisten die gezeichneten Figuren wichtige Dienste zur Veranschaulichung der geometrischen Zusammenhänge und können daher die geometrische Begründungstätigkeit durchaus anleiten, indem sie gewisse Relationen zwischen den idealen geometrischen Figuren analogisch darstellen. Aber es hieße doch, das Darstellende mit dem Dargestellten zu verwechseln, wollte man Erfahrungssätze, die für die gezeichneten Figuren gelten, gebrauchen, um Sätze über die idealen geometrischen Figuren zu begründen.

Schon diese rudimentären Überlegungen, denen freilich erst durch eine ausgearbeitete Epistemologie der Geometrie auf dieser Erkenntnisstufe ein fester Boden bereitet werden könnte, genügen, um die Vermutung nahezulegen, dass sich der Satz (2″) im Kontext einer Behandlung der Elementargeometrie auf Hochschulniveau wohl als falsch erweisen würde. Studierenden, die elementargeometrische Sätze mit Hilfe von Messungen an gezeichneten Figuren zu begründen versuchen, wird man die geometrische Begründungskompetenz absprechen müssen.

Wendet man sich nun aber dem Mathematikunterricht der Grundschule zu und sieht sich die dort vorherrschende Behandlungsweise von geometrischen Fragestellungen genauer an, so liegt eine ganz andere Sachlage vor: Der Einstieg in das geometrische Denken erfolgt durch eine Untersuchung der Dinge der Erfahrungswelt. „Worum handelt es sich in der Geometrie?“, fragt Wittenberg (1963, S. 72) in diesem Zusammenhang und antwortet sogleich: „Um die Untersuchung der Figuren, die wir mit Zirkel und Lineal in unser Heft oder auf die Tafel zeichnen können und die wir an der Welt um uns, an unseren Feldern und Häusern und Gebrauchsgegenständen, entdecken“ (Wittenberg 1963, S. 72). Zu Beginn des geometrischen Denkens sind Murmeln Kugeln, Säulen Zylinder und Hochhäuser Quader und es sind diese lebensweltlichen Gegebenheiten, an denen sich, sobald man an ihnen gewisse unselbständige Formmomente hervorhebt, die ebenen Figuren, also die Kreise, Rechtecke, Quadrate usw., aufweisen lassen. Die Schulgeometrie beginnt als eine Erfahrungswissenschaft (Struve 1989). Und es ist daher, zumindest auf dieser Stufe der mathematischen Entwicklung, unbedenklich, ja, in manchen Fällen vielleicht sogar alternativlos, sich messend an gezeichneten Figuren zu betätigen und die Resultate dieser Messungen für geometrische Begründungen fruchtbar zu machen.

Zusammenfassend bleibt damit festzuhalten, dass über die Wahrheit des Satzes (2″) erst dann eine begründete Entscheidung getroffen werden kann, wenn zuvor fixiert wurde, von welchen Mathematiklernenden genau die Rede ist. Da Mathematik, wie Friedrich Drenckhahn einmal gesagt hat, in verschiedenen „Höhenlagen“ (Drenckhahn 1978, S. 4) daherkommt, macht es für die Wahrheitsfrage einen entscheidenden Unterschied, ob man sich die Mathematiklernenden hier als Grundschulkinder, Sekundarstufenschüler*innen oder Hochschulstudierende denkt. Hat man sich in diesem Punkt dann aber einmal festgelegt, so kann auf eine Begründung oder Widerlegung des Satzes hingearbeitet werden.

Angenommen, es wäre nun gelungen, die Falschheit von (2″) für Mathematiklernende zu begründen, die sich auf einem hochschultypischen Erkenntnisniveau bewegen, so würde diese, zunächst rein theoretische Erkenntnis in dem Moment eine normierende Kraft für die mathematische Bildungspraxis gewinnen, in dem dort eine Werthaltung erwächst, welche die gültigen geometrischen Begründungen den ungültigen vorzieht. Oder genauer gefasst: Wenn es in einer mathematischen Bildungspraxis auf Hochschulniveau als wertvoll erachtet wird, dass die Mathematiklernenden durch ihre Teilnahme an dieser Praxis geometrische Begründungskompetenz erwerben können, und wenn ferner geometrische Begründungskompetenz zu besitzen jedenfalls auch heißt, dass man dazu in der Lage ist, gültige geometrische Begründungen hervorzubringen, dann kann dieser Praxis die Norm anempfohlen werden, dass sich die Mathematiklernenden in ihren geometrischen Begründungen nicht auf Messungen an gezeichneten Figuren stützen sollen.Footnote 6

Zu (1): Auch im Fall der ersten Beispielnorm stellt sich zunächst die Frage, wie die verschiedenen Sinngehalte des Satzes genau zu verstehen sind:

(1) Eine Mathematiklehrkraft soll, auch wenn sie es nicht erzählt, wissen, was Axiomatik ist, und sie soll diese Kenntnis ferner dort, wo sie kann, auch anwenden.

Die Norm, welche in diesem Satz ausgedrückt wird, stellt an Mathematiklehrkräfte also eine doppelte Forderung: Sie fordert erstens, dass sie wissen sollen, was Axiomatik ist, oder, wie man vielleicht auch sagen könnte, was die axiomatische Methode ist. Und sie fordert zweitens, dass Mathematiklehrkräfte in ihrem didaktischen Tun von diesem Wissen auch Gebrauch machen sollen. Diese beiden Teilforderungen werden nun jeweils durch Einschübe genauer spezifiziert. Den zweiten Einschub deute ich so, dass er das unterrichtliche Anwendungsfeld der axiomatischen Denkweise beschränken soll: Die Mathematiklehrkraft soll von ihren Kenntnissen der Axiomatik Gebrauch machen, aber nicht immer und überall, sondern nur dort, wo sie – mit Blick auf ihre Lernenden – kann, das heißt, wo die Anregungen, welche der Mathematikunterricht durch die Anwendung solcher Kenntnisse erfährt, von den Lernenden auch mit Gewinn für ihre mathematische Entwicklung aufgenommen werden können.Footnote 7 Den ersten Einschub verstehe ich ferner als einen Hinweis darauf, dass man das, was eine Mathematiklehrkraft an Orientierungswissen für ihr didaktisches Handeln benötigt, nicht mit dem identifizieren darf, was sie im Mathematikunterricht in expliziter Weise zum Thema macht. Selbst wer der Meinung ist, dass die axiomatische Methode im schulischen Mathematikunterricht als Thema nichts verloren hat, hat damit also – nach Freudenthal – noch keinen zureichenden Grund in der Hand, um rechtfertigen zu können, dass Mathematiklehrkräfte von Axiomatik nichts wissen müssten.

Wie aber, wird man vielleicht zunächst fragen wollen, kann überhaupt in einsichtiger Weise begründet werden, über welches mathematische Wissen eine Mathematiklehrkraft verfügen soll? Wohl nur dadurch, dass man von dem ausgeht, was sie lehren soll. Man muss sich die Lehrkraft gewissermaßen im Kontext einer gewissen mathematischen Bildungspraxis denken. Was sie dann dort aber lehren soll, das hängt wiederum davon ab, was von den Lernenden, die der Lehrkraft in der jeweiligen Bildungspraxis gegenüberstehen, gelernt werden soll. Und wenn sich nun zeigen lässt, dass sich ein gewisser mathematischer Inhalt, der gelernt und also auch gelehrt werden soll, ohne ein bestimmtes Wissen auf Seiten der Lehrkraft nicht in angemessener Weise lehren lässt, so wird man mit Recht sagen können, dass die Lehrkraft über dieses Wissen verfügen soll – oder jedenfalls: dass sie es sich aneignen, es lernen soll.

In der Tat verläuft die Freudenthal’sche Argumentation an der zitierten Stelle so, dass er zu zeigen versucht, dass eine Mathematiklehrkraft, welche nicht weiß, was Axiomatik ist, oder die, wenn sie es denn weiß, von ihren Kenntnissen jedenfalls keinen Gebrauch macht, in bestimmten Fragen, die sich in der Schulmathematik unabweislich stellen – nämlich in Fragen der Erweiterung von Zahlbereichen und der Fortsetzung von Funktionen –, zu keiner sachadäquaten Behandlung gelangen kann. Der Wertgesichtspunkt, unter dem die Lehrkraft und ihr didaktisches Tun hier von Freudenthal auf ihre ‚Güte‘ bewertet wird, ist damit der Gesichtspunkt der Sachadäquatheit. Und der theoretische Gehalt, der sich in (1) und (1′) verbirgt, könnte – nach diesen Vorüberlegungen – vielleicht auf die folgende Weise fixiert werden:

(1″) Nur eine Mathematiklehrkraft, die, auch wenn sie es nicht erzählt, weiß, was Axiomatik ist, und diese Kenntnis, wo sie kann, auch anwendet, kann das große Spektrum der schulmathematischen Erweiterungsprobleme in sachadäquater Weise lehren.

Ich möchte nun die Freudenthal’sche Argumentation genauer nachzeichnen: Angenommen man wohnt dem Mathematikunterricht einer bestimmten Schulklasse bei, in dem gerade die Zahlbereichserweiterung thematisiert wird, die vom Bereich der natürlichen zu dem der ganzen Zahlen führt. Nach einigen einführenden Stunden dringt der Unterrichtsprozess schließlich bis zu der Frage vor, warum eigentlich die Vorzeichenregel ‚Minus mal Minus ergibt Plus‘ gilt. Im Zuge eines Unterrichtsgesprächs kommt es dabei zu der folgenden ErklärungFootnote 8 der Lehrkraft:

‚Nehmen wir uns doch mal ein konkretes Beispiel vor, also etwa die Frage, was minus Drei mal minus Vier ist. Naja, was wissen wir über diese beiden Zahlen? Wir wissen zunächst einmal, dass

$$(-3)+3=0\ \mathrm{und}\ (-4)+4=0$$

ist, denn so haben wir diese beiden negativen Zahlen ja definiert. Wenn wir nun die linke Gleichung auf beiden Seiten mit minus Vier multiplizieren und die rechte Gleichung auf beiden Seiten mit Drei, so erhalten wir

$$((-3)+3)\cdot (-4)=0\cdot (-4)\ \mathrm{und}\ ((-4)+4)\cdot 3=0\cdot 3$$

Und wenn wir nun die Rechengesetze in geschickter Weise anwenden und außerdem ausnutzen, dass Null mal a für jedes beliebige a stets Null ergibt, bekommen wir die beiden Gleichungen:

$$(-3)(-4)+3(-4)=0\ \mathrm{und}\ 3 \cdot 4+3(-4)=0$$

Aber damit sind wir ja schon fast am Ziel. Denn die Gleichsetzung der beiden Terme liefert:

$$(-3)(-4)+3(-4)=3\cdot 4+3(-4)$$

Und dann folgt mit der Kürzungsregel:

$$(-3)(-4)=3\cdot 4.\mathrm{\text{`}}$$

Nach der Entwicklung dieses Gedankengangs fügt die Lehrkraft dann noch resümierend hinzu:

„Das war natürlich kein Beweis, es war nur eine Plausibilitätsbetrachtung. Wir waren ja so übermütig, daß wir schon Eigenschaften wie das distributive Gesetz auf die negativen Zahlen angewandt haben, während wir sie nirgendwo bewiesen hatten.“ (Freudenthal 1973, S. 213)

Und es ist dieser unscheinbare Zusatz, diese Selbstauskunft, welche die Lehrkraft von ihrem eigenen mathematischen Tun gibt, an der sich die Freudenthal’sche Kritik entzündet und die zugleich in der Formulierung der obigen Norm mündet:

„Der Lehrer leugnet also, daß das, was er da betrieben hat, sinnvolle Mathematik war, während es auf den Schüler, wenn er es verstanden hat, den Eindruck einer recht tiefen mathematischen Analyse gemacht haben muß. Der Schüler hat recht, der Lehrer stiftet, wenn er es leugnet, eine heillose Verwirrung. Der Lehrer soll, auch wenn er es nicht erzählt, wissen, was Axiomatik ist, und er soll diese Kenntnis (wo er kann) anwenden.“ (Freudenthal 1973, S. 213)

Freudenthal behauptet also, dass die Mathematiklehrkraft, welche den obigen Gedankengang mit der Einschätzung beschließt, dass durch das Vorherige nichts bewiesen worden sei, ihr eigenes mathematisches Tun missversteht. Und er behauptet weiter, dass ein rechtes Verständnis dieses Tuns voraussetzt, dass die Lehrkraft weiß, was Axiomatik ist. Wie ist das zu verstehen? Es ist vermutlich so zu verstehen, dass eine Aufklärung des logischen Sinns von Permanenzüberlegungen, wie sie die Lehrkraft in ihrer obigen Erklärung vornimmt, ergeben würde, dass hier 1) in Wahrheit eine ganze Menge bewiesen wird und dass 2) der Stil der Begründung, der in derartigen Überlegungen zum Tragen kommt, gerade einem bestimmten Aspekt der axiomatischen Methode entspricht. Beide Punkte möchte ich kurz erläutern:

Zu 1) Es ist zwar durchaus zutreffend, dass man bei Erweiterungsproblemen, wie z. B. bei der Erweiterung der Zahlbereiche oder bei der Fortsetzung von Funktionen, die Existenz einer Erweiterung niemals durch Permanenzüberlegungen beweisen kann. Aber daraus folgt noch nicht, dass durch eine Permanenzüberlegung überhaupt nichts bewiesen würde. Denn bei Erweiterungsproblemen stellt sich ja nicht bloß die Frage, ob eine Erweiterung existiert, die gewissen Permanenzforderungen genügt, sondern es fragt sich ferner auch, ob eine solche Erweiterung überhaupt existieren kann und wie sie, wenn sie denn existiert, aussehen kann – oder gegebenenfalls sogar: wie sie aussehen muss. Neben die Existenzfrage tritt also ein Komplex von Fragen, welche man an die geforderte Erweiterung als solche stellen kann, also an die Erweiterung, insofern man von ihr einzig und allein weiß, dass sie gewisse Permanenzforderungen erfüllen soll.

Und mit Blick auf diesen zweiten Fragekomplex kann man, mit Hilfe von Permanenzüberlegungen, eben eine ganze Menge beweisen: So kann man z. B. zeigen, dass es unmöglich ist, den Zahlbereich der reellen Zahlen um eine Zahl zu erweitern, welche die Gleichung \(x^{2}=-1\) löst, solange man fordert, dass die üblichen Operations- und Ordnungsgesetzmäßigkeiten auch im Erweiterungsbereich fortgelten sollen. Und man beweist diese Unmöglichkeit, indem man zeigt, dass eine Erweiterung, welche diesen Forderungen genügt, in widersprüchlicher Weise bestimmt ist. Ein derartiger Erweiterungsbereich kann nicht existieren, weil er sich nicht einmal widerspruchsfrei denken lässt (Freudenthal 1973, S. 215; Oberschelp 1972, S. 157–158). In anderen Fällen, wie z. B. im Fall der Fortsetzung der Potenzoperation für gebrochene Exponenten, kann man dagegen zeigen, dass eine Funktionsfortsetzung, bei der die üblichen Potenzgesetze erhalten bleiben, zwar möglich ist, dass sie aber, durch die erhobene Permanenzforderung, noch nicht in eindeutiger Weise bestimmt ist. Da die Gleichung \(x^{n}=a^{m}\) für positives reelles a, natürliches m und gerades natürliches n zwei Lösungen hat, nämlich \(\sqrt[n]{a^{m}}\) und \(-\sqrt[n]{a^{m}}\), muss man sich, wenn man denn eine Funktionsfortsetzung haben möchte, also die Eindeutigkeit des Resultats der Potenzoperation in der Fortsetzung erhalten will, für eine dieser beiden Optionen entscheiden (Kambartel 1961, S. 77). Und schließlich ergibt sich für die Permanenzüberlegung im Fall der Zahlbereichserweiterung zu den ganzen Zahlen, dass auch hier wirklich etwas bewiesen wird: „Es ist nicht eine Plausibilitätsbetrachtung, sondern es wird gezeigt, daß, wenn es überhaupt möglich ist, den Zahlbegriff und die Operationen von den natürlichen zu den ganzen Zahlen zu erweitern, so daß die üblichen Gesetze erhalten bleiben, das Resultat jedenfalls eindeutig bestimmt ist. Es gibt höchstens eine solche Fortsetzung“ (Freudenthal 1973, S. 213).

Mit Hilfe von Permanenzüberlegungen können bei Erweiterungsproblemen also mindestens zwei Arten von Resultaten erzielt werden: Erstens kann in gewissen Fällen die Unmöglichkeit einer Erweiterung bewiesen und damit die Frage nach ihrer Existenz negativ beantwortet werden. Wo immer sich aus Permanenzforderungen ein Widerspruch ableiten lässt, muss konstatiert werden: Weil die Erweiterung durch die Permanenzforderung in widersprüchlicher Weise bestimmt ist, kann sie nicht existieren. Zweitens kann durch Permanenzüberlegungen in vielen Fällen bewiesen werden, welche möglichen Formen die Erweiterung annehmen kann und gegebenenfalls annehmen muss: Wenn es eine Erweiterung gibt, welche der jeweiligen Permanenzforderung genügt, dann ist sie durch diese Forderung jedenfalls in der-und-der Weise bestimmt.

Zu 2) Wer dies aber in angemessener Weise erfassen, wer den logischen Sinn einer Permanenzüberlegung mit Verständnis durchdringen will – und das ist der Punkt, an dem sich der Kreis der Freudenthal’schen Argumentation schließt –, der muss sich mit einem gewissen Aspekt des axiomatischen Denkens vertraut gemacht haben. Nur wer weiß, was Axiomatik ist, nur wer gelernt hat, was es heißt, die Geltung eines Systems von Axiomen hypothetisch anzusetzen, seine Konsequenzen deduktiv zu entwickeln und aus diesen Entwicklungen dann wiederum Einsichten in die Struktur möglicher Modelle für dieses Axiomensystem zu gewinnen, kann den logischen Sinn einer Permanenzüberlegung vollständig erfassen.

Sofern man der Stichhaltigkeit dieser Argumentation, die sicher noch an einigen Stellen ergänzungsbedürftig ist, nun aber im Großen und Ganzen zustimmt, und weiter eine mathematische Bildungspraxis voraussetzt, in der die Sachadäquatheit in der Behandlung mathematischer Inhalte zum obersten Grundwert erklärt wurdeFootnote 9, so lässt sich aus der skizzierten Argumentation ein praktischer Normvorschlag für eine solche Bildungspraxis gewinnen. In jeder mathematischen Bildungspraxis, in der mathematische Inhalte zunächst einmal in sachgerechter Weise unterrichtet werden sollen, sollen diejenigen, welche die Verantwortung für diesen Unterricht tragen, also die Mathematiklehrkräfte, wohl auch über das Wissen verfügen, welches für eine sachgerechte Behandlung dieser Inhalte notwendig ist. Und damit es nicht bei einem bloßen Wissen bleibt, sondern dieses Wissen vielmehr auch Einfluss auf die unterrichtliche Kommunikation und damit mittelbar auch auf die mathematische Entwicklung der Lernenden gewinnen kann, soll die Lehrkraft von ihren Kenntnissen auch Gebrauch machen, sie also, wo immer sie kann, für die unterrichtliche Behandlung dieser Inhalte fruchtbar machen.

Aber kann sie es in dem gegebenen Fall? Kann die Lehrkraft die Vorzeichenregel im schulischen Mathematikunterricht so behandeln, wie Freudenthal es vorgeschlagen hat, ohne ihre Lernenden zu überfordern? Ist eine solche Behandlung also nicht bloß ‚sachadäquat‘, sondern auch ‚kindgemäß‘? Und wenn sie es ist, ist sie es dann schon zu dem Zeitpunkt, an dem die Lernenden zum ersten Mal mit den ganzen Zahlen in Berührung kommen oder erst in einer späteren Rückschau? Hierzu bemerkt Heinrich Winter: „Über diesen gewollt unanschaulichen Zugang [im Sinne Freudenthals] kenne ich keine Unterrichtserfahrungen. M. E. erfordert er einen zu langen algebraischen und deduktiven Atem. Möglicherweise ist er auf späterer Stufe sinnvoll“ (Winter 2016, S. 180).

Die Frage, ob die Mathematiklehrkraft von ihren Kenntnissen der Axiomatik an dieser Stelle Gebrauch machen soll, verweist also letztlich auf gewisse empirische Fragen. Ihre Beantwortung setzt empirische Untersuchungen voraus, die Aufschluss darüber geben, wann eine solche Permanenzüberlegung in welcher Gestalt von Lernenden welchen Alters und vor dem Hintergrund welcher Vorerfahrungen mit Gewinn für ihre mathematische Entwicklung aufgenommen werden kann.

5 Zur Unterscheidung zwischen empirischer und rationaler Forschung

Mathematikdidaktische Normenforschung in theoretischer Richtung kann also zweierlei bedeuten: Einerseits können – in empirischer Forschungseinstellung – die wirklichen Normen gewisser mathematischer Bildungspraxen rekonstruiert, verglichen und auf ihre faktischen Regelmäßigkeiten untersucht werden. Andererseits können alle wirklichen und möglichen Normen mathematischer Bildungspraxen aber auch als bloße Sinngebilde erforscht und, wie ich im letzten Abschnitt gezeigt habe, auf ihre impliziten theoretischen Gehalte befragt werden. Fixiert man diese theoretischen Gehalte dann wiederum in Sätzen, so entsteht eine zweite Aufgabe für die theoretisch gerichtete Normenforschung, nämlich die Aufgabe, diese theoretischen Sätze auf ihre Wahrheit zu prüfen und so die Richtigkeitsfrage für gewisse Normen zu einer begründeten Entscheidung zu bringen.

In der Diskussion der beiden Beispiele traten dabei einige methodologische Aspekte hervor, die bei der Bearbeitung dieser Aufgabe zu berücksichtigen sind: Erstens zeigte sich, dass sich Normen nicht in Isolation begründen lassen. Schon eine kurze Besinnung auf die Frage, wie man überhaupt begründen kann, über welches Wissen eine Mathematiklehrkraft verfügen soll, sensibilisierte etwa dafür, dass die Beantwortung dieser Frage die Klärung weiterer Fragen voraussetzt, nämlich z. B. der Frage, wem diese Lehrkraft welche mathematischen Inhalte in welchem Zeitraum und auf welcher Stufe ihrer mathematischen Entwicklung lehren können soll. Sodann zeigte sich zweitens, dass normative Richtigkeiten stets relative Richtigkeiten sind, dass sich also, je nach mathematischer Bildungspraxis und dort herrschender Werthierarchie, richtige Normen in falsche verwandeln können und umgekehrt: Würde man z. B. eine mathematische Bildungspraxis voraussetzen, welche sich im Umgang mit den verschiedenen Zahlbereichen das oberste Ziel gesetzt hat, den Erwerb praktischer Rechenfertigkeiten zu befördern, so würde sich eine Behandlung der Vorzeichenregel im Stile Freudenthals, die ja in erster Linie aus gewissen theoretischen Bedürfnissen entspringt, wohl nur noch schwerlich rechtfertigen lassen. Und entsprechend würde man in einer solchen Bildungspraxis dann vermutlich auch Schwierigkeiten bekommen, noch plausibel zu machen, warum eine Lehrkraft, die dort tätig ist, über vertiefte Kenntnisse der axiomatischen Methode verfügen sollte. Schließlich zeigte sich in der Diskussion der beiden Beispielnormen drittens, dass auf den Wegen einer praktisch gerichteten Normenforschung nicht allein theoretische Forschungsfragen liegen, die durch empirische Forschung beantwortet werden können, sondern auch solche, die sich einem empirischen Zugriff entziehen. So lässt sich z. B. die Wahrheit von logischen oder epistemologischen Sätzen, wie sie in der Diskussion der beiden Beispielnormen auftraten, überhaupt nur in einer rationalen Forschungseinstellung begründet ausweisen. Diesen letzten Punkt möchte ich nun ins Blickzentrum rücken und herausarbeiten, wie sich empirische und rationale Forschung voneinander unterscheiden.

Der Bezeichnung nach orientiere ich mich an einem Aufsatz von Wilhelm Windelband (Windelband 1904). Der Sache nach geht die Unterscheidung zwischen empirischer und rationaler Forschung jedoch mindestens auf Kant zurück (z. B. Kant 1995, S. 46–48, 2019, S. 8) und sie findet sich, wenn auch in anderer Terminologie, auch bei Husserl (z. B. Husserl 1992b, S. 12–13, 1992c, S. 181) oder Habermas (z. B. Habermas 1989b, S. 363–370). Unter empirischer Forschung verstehe ich alle Forschungsbemühungen, die ihr Forschungsinteresse auf zeitlich individuierte Forschungsgegenstände richten (vgl. Husserl 1992a, S. 167) und sich daher zur Begründung ihrer Forschungsresultate durchweg auf Erfahrung berufen müssen (vgl. Windelband 1904, S. 8). Unter rationaler Forschung verstehe ich dagegen alle Forschungsbemühungen, deren Forschungsinteresse sich auf Forschungsgegenstände richtet, die „keine sie individuierend bindende Zeitstelle haben“ (Husserl 1992a, S. 167), und deren Forschungsresultate sich daher durch Erfahrung, die ja stets nur individuelle Gegenstände vorstellig werden lässt, weder bekräftigen noch widerlegen lassen. Formelhaft könnte man vielleicht sagen: Während die empirische Forschung Wirklichkeitsfragen untersucht, richtet sich das Erkenntnisinteresse der rationalen Forschung auf Möglichkeitsfragen.

Wie das genau zu verstehen ist, möchte ich nun zeigen, indem ich die bisherigen Überlegungen unter diesem Gesichtspunkt erneut diskutiere: Im letzten Abschnitt habe ich u. a. die Frage untersucht, ob sich Mathematiklernende in ihren geometrischen Begründungen auf Messungen an gezeichneten Figuren stützen dürfen. Geht man diese Frage in empirischer Forschungseinstellung an, so bezieht sie sich auf die faktischen Normbestände einer gewissen mathematischen Bildungspraxis: Man beobachtet, wie sich Lehrende und Lernende in geometrischen Begründungssituationen verhalten, rekonstruiert daraufhin, welche Normen das Verhalten der Beteiligten in diesen Situationen regulieren, und kann so entscheiden, ob die Lernenden in dieser Praxis zu einem derartigen Begründungshandeln berechtigt sind oder nicht. Man kann diese Frage aber auch noch, und so bin ich oben vorgegangen, in einer zweiten Weise auffassen. Man kann von einem gewissen Typus der mathematischen Bildungspraxis ausgehen und diesen Typus auf den geometrischen Erkenntnisstil befragen, der für eine solche Bildungspraxis charakteristisch ist. So habe ich z. B. die Behandlungsweise geometrischer Fragestellungen auf Hoch- und Grundschulniveau miteinander kontrastiert und dabei gezeigt, dass an geometrische Begründungen auf diesen beiden Erkenntnisniveaus unterschiedliche Standards angelegt werden müssen. Solange die Geometrie eine Erfahrungswissenschaft ist und von den Formen und Größen der realen Dinge handelt, stellen Messungen an gezeichneten Figuren ein legitimes Begründungsmittel dar. Sobald sie aber zur Wissenschaft von den idealen Raumgebilden geworden ist, können Messungen an gezeichneten Figuren in Begründungsfragen nichts mehr ausrichten.

Mit solchen epistemologischen Überlegungen untersucht man die jeweiligen mathematischen Bildungspraxen dann nicht mehr aus einer empirischen Forschungseinstellung und befragt sie als diese faktischen Gegebenheiten der Erfahrungswelt. Sondern man nimmt ihnen gegenüber eine rationale Forschungseinstellung ein, löst sich vom Kreis der Fragen, der mit den sie ‚individuierend bindenden Zeitstellen‘ zu tun hat und erkennt die mathematischen Bildungspraxen „aus Gesetzen ihrer reinen Möglichkeit“ (Husserl 1989, S. 17). Epistemologische Überlegungen, wie sie oben angedeutet wurden, betreffen nicht die Wirklichkeit der geometrischen Erkenntnistätigkeit, wie sie sich in dieser oder jener konkreten Bildungspraxis vollzieht, sondern sie zielen auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit: Auf dem Erkenntnisniveau der Hochschule ist die bloße Möglichkeit, im geometrischen Begründen eine gültige Begründung hervorzubringen, notwendigerweise an die Bedingung geknüpft, dass sich die hervorgebrachte Begründung in keinem ihrer Schritte auf Messungen an gezeichneten Figuren stützt. Und dass sich in einer solchen rationalen Erkenntnis – trotz der Anbindung des Erkenntnisniveaus an die faktische Organisation der Hochschule – auch wirklich kein empirischer Rest aufweisen lässt, zeigt sich daran, dass man zu ihrer Begründung nicht etwa auf diese Organisation und ihre faktischen Abläufe, sondern allein auf den Sinn der geometrischen Ausdrücke und Sätze hinblicken muss, die in ihr verwendet werden. Eine bloße Auslegung des Sinns dieser Ausdrücke und Sätze zeigt, dass hier von gezeichneten Figuren oder sonstigen Erfahrungsgegenständen überhaupt nicht die Rede ist.

Noch deutlicher zeigte sich diese Sachlage im Fall der ersten Beispielnorm. Denn hier nahmen die Überlegungen ja erst gar nicht ihren Ausgang von einer wirklichen Mathematiklehrkraft in einer wirklichen Bildungspraxis. Die Freudenthal’sche Argumentation setzte vielmehr bei einer imaginierten Erklärung einer imaginierten Lehrkraft an. Und doch war es möglich, in begründeter Weise zu entscheiden, ob die Mathematiklehrkraft mit ihrer Einschätzung richtig liegt, dass durch eine Permanenzüberlegung nichts bewiesen werden kann. Es kam also gar nicht darauf an, ob es die Lehrkraft wirklich gibt, ob sie ihre Erklärung wirklich in einer bestimmten mathematischen Bildungspraxis vorgetragen hat, ob sie damit Erfolg hatte oder Widerspruch geerntet hat usw. Für die Frage, ob die Lehrkraft mit ihrer Einschätzung richtig liegt, war vielmehr allein eine rationale Analyse des logischen Sinns von Permanenzüberlegungen von Relevanz, eine Analyse, durch die ohne jeden Rekurs auf Erfahrung geklärt werden kann, welche Arten von mathematischen Aussagen durch solche Überlegungen bewiesen werden können und welche nicht. Und eine solche, in rationaler Forschungseinstellung durchgeführte Analyse zeigte eben, dass sich zwar Aussagen über die Existenz einer gesuchten Erweiterung durch eine Permanenzüberlegung nicht beweisen lassen, dass solche Überlegungen aber sehr wohl Fragen, welche die eindeutige, mehrdeutige oder widersprüchliche Bestimmtheit der gesuchten Erweiterung betreffen, in begründeter Weise entscheiden können.

6 Zu den Kooperationsmöglichkeiten zwischen empirischer und rationaler Forschung

Eine wichtige Aufgabe der mathematikdidaktischen Normenforschung in praktischer Richtung besteht in der Ausarbeitung und Begründung von Normen für die mathematische Bildungspraxis. Die bisherigen Überlegungen haben bereits gezeigt, dass sich diese praktische Aufgabe nur im Verbund mit Forschungsbemühungen verwirklichen lässt, die in theoretischer Richtung liegen. Jeder Versuch, die Richtigkeit einer Norm zu begründen, führt notwendigerweise zu gewissen theoretischen Fragen, welche die theoretischen Gehalte betreffen, die im Sinn einer jeden Norm implizit enthalten sind. Anders gesagt: Ob eine Norm richtig ist, das hängt immer auch davon ab, ob gewisse theoretische Sätze wahr sind. Und da diese theoretischen Sätze mal von reinen Möglichkeiten, mal von empirischen Wirklichkeiten und mal von einer Mischung aus beidem handeln, muss sich die mathematikdidaktische Normenforschung sowohl rationaler als auch empirischer Forschungsmethoden bedienen. So zeigte sich z. B. in der Diskussion der Freudenthal’schen Norm, dass in ihr sowohl empirische als auch rationale Theoriegehalte enthalten sind: Ob eine gewisse Behandlungsweise eines mathematischen Inhalts sachadäquat ist, ist eine Frage, die sich nur in rationaler Forschungseinstellung beantworten lässt; ob sich dieser Zugang dann aber auch als kindgerecht entpuppt, kann nur durch Untersuchungen in empirischer Forschungseinstellung geklärt werden. Die Annäherung an die mathematische Bildungspraxis erfolgt hier also durch ein Zusammenspiel aus rationaler und empirischer Forschung.

Ich möchte nun kurz andeuten, wie ein solches Zusammenspiel konkret aussehen könnte. Zu diesem Zweck gehe ich von den folgenden beiden Beispielnormen aus:

(3) Studierende sollen sich in ihren geometrischen Begründungen nicht auf Messungen an gezeichneten Figuren stützen.

(4) Eine Dozierende, die erreichen will, dass (3) im Kontext einer universitären Lehrveranstaltung eine positive Geltung erlangt, darf Situationen der Normverletzung nicht dauerhaft unkommentiert lassen, sondern soll sie im Rahmen der Lehrveranstaltung zumeist als solche markieren.

Der theoretische Gehalt, der in (3) implizit enthalten ist, lässt sich vermutlich, wie ich im vierten Abschnitt angedeutet habe, unter geeigneten Voraussetzungen durch rationale Forschung begründen. Die zweite Norm impliziert dagegen einen theoretischen Gehalt, dessen Verifikation allein in empirischer Forschung gelingen kann. Soll dieser Gehalt in einem Satz fixiert werden, so könnte man formulieren:

(4′) Eine Dozierende, die erreichen will, dass (3) im Kontext einer universitären Lehrveranstaltung positive Geltung erlangt, kann diesen Zweck nur erreichen, wenn sie Situationen der Normverletzung nicht dauerhaft unkommentiert lässt, sondern sie im Rahmen der Lehrveranstaltung zumeist als solche markiert.

Der Satz behauptet also, dass ein bestimmtes Zweck-Mittel-Verhältnis besteht. Ob ein vorgegebener Zweck aber durch gewisse Mittel erreicht werden kann oder nicht, das ist eine empirische Frage. Es ist die Frage, ob bestimmte Ursachen (= die Mittel) mit kausaler Notwendigkeit – oder jedenfalls: mit einer gewissen, empirisch näher zu bestimmenden Wahrscheinlichkeit – eine gewisse Wirkung (= den Zweck) bewirken. Nun wird man davon ausgehen müssen, dass es kausale Notwendigkeiten im Bildungsgeschehen nicht geben kann. Dass das behauptete Zweck-Mittel-Verhältnis aber im Sinne eines Wahrscheinlichkeitszusammenhanges tatsächlich bestehen könnte, lässt sich auch schon durch rationale Überlegungen plausibel machen: Geht man davon aus, dass es sich bei Normen um kontrafaktisch stabilisierte Erwartungserwartungen (vgl. Abschn. 2) handelt, so erscheint es plausibel, dass eine Dozierende den angestrebten Zweck nur schwerlich erreichen kann, wenn sie Normverletzungen fortlaufend unkommentiert lässt. Denn nur wenn die Studierenden im Verlauf der Lehrveranstaltung zu erwarten lernen, dass von ihnen erwartet wird, in ihren Begründungen nicht mit Messresultaten zu operieren, kann die Norm eine positive Geltung erlangen. Bleibt aber eine Thematisierung von Normverletzungen dauerhaft aus, so werden die Lernenden kaum genügend Anlässe erhalten, die Norm als solche zu erfahren; und es erscheint dann zumindest einigermaßen unwahrscheinlich, dass sie Erwartungen in der gewünschten Richtung ausbilden. Wenn der Rekurs auf Messresultate z. B. in den wöchentlichen Übungsaufgaben keine Punktabzüge nach sich zieht und derartige Begründungen auch in den vorlesungsbegleitenden Übungen stets unkommentiert bleiben, so wird man vermuten können, dass die Studierenden durch diese Erfahrungen lernen, dass Messungen an gezeichneten Figuren ein legitimes Begründungsmittel darstellen. Ob es sich nun aber faktisch auch so verhält, wie es die rationale Forschung vermuten lässt, das lässt sich allein durch Empirie entscheiden. Und hier scheint es zumindest so zu sein, dass die empirischen Resultate dieser Vermutung nicht widersprechen (z. B. Heller 2015, S. 194–203).

Vor dem Hintergrund dieser Analysen lässt sich nun noch eine weitere These zum Verhältnis von empirischer und rationaler Forschung gewinnen. Es scheint nämlich so zu sein, dass der Bearbeitung rationaler Forschungsfragen mit Blick auf die Verwirklichung der Idee einer mathematikdidaktischen Normenforschung eine privilegierte Stellung zukommt. Denn die empirische Forschungsfrage entstand ja im obigen Fall überhaupt erst unter der Voraussetzung, dass der Zweck von der Lehrkraft gewollt wird. Ob dieser Zweck von ihr aber auch gewollt werden sollte, ist eine Frage, die, weil sie sich um die Richtigkeit der in (3) ausgedrückten Norm dreht, wiederum nur durch rationale Forschung entschieden werden kann. Weil (3) eine epistemologische Wahrheit im Rücken hat, die besagt, dass sich in einer gültigen geometrischen Begründung – auf dieser mathematischen Erkenntnisstufe – keine Messungen an gezeichneten Figuren befinden können, erhält die in (4) ausgedrückte Norm eine abgeleitete Richtigkeit und damit erst ihre Relevanz für eine mathematikdidaktische Normenforschung in praktischer Richtung.

Empirische Fragen ergeben sich in der Normenbegründung also häufig erst in einem abgeleiteten Sinne. Sie bleiben in ihrer didaktischen Relevanz zurückbezogen auf gewisse Normen, deren Richtigkeit sich nur durch rationale Forschung begründet ausweisen lässt. Und ganz ähnlich verhielt es sich ja auch im Fall der Freudenthal’schen Norm. Auch hier war die empirische Frage, an welcher Stelle ihrer schulischen Laufbahn sich eine Lernende typischerweise befinden muss, um eine Behandlung von Erweiterungsproblemen durch Permanenzüberlegungen wirklich verstehen zu können, in gewisser Weise eine nachgeordnete Frage. Nur weil die rationale Erforschung des logischen Sinns von Permanenzüberlegungen ergeben hatte, dass hier ein sachgerechter Zugang zu einem gewissen Aspekt der Erweiterungsproblematik vorliegt, stellte sich daraufhin die Frage, unter welchen faktischen Voraussetzungen ein solcher Zugang von Lernenden mit Gewinn für ihre mathematische Entwicklung aufgenommen werden könnte.

Es gibt in der mathematikdidaktischen Normenforschung also so etwas wie einen Primat der rationalen Forschung. Und es scheint mir wichtig zu sein, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass eine gewisse Fassung dieses Primats in der Stoffdidaktik – oder wie Griesel (2013, S. 19) sagt: im „gegenstands-theoretischen Strang“ der Mathematikdidaktik – seit Langem vertreten wird. So hat z. B. bereits Walter Breidenbach dafür argumentiert, dass überhaupt nur ‚kindgemäß‘ sein kann, was jedenfalls auch ‚sachgerecht‘ ist (Breidenbach 1950, S. 18–19). Diese These lässt sich nun m. E. überhaupt erst in ihrer eigentlichen Tragweite verständlich machen, wenn man sie vor der Folie der Unterscheidung zwischen rationaler und empirischer Forschung interpretiert. Breidenbach räumt hier eben der rationalen Forschungsaufgabe einer „Sachanalyse des abstrakten Gegenstandes“ (Breidenbach 1950, S. 19) in Fragen der Gestaltung des Mathematikunterrichts einen Vorzug gegenüber allen empirischen Fragen ein, welche die „geistig-seelische Lage des Kindes“ (Breidenbach 1950, S. 18) betreffen. Nach welchen psychologischen Gesetzmäßigkeiten Kinder gewisse mathematische Inhalte lernen und in welchem Alter sie in ihrer Entwicklung für gewöhnlich so weit sind, dass sie diese Inhalte überhaupt lernen können, sind Beispiele für empirische Fragen, welche die ‚geistig-seelische Lage des Kindes‘ betreffen. Welchen Gesetzmäßigkeiten die jeweiligen mathematischen Gegenständlichkeiten aber unterworfen sind, wie diese Gesetzmäßigkeiten miteinander zusammenhängen und wie sich das Gebiet, dem die Gegenständlichkeiten angehören, in das Gesamtgebiet der Mathematik einordnen lässt, sind Beispiele für Fragen, die sich nur durch eine ‚Sachanalyse des abstrakten Gegenstandes‘ und damit durch rationale Forschung beantworten lassen. Und wenn man nun ferner voraussetzt, dass Kinder und Jugendliche im Mathematikunterricht die Möglichkeit erhalten sollen, das mathematische Denken und Erkennen zu erlernen, so wird deutlich, warum den rationalen Fragen ein Primat vor den empirischen Fragen eingeräumt werden muss. Denn nur wer die gesetzlichen Strukturen der mathematischen Sache sowie ihren eigentümlichen Ort im mathematischen Gesamtgebiet bereits kennt, kann in einem zweiten Schritt danach fragen, ob und inwieweit man es faktischen Kindern oder Jugendlichen eines bestimmten Alters in faktischem Mathematikunterricht zumuten kann, sich an diesen ‚mathematischen Ort‘ zu begeben und die mathematische Sache in ihrer Gesetzlichkeit zu erkennen.

Entsprechend argumentiert dann auch Freudenthal, wenn er für die Behandlung schulmathematischer Erweiterungsprobleme die folgende Empfehlung ausspricht:

„In allen Fällen von Zahl-Neuerfassungen und Operationserweiterungen ist der erste Teil der Fortsetzung auf ziemlich niedriger Stufe des Lernprozesses möglich. Für die andere Hälfte, die Existenz der Erweiterung, muß der Schüler wenigstens so weit sein, daß die mathematische Frage, ob dieses oder jenes existiert – ich meine nicht im Gegebenen, sondern als Neuzuschöpfendes – für ihn einen Sinn haben […] Es ist ein paradoxer Zustand, daß manche Lehrbücher statt der Einzigkeit, die realisierbar wäre, die Existenz zu beweisen versuchen, was, wenn es schon mathematisch gelingt, leicht auf eine Katastrophe hinauslaufen kann.“ (Freudenthal 1973, S. 214).

Unter all demjenigen, was zu einer sachgerechten Behandlung von Erweiterungsproblemen gezählt werden kann, gilt es dasjenige zu identifizieren, was auf ‚niedriger Stufe des Lernprozesses möglich‘ erscheint. Ob es aber auch möglich ist oder ob der Schein, wie Winter (2016, S. 180) vermutet hat, an dieser Stelle nicht vielleicht trügt, das kann nicht durch eine rationale Überlegung, sondern allein durch empirische Forschung entschieden werden.

7 Schluss

Ich habe diesen Beitrag mit einer kurzen Erörterung des theoretisch-praktischen Doppelcharakters der Mathematikdidaktik begonnen. Sobald sich die Mathematikdidaktik aber nicht allein als theoretische Disziplin versteht, sondern auch mit praktischen Forschungszielen an die mathematische Bildungspraxis herantritt, stößt sie früher oder später auf das Problem der Normenbegründung. Denn sowohl die Kritik bestehender mathematischer Bildungspraxen als auch die Ausarbeitung konstruktiver Normvorschläge für alternative Praxen setzen gewisse normative Maßstäbe voraus. Und ihre Überzeugungskraft steht und fällt daher mit der Möglichkeit, die Richtigkeit dieser Normen in einsichtiger Weise zu begründen. Ich habe dieses methodologische Problem ins Zentrum dieses Beitrags gerückt und mich ausführlich mit der Frage der Normenbegründung auseinandergesetzt. Anstatt jedoch den Gang der Argumentation an dieser Stelle noch einmal in komprimierter Weise zu wiederholen, möchte ich den Beitrag mit dem Versuch beschließen, die bisherigen Einsichten für eine Grundfrage der mathematikdidaktischen Forschung auszuwerten:

Kann es universelle Normen der mathematischen Bildungspraxis geben?

Versteht man unter universellen Normen solche Normen, deren Richtigkeit für jede überhaupt nur denkbare mathematische Bildungspraxis begründet werden kann, so muss die Antwort auf diese Frage m. E. negativ ausfallen. Erstens muss beachtet werden, dass alle normativen Richtigkeiten relative Richtigkeiten sind. Sie bleiben in ihrer Richtigkeit stets auf einen obersten Grundwert bezogen, sodass, sobald dieser Grundwert ausgetauscht wird, aus richtigen Normen falsche werden können und umgekehrt. Man wird daher etwa, wie die obige Diskussion gezeigt hat, einer mathematischen Bildungspraxis, welche sich das oberste Ziel gesetzt hat, den Erwerb praktischer Rechenfertigkeiten zu fördern, andere Normen anempfehlen müssen als einer mathematischen Bildungspraxis, welche ihren Lernenden tiefere Einsichten in die Struktur von Zahlbereichserweiterungen zu vermitteln versucht. Zweitens hat sich ergeben, dass sich richtige Normen unter Umständen sehr unterschiedlich ausgestalten können, je nachdem, für welche Bildungspraxis sie konkretisiert werden. So stehen beispielsweise geometrische Begründungen im Mathematikunterricht der Grundschule unter anderen normativen Anforderungen als im universitären Mathematikstudium. Es muss, mit anderen Worten, berücksichtigt werden, dass es „Mathematiken verschiedener Höhenlage[n]“ (Drenckhahn 1978, S. 4) gibt. Und es wäre daher grundverkehrt, wollte man geometrische Begründungen im Kontext der Grundschule an den Normen der Hochschulmathematik messen oder umgekehrt.

Universelle Normen in einem absoluten Sinn, der sich auf jede mögliche mathematische Bildungspraxis erstreckt, kann es also vermutlich nicht geben. Aber selbst dann, wenn man die Relativität normativer Richtigkeiten in dieser doppelten Hinsicht zugesteht, könnte man immer noch nach Normen von ‚relativer Universalität‘ fragen. Es könnte ja durchaus sein, dass sich erstens ein bestimmter Wert über alle möglichen mathematischen Bildungspraxen hinweg als oberster Grundwert festhalten lässt; dass sich zweitens – mit Blick auf diesen Grundwert – in rationaler Forschung normative Richtigkeiten gewinnen lassen, die sich durch eine gewisse Formalität oder Unbestimmtheit auszeichnen und daher auf sehr verschiedene mathematische Bildungspraxen angewendet werden können; sodass man schließlich drittens damit beginnen kann, diese Normen – unter Berücksichtigung der faktischen Umstände – für mathematische Bildungspraxen unterschiedlicher ‚Höhenlagen‘ zu konkretisieren.

Ein erster konkreter Ansatzpunkt für ein solches Forschungsprogramm bestünde dann wohl darin, zunächst eine rationale Theorie der mathematischen Entwicklung auszuarbeiten, also 1) die ‚Mathematiken verschiedener Höhenlagen‘ in empirisch-historischer Forschung zu identifizieren und sie dann – in rationaler Forschungseinstellung – auf ihren eigentümlichen Erkenntnisstil zu befragen (Was zeichnet mathematische Gegenständlichkeiten auf der jeweiligen Stufe aus? Welche Formen nehmen mathematische Aussagen, die sich über diese Gegenständlichkeiten aufstellen lassen, hier an? Und durch welche Arten von Evidenz können diese Aussagen stufengemäß als wahr oder falsch ausgewiesen werden?); sowie 2) zu klären, wie sich die Übergänge zwischen den mathematischen Erkenntnisstufen ausgestalten (Wie kann man sich überhaupt zum ersten Mal in die mathematische Erkenntnissphäre erheben? Und wie sind dann die Übergänge beschaffen, durch welche man von einer bestimmten Stufe aus zur nächsthöheren Stufe gelangt? Wie verändert sich bei diesen Übergängen der Bestand an mathematischen Wahrheiten sowie das gegenständliche Forschungsfeld?). Die theoretischen Sätze, die man durch solche epistemologischen Analysen der verschiedenen mathematischen Erkenntnisstile gewinnt, können dann in normative Richtigkeiten verwandelt werden, sofern man eine mathematische Bildungspraxis voraussetzt, welche die Förderung der mathematischen Entwicklung zu ihrem obersten mathematikbezogenen Bildungsziel erklärt hat. Schließlich müsste man dann, in einem letzten Schritt, noch 3) umfassende empirische Forschungen dazu anstellen, wie mathematische Bildungspraxen konkret beschaffen sein müssen, damit Kinder, Jugendliche oder Erwachsene durch ihre Teilnahme an diesen Praxen die Möglichkeit bekommen, sich auf der Leiter der mathematischen Erkenntnisstufen Schritt für Schritt hinaufzubewegen. Am Ende dieses Forschungsweges, der sich wohl nur arbeitsteilig verwirklichen ließe, stünde also die Aufgabe, die einsichtig begründeten Normen für gewisse empirische Typen von mathematischen Bildungspraxen weiter zu konkretisieren (also z. B. für den Mathematikunterricht an deutschen Grundschulen oder für die ersten Studienjahre des universitären Mathematikstudiums). Aber auch nach diesem letzten Schritt würden natürlich noch immer zahlreiche Freiräume und Unbestimmtheiten verbleiben. Denn die letzte Konkretion leistet stets die jeweilige mathematische Bildungspraxis selbst.

Mit diesen Überlegungen ist nun, wenn auch zugegebenermaßen noch mit recht groben Pinselstrichen, die Idee einer mathematikdidaktischen Normenforschung gezeichnet, in der sich die praktische und die theoretische Richtung der mathematikdidaktischen Forschung in produktiver Weise zu einem einzigen Forschungsprogramm zusammenschließen.