Die Struktur der modernen Gesellschaft ist maßgeblich durch ein widersprüchliches Verhältnis zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen gekennzeichnet. Die rechtliche Ermächtigung des politischen Bürgers (citoyen) betont die Seite des Allgemeinen und ist in der politischen Moderne dem normativen Anspruch der Gerechtigkeit verpflichtet. Die bürgerliche Gesellschaft bekräftigt die partikularen Interessen des unpolitischen Bürgers (bourgeois) und goutiert das Besondere (Arndt, 2015). Reckwitz (2017) zeigt in seiner gesellschaftstheoretischen Analyse beispielhaft, wie das Verhältnis dieser beiden Seiten die Struktur der Moderne prägt und die Unterscheidung von Subepochen möglich macht. Für die gegenwärtige Phase der Moderne kommt Reckwitz zu dem Schluss, dass eine Orientierung am Singulären typisch ist und mit einer Krise des „gemeinsam Geteilte[n]“ (Reckwitz, 2017, S. 435) einhergeht.

Ansätze, das normative Prinzip des (gemeinsam geteilten) Allgemeinen begrifflich zu fassen, beschäftigen geistes- und kulturwissenschaftliche Diskurse seit langer Zeit. Neben Konzepten, die mit einem impliziten oder expliziten Freund-Feind-Denken operieren (z. B. gesellschaftlicher Zusammenhalt, Gemeinschaft) oder wesentlich den Sozialstaat verpflichten (z. B. Solidarität, Gemeinwohl), schlägt insbesondere Assmann (2020b) hier eine Reaktualisierung des Gemeinsinn-Begriffs vor. Im Unterschied zu den verwandten Begriffen markiert die normative Orientierung an Gemeinsinn (lat. sensus communis) dabei ein Versprechen, dass es etwas Gemeinsames geben könnte, das man in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern erkennen, verhandeln und realisieren kann. Im Feld des olympischen Sports kommt dieses Versprechen in der Verpflichtung zum Ausdruck, in sportlichen Praktiken das allgemeine Gut der Fairness zu realisieren, das den Ausgang des Wettkampfes an einen gerechten Vergleich zwischen sportlichen Leistungen bindet. Diese Verpflichtung hat im olympischen Sport den Status einer Verfassungsnorm, die im vierten Grundprinzip der Olympischen Charta deklariert ist (Schürmann, 2008) und in der aktuellen Erweiterung des Olympischen Mottos mindestens symbolische Verstärkung findet.Footnote 1 Damit ist Fairness eine sportspezifische Fassung der Gerechtigkeitsnorm, die den olympischen Sport zum prototypischen Sport der politischen Moderne macht (Schürmann, 2022). Unter Rückgriff auf den Gemeinsinn-Begriff wird nun die Frage relevant, wie die zentralen Träger des olympischen Sports, die Athlet*innen, in den spitzensportlichen Praktiken von diesem allgemeinen Gut tagein tagaus verpflichtet werden. Dieses Verpflichtet-Werden ist kein rein passiver Vorgang, vielmehr rechnet der olympische Sport mit „mündigen Athleten“ (Lenk, 1979), die die Güte der Fairness erkennen, (demokratisch) verhandeln und in gemeinsamen Praktiken realisieren. Dass und wie es damit in spitzensportlichen Praktiken fair zugeht, ist auf der praktischen Ebene vom Gemeinsinn abhängig. Ohne Gemeinsinn kann es keinen fairen olympischen Sport geben.

Die vorliegende Studie setzt hier an und fragt, wie spitzensportliche Praktiken das normative Prinzip des gemeinsinnigen Allgemeinen erkennen, verhandeln und realisieren. Unser Ziel ist es, handlungsleitende Orientierungen von Spitzensportler*innen dokumentarisch zu rekonstruieren, die Auskunft über die Herstellung und den Vollzug dieser Handlungspraxis geben. Auf Basis von narrativ fundierten Interviews mit Athlet*innen aus dem Schwimmen und dem Fußball arbeiten wir zu diesem Zweck empirisch gesättigte Typen heraus, die jeweils einen bestimmten typischen praktischen Modus des Gemeinsinns im olympischen Spitzensport artikulieren.

Theoretischer Rahmen

Gemeinsinn als normativer Leitbegriff in modernen Gesellschaften

Gemeinsinn ist ein zweigliedriges Kompositum, das sich, folgt man einer Analyse von Borsche (2020), begriffsgeschichtlich in zwei unabhängigen Bedeutungssträngen entwickelt hat. Ein naturphilosophischer Strang folgt der griechischen Begriffsgeschichte. Gemeinsinn (als koinê aisthesis) bezeichnet in der Wahrnehmungslehre bei Aristoteles eine meist körperliche Funktion, die das den verschiedenen Einzelsinnen des Menschen Gemeinsame beschreibt (z. B. Bewegung, Ruhe, Gestalt, Größe, Zahl, Einheit). Ein praktischer philosophischer Strang formiert sich ab der römischen Begriffsgeschichte. Gemeinsinn (als sensus communis) steht in der stoischen Philosophie für eine (v. a. moralisch-politische) Verbindung von Menschen, die auf der Basis einer gemeinsam geteilten Grundlage zusammengehalten wird. Gemeinsinn in diesem Sinne konzipiert damit etwas, wodurch Menschen sich praktisch mit anderen Menschen verbunden fühlen können (z. B. allgemeine Weisheiten, Rechte, Pflichten, Regeln oder Vereinbarungen, die ein bestimmtes Zusammenleben bedingen).

Die Frage nach der Orientierung am Allgemeinen im Spitzensport der modernen Gesellschaft bindet unsere Studie maßgeblich an den zweiten Bedeutungsstrang. Für unser Vorhaben sind zwei sensibilisierende Präkonzepte leitend. Mit Assmann (2020b) konzeptualisieren wir Gemeinsinn einerseits als eine tägliche demokratische Übung, mit der Menschen nach dem (Wahrheitsgehalt dessen) suchen, was sie als Personen in spezifischen Konstellationen miteinander verbindet. Diese Suche basiert auf allgemeinen Menschenrechten und Menschenpflichten, die für alle gelten und eine bestimmte Umgangsweise im Miteinander verbindlich verlangen. Assmann (2020b) geht dabei davon aus, dass diese Suchbewegung keineswegs zur Normalität unseres Alltags gehört, da wir in einer Zeit leben, die durch gesellschaftliche Spaltungen (von Identitäten, ökonomischen Klassen, politischen Lagern usw.) geprägt ist. In dieser Zeit hält sie den Begriff trotz einer historisch erwachsenen Skepsis in der jüngeren deutschen Geschichte, die Gemeinsinn als Gemeinschaftssinn auslegt und an die Idee der Volksgemeinschaft knüpft (Hirschman, 1994), nun explizit aufrecht, baut ihn aber als demokratischen Begriff neu auf. Gemeinsinn in diesem Sinn bedeutet deshalb keine Ein- und Unterordnung unter ein höheres Ganzes, das von oben oder außen zusammengehalten werden muss, um nicht aus den Fugen zu geraten. Vielmehr gilt Gemeinsinn als eine spezifische soziale Praxis, die ein „gedeihliches oder auch nur funktionierendes Miteinander von freien und gleichen Einzelnen“ (Bude, 2019, S. 30) vom Individuum aus konstituiert, dessen Sinn für das Gemeinsame geweckt und gestärkt wird, um ein aktiver Träger eines größeren Ganzen zu sein. Damit orientiert sich der Begriff an einem liberalen bürgerlichen Subjekt (citoyen) und damit verbundenen Leitwerten (z. B. Individualität, Mündigkeit, Selbstbestimmung), ohne einem egoistischen Eigensinn das Wort zu reden. Die gemeinsame Arbeit an den verbindenden sozialen Klammern ist in einigen biologischen Möglichkeiten verbürgt (z. B. Voraussetzungen, andere einzubeziehen, miteinander zu interagieren, zu kooperieren, sich in andere hineinzuversetzen, soziale Netze zu knüpfen; Bauer, 2021), ist aber ein performatives kulturelles Projekt, das eine erlernte Haltung voraussetzt und auf eine bestimmte Weise praktiziert werden muss, damit es in der Welt ist, gefördert und gepflegt werden kann (Assmann, 2020b).

In Rückgriff auf Überlegungen von Menke (2002) perspektivieren wir Gemeinsinn andererseits als eine Voraussetzung normativer Ordnungen, genauer gesagt: als Voraussetzung, um politische Ordnungen herzustellen, die auf dem Prinzip der Gerechtigkeit basieren. So geartete Ordnungen sind in der politischen Moderne reflexive Ordnungen, d. h. Ordnungen, die eigene Voraussetzungen gerechter Verhältnisse thematisieren und zum Gegenstand von Kritik machen. Gemeinsinn in dieser Form ist eine motivationale und hermeneutische Voraussetzung für die Herstellung einer gerechten Ordnung. Motivationale Voraussetzungen betonen, dass die beteiligten Akteure eine Einstellung wechselseitiger Verbundenheit und Verpflichtung brauchen, um auf die Suche nach gerechten Verhältnissen zu gehen. Die Verpflichtung der Gerechtigkeit wird dabei in den Gefühlen, Einstellungen und Haltungen verankert. Demgegenüber geht es bei einem hermeneutischen Verständnis von Gemeinsinn um gemeinsam geteilte Weisen des Verstehens, ohne die gerechte Ordnungen und Regelungen nicht möglich sind. Damit setzen wir dem sozialen Gemeinsinn bei Assmann (2020b) einen politischen Gemeinsinn an die Seite, der neben der Realisierung gerechter Handlungszusammenhänge auch die Reflexion der Bedeutung der darin enthaltenen Momente, d. h. die Reflexion der Verständnisse von Wünschen, Bedürfnissen, Verhältnissen und Personen einschließt (Menke, 2002).Footnote 2

Gemeinsinn in (spitzensportlichen) Praktiken der politischen Moderne

Gemeinsinn realisiert sich in der Teilnahme an einer liberalen Praxis, die sich durch eine spezielle Verbindung von Menschen auszeichnet. Der praktische Charakter verweist den Begriff für uns auf eine praxeologische Einbettung. Theorien sozialer Praktiken verorten das Soziale als sinnhafte Wissensordnungen und kollektive Formen des Verstehens und Bedeutens (Reckwitz, 2003). Soziale Praktiken sind „nexus of doings and sayings“ (Schatzki, 1996, S. 89), d. h. routinisierte Ströme aufeinander bezogener Aktivitäten, in die Menschen und ihre Körper, Zeichen, Räume und andere Artefakte integriert sein können. Im Gegensatz zu rationalistischen oder intentionalen Handlungstheorien ist das Soziale im Vollzugsgeschehen selbst verortet und betont „die tätige und situierte Seite des Handelns und Verhaltens“ (Hirschauer, 2016, S. 46). Das praktische Wissen und Können ist ein Knowing how, bestehend aus einem performativen Verstehen, Regeln und teleoaffektiven Strukturen (Schatzki, 2002), und hält das soziale Geschehen auf eine vornehmlich implizite und inkorporierte Weise am Laufen. Gemeinsinnige Praktiken sind damit in doppelter Weise auf ein soziales Band verwiesen. Sozialtheoretisch ist das kulturell vorstrukturierte Tun, Sprechen, Fühlen und Denken, das Menschen mit anderen Menschen verbindet, eine notwendige Bedingung, um Welt zu verstehen und sinnvoll in dieser Welt handeln können (Schäfer, 2016). Gesellschaftstheoretisch ist die Art und Weise, wie Menschen mit anderen Menschen praktisch verbunden sind, normativ auf ein bestimmtes allgemeines Gut verpflichtet, das in der Teilnahme an Praktiken realisiert wird. In der politischen Moderne ist dieses allgemeine Gut das normative Prinzip der (Leistungs‑)Gerechtigkeit, das sich im olympischen Sport auf der Gegenstandsebene als Fairness artikuliert, d. h. die sportspezifische Codierung von überlegenen und unterlegenen Leistungen wird durch die Offenheit des Wettkampfes aktiv geschützt (Schürmann, 2022).

Praktiken setzen damit Handlungen und Strukturen im Vollzug relational in Beziehung: Praktiken sind davon abhängig, dass sie innerhalb einer kulturell vorstrukturierten Rahmung im Handeln aktualisiert werden; die regelmäßige (Wieder‑)Aufführung sorgt dafür, dass die Akteure die (u. a. motivationalen und hermeneutischen) Bedingungen für ihr Handeln reproduzieren (Schäfer, 2016). Die Identität von Praktiken ist so stets an inkorporierte kollektive handlungsleitende Orientierungsmuster gebunden und abhängig von den sozialen Kontexten, in denen sie aufgeführt werden. Für Gemeinsinn in spitzensportlichen Praktiken stellt der moderne olympische Sport die relevante kulturelle Rahmung bereit.

Der olympische Spitzensport ist eine moderne Bewegungskultur, die Konkurrenz als grundlegendes Strukturmerkmal festsetzt und auf eine bestimmte Form verpflichtet. Der moderne olympische Sport ist eine „deklarierte Bewegung“ (Schürmann, 2020, S. 145) und repräsentiert eine agonale Praxis sportlicher Leistungen, die individuelle und kollektive sportliche Entwicklungsverläufe in eine kompetitive Vergleichsbeziehung setzt. Das sportliche Handeln ist sinnhaft darauf orientiert, in geregelten körperlichen Wettkämpfen Siege zu erringen und Niederlagen zu vermeiden (Schimank, 1988). Der sportliche Leistungsvergleich ist wesentlich davon getragen, dass gleichwertige Gegner gegeneinander antreten, so dass nicht schon vorab feststeht, wer gewinnen wird (Schürmann, 2008). Die maßgeblichen Grundsätze, Werte und Gesetzesregelungen des modernen olympischen Sports sind in der Olympischen Charta kodifiziert und binden diesen konstitutiv an die politische Menschenrechtsbewegung (z. B. Achtung universell gültiger fundamentaler moralischer Prinzipien, Wahrung der Menschenwürde, gegenseitiges Verstehen im Geist von Fairplay, Freundschaft und Solidarität). Die normative Handlungsorientierung des olympischen Sports, die das sportliche Wettkämpfen und das Miteinander-Umgehen im sportlichen Horizont rahmt, ist Fairness, als eigenlogisch gewendete Übersetzung von Gerechtigkeit (Schürmann, 2022). Das Subjekt einer fairen olympischen Praxis ist der „mündige Athlet“ (Lenk, 1979), verstanden als Athlet*innen, die eine moralische Komponente und eine ästhetische Komponente von Fairness im Training und im Wettkampf praktisch zur Aufführung bringen (Prohl & Gaum, 2016).

Diese praktische Aufführung von Fairness vollzieht sich im sportlichen Tun in einem demokratischen Modus (Lenk, 1979), weshalb wir diesbezüglich mit Assmann (2020b) von der Dimension des sozialen Gemeinsinns sprechen. Der soziale Gemeinsinn bringt zum Ausdruck, dass die Athlet*innen gleichberechtigt auf eine bestimmte Art und Weise an der Gestaltung sportlicher Praktiken partizipieren (können und wollen).Footnote 3 Neben dem sozialen Gemeinsinn des olympischen Sports lässt sich mit Menke (2002) seit einiger Zeit auch ein politischer Bedeutungsgehalt des Gemeinsinns erkennen, insofern sich Athlet*innen kritisch zu bestehenden Rahmungen des olympischen Sports ins Verhältnis setzen und (selbst-)organisiert für bestimmte (z. B. feministische) Fassungen von Gleichberechtigung, Selbstbestimmung, Meinungsfreiheit und Menschenrechte im olympischen Sport eintreten (z. B. Interessensvertretungen, Athletenvereinigungen, Sportgewerkschaften, Athletenkommissionen) (Chappelet, 2020; Seltmann, 2021; Wassong, Schneider, & Hess, 2023).

Methodische Anlage der Studie

Die praxeologische Perspektive, das Soziale als Vollzug wissensgebundener Praktiken zu konzipieren, verweist die Studie auf den methodologischen Rahmen und die Verfahrenslogik der Dokumentarischen Methode (Bohnsack, 2014). Die Dokumentarische Methode ist eine rekonstruktive Forschungsstrategie, die mit Bohnsack (2017) in einem Konglomerat von Theorien grundlagentheoretisch fundiert ist, das er zu einer „praxeologischen Wissenssoziologie“ bündelt.Footnote 4 Empirische Analysen, die dokumentarisch gerahmt sind, richten den Blick grundständig darauf, das habitualisierte handlungspraktische Erfahrungswissen und die zugrundeliegenden orientierenden Muster, die Kollektive in gemeinsamen Praxisgefügen entwickeln, interpretativ zu rekonstruieren. Den Rekonstruktionen liegt maßgeblich die Unterscheidung von immanenten und dokumentarischen Sinnschichten zugrunde (Mannheim, 1980). Immanente Sinnschichten wurzeln in theoretischen Wissensstrukturen und beziehen sich auf einen propositionalen Bedeutungsgehalt von Praktiken, der sich beobachten und beschreiben lässt. Dokumentarische Sinnschichten sind durch vortheoretisches Erfahrungswissen geleitet und markieren den performativen Charakter der Alltagspraxis, der das Soziale weitgehend unbemerkt anleitet und ein „Einanderverstehen im Medium des Selbstverständlichen“ (Gurwitsch, 1976, S. 148) ermöglicht. Die Heuristik des „kollektiven Orientierungsrahmens“ (Bohnsack, 2014) berücksichtigt die beiden Wissensstrukturen, richtet den empirischen Blick allerdings vornehmlich auf die Rekonstruktion der impliziten Wissensbestände, die im Dokumentensinn eingeschrieben sind und in konjunktiven Erfahrungsräumen aktualisiert werden. Diese dokumentarische Rekonstruktion erfolgt im Hinblick auf vier Kategorien des Gemeinsinns: Wir wollen herausfinden, an welchen typischen Verständnissen von Athlet*in-Sein, Miteinander-Trainieren, Gegeneinander-Wettkämpfen und sportpolitischer Organisation Athlet*innen orientiert sind. Die Kategorien entspringen der gesellschaftstheoretischen Grundlage unser empirischen Forschung, der zufolge alle Praktiken der politischen Moderne eine Formatierung von Personalität (individuelle Dimension; „Athlet*in-Sein“), Bürgerschaftlichkeit (intersubjektive Dimension; „Miteinander-Trainieren“, „Gegeneinander-Wettkämpfen“) und des Poltischen (Verbindung von individueller und struktureller Dimension; „sportpolitische Organisation“) enthalten (Schürmann, 2016).

Um typische handlungsleitende Orientierungen von Spitzensportler*innen zu rekonstruieren, haben wir 22 narrativ fundierte Einzelinterviews mit Athlet*innen aus dem Schwimmen und dem Fußball geführt. Die Wahl der Erhebungsart orientiert sich an den sensibilisierenden Präkonzepten, die Gemeinsinn als eine Praxis konstituieren, die vom Individuum ausgeht. Die narrative Fundierung der Interviews sichert die Möglichkeit, über Erzählungen und Beschreibungen handlungsleitende Orientierungen zu ermitteln (Nohl, 2006). Die Erhebung der Daten fand zwischen Oktober 2021 und August 2022 statt. Zum Schutz der Athlet*innen-Gesundheit während der Corona-Pandemie wurden die Interviews digital via WebEx umgesetzt. Die Audioaufnahmen wurden anschließend transkribiert und anonymisiert. Die Transkription erfolgte in Anlehnung an die TiQ-Regeln nach Bohnsack (2014, S. 253 ff.). Die Interviews dauerten zwischen 66 und 132 min (Mittelwert: 95 min). Die Untersuchung wurde durch die Ethikkommission der Deutschen Sporthochschule genehmigt (Nr. 169/2021). Von allen Interviewten liegt eine schriftliche informierte Datenschutz- und Einverständniserklärung vor.

Die Auswahl der zu befragenden Athlet*innen erfolgte sukzessiv-kontrastierend (Strauss & Corbin, 1996, S. 148 ff.). Die Gemeinsamkeit der Fälle bestand darin, dass alle Interviewten volljährig und mindestens auf nationaler Ebene im deutschen Spitzensport aktiv sind (z. B. Deutsche Meisterschaften, Bundesliga). Die Kontrastierung erfolgte wesentlich entlang von vier Merkmalen, die im Verlauf der Rekonstruktionen sukzessiv empirische Bedeutsamkeit zeigten (Sportarttypen, Geschlecht, Systemalter, sportlicher Erfahrungsraum). Die Konzentration auf Schwimmen und Fußball fußt auf deren exemplarischem Charakter als klassische Individual- und Mannschaftssportarten und trägt dem Umstand Rechnung, dass beide Sportarten in der näheren Vergangenheit durch eine Vielzahl an sozialen Problemkonstellationen von außen und innen zu einer institutionellen Reflexion aufgefordert wurden und u. a. mit Gemeinsinn-Narrativen reagiert haben. Eine Übersicht über das Sample findet sich in Tab. 1.

Tab. 1 Sample, differenziert nach verschiedenen Merkmalena

Die Interviews waren in zwei Abschnitte gegliedert. Der erste Abschnitt bezieht sich auf alltägliche soziale Praktiken der Interviewten im Sportsystem (u. a. Training, Wettkampf, Interaktionen mit verschiedenen Akteursgruppen, Wesen des sportlichen Wettkampfs, Athlet*inverständnis). Die einzelnen Themenkomplexe wurden jeweils durch fokussierte Erzählimpulse eingeleitet, die auf das handlungspraktische Wissen der Interviewten abzielten und die Grundlage für die Rekonstruktion von sozialem Gemeinsinn in Praktiken des olympischen Spitzensports bildeten. Immanente Nachfragen ergänzten die narrativen Phasen. Der zweite Abschnitt adressiert die Interviewten als Träger*innen von sozialen Bewegungen und bezieht sich auf politisch gemeinsinnige Bezugnahmen der Athlet*innen auf den olympischen Spitzensport (u. a. Spitzensport und Politik, sportpolitische Aktivität von Athlet*innen, Verbindungslinien zwischen Athlet*innen). Da die Interviewten sehr unterschiedliche sportpolitische Erfahrungsschätze aufwiesen, spielten in diesem Teil des Interviews neben Beschreibungen und Erzählungen auch Selbst-Positionierungen, Einschätzungen und Argumentationen eine zentrale Rolle. Die Gespräche wurden durch eine Mischung aus exmanenten Impulsen und visuellen Stimuli getragen. Als visuelle Stimuli kamen zwei Collagen zum Einsatz, in denen aktuelle Headlines zu (sport-)politischen Aktivitäten von Athlet*innen beispielhaft verdichtet wurden (z. B. Aktivitäten von Athletenkommissionen, Gründung von Spielergewerkschaften, politische Proteste von Spitzensportler*innen).

Die Auswertung der Daten erfolgte in Anlehnung an die dokumentarische Interpretation von Einzelinterviews nach Nohl (2017, S. 29 ff.) in drei Schritten. In einem ersten Schritt wurde der thematische Verlauf der Interviews paraphrasiert und für jeden Fall eine formulierende Feininterpretation erstellt, die den propositionalen Bedeutungsgehalt objektivieren. In einem zweiten Schritt erfolgte die reflektierende Interpretation, um das implizite Erfahrungswissen und den dokumentarischen Sinngehalt der Erfahrungen zu rekonstruieren. Zu diesem Zweck wurden die Textsorten formal interpretiert und die Orientierungsrahmen der einzelnen Fälle semantisch rekonstruiert. Die Unterscheidung der Textsorten orientiert sich an der Narrationsstrukturanalyse nach Schütze (1987) und dient dazu, narrative und evaluative Passagen zu unterscheiden, da diese jeweils mit unterschiedlichen Wissensstrukturen korrespondieren. Die semantische Rekonstruktion folgt dem Prinzip der komparativen Sequenzanalyse (Bohnsack, 2013) und zielte darauf, fallintern sequenzübergreifende Strukturähnlichkeiten in den Textpassagen zu identifizieren. Im Rahmen der semantischen Interpretation wurde für jeden Fall eine ausführliche Fallanalyse verfasst (ca. 3000 Wörter), in der das handlungspraktische Erfahrungswissen der Interviewten und die zugrundeliegenden orientierenden Muster der alltäglichen sozialen Praxis im Sportsystem allgemein rekonstruiert wurden. Der dritte Schritt bearbeitet das Material fallübergreifend und setzt die allgemeinen Rekonstruktionen ins Verhältnis zu den anvisierten Präkonzepten. Auf der Basis von fokussierten Fallsynopsen (ca. 500 Wörter), in denen die allgemeinen Fallanalysen entlang von gegenstandstheoretisch sensibilisierten Vergleichsmerkmalen mit den normativen Präkonzepten ins Verhältnis gesetzt wurden, wurden die verschiedenen Fälle dazu (z. T. in einer Interpretationswerkstatt) kontrastierend miteinander verglichen und sinngenetisch in idealtypischen Orientierungsrahmen abstrahiert.

Ergebnisse

Im Rahmen der dokumentarischen Interpretation konnten wir vier typische handlungsleitende Orientierungen des Gemeinsinns im olympischen Spitzensport rekonstruieren, die sich wesentlich entlang von vier Vergleichsdimensionen aufspannen (Abb. 1). Die Typen werden nun näher dargestellt und zeigen detailliert, „in welch unterschiedlichen Orientierungsrahmen die erforschten Personen jene Themen und Problemstellungen bearbeiten, die im Zentrum der Forschung stehen“ (Nohl, 2017, S. 43).

Abb. 1
figure 1

Typische Handlungspraxis des Gemeinsinns im olympischen Spitzensport

Typ „Erfolg“

Erfolgsorientierte handlungsleitende Orientierungen verweisen auf eine Praxis, die geprägt ist durch „eine Art Verwirklichung im Gebiet des Sozialen“, die sich durch ein „Sichdurchsetzen“ (Mannheim, 1930, S. 458 f.) von Akteuren anderen gegenüber auszeichnet. Das typische (Sich‑)Durchsetzen ist maßgeblich auf das sportliche Feld gerichtet und legt die Strategien und Regeln, in welcher Weise sportliche Konkurrenzsituationen vollzogen und sozialer Status zugerechnet werden, in der Praxis stark ergebnisbezogen aus.

Das Athlet*in-Sein ist wesentlich von der Idee getragen, eine Leistung für ein durchsetzungsfähiges Kollektiv (z. B. Mannschaft, Team, Trainingsgruppe, Verein) zu erbringen und bedeutet an dieser Stelle, das eigene (Körper‑)Selbst weitgehend unhinterfragt für den Wettkampferfolg dieses Kollektivs zu disziplinieren:

„So konnte auch nur so ein Hochleistungssport quasi ähm [funktionieren]. Die können [Schmerzen] ertragen teilweise (.) ähm haben auch Opfer gebracht, auch mal Tabletten geschluckt, damit die auch trainieren oder MITspielen können (.) :ähm: (2) also das, das, das würde ich sagen, es mussten [schon] (.) [Typen] sein (.) […] die so [hart] im Nehmen waren, für das Team, das auf jeden Fall“ (#1_Abs. 95).

Das erfolgsorientierte Athlet*in-Sein ist zentral mit dem Anspruch verbunden, „immer fit sein zu [müssen]“ (#9_Abs. 9). Dieses Fit-Sein hat eine normative Form, insofern die Athlet*innen körperlich immer bereit sein müssen, als Teil für ein Kollektiv zu funktionieren. Dafür müssen individuelle Interessen, die sich vom Zweck der Arbeit unterscheiden, zurückgestellt werden. Das Kollektiv ist die primäre Bezugsgröße und rahmt das individuelle Tun, indem man sich relativ fraglos an gemeinsame Pläne, Vorgaben und Anweisungen hält. Im Wettkampf sind die Athlet*innen dabei Spielfiguren in einem sportlichen Wettstreit von geführten Kollektiven:

„Das ist auch so ein bisschen, klar, Taktiererei von den Trainern dann auch wie, wie die sich dann da auch gegenseitig sehen und wie die sich vielleicht auch mit uns als Spielern, sage ich mal, auf dem Schachbrett sich gegenseitig versuchen da Schachmatt zu setzen“ (#13_Abs. 79).

Die Athlet*innen geben sich von außen zu einem Kollektiv hinzu und leisten in Training, Wettkampf und durch eine professionelle Lebensführung einen Beitrag, damit dieses maximal erfolgreich agiert. In diesem Zusammenhang sind auch individuelle Erträge möglich (z. B. soziale Anerkennung, Prämien), stehen aber deutlich im Hintergrund.

Das Miteinander-Trainieren zeichnet sich durch ein routiniertes aufgabenorientiertes Problemlösen von kollektiv aufgegebenen Aufgaben aus, bei denen die einzelnen Athlet*innen einen individuellen Anteil zur sozialen Ordnung vor Ort oder zur gemeinsamen sportlichen Wettkampfvorbereitung leisten. Die Athlet*innen der eigenen Trainingsgruppe sind vornehmlich Berufskolleg*innen, die im Rahmen einer professionellen Zweckgruppe dazu beitragen, erfolgreiche Wettkämpfe wahrscheinlicher zu machen, wenn das kollektive System funktioniert und einzelne Aufgaben erledigt werden. Selbst Sportarten, in denen formal Einzelleistungen miteinander verglichen werden (z. B. Schwimmen), sind soziale Felder, in denen die Vorbereitung von sportlichen Erfolgen im Training nicht einsam ausgeführt werden kann. Die Einbindung in eine Trainingsgruppe schafft ein entwicklungsförderliches Wechselverhältnis zwischen Anspannung und Entspannung, indem man in regelmäßigen Abständen „gemeinsam [rumalbert]“ oder „zusammen durchzieht“ (#19_Abs. 116), bietet beständig Situationen, in denen man sich aneinander orientieren und miteinander vergleichen kann, und erleichtert es, die massiven körperlichen Belastungen auszuhalten. Im Training konstituiert sich auf diese Weise mitunter eine professionelle ‚Leidensgemeinschaft‘, in der nebeneinander ein an die Gruppe adressierter Trainingsplan bis zur Erschöpfung befolgt wird. Wer sich dieser Praxis entzieht, wird situativ nicht als Mit-Glied dieser Gruppe anerkannt, weil der wechselseitig leistungssteigernde Beitrag ausgesetzt ist. Der Umgang miteinander impliziert also auch eine Form des Sich-Gegenseitig-Kontrollierens. Dabei ist es ein Zeichen von gegenseitigem Respekt, übertragene Einzelaufgaben verantwortlich zu erfüllen und individuelle Bedürfnisse bei der Aufgabenerfüllung zurückzustellen. Die (Chef‑)Trainer*innen geben dabei „an allererster Stelle“ (#3_Abs. 372) den Rahmen vor (z. B. Aufgaben stellen, Bewegungen korrigieren, Umsetzung kontrollieren). Die Beziehung zum Trainer vollzieht sich wesentlich im Modus des Vertrauens in dem Sinne, dass die aufgestellten Pläne oder angesetzten Übungen im bestmöglichen Sinne der Leistungsentwicklung dienen. Der Interaktionsrahmen mit den Athlet*innen ist von verschiedenen Organisationsmodi geprägt. Mehrheitlich überwiegt eine eher hierarchisch strukturierte Interaktionspraxis im Training, in der die Trainer*innen eine klar akzeptierte Führungsposition einnehmen. Stärker partizipativ geprägte Organisationsmodi sind aber durchaus möglich, um das angestrebte Ziel zu erreichen. Der Grad der Partizipation ist dabei abhängig vom subjektiven Willen der Einzelnen, die in der Partizipation einen eigenen Vorteil für Maximierung von persönlichen Erfolgschancen sehen. Eine partizipative Organisation des Trainings wird jedoch nichts als konstitutiv für die Herstellung einer gerechten Trainingsordnung angesehen, in der alle gleichermaßen besser werden.

Das Gegeneinander-Wettkämpfen ist auf unbedingten Wettkampferfolg des eigenen Kollektivs ausgerichtet. Die primäre Zielgröße ist der Ergebniserfolg. Es geht darum, „einfach nur“ (#1_Abs. 81) und „mit aller Macht“ (#3_Abs. 302) zu gewinnen, ein Wechselverhältnis von Leistung und Erfolg muss nicht zwingend gegeben sein (Johnen, 2015). Dabei legen die Akteure die geltenden Wettkampfregeln beständig aus und berühren fortwährend die formal verankerten Grenzen. Regelverletzungen sind insbesondere bei kleineren Überschreitungen vergleichsweise akzeptiert und werden mitunter mit „Cleverness“ (#3_Abs. 364) attribuiert, sind im Allgemeinen aber auf ein ‚notwendiges‘ Minimum reduziert, um die Erfolgswahrscheinlichkeit im Wettkampf nicht negativ zu beeinflussen. Die Vermeidung von Regelüberschreitungen aus einer sportlichen Geisteshaltung spielt keine Rolle. Die Gegner*innen werden als beinahe materialisierte Widersacher im Wettkampf gesehen, die dem eigenen Wettkampferfolg entgegenstehen.

Sportpolitisch ist der Typ durch eine passive Grundhaltung geprägt. Die in die Praxis involvierten Athlet*innen verfügen durchaus über eine gewisse kognitive Sensibilität, bestehende Rahmungen des Spitzensports kritisch zu reflektieren und mögliche Lösungsansätze zu denken. Der Sinn für diese Veränderungen bleibt allerdings weitgehend auf einer theoretischen Ebene verhaftet und geht höchstens teilweise in passive organisierte Aktivitäten über (z. B. passive Mitgliedschaft in sportbezogenen Gewerkschaften oder Athlet*innenvereinigungen). Eine aktive Beteiligung oder leitende Gründung an entsprechenden Organisationsformen ist keine Option, wird mitunter absichtlich ausgeschlossen, um eigene sportliche oder wirtschaftliche Situation nicht zu gefährden.

Der Typ „Erfolg“ ist damit ein Träger von Gemeinsinn im Spitzensport, insofern das Verbindende der Akteure in der gemeinsam geteilten Bereitschaft liegt, einen spitzensportlichen Wert („Erfolg“) technisch herzustellen und zu objektivieren. Erfolg gilt nicht als Vollendung individueller Naturanlagen, sondern ist das Ergebnis einer Praxis, das als solches vom Individuum abgeschöpft wird. Erfolgreich-Sein ist ein Gut, das den Einzelnen kollektiv verpflichtet, seinen Teil zu leisten. Gemeinsam geteilte Regeln werden als ein Regulativ verstanden, das den eigenen Leistungsbereich von demjenigen des Anderen abgrenzt, um seine Leistung ungestört vollziehen zu können. Der eigene Wille zählt in diesem Bereich nur dann, wenn es dem Erfolgswillen einer klar umgrenzten Einheit Ausdruck gibt. Eine demokratische Kontrolle dieses Erfolgswillens ist eine notwendige Option, um eine Balance zwischen dem Erfolgswillen der Vielen herstellen zu können, d. h. einen Zustand wiederherzustellen, der aus den Fugen geraten ist. Als eine tägliche Übung, die auf den Schutz der Wenigen (z. B. Leistungsschwächelnden) zielt, ist Demokratie nicht handlungsleitend.

Typ „Gemeinschaft“

Handlungsleitende Orientierungen im Spitzensport, die durch Gemeinschaftsnarrative getragen sind, sind maßgeblich durch ein soziales Band gekennzeichnet, das die Mitglieder einer zugangsbeschränkten und überschaubaren sportlichen „Lokalgruppe“ (Murdock & Wilson, 1972) eng miteinander verbindet und in dieser Zusammengehörigkeit sinnstiftend nach außen von anderen Gruppen abgrenzt. Zur Gemeinschaft gehört, wer in den gemeinsamen Interaktionen eine mindestens ähnliche sportliche Weltanschauung zur Aufführung bringt und situationsübergreifend von einem starken Zugehörigkeitsgefühl erfasst ist.

Das Athlet*in-Sein verweist auf ein stark siegorientiertes Agieren in einem Kollektiv, das auf die In-Group der Sportler*innen vor Ort begrenzt ist und sich von anderen Akteuren (z. B. Trainer*innen, Gegner*innen) abgrenzt, und ist durch eine kollektivistische Grundhaltung bestimmt. Die in die Praxis involvierten Athlet*innen orientieren ihr Handeln wesentlich an diesem Kollektiv, an dem sie teilhaben (können) wollen und für das sie ihre sportliche Leistungsfähigkeit einbringen möchten. Vor allem anderen geht es darum, „auf [jeden] Fall an erster Stelle teamfähig zu sein“ (#2_Abs. 947). Die Leistungsbereitschaft geht dabei mit einem sozial gesteuerten Verzicht auf Möglichkeiten des ‚Lebens‘ einher (z. B. Abendgestaltung, Familienfeste, Reisen, Ernährung). Dieser Verzicht zeigt sich im Leistungskontext insbesondere im Sinne einer Zurückweisung individueller Handlungsmotive „im Wohle der Mannschaft“ (#10_Abs. 401).

Das Miteinander-Trainieren wird poietisch als ein routiniertes Erschaffen einer „Einheit“ (#15_Abs. 90) gedeutet, das sich dadurch auszeichnet, „in sich stimmig zu sein“ (#5_Abs. 228). Die Einheit ist als funktionale Gemeinschaft gekennzeichnet, die für die Trainingszeit durch ein professionelles emotionales Band verbunden ist. Während dieser Zeit agiert man „[wie] Freunde“ (#2_Abs. 327), d. h. in einem Modus intimer sozialer Direktbeziehungen, ohne vollständig mit diesen gleichgesetzt zu sein. Die Beziehung endet mit der Anwesenheit am Trainingsort und wird in jedem Training symbolisch aktiviert (z. B. durch rituelle Kreisbildungen, gemeinsames Betreten relevanter Örtlichkeiten, gemeinsame Klangräume). Die einzelnen Akteure werden in die Gemeinschaft eingeordnet und erhalten eine bestimmte Rolle innerhalb dieser. Der Umgang miteinander ist typischerweise getragen durch ein Verständnis, das Führen und Folgen als quasi-natürliches Prinzip, wie Gruppen funktionieren, um sportliche Siege zu erringen, festsetzt. Das Prinzip bezieht sich auf das Verhältnis der Athlet*innen einer Gruppe und auf das Verhältnis zwischen Athlet*innen und Trainerteam. Hierarchien sind innerhalb der sozialen Beziehungen selbstverständlich und implizieren eine Kohärenz zwischen Innen- und Außenperspektive der Akteure: Man soll im Rahmen des kollektiven Gefüges führen oder folgen, zugleich will man dies aber auch. Die (Chef‑)Trainer*innen schaffen auch hier den Rahmen für die Leistungsentwicklung im Training, organisieren den sozialen Raum aber in einem hierarchischen Modus, der relativ monologisch gestaltet und auf Folgsamkeit ausgerichtet ist.

Das Gegeneinander-Wettkämpfen wird als siegorientierte Kampfsituationen praktiziert, in denen man das eigene Kollektiv in einem durch Fairness bedingten sozialen Vergleich zu anderen Kollektiven ins Verhältnis setzt. Das Fairnessverständnis vereint dabei formale und informelle Komponenten. Zugleich sorgt die starke In-Group-Orientierung dafür, sich abwertend zu Gegner*innen im Wettkampf zu positionieren, ohne dies im faktischen Wettkampfhandeln körperlich zum Ausdruck zu bringen:

„Also, so ähm im Warm-up ist noch [ok], weil es ist noch nicht so in dieser Wettkampfatmosphäre, da geht’s ja erstmal zur Vorbereitung, aber da, auf dem Platz, da ist dann vorbei, also da geht’s dann eher negativ, dass man dann im Kreis dann nochmal sagt, ey, die Püppchen oder ja, weiß ich nicht, irgendwie so, die machen wir heute fertig, so“ (#2_Abs. 583).

Die starke innere Bindung zeigt sich auch sportpolitisch. Die in die Praxis involvierten Akteure tragen einen praktischen Sinn für Rahmenveränderung, beziehen diesen aber auf Kritik und Veränderungen im eigenen Nahbereich. Ziel ist es, im eigenen sportartbezogenen Umfeld die Bedingungen von sportlicher Leistungsentwicklung zu optimieren (z. B. die Situation des Frauensports im eigenen Verein). Die mikropolitischen Veränderungen können dabei von einzelnen Athlet*innen oder von der Gruppe initiiert werden, sind aber stets auf die Situation der gesamten Gruppe (z. B. eigene Mannschaft, eigene Trainingsgruppe) gerichtet.

Der Typ „Gemeinschaft“ rückt damit in den Vordergrund, dass soziale Beziehungen, wie diejenigen des Trainierens und Wettkämpfens, von den Verpflichtungen (und nicht den eigenen Ansprüchen) her zu begreifen sind, die an die Einzelnen als Teil eines Ganzen gestellt werden. Die zentrale Verpflichtung besteht darin, den eigenen Willen hintenanzustellen bzw. nur dann anzuerkennen, wenn dieser Wille den Wunsch zum Ausdruck bringt, sich maßgeblich zum Teil einer Gruppe zu machen. Während in Trainings- und Wettkampfgruppen die Macht zu urteilen ungleich verteilt ist, teilen die Mitglieder dieser Gruppen denselben Erfahrungsmaßstab, der die Erfahrungen (des Führens und Folgens) am Maßstab einer funktionierenden Leistungsgruppe bemisst. Im Hinblick auf die Beziehung zu anderen Gruppen artikuliert sich ein Verständnis von Leistungsgerechtigkeit, das die Teilhabe an einem Wettkampf wesentlich von den formellen und informellen Wettkampfregeln abhängig macht. Dabei teilen die Athlet*innen ein Personenverständnis, das Athlet*innen, die außerhalb der eigenen Gruppe stehen, zu Menschen macht, denen man emotional und körperlich nicht zu nah kommen darf. Die körperliche und emotionale Nähe zur eigenen Gruppe schlägt gewissermaßen in ihr Gegenteil um.

Typ „Willkür“

Spitzensportliche Praktiken, die implizit von Willkür geleitet werden, orientieren sich typischerweise an einem Verständnis von Freiheit, das Handeln eigennützig auf die individuellen sportlichen Zielstellungen auszurichten. Als persönliche Willkür richtet sich das freie Handeln dabei darauf, die Grenzen unumschränkt selbst zu setzen, ohne sich an etwas binden zu müssen (Pieper, 2007). Das Wechselverhältnis zu anderen Akteuren ist auf einen instrumentellen Bezug begrenzt und bietet immer dann eine lohnenswerte Option, wenn dadurch die individuellen Zielsetzungen wahrscheinlicher erreicht werden.

Das Athlet*in-Sein ist durch eine starke Ich-Orientierung geprägt und wesentlich von der Idee getragen, die eigene sportliche Leistung zu steigern. Die eigene Gruppe (z. B. Mannschaft, Trainingsgruppe) ist dabei eine professionelle Zweckverbindung auf Zeit, die zur Leistungsentwicklung notwendig ist oder wesentlich dazu beiträgt, steht aber nicht im Fokus. Die individuelle Leistungsentwicklung erfolgt in einem Modus der Anpassung oder in einem Modus des Kampfes. Im Modus der Anpassung richten sich die Athlet*innen das sportliche Tun und die Lebensgestaltung leitend an vorgegebenen Optimierungsmaßnahmen und strukturellen Rahmungen aus (z. B. Systemcode, Trainingsplan, Anweisungen des Trainerteams, Apps) und ordnet sich diesen in der Erwartung individuell besser zu werden unter:

„Ja, das kommt auch noch dazu, sich anpassen zu können ist, […] nicht zu viel nachdenken, am besten nicht so viel denken. Einfach machen, so gut wie man kann, was (.) verlangt ist, was gefragt ist, ohne großartig zu diskutieren und ohne großartig zu hinterfragen. Einfach machen“ (#14_Abs. 77).

Der Modus des Kampfes orientiert sich leitend an einem leistungssteigernden Widerstreit in sozialen Interaktionen. Im Gegensatz zur Konfrontation mit signifikanten Anderen spielt der Kampf gegen sich selbst keine Rolle. Teilweise werden mit der individuellen Leistungsfähigkeit noch außersportliche Folgen verbunden (z. B. fortgesetzte Arbeitsverträge, soziale Aufmerksamkeit, individuelles Wohlbefinden).

Das Miteinander-Trainieren ist getragen durch ein eigennütziges konkurrierendes Gegeneinander, das routiniert vollzogen wird und sich leitend am Leistungsprinzip orientiert. Güter, um die maßgeblich konkurriert wird, beziehen sich teilweise auf das Training selbst (z. B. Aufmerksamkeit und Zeit der Trainer*innen), teilweise auf die nachfolgenden Wettkampfsituationen (z. B. Einsatzzeit, Positionen). Die Athlet*innen der eigenen Gruppe sind somit eine notwendige Bedingung für die anvisierte eigene Leistungsentwicklung, zugleich ist jede eigene gelungene Aktion und jeder Fehler von anderen ein potenzieller Konkurrenzvorteil. Die Trainer*innen sind leitend dafür verantwortlich, den sozialen Raum für die Leistungsentwicklung im Training zu strukturieren. Die Gestaltung des Raums erfolgt weitgehend hierarchisch-monologisch und ist auf Folgsamkeit ausgerichtet, die mitunter drastische Entsprechung auf Seiten der Athlet*innen findet:

„Leider ist es aber so, dass halt, wenn jemand-, ist es wichtig, dass man Arschkriecher ist, auf gut Deutsch, weil man sonst nicht die Unterstützung erfährt, ähm um sein sein Potential, sein Talent praktisch entfalten zu können. […] Also Du musst sehr bedacht sein, sehr vorsichtig, äh wie du dich gibst, und auf jeden Fall [immer] selbst, äh selbstreflektiert sein und ähm bedachte Wortwahl, das ist wichtig“ (#18_Abs. 484).

Das Gegeneinander-Wettkämpfen zeichnet den Wettkampf als eine besondere, durch Fairness bedingte soziale Situation, die für eine individuelle Steigerung oder Bestleistung eines Einzelnen genutzt werden kann und Verwendung findet. Der Wettkampf wird primär als eine Praktik beschrieben, in der man in einen rein selbstreferentiellen Kampf mit sich selbst um die Realisierung der Leistungsmöglichkeiten eintritt:

„Das Gemeinschaftliche, sag ich mal, endet dann halt auch durchaus mit dem Startschuss und fängt halt wieder an, wenn man halt dann sein Rennen beendet. […] Im Wettkampf ist wirklich eigentlich, im Wettkampf, ja, ist da schon jeder wirklich für sich“ (#22_Abs. 58–60).

Das Verhältnis zu anderen Athlet*innen ist geprägt durch ein eigennütziges Streben nach Perfektion, das einschließt, es besser machen zu können als die Anderen. Entgegen der absoluten Bedeutung zielt diese Perfektion auf den sozialen Vergleich und ist am Komparativ orientiert:

„Man ist ja theoretisch erst perfekt, wenn man der Beste ist so (.), wenn man alles gewonnen, wenn man jetzt den Weltrekord geschafft hat, kann man es perfekter als alle anderen“ (#19_Abs. 198).

Situationen, in denen Wettkampfhandeln grundsätzlich möglich, aber nicht zugelassen wird (z. B. als Einwechselspieler*in, Ersatz in einer Staffel) verunmöglichen die persönliche Leistungsoptimierung und -präsentation nachweislich. In diesen Fällen spielt der erfolgreiche Wettkampfverlauf der Bezugsgruppe eine nur untergeordnete Rolle. Negative Wettkampfverläufe (z. B. Rückstand, Niederlagen, Verletzungen im eigenen Team) werden in diesem Zusammenhang mitunter insgeheim positiv gedeutet, da sich dadurch die Teilnahmechance am Wettkampf massiv erhöht.

Sportpolitisch führt die eigennützige Sportorientierung zu einer stark entpolitisierten Grundhaltung. Das berufliche sportliche Tun ist für die Athlet*innen eine Angelegenheit, innerhalb derer insbesondere die bestehende soziale Ordnung der eigenen Sportart und die Interaktionsgestaltung im Training grundständig als gegeben oder durch Athlet*innen nicht veränderbar anerkannt wird. Das Gefühl, ein „kleines [Teilchen]“ (#21_Abs. 281) in einer organisationalen Maschinerie zu sein, und der fehlende Sinn für eine Rahmenveränderung führen zu einem Rückzug ins Private, der sich mindestens anteilig in einer offenen Ablehnung von sportpolitischen Aktivitäten äußert, z. B. aus Furcht vor Auswirkungen auf den sportlichen Status oder aus Angst vor wirtschaftlichen Folgen.

Der Typ „Willkür“ ist damit Ausdruck der liberalen Privatisierung von Verbundenheiten: Verbundenheiten werden anerkannt, wenn sie dem eigenen Streben nach Leistungsoptimierung den richtigen Anreiz geben bzw. dieses Streben nicht stören. Das Verhältnis zu den Anderen (Trainer*in, Mitglieder der Trainingsgruppe, Wettkampfgegner*in) vollzieht sich im Modus der Vor-Teilnahme. Dabei erscheinen die eigenen Trainings- und Wettkampfinteressen der sozialen Aushandlung entzogen zu sein. Sowohl in der Form der Anpassung als auch des Kampfes bleibt das eigene Interesse gesetzt, das entweder mit oder (kurzweilig) gegen die Forderungen der Umwelt realisiert wird. Dass der Willkürtyp als ein Gemeinsinntyp aufzufassen ist, verweist auf die inhärente Anwesenheit von Ungerechtigkeit im bürgerlichen Sport: Das gleiche Recht auf Teilnahme an Training und Wettkampf wird mit dem privaten Interesse gleichgesetzt, die eigene Leistung zu jeder Zeit optimieren zu wollen.

Typ „Gerechtigkeit“

Gerechtigkeit als handlungsleitende Orientierung im Spitzensport bezieht sich auf eine vernünftige Gestaltung des Zusammenlebens im Sport, die alle Sportler*innen gleichermaßen als achtens- und berücksichtigenswert anerkennt. Als „erste Tugend sozialer Institutionen“ (Rawls, 1975, S. 19) balanciert diese Gerechtigkeit, die als Gleichheit verstanden wird, das Verhältnis von Individuum und Gruppe wechselseitig aus und materialisiert diese in einer entsprechenden Zuteilung von grundlegenden Rechten und Pflichten.

Das Athlet*in-Sein ist von der Leitidee getragen, sich selbst und eine Gruppe (z. B. Mannschaft, Team, Verein, Trainingsgruppe, gesellschaftliche Gruppe) in eine erfolgreiche Zukunft zu führen. Im Gegensatz zu den anderen Typen, die rein auf den Bereich des Sports fokussiert sind, hat Athlet*in-Sein im Modus der Gerechtigkeit dabei einen sozialen und einen politischen Bezug. Die soziale Ebene ist maßgeblich auf den sportlichen Bereich fixiert und zeigt sich performativ in Training und Wettkampf. Auf politischer Ebene kann sich die Zukunftsorientierung mikropolitisch äußern (z. B. lebensnahe Bedingungen von Sportlerinnen im eigenen Verein verbessern, um professioneller agieren zu können) oder makropolitische Ausmaße annehmen (z. B. Bedingungen von Frauen im Sport gewerkschaftlich organisiert kritisieren und verändern).

Das Miteinander-Trainieren wird typischerweise unterstützend aktualisiert. Die involvierten Athlet*innen agieren wesentlich als ein kollektives leistungsförderliches Miteinander, das die Gesamtgruppe im Blick hat, ohne die einzelnen Glieder der Gruppe in dieser aufzulösen. Getragen von einem verbindenden Verantwortungsgefühl erkennt man sich praktisch als gleichwertig an, hilft man sich gegenseitig (z. B. „an die Hand nehmen“, „wachrütteln“, „Rücken stärken“, „pushen“, „gegenseitiges Coachen“), verhält man sich grundsätzlich so, dass die Leistung der Gesamtgruppe und der einzelnen Glieder wechselseitig besser werden kann. Der Umgang zwischen den Mitgliedern der Trainingsgruppe ist eine Form der Anerkennung des unverzichtbaren Status der Anderen. Ohne eine Trainingsgruppe ist es nicht möglich, sich zu Athlet*innen zu subjektivieren, die die Leistungsanstrengungen tagtäglich bewerkstelligen. Die Praktiken des Trainierens werden zwischen den einzelnen Athlet*innen als ein Miteinander-Trainieren vollzogen, indem die vorgegebenen Aufgaben gemeinsam gelöst werden. Kein Mitglied der Trainingsgruppe wird bspw. im Wasser alleine gelassen, sondern jeder wird „mitgezogen“ (#22_Abs. 56):

„Also im Training ist es eigentlich schon mehr ein Miteinander. Also, dass jeder jeden gegenseitig pusht und so eigentlich besser wird“ (#17_Abs. 50).

Zugleich dienen die Anderen damit als Motivation, die körperlichen Leiden auf sich zu nehmen und so die eigene Leistungsfähigkeit zu steigern. Die Trainer*innen setzen den Rahmen für die Leistungsentwicklung. Wie bei erfolgsorientierten Denk- und Handlungsmustern sind dabei hierarchische und partizipative Modi der Rahmung praktisch denkbar.

Das Gegeneinander-Wettkämpfen wird als ein bedingtes Konkurrenzverhältnis praktiziert, in dem die siegorientierte Beziehung zu den Gegner*innen sich leitend durch eine nicht abwertende Beziehung kennzeichnet. Gegner*innen sind keine zu bekämpfenden Feinde, sondern sportliche Konkurrenz, mit der man in einem „positiven Gegeneinander“ (#6_Abs. 98), das den Wettkampf wesentlich auszeichnet, verbunden ist. Es geht darum, den „Wettkampf sportlich zu bestreiten“ (#4_Abs. 106), d. h. „alles dafür zu geben, dass man nicht verliert“ (#4_Abs. 103) und den Wettkampf nach bestimmten Werten zu gestalten (v. a. Fairness, Respekt). Im eigenen Team ist die gegenseitige Wahrnehmung, Anerkennung und Unterstützung ein Merkmal der Wettkampfleistung, „das man auf dem Platz merkt“ (#2_Abs. 697) und hat einen kompensatorischen Charakter, der z. B. technisch-taktische Problemsituationen von einzelnen Akteuren ausgleichen kann.

Sportpolitisch sind die Praktiken von einem tätigen (Kampf‑)Sinn für Rahmenveränderung geleitet und orientieren sich maßgeblich daran, gerechtere Bedingungen im Spitzensport zu schaffen. Für dieses Vorhaben ist es unabdingbar, allgemeinere Fragen der Gerechtigkeit einzubeziehen und verschiedene Organisationsformen zu berücksichtigen. Die organisierte politische Reflexion und Veränderung des Spitzensports bezieht sich teilweise auf den direkten Nahbereich der Sportler*innen, teilweise auf übergeordnete öffentliche Dimensionen, um systematisch für bestimmte Ungleichheitsdimensionen die Stimme zu erheben (z. B. Geschlecht, Sportart).

Der Typ „Gerechtigkeit“ ist damit an grundlegenden zwischenmenschlichen Pflichten des Sich-Helfens und Unterstützens orientiert, die auf die feldspezifische Leistungslogik des Spitzensports bezogen sind. Eine zentrale hermeneutische Voraussetzung solcher Praktiken betrifft die Frage, wer als Adressat von Hilfe- und Unterstützungsangeboten infrage kommt. Der Kreis potenzieller Adressaten ist zum einen auf den täglichen Nahbereich und die dort anwesenden Athlet*innen gerichtet. Zum anderen bilden auf sportpolitischer Ebene die Kategorien Sportart und Geschlecht zwar fraglose Inklusionskriterien, eine radikale Einbeziehung des ganz Anderen (z. B. im Sinne des Breitensports) ist aber nicht zu erkennen. Eine weitere quasi-natürliche Voraussetzung der Herstellung einer gerechten Trainings- und Wettkampfordnung betrifft das ‚Worumwegen‘ der jeweiligen Praktiken. So werden die Ideen, dass es im Spitzensport um eine gerechte Verteilung der Chancen, seine eigene Leistung zu verbessern bzw. einen Wettkampf zu gewinnen, nicht zur Disposition gestellt. Auch wird kein möglicher Konflikt zwischen diesen beiden Grundideen thematisch relevant.

Diskussion

Die vorliegende Studie untersucht, wie Gemeinsinn in Praktiken des olympischen Spitzensports erkannt, verhandelt und realisiert wird. Mit Gemeinsinn greifen wir dazu auf einen geistes- und kulturwissenschaftlich geprägten Begriff zu (Borsche, 2020), der das normative Prinzip des Allgemeinen in modernen Gesellschaftsstrukturen repräsentiert, und fragen nach typischen handlungsleitenden Orientierungen von Spitzensportler*innen aus dem Bereich des Schwimmens und Fußballs.

Um dieses Ziel zu erreichen, haben wir in einer praxistheoretischen Perspektive verbale Daten erhoben und das zugrundeliegende habitualisierte handlungspraktische Erfahrungswissen dokumentarisch analysiert. Die rekonstruierten Handlungsorientierungen geben Auskunft über gebündelte Aktivitäten (z. B. Leistungsvergleiche, Übungsabläufe, Pausen, Kreisbildungen, Besprechungen, Nahrungsaufnahme), die durch ein implizites Verstehen zusammengehalten werden (Reckwitz, 2003). Der implizite Sinn für das „Athlet*in-Sein“, das „Miteinander-Trainieren“, das „Gegeneinander-Wettkämpfen“ und für „sportpolitische Aktivitäten“ hat dabei seinen Ort in den Praktiken selbst und nicht in der mentalen Einheit eines Individuums, d. h. Athlet*innen partizipieren beispielsweise an einer bestimmten Trainingspraxis im Verein, die durch ein gemeinsam geteiltes Verständnis der benannten (Vergleichs‑)Dimensionen für die Athlet*innen praktisch verstehbar ist. Indem dieses praktische Verstehen im Kontext einer Heuristik des Gemeinsinns angesprochen wird, werden dessen implizite Voraussetzungen in einer politischen Hinsicht rekonstruierbar. Die Praktiken des Trainierens und Wettkämpfens stehen damit in einer Bedeutungsrelation zur politischen Moderne, die in ihrer liberalen Fassung als bürgerliche Gesellschaft am normativen Prinzip der Gerechtigkeit orientiert ist (Schürmann, 2008). Der Gemeinsinnbegriff enthält die Frage, welche Verbindungen zwischen den sozialen Akteuren (Athlet*innen, Trainer*innen usw.) eingegangen werden bzw. eingegangen worden sind, um das Prinzip der Gerechtigkeit zu realisieren (Assmann, 2020b; Menke, 2002).

Die Analyse der Interviewdaten verweist auf vier praktische Gemeinsinntypen, d. h. vier typische Verbindungsweisen zwischen den individuellen Athlet*innen und der personalen sowie materiellen Umwelt. Es gibt folglich nicht den Gemeinsam im olympischen Spitzensport, sondern vier unterscheidbare Orientierungsmuster, die ein gemeinsam geteiltes Verständnis in den kategorialen Dimensionen des Athleten-Seins, des Miteinander-Trainierens, des Gegeneinander-Wettkämpfens und der sportpolitischen Organisation zum Ausdruck bringen. Die Typen „Erfolg“, „Gemeinschaft“, „Willkür“ und „Gerechtigkeit“ bezeichnen die hermeneutische Voraussetzungsbeziehung zwischen den spitzensportlichen Praktiken und dem „Sportsgeist“ (Schürmann, 2017), der im olympischen Spitzensport die Idee der Fairness zu seinem ersten normativen Prinzip erklärt hat. Die Gemeinsamkeit der Typen besteht auf einer basalen Ebene zunächst also darin, eine olympische Verbundenheit zum Ausdruck zu bringen, die um den Vollzug von Spitzensport nur im Modus der Fairness weiß. Die Differenz der Typen zeigt hingegen an, dass Fairness unterschiedliche Verständnisse des „Athlet*in-Seins“, des „Miteinander-Trainierens“, des „Gegeneinander-Wettkämpfens“ sowie „sportpolitischer Aktivitäten“ praktisch zur Aufführung bringen kann.

Dass einer der Typen als Typ „Gerechtigkeit“ bezeichnet ist, hängt mit der Annahme eines Normalfalles zusammen, der als Maßstab der Bewertung von Praktiken fungiert (Schürmann, 2008). Ein Normalfall ist dabei nicht zu verwechseln mit einem Ideal, wie es in theoretischen Diskussionen zuweilen zu finden ist, wenn es um die Inklusion des Fremden bzw. der vielen (ganz) Anderen geht (Bude, 2019). Um einen naturalistischen Fehlschluss zu vermeiden, verstehen wir den Typ „Gerechtigkeit“ auf dieser Grundlage deshalb nicht als eine empirisch geschlussfolgerte Zielgröße, auf deren umfassendere Realisierung der Spitzensport hinarbeiten will oder hinarbeiten müsste. Zudem ist eine Orientierung spitzensportlicher Praktiken am Typ „Gerechtigkeit“ nicht automatisch moralisch wertvoll, wenn man z. B. die Universalität der olympischen Verbundenheit zugrunde legt, die im vierten Prinzip der Olympischen Charta formuliert ist. Festzustellen ist aber, dass für diesen Typen das solidarische Moment konstitutiv für eine spitzensportliche Verbundenheit ist. Im Typ „Erfolg“ ist die gleichberechtige Anerkennung des Anderen hingegen ein Regulativ von Trainings- und Wettkampfpraktiken, das den eigenen Willen zum Erfolg als einen partiellen Willen begrenzt.

Methodologisch sind die rekonstruierten Typen nicht mit einzelnen Interviewten zu identifizieren, sondern das Resultat einer Kreuzung der Fallanalysen in den Vergleichsdimensionen (Bohnsack, 2013). Dass die Typen nicht mit realen Athlet*innen übereinstimmen, erklärt sich aus dem Anspruch einer theoretischen Empirie heraus, die fallspezifischen Selbstbeschreibungen nicht bloß zu wiederholen, sondern unter Spannung zu setzen (Strübing, Hirschauer, Ayaß, Krähnke, & Scheffer, 2018). Indem das empirische Phänomen der spitzensportlichen Praxis zu einem Objekt gemacht wird, wird diese Praxis zu einem Moment der theoretischen Sicht, die spezifischen logischen Gesetzmäßigkeiten (wie z. B. derjenigen des Schlussfolgerns) verpflichtet ist. Der dokumentarische (Gemein‑)Sinn, der sich in einer Analyseeinheit zum Ausdruck bringt, hat damit nicht diejenige Schlüssigkeit, die man in der Logik der Theorie erwartet. Es wäre ein „scholastische[r] Paralogismus“ (Bourdieu, 1985, S. 207), anzunehmen, dass der Ursprung der spitzensportlichen Praxis die (schlüssige) Metapraxis der Herstellung von Fairness ist. Wenn die Daten uns dazu gebracht haben, vier Gemeinsinntypen zu identifizieren, dann nicht um den impliziten Alltagstheorien ihren ethischen Wert beizumessen, sondern um sie besser verstehen zu können. Die theoretisch abstrahierten Gemeinsinntypen bieten somit für künftige empirische Untersuchungen (z. B. in weiteren olympischen Sportarten, in anderen bewegungskulturellen Settings, in anderen Leistungsniveaus, im internationalen Vergleich) ein Beobachtungschema, das die Offenheit für Neuinterpretationen, die mit den Praktiken des Trainierens und Wettkämpfens vollzogen wird, in Rechnung stellt. Wenn es diese Gemeinsinntypen in einem konstruktivistischen Sinne nicht ‚gibt‘, erscheinen auch die Verstehensroutinen nicht als dinghafte Entitäten, die mit festen Merkmalen ausgestattet sind (Bohnsack, 2014). Zugleich nimmt unser Zugriff auf verbale Daten einen eher randständigen methodischen Zugang in der praxeologischen Feldforschung ein. Die Analyse von narrativen Interviewdaten knüpft zwar an etablierte Argumentationsmuster an, um kollektive Orientierungsmuster von Akteuren zu rekonstruieren (Maiwald, 2003; Schiller, 2021), ein Zugang, der die sozialen Praktiken durch (teilnehmende) Beobachtung erschließt, bleibt dadurch aber außen vor. Folgestudien könnten deshalb ergänzend einen ethno- oder videografischen Blick ergänzen, um die Praktiken unabhängig von Selbstdeutungen im Vollzug zu rekonstruieren (Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff, & Nieswand, 2020).

Innerhalb der Sportwissenschaften wird in gegenstandstheoretischer Hinsicht das Verständnis geteilt, dass Wettkampfsport ohne eine Orientierung an einem Fairnessgedanken nicht möglich ist (Prohl & Gaum, 2016; vgl. spezifisch für die Welten des Fußballspiels Gaum & Prohl, 2018). Wenn der Wettkampf um die beste Leistung nicht offen ist, gilt dieser Wettkampf auch nicht als ‚sportlich‘. Der sportwissenschaftliche Begriff der Fairness fungiert in diesem Diskurs als eine bereichsspezifische Übersetzung der liberalen Idee der (Leistungs‑)Gerechtigkeit, die den Sport als eine normative Ordnung der Moderne ansprechbar macht. Während unsere Studie auf der Ebene des propositionalen Bedeutungsgehalts bestehende Ergebnisse zum wettkampforientierten Sport maßgeblich bekräftigen (z. B. Bockrath & Bahlke, 1996; Gaum, 2017; Pilz, 1999; Wahnschaffe-Waldhoff & Mutz, 2020), liefert eine praxistheoretische Erforschung des Gemeinsinns in Hinblick auf theoretische Reflexionen zur Idee der Fairness (u. a. Schürmann, 2022) wichtige Hinweise darauf, dass die Realisierung von Fairness im Spitzensport nicht allein im Wettkampf und in Abhängigkeit von dessen gemeinsam geteilten Grundverständnis erfolgt. Eine faire Beteiligung im Spitzensport verlangt, neben der Arbeit an der Offenheit des Wettkampfes, z. B. auch die Anerkennung der anderen Trainierenden als Personen-gleicher-Erfahrungs- und -Vergleichsmaßstäbe.

In den Diskussionen, die gegenwärtig im Kontext des Gemeinsinns geführt werden, lässt sich die Beobachtung einer mangelhaften Orientierung liberaler Gesellschaften am Gemeinsinn feststellen, die mit einer theoretischen Forderung nach seiner Förderung verknüpft wird (Assmann, 2020b; Schnabel, 2022). Der Spitzensport spielt in diesen Diskussionen bislang eine untergeordnete Rolle. Wenn der Gemeinsinn diesbezüglich zum Thema wird, dann in jenen Situationen des Außeralltäglichen, wenn der Spitzensport seine großen Feste (Olympische Spiele, Weltmeisterschaften etc.) feiert und Menschen – vor allem in ihrer Rolle als Zuschauer*innen – miteinander verbindet (Assmann, 2020a). Eine praxistheoretische Perspektivierung des Gemeinsinns fokussiert demgegenüber die alltäglichen Routinen des Spitzensports, die im Wesentlichen durch Training und Wettkampf geprägt sind. Der Gemeinsinn erscheint damit nicht als eine moralische Forderung, die von außen an den Spitzensport herangetragen wird, sondern als eine unhintergehbare Voraussetzung, ohne die es keinen olympischen Spitzensport geben kann. Als eine präreflexive Voraussetzung ist der Gemeinsinn keine Disposition einzelner Athlet*innen (oder anderer Akteure), sondern eine gemeinsam geteilte Grundlage, die eine leistungsgerechte Anerkennung von Handlungen möglich macht. Dabei geben die gebildeten Typen keinen Hinweis darauf, dass das Reflexiv-Werden des Gemeinsinns (Menke, 2002), d. h. die kritische Überprüfung und Neubestimmung spitzensportlicher Verbundenheiten, eine Relevanz hat, die über Einzelfälle hinausgeht.Footnote 5 Der Spitzensport scheint damit bislang nicht fähig zu sein, seine Bindung an die politisch-liberale Moderne explizit zum Thema (demokratischer Verhandlung) zu machen.