1 Einleitung

In vielen internationalen Standards für den Mathematikunterricht der Grundschule wird als bedeutsames Bildungsziel beschrieben, dass Schülerinnen und Schüler kreativ tätig werden sollen (OECD 2019). In den deutschen Bildungsstandards heißt es bspw., dass alle Schulkinder die Kompetenz zum „kreativen Entwickeln neuartiger Lösungsideen“ (KMK 2022, S. 10) erwerben sollen. Ähnlich ist auch im australischen Kerncurriculum festgeschrieben, dass „in mathematics, students develop critical and creative thinking“ (ACARA 2020, S. 13). Ein genauer Blick auf diese und ähnliche Beispiele zeigt, dass der Wunsch nach einer schulischen Förderung von Kreativität zwar oft formuliert wird. Selten werden jedoch der Begriff der Kreativität explizit definiert oder praktische Ideen zur Implementierung kreativitätsanregender Elemente in den Mathematikunterricht vorgestellt (Wyse und Ferrari 2015).

Hierzu kann die mathematikdidaktische Kreativitätsforschung, die in den vergangenen Jahren zunehmend in den Fokus gerückt ist (etwa Sheffield 2013; Singer 2018), einen bedeutsamen Beitrag leisten. Obwohl der Begriff der mathematischen Kreativität bis heute kontrovers diskutiert wird, ist innerhalb der Forschungscommunity ein Konsens darüber festzustellen, dass kreatives Denken für das Lernen von Mathematik essenziell ist (etwa Mann 2006) und daher grundsätzliche Aspekte der Kreativität von Schulkindern übereinstimmend beschrieben werden können (ausführlich Abschn. 2.1). So bezeichnet auch Winter (1975) das kreative Üben, Entdecken und Erfinden im Sinne eines schöpferischen Tätigkeitssinns als das oberste Lernziel eines aktiv-entdeckenden und damit zeitgemäßen Mathematikunterrichts. Im Rahmen ihrer 30-monatigen qualitativen Langzeitstudie zum internationalen Forschungsprojekt „Creative Little Scientist“ beschreiben zudem Cremin et al. (2015) einen Zusammenhang zwischen dem entdeckenden Lernen 3‑ bis 8‑jähriger Kinder und dem Entwickeln ihrer kreativen Fähigkeiten bei MINT-Aufgaben. In diesem Sinne scheint es bedeutsam, dass alle Schülerinnen und Schüler im Mathematikunterricht ihre Kreativität ausleben und entwickeln können sollen (Kaufman und Beghetto 2009; Leikin 2009; Liljedahl und Sriraman 2006). Trotz dieses zentralen fachdidaktischen Ziels lassen sich aufgrund der wissenschaftstheoretischen Verwandtschaft des Konstrukts der Kreativität mit dem der Intelligenz und Begabung (etwa Chamberlin 2020; Leikin und Sriraman 2017; Plucker et al. 2019) vermehrt Forschungsarbeiten finden, die ausschließlich die Kreativität von älteren, überdurchschnittlich intelligenten und/oder mathematisch begabten Schülerinnen und Schülern bewerten (Übersichten bei Leikin und Sriraman 2017; Plucker et al. 2019). Das bedeutet umgekehrt, dass sich erst wenige Forschungsarbeiten zur mathematischen Kreativität junger Schulkinder, d. h. Mathematiklernende in ihrem letzten Kitajahr (etwa 5 Jahre) bis zum Ende der Grundschulzeit (etwa 11 Jahre), ungeachtet ihrer intellektuellen und mathematischen Fähigkeiten finden lassen. Dabei konnten Sak und Maker (2006) in ihrer quantitativen Studie mit 841 Schulkindern der ersten bis fünften Klasse in der Altersspanne von 6;7 bis 12;0 Jahren einen signifikanten, positiven Zusammenhang zwischen der Kreativität und dem Alter der Kinder feststellen. Jedoch zeigte sich bei gemittelt 8;5 und 10;5 Jahren eine Stagnation, was Sak und Maker (2006) sowohl auf neurophysiologische Gründe als auch auf die Zunahme erlernter (algorithmischer) Bearbeitungsweisen der Kinder zurückführen. In Ergänzung zu diesen zentralen Forschungsergebnissen verweisen weitere aktuelle Studien wie etwa die von Schoevers et al. (2019) oder Shen und Edwards (2017) darauf, dass die Entwicklung kindlicher Kreativität bewusst als Lernziel des Mathematikunterrichts anerkannt und Lernangebote durch kreativitätsanregende Elemente wie bspw. die Arbeit an Problemfeldern (Stokes 2014) angereichert werden sollten. Darüber hinaus konnten Schacter et al. (2006) in ihrer quantitativen Langzeitstudie mit insgesamt 816 Kindern der dritten bis sechsten Klasse zeigen, dass sich neben der Kreativität der Lernenden auch deren mathematische Leistungen signifikant verbesserten, wenn im Mathematikunterricht gezielt eine kreative Erarbeitung von Inhalten stattfand.

Die bis hierhin referierten mathematikdidaktischen Studien zu Grundschulkindern zeigen zum einen, dass die Kreativität von Erstklässlerinnen und Erstklässlern (sowie noch jüngerer Kinder) eher selten fokussiert wird. Dabei konnten etwa Tsamir et al. (2010) herausarbeiten, dass sich auch 5‑ bis 6‑jährige Kinder aufgrund ihrer begrenzten Erfahrungen mit algorithmischen Bearbeitungsweisen mathematischer Aufgaben insgesamt neugierig, entdeckend und damit auch kreativ zeigen. Zum anderen kann festgestellt werden, dass die Kreativität von Schulkindern häufig mittels standardisierter Tests gemessen wurde, die eine Adaption von Testverfahren für ältere Lernende darstellen. Daraus ergibt sich das Potenzial, unser mathematikdidaktisches Verständnis kreativer Aufgabenbearbeitungen konkret für Schulanfängerinnen und -anfänger auf einer theoretischen Ebene weiter auszudifferenzieren und zu operationalisieren (Joklitschke et al. 2022; Plucker et al. 2004; Schindler et al. 2018). Auf diese Weise können in der sich anschließenden qualitativen Studie dieses Beitrags die kreativen Aufgabenbearbeitungen von Erstklässlerinnen und Erstklässlern inhaltsspezifisch beschrieben werden. Daher ist die folgende Forschungsfrage für diesen Beitrag leitend: Wie lassen sich die Bearbeitungen offener Aufgaben von Erstklässlerinnen und Erstklässlern hinsichtlich ihrer individuellen mathematischen Kreativität charakterisieren?

Zur Beantwortung dieser Forschungsfrage wird im Folgenden die individuelle mathematische Kreativität (ähnlich bei Levenson 2011) junger Schulkinder auf Grundlage einer breiten Literatursicht (inter-)nationaler psychologischer und mathematikdidaktischer Forschungsbeiträge definiert (Abschn. 2). In der folgenden empirischen Studie wurde dann die Kreativität von 18 Erstklässlerinnen und Erstklässlern bei der Bearbeitung zweier offener Aufgaben mit arithmetischem Inhalt angeregt (Abschn. 3) und die entstandenen kreativen Aufgabenbearbeitungen der Kinder durch primär kategorienbildende sowie statistische Analysemethoden detailliert charakterisiert (Abschn. 4). Perspektivisch wäre es wünschenswert, wenn anhand der Ergebnisse dieser sowie weiterer Forschungsarbeiten Ideen für einen kreativitätsfördernden Mathematikunterricht in der Grundschule abgeleitet und explizitere Kompetenzbeschreibungen sukzessive in die Bildungsstandards implementiert werden würden.

2 Theoretische Grundlagen

Die Forschung zur mathematischen Kreativität von Schulkindern kann insgesamt als vielfältig bezeichnet werden (Sriraman 2005, 2009), da sich Forschende einer genauen Beschreibung kreativen Verhaltens von Lernenden über diverse empirische Forschungsansätze nähern (Kaufman et al. 2017; Kwon et al. 2006; Leikin und Pitta-Pantazi 2013; Sriraman 2009). Eine mögliche Systematisierung dieser Ansätze kann mit Rückgriff auf die von Rhodes (1961) etablierten vier kreativen Dimensionen – die kreative Person, der kreative Prozess, das kreative Produkt und die kreative Pression (Umgebung) – geschehen (etwa Leikin und Pitta-Pantazi 2013). Forschungsarbeiten mit einem kognitiven Ansatz widmen sich aktuell vor allem durch den Einsatz von Eye-Tracking (etwa Schindler und Lilienthal 2019) der Rekonstruktion kognitiver Problemlöseprozesse, in denen mathematisch kreative Prozesse von Lernenden sichtbar werden können. Dabei betont Beck (2022), dass kreative Prozesse von 3‑ bis 5‑jährigen Kindern als ko-konstruktive Tätigkeiten mit einer begleitenden Lehr- bzw. Erziehungsperson verstanden werden müssen. Forschungen mit einem sozial-persönlichen Ansatz betonen neben affektiven vor allem soziokulturelle Faktoren für Kreativität und damit insbesondere die Dimension der kreativen Umgebung (etwa Amabile 1996; Csikszentmihalyi 2014). Für den Mathematikunterricht bedeutet dies, dass kreativitätsanregende Eigenschaften mathematischer Lernumgebungen identifiziert und ausgeschärft werden. Zuletzt nehmen Forschungsarbeiten mit einem psychometrischen Ansatz, die in der Mathematikdidaktik häufig genutzt werden (Joklitschke et al. 2022), Schülerinnen und Schüler als kreative Personen in den Blick. Dazu werden sowohl das kreative Produkt als auch der kreative Prozess der Lernenden als Analysegegenstände genutzt (Kattou et al. 2016; Leikin und Pitta-Pantazi 2013). Dieser letzte Ansatz entspricht auch dem Ziel dieses Beitrags, mit dem eine Charakterisierung der kreativen Aufgabenbearbeitungen junger Schulkinder angestrebt wird.

2.1 Grundlegende Eigenschaften der Kreativität von Schulkindern

Aufgrund der zuvor dargestellten Breite an Forschungsansätzen verwundert es wenig, dass eine ebenso große Fülle verschiedener Verständnisse des Begriffs der mathematischen Kreativität von Schülerinnen und Schülern existiert (Joklitschke et al. 2022; Leikin und Sriraman 2017). Als ein Beispiel soll hier die von Sriraman (2005) vorgeschlagene Definition betrachtet werden, da sie Ausgangspunkt für viele weitere Ausschärfungen des Begriffs der Kreativität auf Schulniveau war und ist (Leikin 2009; Levenson et al. 2018). Er definiert „mathematical creativity in grades K‑12 […] as (a) the process that results in unusual (novel) and/or insightful solution(s) to a given problem or analogous problems, and/or (b) the formulation of new questions and/or possibilities that allow an old problem to be regarded from a new angle“ (Sriraman 2005, S. 24). Mit dieser Definition sowie den dazugehörigen Erläuterungen verfolgte der Autor das Ziel, eine spezifisch für die Domäne der Mathematikdidaktik und konkret eine auf das Mathematiklernen von Schulkindern ausgerichtete Definition zu etablieren (Liljedahl und Sriraman 2006; Sriraman 2005). In diesem Sinne werden hier zentrale Eigenschaften der Kreativität von Schulkindern betont, die sich so oder ähnlich in vielen weiteren Definitionen wiederfinden lassen und auch dem Begriffsverständnis der individuellen mathematischen Kreativität in diesem Beitrag zugrunde liegen:

Domänenspezifität

In der Diskussion über die Einordnung von mathematischer Kreativität auf dem Spektrum von einer allgemeinen bis domänenspezifischen Fähigkeit von Schülerinnen und Schülern (Baer 2012) wird in der Mathematikdidaktik häufig eine Mittelposition eingenommen (etwa Schindler et al. 2018; Schoevers et al. 2020). Dies bedeutet, dass kreative Aufgabenbearbeitungen immer allgemeine bzw. domänenübergreifende Aspekte wie etwa die Motivation enthalten. Gleichzeitig lassen sich mathematikspezifische Aspekte wie etwa die Eigenschaften sowie die individuelle Bearbeitung kreativitätsanregender Aufgaben finden, die eine Ausschärfung des Begriffs der Kreativität für die (Mikro‑)Domäne des Mathematikunterrichts notwendig machen (Baer und Kaufman 2017).

Relativität

Die mathematische Kreativität von Schülerinnen und Schülern unterscheidet sich deutlich von der Kreativität Erwachsener oder gar von der Kreativität von Mathematikexpertinnen und -experten. Beghetto und Kaufman (2014) sprechen daher von der Mini‑C Kreativität von Schulkindern, die sie bei der Bearbeitung alltäglicher mathematischer Spiel- und Lernsituationen zeigen. In diesem Kontext nutzen etwa Leikin und Pitta-Pantazi (2013) oder Liljedahl und Sriraman (2006) den Begriff der relativen Kreativität, um die kreativen Fähigkeiten von Schulkindern angemessen beschreiben zu können. Dabei wird betont, dass die Neuartigkeit von Lösungen, Lösungswegen oder mathematischen Einsichten immer in Bezug zu den mathematischen Fähigkeiten der Lernenden selbst und/oder einer geeigneten Peergroup betrachtet werden muss (Bicer 2021).

Divergentes Denken

Schulkinder können dann ihre individuelle mathematische Kreativität zeigen, wenn sie dazu angeregt werden, divergent zu denken. Dies bedeutet, dass sie bei der Bearbeitung bestimmter Mathematikaufgaben nicht nur eine, sondern mehrere Antworten finden sollen. In der mathematikdidaktischen Forschung lässt sich die Verwendung verschiedenster Begriffe für solche Aufgabenformate finden, die eine kreative Bearbeitung durch divergentes Denken ermöglichen (Levenson et al. 2018): Der von Becker und Shimada (1997) etablierte Begriff der open-ended problems beschreibt etwa mathematische Aufgaben, die in Bezug auf die Anzahl der möglichen Lösungen geöffnet wurden. Dagegen regen problem-posing tasks Lernende dazu an, viele verschiedene mathematische Fragen zu einem Ausgangsproblem zu finden (Leung und Silver 1997). Leikin (2009) beschreibt zudem die multiple solution tasks (MSTs), bei denen Schülerinnen und Schüler ein mathematisches Problem mithilfe verschiedener Lösungswege bearbeiten sollen. In diesem Beitrag wird nachfolgend der übergeordnete Begriff der offenen Aufgabe verwendet, um keine Einschränkung bzgl. der Art und Weise der Antwort vorzunehmen (etwa bei Büchter und Leuders 2016; Yeo 2017). Offene Aufgaben wie etwa „Deine Rechenzahl ist 5. Schreibe alle Aufgaben auf, die du mit 5 bilden kannst“ (Rasch 2010, S. 32), die im Mathematikunterricht bewusst eingesetzt werden, damit Schülerinnen und Schüler ihre Kreativität entfalten können, zeichnen sich dadurch aus, dass sie „über eine niedrige Eingangsschwelle verfügen“ (Wälti und Hirt 2006) und durch verschiedene Zugangsweisen individuell bearbeitet werden können. Somit ermöglichen offene Aufgaben Schulkindern eine hohe Eigenverantwortung sowie Freiheit (Wittmann und Müller 2017) in der kreativen Bearbeitung. Wie bereits in der Einleitung erwähnt, konnten vor allem Tsamir et al. (2010) anhand ihrer qualitativen Studie mit 5‑ bis 6‑jährigen Kindern zeigen, dass es bereits jungen Mathematiklernenden möglich ist, bei der Bearbeitung offener Aufgaben kreativ zu werden, indem sie verschiedene Lösungen über unterschiedliche Lösungswege produzierten.

2.2 Die individuelle mathematische Kreativität junger Schulkinder bei der Bearbeitung offener Aufgaben

Aus den vorangegangenen Ausführungen geht hervor, dass in diesem Beitrag junge Schülerinnen und Schüler als kreative Personen adressiert werden. Ihre individuelle mathematische Kreativität wird dabei als domänenspezifisch sowie relativ verstanden und zeigt sich bei der divergenten Bearbeitung offener Aufgaben. Aus dieser Rahmung des Begriffs der Kreativität für das Mathematiklernen von Grundschulkindern werden traditionell drei divergent production abilities (Guilford 1967; Torrance 1968, 2008) betrachtet: Denkflüssigkeit, Flexibilität und Originalität. An den wegweisenden psychologischen Studien der 1960er-Jahre orientieren sich auch aktuelle Kreativitätsforschungen und weiten das Verständnis dieser Fähigkeiten grundsätzlich für die Mathematikdidaktik (etwa Leikin 2009; Leikin und Lev 2013; Silver 1997), aber auch speziell für das Mathematiklernen von Grundschulkindern (etwa Kattou et al. 2016) aus. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass Guilford (1967) zusätzlich die Elaboration als vierte kreative Fähigkeit präsentiert, worunter er das Vermögen versteht, die eigenen Ideen auszuarbeiten und auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen. Zwar wird die Elaboration in mathematikdidaktischen Forschungsarbeiten zumeist nicht explizit angeführt, jedoch wird sie häufig implizit mit einer unterstützenden Funktion für das Zeigen der Denkflüssigkeit, Flexibilität und Originalität mitgedacht (etwa Kattou et al. 2016; Leikin und Pitta-Pantazi 2013). Denn eine bewusste sprachliche Begleitung der kreativen Aufgabenbearbeitung kann dazu führen, dass die Mathematiklernenden „das eigene Denken […] ordnen und ihm neue Möglichkeiten […] eröffnen“ (Meyer und Tiedemann 2017, S. 42) und so ihre individuelle mathematische Kreativität entfalten können.

In Anlehnung an die Ausführungen der zuletzt genannten Forschenden habe ich die folgende Definition für die Kreativität junger Mathematiklernenden entwickelt, wobei die theoretische Entstehung dieser Begriffsverständnisse in den folgenden Abschn. 2.2.1–2.2.3 ausführlich erläutert wird:

Die individuelle mathematische Kreativität junger Schulkinder beschreibt deren Fähigkeiten, bei der sprachlich begleiteten Bearbeitung einer offenen Aufgabe

  • verschiedene Ideen zu produzieren (Denkflüssigkeit),

  • verschiedene Ideentypen zu zeigen sowie zwischen diesen zu wechseln (Flexibilität) und

  • basierend auf einer gezielten Reflexion der gesamten Antwort, die eigenen Ideentypen durch neue zu erweitern (Originalität).

2.2.1 Denkflüssigkeit

Unter Denkflüssigkeit wird in der Kreativitätsforschung übereinstimmend die Produktion verschiedener Ideen, d. h. der Ideenfluss bei der Bearbeitung einer offenen AufgabeFootnote 1, verstanden (Torrance 1966). Dieser wird über die Anzahl an Ideen eines Kindes beschrieben (Guilford 1967; Leikin 2009). Der Begriff der Idee wird im Gegensatz zur Lösung in Anlehnung an Guilford (1967) verwendet, um den Fokus bewusst auf den schöpferischen Gedanken des Schulkindes zu legen und dadurch die Bedeutung der Korrektheit einer Lösung, wie sie etwa bei (Torrance 2008) betont wird, in den Hintergrund zu rücken. Dies ist vor allem mit Blick auf junge Schulkinder bedeutsam, da bei deren kreativer Bearbeitung offener Aufgaben Rechenfehler oder Fehlinterpretationen erwartet werden können, die Lernenden in diesen Fällen aber dennoch einen bestimmten schöpferischen Gedanken verfolgen. Somit wird eine Idee durch die verbalsprachlichen und/oder gestischen Erklärung der Schulkinder für eine einzelne Lösung der offenen Aufgabe sichtbar. Leikin (2009) verweist dabei auf die Unterscheidung zwischen der Anzahl an Ideen, die Mathematikexpertinnen und -experten (Personen aus der Fachmathematik, Fachdidaktik oder Schulpraxis) zu einer bestimmten offenen Aufgabe finden würden (absolute Denkflüssigkeit), und der Anzahl an Ideen, die jedes Schulkind individuell produziert (relative Denkflüssigkeit), hin.Footnote 2 Durch die Fokussierung auf den individuellen Ideenfluss junger Schülerinnen und Schüler in diesem Beitrag wird auch der Relativität des Konstrukts der Kreativität entsprochen (Abschn. 2.1).

2.2.2 Flexibilität

Um die Fähigkeit der Flexibilität genauer beschreiben zu können, wird der im Rahmen der Denkflüssigkeit entstandene Ideenfluss der Grundschulkinder qualitativ in den Blick genommen. So bedeutet eine flexible Bearbeitung offener Aufgaben, dass Schulkinder innerhalb ihrer verschiedenen Ideen unterschiedliche Ideentypen zeigen und zwischen diesen wechseln (Guilford 1967; Leikin 2009; Torrance 1966). Um die qualitative Vielfalt an Ideen darzustellen, wird traditionell eine Systematisierung der kindlichen Ideen durch Kategorien wie etwa unterschiedliche Repräsentationsebenen, Eigenschaften mathematischer Objekte oder mathematische Inhaltsbereiche vorgenommen (Leikin 2009). Auf diese Weise werden für die Bearbeitung einer bestimmten offenen Aufgabe durch eine Gruppe von Schulkindern spezifische Ideentypen herausgearbeitet. Für die Beispielaufgabe „Stelle die Zahl 12 auf verschiedene Art und Weise dar“ könnten mögliche Ideentypen die folgenden sein: enaktive Verwendung von Material (z. B. Zwanzigerfeld und Plättchen, Dienes-Material, Zahlenstrahl), Notation in der Stellenwerttafel, additive Schreibweisen (z. B. \(10+2\), \(1Z+2E\)), ikonische Darstellungen. Werden die kreativen Prozesse der Schülerinnen und Schüler zudem chronologisch betrachtet, können sogenannte Ideentypwechsel zu bereits zuvor gezeigten Ideentypen oder weiteren Ideentypen identifiziert werden (Beispiele bei Leikin 2009).

Von jungen Lernenden kann bei der Bearbeitung offener Aufgaben eine eher überschaubare Variation an Ideentypen erwartet werden, da sie einen gewissen mathematischen „Werkzeugkasten“ zur kreativen Bearbeitung offener Aufgaben benötigen, den sie unterschiedlich schnell sowie intensiv im Mathematikunterricht und Alltag erwerben (Feldhusen 2006; Juter und Sriraman 2011; Leikin und Elgrably 2020; Sternberg und Lubart 1995). Darunter können bspw. die mündliche und schriftliche mathematische Fachsprache oder auch mathematische Konventionen sowie aufgabenspezifische Prozeduren und (Lösungs‑)Algorithmen gefasst werden. Mit Blick auf junge Schulkinder und deren begrenzten mathematischen Erfahrungen ist es daher nachvollziehbar, dass ihre Kreativität von ihren individuellen mathematischen Fähigkeiten beeinflusst wird (etwa Aßmus und Fritzlar 2018). Infolgedessen erscheint es sinnvoll, die Fähigkeit der Flexibilität in zwei Teilaspekte, nämlich (1) das Zeigen diverser Ideentypen und (2) das Wechseln zwischen diesen Ideentypen, aufzuteilen. Dies ist deshalb von Bedeutung, da von der Diversität der Ideentypen eines Schulkindes, die vor allem auf der Ebene des kreativen Produkts wahrgenommen wird, nicht eindeutig auf den zugrunde liegenden kreativen Prozess und damit auf die individuelle Zusammensetzung an Ideentypwechseln rückgeschlossen werden kann. Obwohl einzelne Kreativitätsstudien diesen Zusammenhang für ältere Schülerinnen und Schüler zeigen (etwa Leikin und Elgrably 2020; Leikin und Lev 2013), ermöglicht eine kombinierte Betrachtung der Teilaspekte möglicherweise keine differenzierte Beschreibung der Flexibilität junger Schulkinder bei der Bearbeitung offener Aufgaben. Vielmehr sollte das Zeigen verschiedener Ideentypen (Teilaspekt 1) und Ideentypwechseln (Teilaspekt 2) bei der kreativen Bearbeitung offener Aufgaben zunächst einzeln und dann erst in Kombination beschrieben werden.

2.2.3 Originalität

Unter Originalität – z. T. auch Novelty (etwa Silver 1997) genannt – wird in der Kreativitätsforschung verstanden, dass innerhalb der von einer oder einem Lernenden gezeigten Ideentypen einzelne zu finden sind, die als besonders „clever“ (Guilford 1967, S. 103), „uncomon or unique“ (Torrance 2008, S. 3) oder auch „insight-based“ (Leikin 2013, S. 392) bewertet werden. Diese Einschätzung, ob ein Idee besonders clever, ungewöhnlich oder einzigartig ist, basiert entweder auf der mathematikdidaktischen Erfahrung seitens der Bewertenden (Guilford 1968), einer Analyse des Grads an Einsicht in mathematische Zusammenhänge (Hersh und John-Steiner 2017) oder der Nutzung statistischer Methoden zur Ermittlung derjenigen Ideentypen, die innerhalb einer Peergroup besonders selten gezeigt werden (Leikin und Lev 2013; Torrance 2008). Damit wird unter Originalität weniger eine von Schülerinnen und Schülern entwickelbare Fähigkeit verstanden, sondern vielmehr eine fachdidaktische Bewertung der Ideentypen vorgenommen (Lu und Kaiser 2021). So lässt sich feststellen, dass viele Forschende wie etwa Leikin (2017) in ihren Studien nur wenigen der insgesamt eher älteren, hochintelligenten und/oder mathematisch begabten Lernenden zusprechen, bei kreativer Bearbeitung komplexer problemhaltiger (Mathematik-)aufgaben originell und damit letztlich auch kreativ zu sein. Dies steht jedoch im Widerspruch zu den Arbeiten von Aßmus und Fritzlar (2018) oder auch Beghetto und Kaufman (2014), die allen Schülerinnen und Schülern zuerkennen, in geeigneten mathematischen Lernsituationen kreativ werden zu können.

In diesem Sinne ergänzen Treffinger et al. (2002), dass alle kreativen Personen, um im traditionellen Verständnis originell sein zu können, zunächst ein gewisses Maß an Selbstvertrauen entwickeln müssen, „to not fear being different and [to] feel free to express unpopular oder unique ideas“ (S. 16). Dies scheint in besonderem Maß auch für Grundschulkinder zu gelten, die mit den Schuljahren einen durchgehend steigenden Anpassungsdruck an ihre Peers erleben, was dazu führen kann, dass sie sich bei der kreativen Bearbeitung offener Aufgaben nicht trauen, frei zu denken (etwa Sak und Maker 2006; Torrance 1968). Erstklässlerinnen und Erstklässler, die in diesem Beitrag explizit in den Fokus gerückt werden, weisen zudem einen eher begrenzten mathematischen Erfahrungsraum auf, weshalb nur wenige grundlegend verschiedene und damit auch mathematisch herausragende Ideen bei kreativen Aufgabenbearbeitungen erwartet werden können (Abschn. 2.2.2). Vor allem mit Blick auf Mathematikunterricht erscheint es wenig zielführend, die Originalität von Grundschülerinnen und -schülern allein durch die außergewöhnliche Qualität einzelner Ideentypen beschreiben, da Mathematiklehrkräfte für diese Einschätzung ein Set an erwartbaren, typischen Ideentypen zu der offenen Aufgabe verfügbar haben oder sich dieses ad hoc erarbeiten müssten (Silver und Cai 2005). Treffinger et al. (2002) betonen, dass Schülerinnen und Schüler bei kreativen Aufgabenbearbeitungen zusätzlich zur Fähigkeit, verschiedenartige Ideen zu produzieren (Denkflüssigkeit und Flexibilität), die Möglichkeit erhalten sollen, tiefer in Ideen einzutauchen (digging deeper into ideas). Dies bedeutet ihre eigenen und/oder fremde Ideen explizit zu fokussieren, zu explorieren und zu analysieren (dazu etwa Abdulla Alabbasi et al. 2021; Guilford 1987; Vanutelli et al. 2021), um sie daraufhin den eigenen mathematischen Fähigkeiten entsprechend einsichtsbasiert weiterzuentwickeln, denn „taming a wild idea is easier than thinking up a mediocre one“ (Treffinger et al. 2002, S. 31). In seinem Five Creative Disposition Model konkretisiert Lucas (2016) weiterhin, dass die fachliche Weiterentwicklung einer Idee, die immer vor dem Hintergrund der individuellen Fähigkeiten der kreativen Lernenden betrachtet werden muss, „involves manipulating it, trying it out, improving it“ (S. 282) und betont, dass dafür Feedback von Peers und/oder einer Lehrkraft nötig sind. Die Bedeutung einer individuellen Unterstützung der Lernenden bei der (Weiter‑)Entwicklung von fachlich herausragenden und damit originellen Ideen betonen auch Treffinger et al. (2002), da diese herausfordernde Fähigkeit von Schülerinnen und Schülern zunächst erlernt und dann sukzessive entfaltet werden muss. Mit explizitem Fokus auf kreative Aufgabenbearbeitung im Mathematikunterricht schlägt Silver (1997) daher die folgende Tätigkeit im Rahmen der Novelty vor: „Students examine many solution methods or answers (expressions or justifications); then generate another that is different“ (S. 78). Hier steht nun nicht mehr die Weiterentwicklung mathematischer Ideen oder die Produktion fachlich herausragender Ideen im Fokus, sondern vor allem die Produktion neuer Ideen vor dem Hintergrund der eigenen zuvor produzierten Ideen und Ideentypen. Dieses Verständnis scheint auch aus einer unterrichtspraktischen Perspektive heraus sinnvoll und praktikabel zu sein, da Lev-Zamir und Leikin (2011) durch die Beobachtung von Mathematikunterricht und der Auswertung von Interviews mit Mathematiklehrkräften der Klassenstufen 4 bis 8 folgende, auf die Lernenden fokussierte Auffassung der Originalität herausarbeiten konnten: „Students generate [for themselves] new ideas, new excercises, and discover new facts“ (S. 29).

In Tradition der zuvor beschriebenen Konzeptionalisierungen von Treffinger et al. (2002), Silver (1997) sowie Lev-Zamir und Leikin (2011) wird in diesem Beitrag die Originalität von Grundschulkindern so verstanden, dass die jungen Lernenden basierend auf einer Erkundung der eigenen kreativen Antwort zu einer offenen Aufgabe und ihren mathematischen Erfahrungen entsprechend neue Ideentypen zeigen bzw. weiterentwickeln sollen, die sich qualitativ von den vorherigen unterscheiden (ähnlich bei Ubah und Ogbonnaya 2021). Diese reflexionsbasierte Erweiterung der Ideentypen stellt insbesondere für Erstklässlerinnen und Erstklässler eine ausreichend anspruchsvolle Tätigkeit dar und kann als Ausgangspunkt für die sukzessive Entwicklung ihrer Fähigkeit, bei der kreativen Bearbeitung offener Aufgaben mathematisch herausragende und seltene Ideen zu produzieren – Originalität wie sie traditioneller Weise in der Kreativitätsforschung definiert wird (Kattou et al. 2016; Leikin 2009) –, verstanden werden. In jedem Fall ist dabei die bewusste individuelle Unterstützung der Schülerinnen und Schüler durch eine Mathematiklehrkraft notwendig.

2.3 Forschungsfrage

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es in der mathematikdidaktischen Forschung zwar erste Bestrebungen gibt, die individuelle mathematische Kreativität junger Schülerinnen und Schüler in den Blick zu nehmen (Abschn. 1 und 2.1). Allerdings geschieht dies bisher überwiegend mittels evaluativer (Test‑)Instrumente, die hauptsächlich für ältere Mathematiklernende entwickelt wurden (etwa Kattou et al. 2016; Sak und Maker 2006; Schacter et al. 2006). So stellt eine ausführliche qualitative Beschreibung kreativer Aufgabenbearbeitungen junger Schulkinder basierend auf meiner zuvor dargestellten Definition der individuellen mathematischen Kreativität junger Schulkinder (Abschn. 2.2) eine bedeutsame Ergänzung der bereits vorliegenden mathematikdidaktischen Kreativitätsforschung dar. In diesem Sinne folgt nun die Darstellung einer empirischen Studie mit Schulkindern der ersten Klasse, in der folgende Forschungsfrage adressiert wird: Wie lassen sich die Bearbeitungen offener Aufgaben von Erstklässlerinnen und Erstklässlern hinsichtlich ihrer individuellen mathematischen Kreativität charakterisieren?

3 Studiendesign, Methoden und Material

Um die Forschungsfrage dieses Beitrags zu beantworten, wurden Videodaten aus meinem Promotionsprojekt (Bruhn 2022) genutzt, die im Sinne einer Sekundäranalyse (Hussy et al. 2013) für diesen Beitrag noch einmal vertieft ausgewertet wurden. Das Design der Studie orientierte sich an der Teaching Experiment-Methodologie nach Steffe und Thompson (2000), bei der ausgewählte mathematische Fähigkeiten von Schülerinnen und Schülern in gezielt geplanten Unterrichtssituationen durch eine sich abwechselnd analytische (forschungsbezogene) und reagierende (unterrichtsnahe) Interaktion angeregt und rekonstruiert werden können. In der vorliegenden Studie mit Erstklässlerinnen und Erstklässlern (Abschn. 3.1) wurde so die Datenerhebung (Abschn. 3.2) und Datenauswertung (Abschn. 3.3) qualitativen Forschungsstandards entsprechend durchgeführt und gleichzeitig eine unterrichtsnahe Atmosphäre geschaffen, in der die jungen Schulkinder bei der Bearbeitung offener Aufgaben kreativ tätig werden konnten.

3.1 Stichprobe

Um die kreativen Aufgabenbearbeitungen junger Schulkinder umfassend charakterisieren zu können, wurde eine möglichst heterogene Gruppe von 18 Erstklässlerinnen und Erstklässlern von zwei städtischen Grundschulen in Nordrhein-Westfalen ausgewählt. Als vorrangiges Kriterium der Stichprobenwahl wurde eine möglichst große Vielfalt in den mathematischen Fähigkeiten der Kinder gesetzt. Entsprechend ihren Ergebnissen im Test mathematischer Basiskompetenzen ab Schuleintritt (MBK 1+) (Ennemoser et al. 2017) konnten die Fähigkeiten von zwei Kindern im März 2019 als weit unterdurchschnittlich, von drei Kindern als unterdurchschnittlich, von zehn Kindern als durchschnittlich und von drei Kindern als überdurchschnittlich eingeordnet werden. Als weitere Kriterien für eine heterogene Stichprobe wurden eine Geschlechterparität sowie die mathematischen Unterrichtserfahrungen der Kinder über die verwendeten Lehrwerke Denken & Rechnen (Buschmeier et al. 2017) und Welt der Zahl (Rinkens et al. 2015) gewählt.

3.2 Datenerhebung

Basierend auf einem weiten Verständnis von Unterricht als eine absichtsvoll geplante pädagogische Situation (Glöckel 2003) zeigten alle Erstklässlerinnen und Erstklässler einzeln im Juni 2019 in einem Abstand von drei Wochen zwei kreative AufgabenbearbeitungenFootnote 3. Wie in Abschn. 2.2.2 erläutert, benötigen Lernende einen mathematischen Werkzeugkasten, um bei der Bearbeitung einer offenen Aufgabe kreativ werden zu können. Da Schülerinnen und Schüler am Ende der ersten Klasse vor allem im Bereich der Arithmetik auf vielfältige Erfahrungen zurückgreifen können (Kosyvas 2016), wurden in dieser Studie zwei offene Aufgaben mit arithmetischem Inhalt (kurz: arithmetisch offene Aufgaben) eingesetzt: (A1) Finde Aufgaben mit der Zahl 4, (A2) Finde Aufgaben mit dem Ergebnis 12. Sie wurden beide in Form verbalisierter Zahlaufgaben (Ott 2016) realisiert, um den Fokus auf das Anregen ihrer Kreativität zu legen und nicht zusätzlich Problemlöse- oder Modellierungsfähigkeiten von den jungen Schulkindern zu verlangen. Außerdem wurde die strukturelle Nähe der Aufgaben bewusst gesetzt, damit alle 36 kreativen Aufgabenbearbeitungen als ein Datenset analysiert werden konnten.

Um eine Vergleichbarkeit der kreativen Aufgabenbearbeitungen zu gewährleisten, orientierte sich der erstellte Ablaufplan inhaltlich an der Definition der individuellen mathematischen Kreativität junger Schulkinder (Abschn. 2.2) und unterrichtspraktisch an der Grobstruktur von Mathematikunterricht. So gliederte sich jede Aufgabenbearbeitung in eine Produktions- und eine Reflexionsphase, die nachfolgend im Detail beschrieben werden. Alle Aufgabenbearbeitungen der Erstklässlerinnen und Erstklässler wurden videografiert, um die qualitativen Daten aus dem Gesprochenen sowie aus den Handlungen der Kinder analysieren zu können.

Produktionsphase

Die erste Bearbeitungsphase ermöglichte den Erstklässlerinnen und Erstklässlern, ihre Denkflüssigkeit und Flexibilität bei der Bearbeitung der beiden offenen Aufgaben zu zeigen. Auf unterrichtsorganisatorischer Ebene fand hier zunächst eine Einführung statt, in der die Kinder angeleitet wurden, ihre ersten beiden Ideen zu entwickeln. Dafür wurde ein Dreischritt aus Produktion eines ZahlensatzesFootnote 4 – Erklären der Idee – Begründetes Ablegen des Zahlensatzes etabliert. Ihre produzierten Zahlensätze konnten die Schülerinnen und Schüler auf blanko Karteikarten aufschreiben und frei auf dem Tisch anordnen. Ein besonderer Fokus lag auf dem zweiten und dritten Schritt, bei dem die Schulkinder ihre Ideen verbalsprachlich und/oder gestisch ausarbeiten sollten („Welche Idee hast du gehabt?“, „Warum hast du die Aufgabe dorthin gelegt?“). So wurde aus einer methodischen Perspektive die kindliche Elaborationsfähigkeit über die Technik des lauten Denkens (Hussy et al. 2013) genutzt, um einen Zugang zu den Ideen der Kinder zu erhalten (Abschn. 2.2). Auf die Einführung folgte die selbstständige, kreative Bearbeitung der offenen Aufgabe mit dem etablierten Dreischritt durch die Schulkinder.

Reflexionsphase

Nachdem die Erstklässlerinnen und Erstklässler die kreative Bearbeitung der offenen Aufgabe selbstbestimmt beendetet hatten, schloss sich eine zweite Phase an, in der die Lernenden im Sinne des hier vorgeschlagenen Begriffsverständnisses originell werden konnten (Abschn. 2.2.3). Dazu sollten die Kinder ihre bisherigen Ideentypen gezielt durch das erneute Nutzen des zuvor etablierten Dreischritts erweitern. Dies wurde durch die Nachfrage „Wenn du dir deine vielen gefundenen Aufgaben anschaust, fällt dir da etwas auf?“ eingeleitet und dann vor allem durch den gezielten Impuls „Hast du jetzt noch weitere Ideen?“ fokussiert.

3.3 Datenauswertung

Im Sinne einer Art Protokoll wurden die 36 kreativen Aufgabenbearbeitungen zunächst in sogenannte individuelle Kreativitätsschemata (IKS) überführt (Legende und Beispiel in Abb. 1). In diesen wurden die Ideen der Erstklässlerinnen und Erstklässler chronologisch dargestellt, indem die Zahlensätze in Ellipsen und die von den Kindern geäußerten Erklärungen an den verbindenden Pfeilen notiert wurden. Da auch doppelt aufgeschriebene, fehlerhafte oder fehlinterpretierte Zahlensätze mit einem bestimmten Gedanken von den Kindern produziert wurden (Abschn. 2.2.1), wurden auch diese Ideen in den IKS notiert. Zudem kam es in beiden Bearbeitungsphasen vor, dass die Schulkinder bereits produzierte Zahlensätze noch einmal fokussierten und anhand dieser weitere Ideen entwickelten. Diese Zahlensätze wurden in den IKS in grauen Kästen notiert. Abb. 1 zeigt exemplarisch das IKS von Lars’ kreativer Bearbeitung der zweiten arithmetisch offenen Aufgabe [Ergebnis 12], wobei der Erstklässler in beiden Bearbeitungsphasen jeweils drei Ideen anhand seiner insgesamt fünf Zahlensätze ausarbeitete.

Abb. 1
figure 1

Individuelles Kreativitätsschema (IKS) von Lars bei A2 inkl. Legende

Die 36 entstandenen IKS, in denen die kreativen Produkte und Prozesse der Erstklässlerinnen und Erstklässler illustriert wurden, dienten als Grundlage für die umfassende Charakterisierung kreativer Aufgabenbearbeitungen der Schulkinder. Dafür wurden sowohl kategorienbildende als auch häufigkeitsstatistische Methoden genutzt:

Da für die kreative Bearbeitung offener Aufgaben zunächst der Begriff der Ideentypen (Abschn. 2.2.2) grundlegend war, wurden die Ideen der Schülerinnen und Schüler inhaltsanalytisch betrachtet. Dafür wurden die verbalsprachlichen, mimischen sowie gestischen Äußerungen der Schulkinder in den Blick genommen. Da die jungen Mathematiklernenden kreativ an zwei offenen Aufgaben aus dem Bereich der Arithmetik arbeiteten, entstand das Kategoriensystem der arithmetischen Ideentypen. Dieses besteht aus vier Hauptkategorien mit jeweils einer unterschiedlichen Anzahl an Subkategorien, sodass insgesamt 30 verschiedene Ideentypen identifiziert werden konnten (ausführlich Abschn. 4.2 und Codebuch in Online-Ressource 1). Da diese induktive Kategorienbildung ein stark interpretatives Vorgehen darstellte (etwa Mayring 2015), wurde zur Absicherung der Ergebnisse anhand von vier zufällig ausgewählten IKS sowohl die Intracoder-Reliabilität (Doppelkodierung durch mich) als auch die Intercoder-Reliabilität (Fremdkodierung durch drei geschulte Kodiererinnen) mittels des Alpha-Koeffizient nach Krippendorff (2009) berechnet. Unter Beachtung des 95 %-Konfidenzintervalls lag das Kategoriensystem mit \(\alpha _{\text{Intra}}=.87\) und \(\alpha _{\text{Inter}}=.83\) in einem reliablen Bereich. Daher wurden die arithmetischen Ideentypen in die IKS der Erstklässlerinnen und Erstklässler eingetragen, indem sie deren Erklärungen ersetzten. Anschließend wurden die kreativen Aufgabenbearbeitungen der Lernenden detailliert analysiert, indem das Spektrum der kindlichen Denkflüssigkeit (Produktion von Ideen), Flexibilität (Zeigen von Ideentypen und Ideentypwechseln) und Originalität (auf Reflexion basierende Erweiterung der Antwort durch neue Ideentypen) durch qualitative Ausprägungen beschrieben wurden. Dies geschah durch die Erstellung von Kontinuen, auf denen die einzelnen Ausprägungen der Kreativität der Erstklässlerinnen und Erstklässler relativ zueinander eingetragen wurden. Die Basis dafür bildeten statistische Kennwerte, nämlich das arithmetische Mittel sowie Minimum und Maximum, die anhand der IKS (\(n_{A1}=18;n_{A2}=18\)) jeweils für die Denkflüssigkeit, die beiden Teilaspekte der Flexibilität und die Originalität errechnet wurden. Dem relativen Verständnis von Kreativität gerecht werdend (Abschn. 2.1), wurden die beiden Extremwerte als Endpunkte der Kontinuen gesetzt. Zudem wurde der Mittelwert genutzt, um den Übergang von verschiedenen Ausprägungsbereichen auf den einzelnen Kontinuen zu markieren. Ergänzend zu den Kontinuen wurde die im Rahmen der Originalität notwendige Reflexion der Schulanfängerinnen und -anfänger mittels qualitativer Kategorien abgebildet (ausführlich Abschn. 4.3). Um darüber hinaus die kreativen Aufgabenbearbeitungen der jungen Schulkinder auch auf arithmetischer Ebene charakterisieren zu können, wurde für alle Bearbeitungen derjenige Ideentyp bestimmt, der die Produktions- und die Reflexionsphase besonders prägte. Dafür wurde zunächst für beide Bearbeitungsphasen separat die Häufigkeit der vier Ideentypen (Anzahl an Ideen) sowie deren Variation (Anzahl an verschiedenen Subkategorien der Ideentypen) ermittelt und anschließend die Werte multipliziert.

4 Ergebnisse

Die detaillierte Analyse der kreativen Aufgabenbearbeitungen offenbarte ein weites Spektrum in den Ausprägungen der Denkflüssigkeit (Abschn. 4.1), Flexibilität (Abschn. 4.2) und Originalität (Abschn. 4.3) der Erstklässlerinnen und Erstklässler, was im nachfolgenden ausführlich dargestellt wird.

4.1 Denkflüssigkeit

Unter dem Begriff der Denkflüssigkeit wurde in den Produktionsphasen der kreativen Bearbeitungen der beiden arithmetisch offenen Aufgaben A1 [Zahl 4] und A2 [Ergebnis 12] die individuelle Anzahl an verschiedenen Ideen der Erstklässlerinnen und Erstklässler, d. h. die unterschiedlichen schöpferischen Gedanken zur Produktion eines Zahlensatzes (Abschn. 2.2.1), analysiert. Bezogen auf die IKS der jungen Schulkinder wurde konkret die Anzahl an Pfeilen bestimmt. Obwohl sich die Extremwerte in der Anzahl an Ideen bei beiden offenen Aufgaben kaum voneinander unterschieden (\(\mathrm{MIN}_{A1}=3/\mathrm{MAX}_{A1}=35;\mathrm{MIN}_{A2}=3/\mathrm{MAX}_{A2}=31\), wiesen die Mittelwerte eine deutliche Differenz auf (\(M_{A1}=16;M_{A2}=13{,}4\)). Das bedeutet, dass die 18 jungen Lernenden bei der kreativen Bearbeitung der ersten offenen Aufgabe einen höheren Ideenfluss zeigten als bei der zweiten Aufgabe. Die Denkflüssigkeit der jungen Schulkinder lässt sich insgesamt über ein Kontinuum von keinem über einen geringen bis hin zu einem umfangreichen Ideenfluss charakterisieren (Abb. 2), wobei die Ausprägung keinem Ideenfluss mit einer Nichtbearbeitung der offenen Aufgabe gleichzusetzen wäre.

Abb. 2
figure 2

Charakterisierung der Denkflüssigkeit

Bei genauer Betrachtung der in Abb. 2 dargestellten Verteilung aller kreativen Aufgabenbearbeitungen lässt sich feststellen, dass mehr Bearbeitungen im Bereich einer geringen als einer umfangreichen Denkflüssigkeit eingeordnet wurden. Zudem ordneten sich erwartungsgemäß viele der insgesamt 36 kreativen Aufgabenbearbeitungen der Erstklässlerinnen und Erstklässler um die Mittelwerte an.

4.2 Flexibilität

Um die Flexibilität der Erstklässlerinnen und Erstklässler bei deren kreativen Aufgabenbearbeitungen umfassend charakterisieren zu können, wurden zunächst ihre Ideen durch das Kategoriensystem der arithmetischen Ideentypen systematisiert, das vier Hauptkategorien mit einer jeweils unterschiedlichen Anzahl an Subkategorien beinhaltet (vgl. Codebuch in Online-Ressource 1): Die jungen Schulkinder zeigten frei-assoziierte Ideen, wenn sie einen Zahlensatz passend zur arithmetisch offenen Aufgabe frei (im Sinne von mathematisch unsystematisch) auswählten und dabei Besonderheiten von Zahlensätzen wie etwa die Position einer bestimmten Zahl oder die Kraft der 5 assoziierten. Die anderen drei übergeordneten Ideentypen systematisieren Ideen, bei denen die Schulkinder mehrere Zahlensätze in eine mathematische Verbindung brachten. So zeigten sie muster-bildende Ideen vor allem beim Entwickeln wachsender Zahlenfolgen, struktur-nutzende Ideen wie etwa durch die Produktion von Tausch‑, Nachbar- und Analogieaufgaben oder klassifizierende Ideen, wenn sie Zahlensätze nach äußerlichen Merkmalen wie Rechenoperationen sortierten.

In Abb. 3 ist exemplarisch das vollständig analysierte IKS von Lars’ kreativer Bearbeitung der zweiten offenen Aufgabe [Ergebnis 12] mit den entsprechenden Codes für die Ideentypen abgebildet. Der Erstklässler zeigte insgesamt zweimal eine struktur-nutzende Idee, nämlich das Bilden von Nachbaraufgaben durch gegensinniges Verändern (struk-nach-beid), sowie vier frei-assoziierte Ideen, nämlich einen Zahlensatz mit einer Zehnerzahlen (ass-bes-10), die Position der Zahl aus der Aufgabenbedingung (ass-pos), einen Operationswechsel (ass-op) und einen auswendig gewussten Zahlensatz (ass-gew).

Abb. 3
figure 3

IKS von Lars bei A2 mit arithmetischen Ideentypen

Das Kategoriensystem der arithmetischen Ideentypen bildete die Basis, um die beiden Teilaspekte der Flexibilität, das Zeigen verschiedener Ideentypen und Ideentypwechsel, zunächst getrennt und anschließend aufeinander bezogen zu analysieren.

Teilaspekt 1 der Flexibilität: Diversität der Ideentypen

Die Erstklässlerinnen und Erstklässler zeigten in Bezug auf ihre arithmetischen Ideentypen auf Ebene der Subkategorien große Unterschiede. So lässt sich die Diversität der Ideentypen über ein Kontinuum von eher gleichartigen Aufgabenbearbeitungen, die nur wenige Ideentypen beinhalteten, bis hin zu vielfältigen Bearbeitungen mit verschiedensten Ideentypen beschreiben (Abb. 4). Bei beiden offenen Aufgaben offenbarten die 18 Schulkinder eine vergleichbare Spannweite \((\mathrm{MIN}_{A1}=2/\mathrm{MAX}_{A1}=12;\mathrm{MIN}_{A2}=2/\mathrm{MAX}_{A2}=13)\) und auch ähnliche Mittelwerte \((M_{A1}=6{,}2;M_{A2}=5{,}3)\) in der Anzahl ihrer verschiedenen Subkategorien. Allerdings verdeutlicht die Verteilung der kreativen Aufgabenbearbeitungen auf dem Diversitätskontinuum (Abb. 4), dass bei der kreativen Bearbeitung der arithmetisch offenen Aufgabe A1 [Zahl 4] keine Tendenz in Richtung einer gleichartigen oder vielfältigen Diversität festgestellt werden konnte. Im Gegensatz dazu wiesen die meisten Erstklässlerinnen und Erstklässler bei A2 [Ergebnis 12] eine eher gleichartige Diversität auf.

Abb. 4
figure 4

Charakterisierung des Teilaspekts 1 der Flexibilität: Diversität der Ideentypen

Teilaspekt 2 der Flexibilität: Komposition der Ideentypwechsel

Die Flexibilität der Kinder bei ihren kreativen Aufgabenbearbeitungen zeichnet sich neben der Diversität in den gezeigten Ideentypen auch durch die individuelle Komposition (Zusammensetzung) an Ideentypwechseln aus. Um diese detailliert zu charakterisieren, waren zwei Aspekte bedeutsam: Zum einen galt es, diejenigen Momente zu analysieren, in denen die Schulkinder zwischen den vier arithmetischen Ideentypen auf Ebene der Hauptkategorien wechselten. Zum anderen wurde fokussiert, inwiefern die Kinder ihre gezeigten Ideentypen durch eine individuelle Anzahl an einzelnen Ideen ausarbeiteten. Daher wurden für jede kreative Aufgabenbearbeitung der jungen Schulkinder die gezeigten Ideentypwechsel im Verhältnis zur Anzahl an Ideen erhoben und der sogenannte Kompositionsquotient \(K=\frac{\textit{Anzahl}\,\textit{Ideentypwechsel}}{\textit{Anzahl}\,\textit{Ideen}}\) mit theoretisch möglichen Werten von 0 bis 1 gebildet. Je geringer dieser ausfiel, desto stärker war eine Aufgabenbearbeitung von wenigen Ideentypwechseln mit einer großen Anzahl an ausgearbeiteten Ideen geprägt und umgekehrt. Innerhalb der 36 kreativen Aufgabenbearbeitungen A1 [Zahl 4] und A2 [Ergebnis 12] zeigte der Kompositionsquotient eine ähnliche Spannweite \((\mathrm{MIN}_{A1}=0/\mathrm{MAX}_{A1}=0{,}64;\mathrm{MIN}_{A2}=0/\mathrm{MAX}_{A2}=0{,}71)\) sowie Mittelwerte \((M_{A1}=0{,}34;M_{A2}=0{,}36)\). Anhand dieser Kennwerte entstand erneut ein Kontinuum (Abb. 5), auf dem die Komposition der Ideentypwechsel der Erstklässlerinnen und Erstklässler von geradlinig, wenn einzelne Ideentypen durch viele Ideen ausgearbeitet wurden und selten Ideentypwechsel stattfanden, bis sprunghaft, wenn verschiedenste Ideentypen durch eher wenige Ideen ausgearbeitet wurden und häufige Ideentypwechsel stattfanden, charakterisiert werden konnte. Die konkrete, relative Verteilung in Abb. 5 verdeutlicht, dass über beide offenen Aufgaben hinweg etwa gleich viele kreative Aufgabenbearbeitungen der jungen Schulkinder eine eher geradlinige wie sprunghafte Komposition aufwiesen.

Abb. 5
figure 5

Charakterisierung des Teilaspekts 2 der Flexibilität: Komposition der Ideentypwechsel

Zusammenfassung der Flexibilität

Zusammenfassend wurden beide Teilaspekte der Flexibilität, nämlich die produktorientierte Diversität der Ideentypen (Kontinuum von gleichartig bis vielfältig) und die prozessorientierte Komposition der Ideentypwechsel (Kontinuum von geradlinig bis sprunghaft) aufeinander bezogen und durch eine Matrix abgebildet. Auf diese Weise konnten vier Ausprägungsbereiche der kindlichen Flexibilität aufgespannt werden (Abb. 6): sprunghaft-vielfältig (häufige Ideentypwechsel mit Ausarbeitung weniger Ideen, eher viele Ideentypen), sprunghaft-gleichartig (häufige Ideentypwechsel mit Ausarbeitung weniger Ideen, eher wenige Ideentypen), geradlinig-gleichartig (seltene Ideentypwechsel mit Ausarbeitung vieler Ideen, eher wenige Ideentypen), geradlinig-vielfältig (seltene Ideentypwechsel mit Ausarbeitung vieler Ideen, eher viele Ideentypen).

Abb. 6
figure 6

Charakterisierung der Flexibilität

Diese vier Flexibilitätsausprägungen konnten durch mehr oder minder viele kreative Aufgabenbearbeitungen der jungen Schulkinder abgebildet werden (Abb. 6). Dabei zeigte sich, dass von den 36 kreativen Aufgabenbearbeitungen exakt drei Viertel entweder im Bereich einer geradlinig-gleichartigen oder einer sprunghaft-vielfältigen Flexibilität eingeordnet wurden. Dies kann darauf hinweisen, dass ähnlich zur Annahme von Leikin (2009) ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen dem Zeigen von verschiedenen Ideentypen und dem Wechsel zwischen diesen vermutet werden kann. So scheint eine eher sprunghafte Komposition zumeist mit einer eher vielfältigen Diversität einherzugehen und umgekehrt. Allerdings verdeutlichen die neun weiteren Aufgabenbearbeitungen der Erstklässlerinnen und Erstklässler, die entweder dem geradlinig-vielfältigen oder den sprunghaft-gleichartigen Bereich eingeordnet wurden, dass eine getrennte Betrachtung der beiden Teilaspekte bedeutsam ist, um das gesamte Spektrum der kindlichen Flexibilität bei der kreativen Bearbeitung offener Aufgaben charakterisieren zu können.

Auf mathematischer Ebene lässt sich die Flexibilität der Erstklässlerinnen und Erstklässler bei den beiden kreativen Aufgabenbearbeitungen zusätzlich über diejenigen arithmetischen Ideentypen beschreiben, welche die Produktionsphasen der Kinder prägten. So waren 20 der 36 kreativen Aufgabenbearbeitungen von verschiedensten frei-assoziierten Ideen geprägt, während bei elf Bearbeitungen die muster-bildenden Ideen, bei vier Bearbeitungen die struktur-nutzenden Ideen und bei nur einer Bearbeitung die klassifizierenden Ideen dominierten. Aufgrund der Zuordnung der prägenden Ideentypen zu den verschiedenen Flexibilitätsausprägungen können abschließend zwei wesentliche Erkenntnisse über die Flexibilität junger Schulkinder formuliert werden:

  • Bei Aufgabenbearbeitungen von Kindern mit vielen verschiedenen Ideentypen (vielfältige Diversität) und häufigen Ideentypwechseln mit einer eher geringen Anzahl an Ideen pro Ideentyp (sprunghafte Komposition) dominierten vor allem die frei-assoziierten Ideen mit ihren verschiedenen Subkategorien. In Abb. 7 wird eine solche Flexibilitätsausprägung anhand des linken IKS von Jessikas Bearbeitung der zweiten arithmetisch offenen Aufgabe [Ergebnis 12] deutlich: Die Erstklässlerin zeigte durch ihre sechs verschiedenen Subkategorien an Ideentypen eine eher vielfältige Diversität. Dabei konnte ihre Komposition als sprunghaft beschrieben werden, da sie insgesamt häufig und meist schon nach einer eigenen Idee zwischen ihren gezeigten arithmetischen Ideentypen hin und her wechselte.

  • Zeigten Schulkinder tendenziell wenige verschiedene Ideentypen (gleichartige Diversität) und wechselten seltener zwischen diesen, sondern arbeiteten die Ideentypen durch viele einzelne Ideen aus (geradlinige Komposition), dann dominierten insbesondere die wachsenden Zahlenfolgen als muster-bildende Ideen oder Nachbaraufgaben über das gegen- bzw. gleichsinnige Verändern als struktur-nutzende Ideen. Diese Flexibilitätsausprägung wird ebenfalls in Abb. 7 anhand des rechten IKS von Maries Bearbeitung der zweiten offenen Aufgabe verdeutlicht: Das Mädchen zeigte mit nur drei verschiedenen Subkategorien an Ideentypen eine gleichartige Diversität. Dabei wechselte sie nur einmal den Ideentyp und produzierte viele einzelne Ideen einer wachsenden Zahlenfolge, weshalb ihre Komposition als geradlinig beschrieben wurde.

Abb. 7
figure 7

IKS von Jessika und Maria bei A2 im Vergleich

4.3 Originalität

Alle Erstklässlerinnen und Erstklässler beendeten von sich aus die kreative Bearbeitung der beiden arithmetisch offenen Aufgaben, wenn sie entweder keine oder unendlich viele weitere Ideen hätten produzieren können. Anschließend wurden die Kinder mittels konkreter Impulse (Abschn. 3.2) dazu angeregt, ihre Antwort zu den offenen Aufgaben durch für sie individuell neue Ideentypen zu erweitern und in diesem Sinne originell tätig zu werden. Um die Originalität nun detaillierter zu charakterisieren, wurde für alle kreativen Aufgabenbearbeitungen das Verhältnis aus der Anzahl verschiedener Ideentypen auf Ebene der Subkategorien in der Produktionsphase zur Anzahl neuer Ideentypen in der Reflexionsphase gestellt. Auf diese Weise wurde der sogenannte Erweiterungsfaktor \(E=1+\frac{\textit{Anzahl}\,\textit{neuer}\,\textit{Ideentypen}\,\textit{in der}\,\textit{Reflexion}}{\textit{Anzahl}\,\textit{Ideentypen}\,\textit{in}\,\textit{der}\,\textit{Produktion}}\) berechnet. Je stärker sich der Faktor dem Wert 1 annäherte, desto geringer erweiterte das Kind seine arithmetischen Ideentypen von der Produktions- zur Reflexionsphase und umgekehrt. Anhand der für beide offenen Aufgaben vergleichbaren Mittelwerte \((M_{A1}=1{,}66;M_{A2}=1{,}49)\) konnte abgelesen werden, dass die Erstklässlerinnen und Erstklässler ihre Ideentypen während der Reflexion im Schnitt um die Hälfte erweiterten. Allerdings zeigten die Lernenden bei der kreativen Bearbeitung der Aufgabe A1 [Zahl 4] eine fast doppelt so große Spannweite in der Erweiterung ihrer Antwort durch neue Ideentypen als bei A2 [Ergebnis 12] \((\mathrm{MIN}_{A1}=1{,}08/\mathrm{MAX}_{A1}=4{,}5;\mathrm{MIN}_{A2}=1/\mathrm{MAX}_{A2}=2{,}5)\). In Abb. 8 ist die relative Verteilung der 36 Aufgabenbearbeitungen der jungen Schulkinder auf dem Originalitäts-Kontinuum von einer schwachen Erweiterung, wenn die Kinder tendenziell wenige weitere neue arithmetische Ideentypen zeigten, bis hin zu einer sehr starken Erweiterung, wenn die Kinder viele neue Ideentypen produzierten, dargestellt. Aus dieser Verteilung wird ersichtlich, dass genau zwei Drittel der kreativen Aufgabenbearbeitungen der Erstklässlerinnen und Erstklässler im Bereich einer eher schwachen Originalität eingeordnet wurden.

Abb. 8
figure 8

Charakterisierung der Originalität

Wie bereits für die Flexibilität in den Produktionsphasen wurden auch für die Reflexionsphasen der kreativen Aufgabenbearbeitungen diejenigen arithmetischen Ideentypen ermittelt, in denen die Erstklässlerinnen und Erstklässler die meisten neuen Ideen zeigten. Insgesamt erweiterten die jungen Schulkinder ihre Antwort bei 16 der 36 kreativen Aufgabenbearbeitungen vor allem durch struktur-nutzende Ideen, in neun Bearbeitungen durch klassifizierende Ideen, in sechs Bearbeitungen durch frei-assoziierte Ideen und in fünf Bearbeitungen durch muster-bildende Ideen. Zudem können weitere bedeutsame Erkenntnisse aus der Verteilung der kreativen Aufgabenbearbeitungen auf dem Originalitäts-Kontinuum in Verbindung mit ihren präferierten Ideentypen gezogen werden: War die Reflexionsphasen der jungen Kinder insbesondere von verschiedensten neuen struktur-bildenden Ideen geprägt, dann ordneten sich ihre kreativen Aufgabenbearbeitungen in einem eher starken Bereich der Originalität an. Präferierten die Kinder hingegen muster-bildende Ideen, dann ging dies zumeist mit einer eher schwachen Originalität einher. Dies kann dadurch erklärt werden, dass nur vier verschiedene Subkategorien der muster-bildenden Ideen analysiert werden konnten und dieser Ideentyp daher weniger das Potenzial bietet, eine besonders große Diversität und damit auch Originalität der Ideentypen zu zeigen (Abschn. 4.2). Außerdem erweiterten die jungen Lernenden ihre Ideentypen durch variationsreiche neue klassifizierende Ideen, indem sie ihre bereits zuvor produzierten Zahlensätze nach eigens gewählten Kriterien sortierten.

An dieser Stelle wird bereits deutlich, dass für die Erstklässlerinnen und Erstklässler eine gezielte Rückschau auf die eigene Antwort nötig war, um bei ihren kreativen Aufgabenbearbeitungen originell werden zu können und neue Ideentypen zu zeigen. Als Ausgangspunkt für die Reflexionsphase dienten den jungen Lernenden daher insbesondere ihre produzierten Zahlensätze, die vor ihnen auf dem Tisch individuell angeordnet lagen. Dabei erfüllten die Zahlensätze zwei verschiedene Funktionen: (1) Die Schülerinnen und Schüler verwendeten ihre bereits produzierten Zahlensätze, um einzelne ihrer zuvor gezeigten Ideen zu wiederholen oder daran neue zu entwickeln (Verwendung). (2) Die Schulkinder ergänzten selbstständig ihre Antwort zu der arithmetisch offenen Aufgabe mit weiteren Zahlensätzen und entwickelten daran neue Ideen (Ergänzung). Diese beiden Funktionen ordneten sich in den 36 Aufgabenbearbeitungen der Erstklässlerinnen und Erstklässler zeitlich unterschiedlich an, was zu vier verschiedenen Reflexionsweisen der Schulkinder führte: In acht Aufgabenbearbeitungen verwendeten die Lernenden fast ausschließlich ihre zuvor produzierten Zahlensätze, um Ideen zu wiederholen, weiter auszuarbeiten oder neue zu entwickeln (Henry, Abb. 9). Darüber hinaus wechselten die jungen Schulkinder in 14 kreativen Aufgabenbearbeitungen zwischen der Verwendung und der Ergänzung von Zahlensätzen hin und her, um bereits zuvor gezeigte oder neue Ideentypen auszuarbeiten (Noah, Abb. 9). Bei zwölf kreativen Bearbeitungen der beiden offenen Aufgaben verwendeten die Erstklässlerinnen und Erstklässler zunächst ihre produzierten Zahlensätze, um daran Ideen zu elaborieren, und ergänzten danach ihre Antwort (Jessika, Abb. 9). Bei zwei Aufgabenbearbeitungen geschah dies genau umgekehrt (Anna, Abb. 9).

Abb. 9
figure 9

Reflexionsweisen aus Verwendung (grau) und Ergänzung (weiß) von Zahlensätzen

Bezieht man die Ergebnisse zur Charakterisierung der Originalität der Schulanfängerinnen und -anfänger, die sie bei der kreativen Bearbeitung offener Aufgaben zeigten (Abb. 8), auf ihre entsprechenden Reflexionsweisen (Abb. 9) so kann folgendes festgestellt werden: Eine eher starke Erweiterung durch neue Ideentypen konnte dann in den kreativen Aufgabenbearbeitungen analysiert werden, wenn die Erstklässlerinnen und Erstklässler bei der Reflexion ihrer Antwort zusätzlich zur Verwendung ihrer bereits produzierten Zahlensätze selbstständig deren Ergänzung vornahmen. Dies galt insbesondere für die zeitgleiche Verwendung und Ergänzung von Zahlensätzen und damit die Ausarbeitung von bereits zuvor gezeigten und neuen Ideen.

5 Diskussion und Perspektiven

Als Erweiterung aktueller Forschungsarbeiten zur mathematischen Kreativität junger Schülerinnen und Schüler (Beck 2022; Kattou et al. 2016; Sak und Maker 2006; Schacter et al. 2006) wurde in diesem Beitrag der Fokus auf eine qualitative Beschreibung kreativer Aufgabenbearbeitungen von Erstklässlerinnen und Erstklässlern gelegt. Zunächst wurden unter Berücksichtigung des individuellen mathematischen Erfahrungsraums von Kita- und Grundschulkindern eine konkrete Definition der individuellen mathematischen Kreativität entwickelt (Abschn. 2.2) und dabei insbesondere ein Vorschlag für ein adaptiertes Begriffsverständnis der Originalität junger Mathematiklernender unterbreitet (Abschn. 2.2.3). Im Rahmen der präsentierten Studie wurden daraufhin die kreativen Bearbeitungen zweier arithmetisch offener Aufgaben von 18 Erstklässlerinnen und Erstklässlern charakterisiert, indem das qualitative Spektrum der kindlichen Denkflüssigkeit, Flexibilität und Originalität mittels Kontinuen beschrieben wurde (Abschn. 3.3 und 4). Durch diese deskriptive Darstellungsform konnte die individuelle mathematische Kreativität von Schulkindern bei der Bearbeitung offener Aufgaben relativ zueinander abgebildet und dadurch die etablierten Zugangs- und Beschreibungsweisen anderer Kreativitätsforschender (etwa Kattou et al. 2016; Leikin 2009; Sak und Maker 2006) ausgeweitet werden.

In Ergänzung zu ähnlichen Kreativitätsstudien (Abschn. 2) verdeutlichen die Ergebnisse dieses Beitrags, dass auch Erstklässlerinnen und Erstklässler bei ihren kreativen Aufgabenbearbeitungen in Bezug auf die Denkflüssigkeit ein weites Spektrum (gering bis umfangreich) an verschiedenen Ideen produzieren können (Abschn. 4.1). Des Weiteren konnte, wie in den theoretischen Ausführungen vermutet, bei der Charakterisierung der Flexibilität herausgestellt werden, dass es mit Blick auf junge Schulkinder bedeutsam ist, das Zeigen verschiedener Ideentypen (gleichartige bis vielfältige Diversität) und das Vollziehen von Ideentypwechseln (geradlinige bis sprunghafte Komposition) separat zu betrachten (Abschn. 4.2). Da neun der insgesamt 36 Aufgabenbearbeitungen nicht den Flexibilitätsausprägungen geradlinig-gleichartig und sprunghaft-vielfältig zugeordnet werden konnten, kann der von Leikin (2009) angenommene lineare Zusammenhang zwischen der Diversität und Komposition der Ideentypen in dieser Studie mit jungen Schulkindern nicht vollends bestätigt werden. Vielmehr scheint es für die Charakterisierung der Flexibilität von Schülerinnen und Schülern bedeutsam, deren kreatives Produkt, an dem besonders gut die verschiedenen Ideentypen identifiziert werden können, und ihren kreativen Prozess, an dem die Komposition von Ideentypwechseln sichtbar wird, separat zu analysieren. Zuletzt konnte das qualitative Spektrum der Originalität über die Erweiterung durch neue Ideentypen (schwach bis stark) der jungen Schülerinnen und Schüler charakterisiert werden, die auf einer bewusst initiierten Reflexion der gesamten Antwort basierten (Abschn. 4.3). Basierend auf den Ideen von Treffinger et al. (2002), Silver (1997) sowie Lev-Zamir und Leikin (2011) kann dieses Verständnis der Originalität, das speziell auf die Beschreibung der individuellen mathematischen Kreativität junger Schulkinder ausgerichtet ist, als Ausgangspunkt für die sukzessive Entwicklung ihrer Fähigkeit dienen, mathematisch herausragende, einsichtsbasierte und/oder statistisch seltene Ideentypen zu zeigen. Dabei konnte in dieser Studie vor allem die Bedeutsamkeit der jederzeit verfügbaren Zahlensätze hervorgehoben werden, welche den Erstklässlerinnen und Erstklässlern als Basis für die Reflexion ihrer Antwort und damit auch als Hilfe für die Erweiterung durch neue Ideentypen dienten (Abschn. 4.3). Dieses Ergebnis weist darauf hin, dass Lehrkräfte, die junge Schulkinder bei der kreativen Bearbeitung offener Aufgaben begleiten, in der Reflexionsphase die Möglichkeit einer Ergänzung der Zahlensätze zum Entwickeln subjektiv neuer und relativ zur Peergroup origineller Ideentypen ermöglichen sollten, um das Potenzial dieser Phase für das Zeigen der Originalität zu entfalten.

Als eine Limitation der präsentierten Studie ist zu beachten, dass das laute Denken der Kinder als methodischer Zugang zu deren Ideen gewählt wurde (Abschn. 3.2), was sich für die detaillierte Charakterisierung kreativer Fähigkeiten von Erstklässlerinnen und Erstklässlern als geeignet erwies. Darüber hinaus erscheint es vielversprechend, auch die Elaborationsfähigkeit von Lernenden in den Blick zu nehmen und so mögliche Zusammenhänge zwischen den drei etablierten kreativen Fähigkeiten und der Elaboration präzise zu beschreiben (Kattou et al. 2016; Leikin 2009; Sak und Maker 2006). Dies kann bspw. geschehen, indem eine Vernetzung der mathematikdidaktischen Kreativitätsforschung mit Erkenntnissen zu verschiedenen Sprachhandlungen von Lernenden (etwa Rösike et al. 2020) oder zum Einsatz von Scaffolding-Methoden (etwa Anghileri 2006) vorgenommen wird. Des Weiteren vermuten Forschende wie Baer und Kaufman (2017) oder Levenson et al. (2018), dass die Kreativität von Schulkindern als aufgabenspezifisch zu verstehen ist. So könnte auf Grundlage der in diesem Beitrag präsentierten Ergebnisse geprüft werden, inwiefern sich die individuellen Ausprägungen der Denkflüssigkeit, Flexibilität und Originalität von Erstklässlerinnen und Erstklässlern bei der kreativen Bearbeitung verschiedener offener Aufgaben unterscheiden. Zuletzt ist zu betonen, dass die zuvor präsentierten Ergebnisse vorrangig die individuelle mathematische Kreativität der ausgewählten 18 Erstklässlerinnen und Erstklässler abbilden. Obwohl die Erstellung der Kontinuen auf statistischen Kennwerten dieser spezifischen Peergroup beruht, sind die konkreten Ausprägungen der Denkflüssigkeit, Flexibilität und Originalität potenziell auch auf weitere Gruppen an Schulkindern übertragbar. So würden sich durch die Wahl einer anderen Stichprobe zwar die entsprechenden Kennwerte verändern, die relative Anordnung der kreativen Aufgabenbearbeitungen sich aber immer noch auf einem Kontinuum von bspw. einer geringen bis umfangreichen Denkflüssigkeit bewegen. Daher könnten die in dieser Studie erarbeiteten Kontinuen mit den entsprechenden Ausprägungsbereichen auch in weiteren Studien (sowie perspektivisch auch im Mathematikunterricht) genutzt werden, um die kreativen Aufgabenbearbeitungen von Grundschulkindern zu beschreiben. Dabei wäre es wünschenswert, offene Aufgaben mit anderen inhaltlichen Schwerpunkten (z. B. Geometrie, Kombinatorik) oder Darstellungsformen (z. B. Textaufgaben, Rechenbilder) zu nutzen. Weitere Möglichkeiten für Anschlussforschungen ergeben sich aus der Tatsache, dass in dieser Studie die Erstklässlerinnen und Erstklässler die beiden offenen Aufgaben allein bearbeiteten. Inwiefern sich kreative Aufgabenbearbeitungen in Partner‑, Kleingruppen- oder Klassensituationen beschreiben lassen, gilt es weiter auszuarbeiten und so Erkenntnisse über die collective mathematical creativity (Levenson 2011) von Schülerinnen und Schülern zu sammeln.