Lehrkräfte werden in ihrer beruflichen Tätigkeit vor vielfältige Herausforderungen gestellt und müssen dabei in zentralen Handlungsfeldern wie Unterrichten, Erziehen, Beurteilen, Beraten und Innovieren (vgl. KMK 2019) professionell urteilen, entscheiden und handeln. Entsprechend breit müssen professionelle Kompetenzen von Lehrkräften angelegt sein. Diagnostizieren als zentraler Prozess und Kompetenzbereich von Lehrkräften ist dabei nicht nur für das Beurteilen, sondern auch für das Unterrichten, Erziehen und Beraten zentrale Voraussetzung, und daher in den letzten Jahrzehnten zunehmend in den Fokus der wissenschaftlichen Untersuchung geraten (vgl. bspw. Klug et al. 2012; Reuker und Künzell 2021; Schrader und Praetorius 2018). Dabei versteht man Diagnostizieren im Allgemeinen als ein Sammeln, Integrieren und Verarbeiten von Informationen mit dem Ziel, bildungsbezogene Entscheidungen zu treffen (Ingenkamp und Lissmann 2008; siehe auch Heitzmann et al. 2019; Herppich et al. 2018; Leuders et al. 2017; Loibl et al. 2020). Entsprechende Prozesse können je nach Perspektive von spontanen, individuellen Fragen an Lernende im Unterricht über die summative Erfassung des Lernstands ganzer Gruppen bis hin zur Schwierigkeitsabschätzung einzelner Aufgaben reichen (vgl. Herppich et al. 2018; Shavelson et al. 2008).

Das vermehrte Forschungsinteresse für Diagnostizieren speist sich insbesondere aus drei zentralen Aspekten: Erstens zeigen empirische Ergebnisse wiederholt, dass insbesondere Lehrkräfte zu Beginn ihrer Laufbahn (im Studium und der anschließenden Praxis) erhebliche Schwierigkeiten beim Diagnostizieren von Merkmalen Lernender haben (Levin et al. 2009; Stokking et al. 2003). Entsprechend gab es vermehrt Forderungen, dass Diagnostizieren als zentrale unterrichtliche Praxis bereits in der universitären Ausbildung mehr Platz einnehmen müsse (vgl. Grossman et al. 2009; Janssen et al. 2014; Reid 2011). Hierfür muss das Lernen und Lehren von Diagnosekompetenzen stärker untersucht werden und entsprechende Praxisrepräsentationen sowie Unterstützungsmaßnahmen müssen geschaffen und evaluiert werden (Grossman et al. 2009; Grossman 2021).

Zweitens wurden Diagnostizieren bzw. Diagnosekompetenzen schon früh durch Diagnoseakkuratheit, d. h. die Übereinstimmung der Diagnose mit einem Referenzmaß (vgl. Spinath 2005; Südkamp et al. 2012; Urhahne und Wijnia 2021) operationalisiert. Obwohl Diagnoseakkuratheit sicherlich ein zentrales Maß für Diagnosekompetenzen darstellt, wurde dieser enge Forschungsfokus zunehmend kritisiert (vgl. Herppich et al. 2018) und der Fokus auf einen breiteren Begriff des Diagnostizierens als Untersuchungsgegenstand gelegt. Dies beinhaltet sowohl den Fokus auf andere Outcome-Maße (vgl. Fischer und Opitz 2022) wie auch die Betrachtung von Diagnoseprozessen (vgl. Heitzmann et al. 2019; Herppich et al. 2018; Klug et al. 2013).

Drittens ist das Diagnostizieren auch aus kognitionspsychologischer Perspektive bisher nicht ausreichend untersucht und verstanden, sodass nur wenige gesicherte Aussagen über die kognitiven Prozesse im Kontext des Diagnostizierens und deren Auswirkungen auf das Handeln von Lehrkräften gemacht werden können (Loibl et al. 2020).

Gerade aus fachdidaktischer Perspektive ist darüber hinaus wichtig, dass theoretische Konzeptualisierungen sowie empirische Analysen betonen, dass Diagnostizieren in vielen Situationen natürlicherweise auf dem fachlichen und fachdidaktischen Wissen der diagnostizierenden Lehrkraft beruht. Beispielsweise ist dies nötig, um überhaupt Fehler von Schülerinnen und Schülern zu bemerken, um für zentrale Fehlvorstellungen von Lernenden oder schwierigkeitsgenerierende Merkmale von Aufgaben sensibilisiert zu sein und um Lösungen von Schülerinnen und Schülern erklären zu können (Leuders und Loibl 2021). Gleichzeitig zeigen vielfältige Forschungsansätze, dass sich entsprechendes diagnostisches Denken (im Sinne interner, mentaler Prozesse) oder auch Handeln (im Sinne extern wahrnehmbarer Prozesse) domänenunabhängig charakterisieren lassen (vgl. Goodwin 2015; Heitzmann et al. 2019; Sherin et al. 2010). Im Sinne von Blömeke et al. (2015) kann entsprechend hypothetisiert werden, dass Diagnostizieren in dem Sinne fachspezifisch ist, dass für viele Diagnosen fachspezifische Dispositionen benötigt werden, und in dem Sinne domänen-generell, dass die Aktivitäten beim Diagnostizieren über Domänen hinweg vergleichbar sind (wenn auch natürlich spezifisch geprägt). Entsprechende Annahmen und Ergebnisse finden sich auch in den im Themenheft inkludierten Beiträgen wieder. Mit dieser Dualität sind etliche Fragen verbunden, unter anderem: Welche diagnostischen Aspekte sind spezifisch für Mathematiklehrkräfte? Was sind spezifisch mathematikdidaktische Fragestellungen in Bezug auf Diagnosen? Welchen Beitrag leistet mathematikdidaktische Forschung mit Blick auf das gesamte Forschungsfeld?

Im Sinne dieser sich verändernden Perspektive auf das Diagnostizieren von Lehrkräften und der Frage des Einflusses fachlicher Voraussetzungen von Lehrkräften auf das Diagnostizieren bündelt das Themenheft aktuelle Beiträge zum Diagnostizieren von Mathematiklehrkräften. Es verknüpft dabei auch die drei großen Verbundprojekte NeDiKo, Cosima und DiaKom, welche sich seit 2014 ausführlich mit dem Thema Diagnostizieren von Lehrkräften im deutschsprachigen Raum auseinandergesetzt haben und sowohl fachliche als auch fachübergreifende Aspekte untersucht haben. Neben der Darstellung aktueller Ergebnisse im Forschungsbereich verfolgt das Themenheft dabei insbesondere zwei Ziele: Das Themenheft soll durch die Nebeneinander- und Gegenüberstellung verschiedener Forschungsansätze einen Einblick in die Breite des Forschungsbereichs liefern und Impulse setzen, sowohl in Bezug auf die Vereinheitlichung theoretischer Perspektiven und verwendeter Sprache als auch hinsichtlich bisher wenig erforschter Bereiche. Gleichzeitig soll das Themenheft – welches nicht umsonst im Journal für Mathematik-Didaktik erscheint – fachspezifische Aspekte des Diagnostizierens beleuchten und explorieren, was der spezifische Beitrag der Mathematikdidaktik zum allgemeinen Forschungsbereich Diagnostizieren ist, sein kann und ggfs. sogar sein sollte.

1 Beiträge zum Themenheft

Das Themenheft enthält neben Beiträgen zu einzelnen Studien zunächst einen Überblicksartikel zum diagnostischen Denken und Handeln von Lehrkräften (Leuders et al. 2022). Dieser diskutiert den Forschungsgegenstand ausführlich und stellt verschiedene Perspektiven auf ebendiesen vergleichend dar, sodass im Rahmen des Editorials auf eine tiefer gehende Klärung der Begrifflichkeiten verzichtet wird. Leuders et al. präsentieren in dem Beitrag insbesondere den Entwurf eines übergreifenden Frameworks für Forschung zum diagnostischen Denken und Handeln von Lehrkräften. Dieses erlaubt es, Forschung in diesem Bereich hinsichtlich des Forschungsfokus, der Ziele, der Methodik sowie der theoretischen Prämissen zu strukturieren sowie Stärken und Schwächen bisheriger Forschung systematischer zu identifizieren, um so eine Orientierung für die zukünftige Forschung zu liefern (vgl. Abb. 1).

Abb. 1
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Übergreifendes Framework für diagnostisches Denken und Handeln von Lehrkräften (Leuders et al. 2022)

Das übergreifende Framework ist im Rahmen des Themenheftes von zentraler Bedeutung, da es die strukturierte Zusammenschau sowie Gegenüberstellung der weiteren sechs Beiträge des Themenheftes ermöglicht. Dafür werden im Folgenden zunächst die sechs Beiträge hinsichtlich der Kategorien des Frameworks beschrieben, um anschließend das Themenheft als Ganzes im Framework zu verorten.

Ziel der Interventionsstudie von Larrain und Kaiser (2022) in der ersten Phase der Lehrkräftebildung war es zu beschreiben, welche Art von Hypothesen Studierende über die Ursachen von Fehlern von Schülerinnen und Schülern bilden. Darüber hinaus untersuchten die Autorinnen die Rolle von Überzeugungen, Wissen und Lehrerfahrung für die diesbezügliche diagnostische Kompetenz sowie deren Entwicklung. Fokus der Studie lag entsprechend auf den Bereichen Diagnostizieren Lernen, diagnostisches Denken und diagnostische Dispositionen. Die Studie basiert auf Daten von N = 131 chilenischen Grundschullehramtsstudierenden, die an Interventionssitzungen zum mathematischen Denken und Lernen mit Fokus auf Fehler von Schülerinnen und Schülern teilnahmen. Die Studierenden wurden mittels Videovignetten gebeten, Gründe für die aufgetretenen Fehler zu nennen. Die Daten wurden mittels qualitativer Inhaltsanalyse sowie quantitativ analysiert. Zentrale theoretische Prämissen stellen die Annahme der Aussagekraft der Befunde trotz methodischer Einschränkungen (u. a. keine Kontrollgruppe) sowie die Generalisierbarkeit der Befunde über die gestellten diagnostischen Aufgaben sowie den chilenischen Kontext und die Annahme der Relevanz der Befunde für das unterrichtliche Handeln sowie das Lernen von Schülerinnen und Schüler dar.

Ziel der im Beitrag von Enenkiel et al. (2022) untersuchten Intervention in der ersten Phase der Lehrkräftebildung war es, Studierende darin zu fördern, Lösungsprozesse von Lernenden zu beschreiben, zu deuten, mögliche Ursachen für Schwierigkeiten zu formulieren und Konsequenzen abzuleiten. Dies auf der Basis von Videovignetten und Rückmeldungen von Expertenurteilen. Der Fokus des Projekts ist somit zentral im Bereich des Diagnostizieren Lehren zu verorten. Die diagnostischen Dispositionen werden vor allem als gegenstandsspezifisches fachdidaktisches Wissen konzeptualisiert. Die Studie zeigt auch den Ansatz, die diagnostische Situation durch den Einsatz von Videovignetten möglichst realitätsnah und dennoch ökonomisch in großen Lehrveranstaltungen einsetzbar zu gestalten (N = 182 Studierende). Methodisch beruht die Prä-Post-Messung der Interventionsstudie auf der theoretisch fundierten Erfassung verschiedener Facetten diagnostischer Kompetenzen durch Tests. Die Modellierbarkeit solcher abgrenzbaren Kompetenzen und die Annahme, dass sie sich im Studium fördern (und in die spätere Praxis transferieren) lassen, sind zugleich die theoretischen Prämissen des Projektes.

Ziel des Beitrags von Schreiter et al. (2022) war es, den Einfluss von fachdidaktischem Wissen auf die Identifikation und Evaluierung von schwierigkeitsgenerierenden Aufgabenmerkmalen im Bereich Bruchrechnung und Winkel zu untersuchen. Die Studie fokussierte dafür maßgeblich die Bereiche diagnostisches Handeln, diagnostisches Denken sowie diagnostische Dispositionen. Zur Erreichung des Ziels wurde eine experimentelle Studie mit N = 46 Lehramtsstudierenden durchgeführt, in der die Teilnehmenden systematisch in ihrem fachdidaktischen Wissen bzw. der Sensibilisierung für schwierigkeitsgenerierende Aufgabenmerkmale gefördert wurden. Neben quantitativen Forschungsmethoden kamen Eye-Tracking und Stimulated Recall Interviews zum Einsatz. Zentrale theoretische Prämissen des Beitrags beziehen sich auf Informationsverarbeitungsmodelle, die dem diagnostischen Denken und Handeln zugrunde gelegt wurden, auf die Eye-Mind Hypothese für die Auswertung der Eye-Tracking Daten sowie auf den Einfluss verschiedener Aufgabenmerkmale auf die Aufgabenschwierigkeit.

Kron et al. (2022) betrachten Diagnoseinterviews von Lehramtsstudierenden mit simulierten Schülerinnen und Schülern. Ziel war es zu untersuchen, wie sich das professionelle Wissen von Lehramtsstudierenden sowie deren Interesse auf deren Sensitivität für das diagnostische Potenzial von Aufgaben, welche in dem Diagnoseinterview gestellt werden konnten, sowie auf die Diagnoseakkuratheit in den Diagnoseinterviews auswirkt. Die Studie fokussierte dafür maßgeblich die Bereiche diagnostisches Denken, diagnostisches Handeln sowie diagnostische Dispositionen. Zur Erreichung der Ziele wurden rollenspielbasierte Interviews mit N = 63 Lehramtsstudierenden durchgeführt, wobei diese je zwei Schülerprofile diagnostizieren mussten. Die Daten wurden quantitativ unter Verwendung linearer Mischmodelle analysiert. Zentrale theoretische Prämisse ist einerseits, dass den verwendeten Aufgaben ein situations- und personenunabhängiges diagnostisches Potenzial zugeschrieben werden kann. Andererseits wird Interesse als „door-opener“ für die Aktivierung von Wissen in simulationsbasiertem Lernen interpretiert, ohne genauer darzustellen, was genau eine solche Aktivierung – bspw. im Gegensatz zu einer Anwendung – charakterisiert.

In ihrem Beitrag untersuchten Philipp und Gobeli-Egloff (2022) den Einfluss fachbezogenen Wissens sowie der Auseinandersetzung und Reflexion mit und von diagnostischen Situationen auf die Fähigkeit von angehenden Primarstufenlehrkräften, Stärken und Schwächen von Schülerinnen und Schülern zu erkennen. Weiter wurde untersucht, welche Informationen im diagnostischen Prozess verwendet werden und wie entsprechendes Wissen ggfs. kombiniert wird. Die Studie fokussierte hierfür maßgeblich auf die Bereiche Diagnostizieren Lehren, Diagnostizieren Lernen, diagnostisches Handeln sowie diagnostische Dispositionen. Es wurde eine quasi-experimentelle Studie mit N = 181 Primarstufenlehrkräften durchgeführt. Die Änderungen bei der Identifikation und Evaluation von Stärken und Schwächen wurde quantitativ ausgewertet. Zudem wurde qualitativ die Verwendung von Wissen in entsprechenden Diagnoseprozessen untersucht. Zentrale theoretische Prämisse des Beitrags ist dabei, dass die untersuchten schriftlichen Dokumente der Lehrkräfte ausreichende Rückschlüsse auf die kognitiven Diagnoseprozesse der Lehrkräfte, insbesondere die Verwendung von Wissen in diesen Prozessen, zulassen.

Der Beitrag von Moser Opitz (2022) ist theoretischer Natur und formuliert die These, dass in den letzten Jahrzehnten zwei weitgehend unabhängige Entwicklungslinien das Thema Diagnostik in der Mathematikdidaktik beeinflusst haben: Zum einen orientiert sie sich an Konzepten und Modellen aus der pädagogischen Diagnostik bzw. der empirischen Unterrichtsforschung, zum anderen an dem aus der Sonderpädagogik stammendem Konzept der Förderdiagnostik. Dabei fokussiert insbesondere die letztere expliziter auf die Unterrichtspraxis als Verbindung von diagnostischem Handeln und didaktischen Handeln. Beiden Ansätzen bescheinigt die Autorin, dass sie das diagnostische Denken, also das Zustandekommen von Urteilen (und nachfolgenden didaktischen Entscheidungen) noch zu sehr vernachlässigt haben. Die zentrale theoretische Prämisse der Autorin besteht darin, dass – insbesondere für eine Nutzen in der Praxis – diagnostisches und didaktisches Denken und Handeln in engem Zusammenhang gesehen werden müssen.

2 Einordnung des gesamten Themenheftes

Die übergreifende Einordnung sämtlicher Beiträge des Themenheftes gemäß der Forschungslandkarte von Leuders et al. (2022) findet sich in Abb. 2, wobei für jeden Forschungsfokus die sechs Beiträge des Themenheftes in Form je eines Kreises dargestellt sind. Ist der jeweilige Forschungsfokus, bspw. diagnostisches Handeln, in einem der sechs Beiträge von zentralem Forschungsinteresse, so ist entsprechend einer der sechs Kreise schwarz eingefärbt.

Abb. 2
figure 2

Einordnung der Beiträge des Themenhefts gemäß ihrer Forschungsfoki (jeder schwarz gefärbte Kreis steht für einen Beitrag mit entsprechendem Forschungsfokus)

Es zeigt sich insgesamt, dass sich die Beiträge des Themenheftes klar im mittleren Bereich der Forschungslandkarte, d. h. auf das diagnostische Handeln und Denken konzentrieren. Dabei werden auffallend oft, insgesamt bei fünf von sechs Beiträgen, diagnostische Dispositionen wie bspw. Fachwissen oder fachdidaktisches Wissen einbezogen, was die Relevanz der Fachinhalte im Kontext des Diagnostizierens klar widerspiegelt. Einige wenige Beiträge fokussieren jedoch auch den Erwerb von Diagnosekompetenzen im Rahmen der universitären Lehramtsausbildung (vgl. Enenkiel et al. 2022; Larrain und Kaiser 2022, Philipp und Gobeli-Egloff 2022). Der theoretische Beitrag von Moser Opitz (2022) ist der einzige Beitrag, welcher die Unterrichtspraxis betrachtet. Das Lernen von Schülerinnen und Schülern als zentrale Outcome-Variable wird in keinem der Beiträge untersucht.

3 Beitrag der Mathematikdidaktik zur Forschung zum diagnostischen Denken und Handeln von Lehrkräften

Zur Verortung der Forschung im Themenheft sowie darüber hinaus ist insbesondere die detaillierte Darstellung möglicher Forschungsfoki im Rahmen der vorgeschlagenen Forschungslandkarte (vgl. Abb. 1, oberster Kasten; Abb. 2) von Bedeutung. Basierend auf den einzelnen dargestellten Forschungsfoki lassen sich drei übergeordnete Bereiche ausmachen:

  1. I.

    Diagnostizieren als Ausbildungsaufgabe in Studium und Referendariat sowie im Sinne der berufsbegleitenden Professionalisierung von Lehrkräften

  2. II.

    Diagnostisches Denken und Handeln als die zentralen Punkte der Forschungslandkarte und dem kognitionspsychologischen Nexus des Forschungsgebiets

  3. III.

    Diagnostizieren als zentrale Fähigkeit von Lehrkräften, mit Auswirkungen auf die Unterrichtspraxis und damit das Lernen von Schülerinnen und Schülern

Analog zu den Beiträgen im Themenheft, welche sich primär auf die Bereiche (I) und (II) fokussieren, nehmen wir als Gastherausgebende und Beteiligte an den Forschungsgruppen NeDiKo, DiaCom und Cosima auch die gesamte Forschungslandschaft – zumindest im deutschsprachigen Kontext – wahr. Teils aus methodischen, teils aus inhaltlichen Gründen werden die Bereiche (I) Diagnostizieren lehren und lernen sowie (II) Diagnostisches Denken und Handeln stark fokussiert. Dies spiegelt sich beispielsweise in den Meta-Analysen von Chernikova et al. (6,7,a, b), Südkamp et al. (2012) und Urhahne und Wijnia (2021) wider, welche eine Vielzahl an Studien in diesen Bereichen zusammenfassen. Entsprechende Publikationen zeigen, dass gerade domänen-übergreifende Forschung im Bereich II noch stark an der Urteilsakkuratheit orientiert ist (vgl. Südkamp et al. 2012; Urhahne und Wijnia 2021), sich aber zunehmend auch zugunsten eines Fokus auf den Diagnoseprozess davon löst (vgl. Herppich et al. 2018). Dieser stärkere Fokus auf Prozesse spiegelt sich in zwei Entwicklungen wider: Aus empirischer Perspektive werden Diagnoseprozesse durch die Verwendung moderner Technologien wie Eye-Tracking und Log-File-Daten immer breiter erfass- und untersuchbar. Gleichzeitig werden differenzierte theoretische Modelle vorgeschlagen und untersucht, welche diagnostisches Denken auf der Basis kognitionstheoretischer Modelle beschreiben (vgl. Loibl et al. 2020) oder welche diagnostisches Handeln als epistemischen Prozess modellieren (vgl. Bauer et al. 2020; Heitzmann et al. 2019). Entsprechende unterliegende theoretische Beschreibungen sind dann Grundlage und Voraussetzung für die Interpretation immer differenzierterer und aussagekräftigerer Prozessdaten. Zentral für den Fortschritt von Bereich II wird es sein, dass Diagnoseprozesse systematischer theoretisch beschrieben und valider und umfassender erfasst werden können und damit die Verbindung zwischen diagnostischem Denken und Handeln genauer untersuchbar wird.

Eine bessere Erfassung von Diagnoseprozessen wäre dann auch für Bereich I, das Lehren und Lernen des Diagnostizierens, zentral. In den letzten Jahren haben Befunde zur Förderung von Diagnosekompetenzen, zum simulationsbasierten Lernen sowie allgemeiner zur Darstellung und Förderung praxisbezogener Kompetenzen zugenommen. Zum Beispiel stellen Chernikova et al. (2020a) einen Zusammenhang zwischen Vorwissen und der Effektivität verschiedener Formen der Unterstützung her. Trotzdem stellt sich die Annäherung an individuelle Diagnoseprozesse in solchen Lernumgebungen nach wie vor schwierig dar, da kaum Ergebnisse auf entsprechend feinen Zeitskalen bzw. Ebenen vorliegen, um beispielsweise Aussagen darüber zu machen, wie innerhalb von Diagnoseprozessen adaptiv unterstützt werden kann. Im Sinne einer solchen adaptiven Förderung von Diagnoseprozessen (vgl. Plass und Pawar 2020), d. h. der Anpassung von Unterstützungsmöglichkeiten basierend auf den Leistungen der Lernenden vor und während dieser Simulationen, sind bessere Einsichten in die individuellen Diagnoseprozesse sowie theoretisch und empirisch basierte Handlungsoptionen notwendig, die auch schnell genug ausgewertet und umgesetzt werden können. Hoffnung machen hier erste Befunde zu automatisierten Prozessanalysen, die mit großer Genauigkeit Vorhersagen über den weiteren Diagnoseprozess und den Bedarf für Unterstützungsmöglichkeiten machen konnten (Brandl et al. 2021). Aktuell handelt es sich jedoch nur um einzelne Ergebnisse, die weder ausreichend belastbar noch ausreichend allgemein theoretisch fundiert sind.

Schließlich ist Bereich III, der Diagnostizieren von Lehrkräften mit der Unterrichtspraxis und dem Lernen von Schülerinnen und Schülern verbindet, aktuell kaum repräsentiert und – wenn überhaupt – eher Nebenaspekt größerer Studien (vgl. Binder et al. 2018; Brunner et al. 2013). Neben inhaltslogischen Gründen, dass ggfs. zunächst das diagnostische Denken und Handeln (Bereich II) besser verstanden werden muss, sehen wir hier insbesondere zwei Gründe: Nicht nur angesichts der aktuellen Corona-Pandemie ist der Feldzugang zu ausreichend großen Stichproben in der Unterrichtspraxis in vielen Bundesländern schwierig, sodass keine ausreichend allgemeinen oder kontrollierten Aussagen möglich sind, wohingegen beispielsweise ein Rückgriff auf Studierende (vgl. Bereich I) im Allgemeinen direkter möglich ist. Weiter erfordert eine Untersuchung von Bereich III auch eine stark fachspezifische, an den Unterrichtsverlauf und -gegenstand angepasste inhaltliche Ausgestaltung. Dies betrifft natürlich das Diagnostizieren selbst, zum Beispiel hinsichtlich fachlich und fachdidaktisch relevanter Indikatoren und Hinweise für diesen Prozess. Darüber hinaus betrifft dies auch die Erhebung der relevanten Kovariaten aufseiten der Lehrkräfte (diagnostische Dispositionen), die Beschreibung der Unterrichtspraxis selbst sowie die inhaltsspezifische Messung von Lernzuwächsen aufseiten der Schülerinnen und Schüler. Forschung in Bereich III benötigt also zwangsläufig Unterrichts- sowie Fachexpertinnen und -experten, in unserem Kontext Mathematikdidaktikerinnen und Mathematikdidaktiker. Neben Beiträgen zu den Bereichen I und II, für die teils natürlich auch fachspezifische Expertise benötigt wird, sind es also gerade die Fachdidaktiken, die zur Erschließung von Forschungsbereich III beitragen können und so das fachspezifische Lernen von Schülerinnen und Schülern als eine zentrale Outcome-Variable in die Forschung zum Diagnostizieren integrieren können. Dies ermöglicht die Beantwortung zentraler wie spannender Fragen:

  • Gestalten Lehrkräfte mit besseren Leistungen im Diagnostizieren ihren Unterricht tatsächlich adaptiver?

  • Welchen Beitrag leisten Diagnosekompetenzen zum fachlichem Lernen von Schülerinnen und Schülern über andere fachspezifische Dispositionen wie bspw. das fachdidaktische Wissen hinaus?

  • In welchem Verhältnis stehen in der universitären Ausbildung oder im Referendariat erworbene Diagnosekompetenzen und das Diagnostizieren von Lehrkräften im späteren beruflichen Alltag?

  • Wie nachhaltig sind etwaige Förderprogramme im Rahmen der Lehramtsausbildung?

Um diesen Beitrag zu leisten und den Forschungsbereich in den kommenden Jahren systematisch zu adressieren, bedarf es in der Mathematikdidaktik (sowie darüber hinaus) zunehmend Anstrengungen, um bisherige Forschung kohärent darzustellen, miteinander zu verknüpfen und Problemstellungen klar darzustellen (vgl. Praetorius et al. 2017). Das Framework von Leuders et al. (2022) kann hier einen weiteren Anstoß liefern, indem es eine Verortung der individuellen Forschung ermöglicht. Forschungssynthesen sowie Replikationsstudien stellen eine weitere Möglichkeit dar, indem Evidenz verschiedener Studien kombiniert wird oder bestimmte Effekte gezielt repliziert werden. Schließlich braucht es aus unserer Sicht jedoch noch darüber hinausgehende Anstrengungen. Ein zentrales Stichwort könnten hier Multi-Lab- oder Many-Lab-Studies sein, in denen sich verschiedene Standorte zusammenschließen, um in einer gemeinsamen Anstrengung Forschungsergebnisse zu produzieren, zu replizieren und hinsichtlich ihrer Gültigkeit basierend zum Beispiel auf verschiedenen Kovariaten zu untersuchen (vgl. bspw. Klein et al. 2014). Entsprechende Projekte wurden im Bereich der Psychologie bereits mit Erfolg – bzw. eigentlich Misserfolg, da viele zentrale Forschungsergebnisse nicht repliziert werden konnten – durchgeführt. Entsprechende Vorhaben wären auch im Kontext des Diagnostizierens von Mathematiklehrkräften gut vorstellbar, zum Beispiel um die unterschiedlichen Befunde hinsichtlich des Einflusses von Fachwissen und fachdidaktischem Wissen abzusichern (vgl. bspw. Kron et al. 2022; Rieu et al. 2022; Schreiter et al. 2022), um die Wirksamkeit und die Wirkmechanismen verschiedener Förderungsansätze beim Diagnostizieren Lernen zu untersuchen oder um den Einfluss des Diagnostizierens auf das Lernen von SuS zu evaluieren.

Für einen solchen Ansatz müsste jedoch zunächst eine ausreichende Übersicht über bisherige Befunde bestehen, bisherige Theorien und Sprache müssten kohärenter werden und – angesichts des mit solchen Studien verbundenen Aufwands – müsste auch geklärt werden, welche Aspekte des Diagnostizierens überhaupt untersuchungswürdig genug sind. In seiner kritischen Diskussion entsprechender Ansätze folgert Stroebe (2019), dass Forschungsvorhaben nicht auf die Replikation bzw. Prüfung von Effekten ausgelegt sein sollten, sondern auf die Prüfung von – in unserem Kontext mathematikdidaktischen – Theorien. Diese Aussage trifft insbesondere auch auf die hier fokussierte Forschung im Bereich diagnostischen Denkens und Handelns von Lehrkräften zu.

4 Hinweise & Danksagung

Das Editorial abschließen wollen wir zunächst mit dem Dank an alle Autorinnen und Autoren, die dem Call for Papers des Themenhefts gefolgt sind und einen Beitrag eingereicht haben. Nicht alle Einreichungen haben es in das Themenheft geschafft, was insbesondere auch zeitliche Gründe hatte – aktuell befinden sich noch mehrere für das Themenheft vorgesehene Beiträge im Begutachtungsverfahren. Diese werden vermutlich in den nächsten Issues des JMDs erscheinen, sollten inhaltlich aber noch als dem Themenheft zugehörig gedacht werden.

Bedanken wollen wir uns schließlich bei Dominik Leiss als betreuendem Herausgeber des JMD sowie bei dem gesamten Team der Herausgeberinnen und Herausgeber für die Unterstützung während des Entstehungsprozesses des Themenheftes.