Vor mehr als zehn Jahren wurde in dieser Zeitschrift ein konzeptioneller Beitrag zum Professionellen Blick (PB) als „[…] vernachlässigtes Thema in der Lehrerausbildung“ veröffentlicht (Reuker, 2012). Bis zu diesem Zeitpunkt wurde das Konzept des PBFootnote 1 im deutschsprachigen Raum im Rahmen der Lehrkräfte(aus)bildung nur in einzelnen Veröffentlichungen (Seidel, Blomberg, & Stürmer, 2010; Seidel, Stürmer, Blomberg, Kobarg, & Schwindt, 2011) und nicht im Fach Sport thematisiert, eine Konkretisierung des Konzepts und seine Einbettung in den Professionalisierungsdiskurs standen noch am Anfang. Inzwischen hat das Konzept umfänglichen Eingang in den Diskurs um die Professionalisierung von Lehrkräften gefunden, wurde innerhalb unterschiedlichster Fachrichtungen aufgegriffen (z. B. Blomberg, Stürmer, & Seidel, 2011; Erhorn, Langer, & Möller, 2020; Gold & Holodynski, 2017; Junker, Rauterberg, Müller, & Holodynski, 2020; Reuker, 2018; Wolff, Jarodzka, van den Bogert, & Boshuizen, 2016) und national sowie international auf vielfältige Weise mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen konzeptualisiert (im Überblick König et al., 2022), sodass eine aktuelle Bestandsaufnahme notwendig erscheint. Auch van Es und Sherin (2021, S. 17), die das Konzept einst für die Lehrkräftebildung etabliert haben, verweisen auf konzeptionelle Unterschiede und Weiterentwicklungen, die unterschiedliche Forschungslinien mit sich gebracht haben: „[T]eacher noticing has taken on different meanings and as a result, both the focus of and approaches to research on teacher noticing differ.“

Anliegen dieses Beitrags ist es, Anfänge und Weiterentwicklungen des PB zu skizzieren und die Weiterentwicklungen des PB exemplarisch zu veranschaulichen, um anschließend Konsequenzen für den Professionalisierungsdiskurs zu diskutieren.

Anfänge des Professionellen Blicks

Das Konzept des PB wurde erstmalig in den USA von Goodwin (1994) in der anthropologischen Linguistik eingeführt und beschreibt in diesem Verständnis zentrale professionsbezogene Fähigkeiten, um arbeitsspezifische Phänomene zu erkennen und professionsangemessen zu interpretieren. Van Es und Sherin (2002) übertrugen das Konzept unter Hervorhebung der beiden Fähigkeiten zur selektiven Aufmerksamkeit („selective attention“) und pädagogisch fundierten Deutung der wahrgenommenen Ereignisse („knowledge-based reasoning“) auf die Lehrkräftebildung im Fachbereich Mathematik und etablierten dabei den beide Fähigkeiten bündelnden Begriff des „teacher noticing“Footnote 2. Unter Verwendung dieses Begriffs erarbeiteten auch andere Autor*innen (Erickson, 2011; Mason, 2011) ähnliche Konzepte, rekurrierten dabei aber nicht auf Goodwin (1994), sondern zogen andere theoretische Grundlagen (z. B. Dewey, 1904) heran.

Das ursprünglich zwei Fähigkeiten umfassende Konzept wurde von einigen Wissenschaftler*innen (Blömeke, Gustafsson, & Shavelson, 2015; Jacobs, Lamb, & Philipp, 2010) und auch von den Autorinnen selbst (Barnhart & Van Es, 2015) um die dritte Fähigkeit ergänzt, situationsspezifische unterrichtliche Handlungsentscheidungen treffen zu können („deciding how to respond“). Über unterschiedliche Begriffsverwendungen hinweg lässt sich grundsätzlich festhalten, dass das Konzept des PB Fähigkeiten umfasst, die als Voraussetzungen dafür gesehen werden, dass Lehrkräfte situationsangepasst und pädagogisch reflektiert handeln können. Gerade in komplexen und dynamischen Unterrichtssituationen, in denen vielfältige, häufig auch unerwartete und unvorhersehbare Ereignisse schnell aufeinander oder auch zeitgleich stattfinden, wird ihnen eine hohe Relevanz zugesprochen (z. B. Jacobs & Empson, 2016). Aufgrund fachspezifischer Besonderheiten (z. B. geringe räumliche Vorstrukturierung, exponierte Stellung des Körpers) gewinnen diese Fähigkeiten gerade im Sportunterricht noch einmal verstärkt an Bedeutung.

Forschungsüberblick zum Professionellen Blick

Im Laufe der letzten zehn Jahre ist eine deutliche Zunahme an Veröffentlichungen zum PB zu verzeichnen, was auch verschiedene Reviews zur Thematik verdeutlichen (Amador, Bragelman, & Superfine, 2021; König et al., 2022; Santagata et al., 2021; Schicklinski & Reuker, 2023):

Dabei beschäftigten sich verschiedene StudienFootnote 3 zunächst mit der Identifizierung charakteristischer Merkmale des PB, indem sie qualifizierte Lehrkräfte mit Lehrnovizen bzw. Personen unterschiedlich abgestufter Expertise miteinander verglichen. Die Vergleichsstudien zeigen relativ übereinstimmend, dass qualifizierte Lehrkräfte andere Ereignisse wahrnehmen und die pädagogische Bedeutung von Ereignissen auch fundierter (differenzierter) analysieren (Jacobs et al., 2010; Reuker, 2017a*, 2017b*). Unterschiedliche Niveaustufen des PB werden dabei insbesondere auf verschiedene Ausprägungen der professionellen Wissensbestände zurückgeführt (König & Kramer, 2016; Stürmer, Könings, & Seidel, 2013). Neben dem Wissen werden aber auch Einflüsse von Überzeugungen und Unterrichtserfahrungen auf die Fähigkeiten des PB diskutiert (Blomberg et al., 2011; Gold & Holodynski, 2017), für die sich in einigen Studien ebenfalls Hinweise finden lassen (Keppens, Consuegra, De Maeyer, & Vanderlinde, 2021; König, Blömeke, & Kaiser, 2015). Einflüsse des PB auf unterrichtliches Handeln wurden bislang eher selten untersucht, aber auch hier deuten einige Studien einen Zusammenhang an (Jacobs & Empson, 2016; Sherin & Van Es, 2009). Solche Zusammenhänge lassen sich auch mit dem Modell von Blömeke et al. (2015) stützen, das den PB als Mittler zwischen Dispositionen und dem unterrichtlichen Handeln konzeptualisiert.

Zur Förderung des PB wurden Ausbildungskonzepte diskutiert und evaluiert, in denen in der Regel mit Video aufgenommene Unterrichtssequenzen analysiert werden (Sherin & van Es, 2009; van Es & Sherin, 2010). Wenngleich die Eignung von Videoanalysen für die Förderung des PB inzwischen als weitgehend unbestritten gilt (Barnhart & van Es, 2015; Kramer, König, Kaiser, Ligtvoet, & Blömeke, 2017), wird die konkrete Ausgestaltung der Ausbildungskonzepte noch kontrovers diskutiert (beispielsweise eigene versus fremde Videos: Kleinknecht & Poschinski, 2014; Seidel et al., 2011).

Eine Vielzahl an Studien wurde zum Mathematikunterricht (im Überblick Stahnke, Schueler, & Roesken-Winter, 2016), insbesondere mit einem Aufmerksamkeitsschwerpunkt auf dem mathematischen Denken der Schüler*innen, durchgeführt (Jacobs et al., 2010; van Es & Sherin, 2010). Mit der Zunahme an Studien aus anderen Fachrichtungen wird der PB inzwischen aber auch im Hinblick auf weitere Qualitätsmerkmale von Unterricht untersucht, beispielsweise Zielorientierung, Lernbegleitung, Lernatmosphäre (Seidel et al., 2010), Klassenmanagement (Gold & Holodynski, 2017; König & Kramer, 2016), Umgang mit problematischen Unterrichtsereignissen (Wolff et al., 2016) oder Lernformen der Schüler*innen (beispielsweise selbstgesteuertes Lernen, Michalsky, 2014). Auch im Kontext der Sportlehrkräftebildung wird das Konzept zunehmend berücksichtigt. Dabei lässt sich der Umgang mit Heterogenität als ein Schwerpunkt ausmachen (Erhorn et al., 2020*; Jürgens & Neuber, 2020*; Reuker & Rischke, 2017*), was in anderen Fächern ebenfalls zunehmend Beachtung findet (Junker et al., 2020).

Der hier in Kürze skizzierte Forschungsüberblick stützt die Annahme, dass der PB als eine „key component of teaching expertise“ (van Es & Sherin, 2021, S. 17) verstanden werden kann. In Anlehnung an das systematische Review von König et al. (2022) zum „teacher noticing“ lassen sich die zuvor aufgeführten Studien einer kognitiv-psychologischen Perspektive zuordnen. Dabei liegt diesen Studien ein Professionalisierungsverständnis zugrunde, das Expertise bzw. Professionalität über das Vorliegen von professionellem Wissen bzw. professionellen Handlungskompetenzen erfasst und bestimmt (zu verschiedenen Ansätzen pädagogischer Professionalität im Sport, z. B. Lüsebrink & Reuker, 2022). Unter dieser Perspektive wird das „teacher noticing“ als individueller kognitiver Prozess der Lehrkräfte verstanden. Trotz unterschiedlicher Aufmerksamkeitsschwerpunkte geht es in der Regel um die Wahrnehmung lernrelevanter Ereignisse zur lernförderlichen Gestaltung von Unterricht. Im angloamerikanischen Raum wird in verschiedenen Studien auch die gesellschaftliche Bedingtheit des PB einbezogen, um Fragen der Bildungsgerechtigkeit und der Aufdeckung diskriminierender Prozesse zu untersuchen, wozu im deutschsprachigen Raum im Kontext des PB bislang noch keine Erkenntnisse vorliegen (Schicklinski & Reuker, 2023). Diese Studien lassen sich König et al. (2022, S. 3) zufolge einer sozio-kulturellen PerspektiveFootnote 4 zuordnen, unter welcher der PB als „socially situated activity“ konzeptualisiert wird und die gesellschaftliche Eingebundenheit unserer Wahrnehmungen und Deutungen zentraler Ausgangspunkt ist. Hinsichtlich der Qualifizierung von Lehrkräften geht es hier u. a. darum, den Einfluss sozialer Normen und kultureller Wertvorstellungen auf den PB, beispielsweise im Kontext von Fragen der Bildungsgerechtigkeit, zu reflektieren (Santagata et al., 2021).

Der PB mit den Fähigkeiten der selektiven Aufmerksamkeit, des Deutens und der Entscheidungsfindung liefert einen hilfreichen theoretischen Orientierungsrahmen zur Förderung und Untersuchung individueller Fähigkeiten der Lehrkräfte im Kontext der Lernförderung. Fragen der Bildungsgerechtigkeit und der kritischen Analyse von Diskriminierungsprozessen erfordern darüber hinaus aber auch die Berücksichtigung gesellschaftlicher Bedingungen und darin entwickelter Identitäten, in denen unsere Wahrnehmungen und Deutungen eingebettet sind. Dass diese Perspektive gerade auch für den Sportunterricht hohe Relevanz hat, zeigen bspw. Studienerkenntnisse, die darauf verweisen, dass Schüler*innen insbesondere dann von Missachtungsprozessen betroffen sind, wenn Lehrkräfte evasiv unterrichten (Grimminger, 2012) oder wenn aufgrund vorherrschender Körper- und Normalitätsdiskurse bspw. dicke Körper von Lehrkräften mit fehlender Sportlichkeit in Verbindung gebracht werden (Heckemeyer, 2021). Diese Perspektive wird in der oben skizzierten kognitiv-psychologischen Konzeption des PB, auf die sich – unter Berücksichtigung begrifflicher Unterschiede – die Studien im deutschsprachigen Raum bislang beziehen (Schicklinski & Reuker, 2023), noch nicht ausreichend berücksichtigt. Die nachfolgend dargestellten Weiterentwicklungen aus dem angloamerikanischen Raum geben Anregungen, wie unter einer sozio-kulturellen Perspektive der PB neu zu konzeptualisieren ist, um auch dem Anliegen der Gestaltung eines diskriminierungssensiblen Unterrichts eher gerecht zu werden.

Weiterentwicklungen des Professionellen Blicks

Im Folgenden werden zunächst grundlegende Überlegungen skizziert, die als wesentliche Impulse der Weiterentwicklung des PB aus einer sozio-kulturellen Perspektive zu verstehen sind. Dabei sind die Ausführungen nicht als Ergänzung einer weiteren Perspektive zu lesen, sondern als ein grundlegend neu konzeptualisierter PB, der auf einem anderen Professionalisierungsverständnis basiert, das die gesellschaftliche Eingebundenheit des PB berücksichtigt. In dieser Lesart ist beispielsweise der Anspruch gleichberechtigter Teilhabe aller Schüler*innen mit Blick auf die Professionalisierung von Lehrkräften nicht nur eine Frage der Wahrnehmung von Unterstützungsbedarfen, um den Schüler*innen eine bestmögliche individuelle Förderung zu ermöglichen, sondern auch eine Frage, ob die Wahrnehmung der Förderbedürftigkeit aufgrund kategorialer Zuschreibungen diskriminierend ist oder zumindest Diskriminierungspotenzial birgt. Dabei geht diese Lesart über die kritische Reflexion individueller Vorurteile der Lehrperson hinaus und berücksichtigt, dass „Diskriminierung auch aus der diskursiven Tradierung und gesellschaftsstrukturellen [..] Verankerung kategorialer Unterscheidungen sowie ihrer Verwendung“ (Scherr, 2020, S. 89) resultieren kann, die mehr oder weniger bewusst den PB beeinflussen können, wie es im Folgenden in den grundlegenden Überlegungen dargestellt wird.

Folgend werden im Abschnitt zum multidimensionalen PB bezugnehmend auf diese grundlegenden Überlegungen die drei Fähigkeiten der selektiven Aufmerksamkeit, Deutung und Entscheidungsfindung konkretisiert, die ursprünglich ausschließlich unter einer kognitiv-psychologischen Perspektive ausgelegt wurden.

Grundlegende Überlegungen

Einen wichtigen Impuls für die Weiterentwicklung liefern die Ausführungen von Louie (2018, S. 61), die den PB nicht als ausschließlich psychologisch-mentalen Vorgang versteht, der allein im Individuum verortet ist, sondern als „socially and culturally constructed“ beschreibt. Dabei bezieht sie sich, wie auch schon Sherin und van Es (2005), ebenfalls auf die Ausführungen von Goodwin (1994), hebt aber die bereits in seinem Konzept angelegte sozial bedingte Entwicklung des PB hervor, die von Angehörigen einer Profession in diskursiven Praktiken über die interessierenden Phänomene ihres Berufsstandes vollzogen wird. Hierdurch entstehen gruppenspezifische Übereinkünfte des Wahrnehmens und Deutens, durch die sich der PB von Personen unterschiedlicher Professionen bzw. unterschiedlich abgestufter Expertise innerhalb eines Fachgebietes unterscheidet. Für die Lehrkräftebildung verweist Louie (2018) kritisch darauf, dass eine ausschließliche Fokussierung auf die kognitiv-psychologische Perspektive das Konzept des PB derart einengt, dass andere Aspekte, z. B. Machthierarchien im Unterricht oder Fragen der Bildungsgerechtigkeit, verdeckt bzw. ausgeblendet bleiben. Basierend auf diesen Überlegungen sprechen Louie, Adiredja und Jessup (2021, S. 97) vom „framing“ und „noticing“ als sich wechselseitig bedingende Prozesse, bei denen das „noticing“ vom vorherrschenden Diskurs der jeweiligen Fachdisziplin beeinflusst wird, diesen aber gleichermaßen auch prägt. In diesem Zusammenhang verweisen sie auf sogenannte „culturally dominant frames“ (S. 98) als interpretative Rahmen individueller Wahrnehmung, die immer von kulturellen und machtdynamischen Aspekten durchzogen sind. Solche Einflussstrukturen verlaufen dabei gewöhnlich unterhalb der Oberfläche, unbewusst und unerkanntFootnote 5 und beeinflussen den PB, was es aufzuzeigen und kritisch zu reflektieren gilt.

Van Es, Hand, Agarwal und Sandoval (2022) schließen an diese Überlegungen an und heben mit Verweis auf die sozio-kulturelle Perspektive die mit der selektiven Aufmerksamkeit verbundenen Priorisierungen von Ereignissen hervor, die auch mitbestimmen, wessen Identitäten und Praktiken durch Lehrkräfte wertgeschätzt bzw. weniger wertgeschätzt werden. Im Unterrichtsgeschehen beeinflussen solche Bedeutungszuschreibungen auch Entfaltungsräume von Lernenden mit entsprechenden Konsequenzen für deren gleichberechtigte Teilhabe. Diese Perspektive versuchen die Autor*innen durch die Ergänzung der beiden Konstrukte „stretch“ und „expanse“ (S. 117 f.) zu berücksichtigen: Stretch konzeptualisiert den PB als zeitlich horizontale Ausdehnung zwischen Vergangenheit und Zukunft. Hiernach konstituiert sich der PB von Lehrkräften im Zusammenspiel von vergangenen sozio-kulturell sowie individuell geprägten Entwicklungen und einer erwünschten individuellen und sozialen Zukunft. Dabei geht es sowohl um die Vergangenheit und Zukunft der Lehrkräfte selbst und ihrem damit verbundenen PB auf Schüler*innen als auch um ein Bewusstsein für die Eingebundenheit ihrer Schüler*innen in die Vergangenheit und damit in Zusammenhang stehenden potenziellen, zukünftigen Entwicklungen. Expanse konzeptualisiert den PB als vertikale Ausdehnung und beschreibt das vielfältige, breite Spektrum an Ereignissen, das von der Lehrkraft in den Momenten konkreter Unterrichtssituationen wahrgenommen wird. Aufgrund der Vielfalt an Ereignissen ist die Wahrnehmung notwendigerweise selektiv und mit Priorisierungen verbunden, die häufig auch unbewusst im Sinn der erwähnten sozio-kulturell geprägten Frames erfolgen. Die beiden Konstrukte verweisen auf eine Komplexität des PB, die von van Es et al. (2022) als „multidimensional noticing“ bezeichnet wird, was sie auch mit den im Folgenden dargestellten Weiterentwicklungen der drei Fähigkeiten des PB umschreiben.

Multidimensionaler Professioneller Blick

Die selektive Aufmerksamkeit, verstanden als FähigkeitFootnote 6 des selektiven Erkennens relevanter Unterrichtereignisse, wird von van Es und Sherin (2021) um den Aspekt der Ausblendung anderer Unterrichtsereignisse ergänzt. Mit Verweis auf ihre Studien führen sie dazu an, dass selektive Aufmerksamkeit zwar erlernbar ist, Lehrkräfte dabei allerdings gleichzeitig andere Ereignisse aus dem Blick verlieren: „We claim that learning to notice involved both selecting a new focus of their attention (i.e., student thinking), as well as shifting attention away from other issues related to teaching and learning, such as pedagogy and classroom climate“ (S. 20). Hierbei handelt es sich um ein Phänomen, das in anderen Kontexten als „inattentional blindness“ in der Sportwissenschaft schon länger bekannt ist (im Überblick Redlich, Memmert, & Kreitz, 2020) und beschreibt, dass manche Ereignisse übersehen werden, wenn unsere Aufmerksamkeit auf andere Dinge gerichtet ist.

Das „knowledge-based reasoning“, verstanden als Fähigkeit, Ereignisse unter Berücksichtigung des Kontextes und pädagogischer Kenntnisse zunehmend fundiert und differenziert deuten zu können, wird von van Es und Sherin (2021, S. 22) als eine forschende Haltung („adopting a stance of inquiry“) umschrieben. Dabei geht es nicht mehr nur um das Erklären von Ereignissen, sondern um ein fortlaufendes Hinterfragen der Deutungen und darum, Ereignisse unter Berücksichtigung verschiedener Perspektiven weitergehend zu verstehen. Den Unterschied machen die Autorinnen anhand von Lehrkräften deutlich, die sie als sogenannte „Prompter“ und „Proposer“ (S. 23) bezeichnen, wobei Erstere sich Fragen zu Unterrichtsereignisse stellen, während Letztere Erklärungen liefern.

Im Hinblick auf das „deciding how to respond“ als Fähigkeit, situativ angepasste Entscheidungen treffen zu können, zeigen sich die deutlichsten Weiterentwicklungen, die van Es und Sherin (2021, S. 23) mit dem neuen Begriff des „shaping“ zum Ausdruck bringen. Mit dem Begriff grenzen sie sich von dem ihrer Auffassung nach zu technischen Begriff des „responding“ ab und heben den interaktiven, prozesshaften Charakter des Unterrichtsgeschehens zwischen Lehrkraft und Schüler*innenschaft stärker hervor. Dabei zielen die unterrichtlichen Handlungen der Lehrkraft darauf ab, fortlaufend weitere Informationen über das Geschehen zu erhalten, um sich der eigenen Deutungen zu vergewissern. Shaping verstehen sie dabei eher als eine aktive Komponente der selektiven Aufmerksamkeit und Deutung und weniger als Treffen situativer Handlungsentscheidungen, wenngleich die Grenzen fließend sind.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass bei der Erforschung des PB von Lehrkräften unter Berücksichtigung der sozio-kulturellen Eingebundenheit zukünftig folgende Aspekte der Weiterentwicklungen verstärkt zu berücksichtigen sind:

  1. 1.

    die Selektionsprozesse der Aufmerksamkeit und damit verbundene Priorisierungen,

  2. 2.

    die reflexive Auseinandersetzung mit eigenen und fremden Deutungsmöglichkeiten,

  3. 3.

    die Handlungsabwägungen und der Umgang mit der Unsicherheit getroffener Entscheidungen,

derer man sich im Sinne eines „teachers learning while teaching“ (van Es & Sherin, 2021, S. 25) letztendlich erst im Unterrichtsgeschehen vergewissern kann.

Multidimensionalität des Professionellen Blicks von Sportlehrkräften

Im Folgenden werden die skizzierten Weiterentwicklungen des Konzepts fachspezifisch zunächst mit Bezug auf die drei FähigkeitenFootnote 7 anhand ausgewählter Interviewpassagen exemplarisch veranschaulicht, bevor abschließend ausgewählte Beispiele zur Verdeutlichung der sozio-kulturellen Einbettung vorgestellt werden. Hierzu werden vorliegende Daten einer Studie zum PB von Gruppen unterschiedlicher Expertise auf Sportunterricht herangezogen (Reuker, 33,34,a, b; Reuker, 2018), in der diese unter einer kognitiv-psychologischen Perspektive ausgewertet wurden. Dabei wird auch aufgezeigt, dass sich die in dieser Studie nachgewiesenen Unterschiede aus einer sozio-kulturellen Perspektive auf den PB weitergehend interpretieren lassen.

In der Studie wurden u. a. ausgebildete SportlehrkräfteFootnote 8 zu ihren Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungsentscheidungen im Hinblick auf videographierte Sequenzen fremden Sportunterrichts befragt. Die Hälfte der Sportlehrkräfte verfügte zudem über hohe sportpraktische ExpertiseFootnote 9 (Gr. E) in der zu beobachtenden Sportart, über die die andere Hälfte (Gr. L) nicht verfügte. Den Befragten wurde kein expliziter Beobachtungsfokus vorgegeben, sondern lediglich das Thema der Stunde genannt, und sie wurden instruiert, sich in die Rolle einer Lehrperson zu versetzen. Anschließend wurden sie dazu befragt, was ihnen Bedeutsames für das Unterrichtsgeschehen aufgefallen ist und wie sie sich verhalten würden, wenn sie die verantwortliche Lehrkraft wären, wobei sie zudem zur Begründung ihrer Antworten aufgefordert wurden. Die vorgestellten Antworten, ausgewählt anhand des Kriteriums der Anschaulichkeit, beziehen sich dabei auf eine Unterrichtssequenz, in der eine Kleingruppe bei der spielorientierten Heranführung an die Sportart BasketballFootnote 10 zu beobachten war.

Einen Hinweis auf die mit Selektionsprozessen verbundenen Priorisierungen (1) liefern die folgenden von zwei Sportlehrkräften spontan geäußerten konträren ersten Eindrücke zur gezeigten Unterrichtssequenz. Auf die Frage, was ihnen aufgefallen sei, hebt die eine Person umgehend positiv hervor: „Die haben ganz irre mit- und gegeneinander gespielt. Also unheimlich bewegungsintensiv, unermüdlich (..) ganz viele Bewegungen und Aktionen, die für das Zielspiel Basketball ganz wichtig sind“ (L11, 01:10:48-2), während die andere auf diese Frage hin kritisch anmerkt: „mit Basketball hat es so gut wie nichts zu tun. Basketballregeln werden überhaupt nicht eingehalten (…) stürzen sich alle acht immer auf den Ball, der Raum wird überhaupt nicht genutzt. (..) Halte ich für sehr problematisch“ (E15, 01:02:32-5).

Schon diese ersten Eindrücke, die über alle Interviews hinweg sehr verschieden ausfallen, weisen auf unterschiedliche Wahrnehmungen und Deutungen der befragten Sportlehrkräfte hin. Dabei charakterisiert sich die selektive Aufmerksamkeit aller Befragten zwar relativ übereinstimmend durch ein vielfältiges Spektrum an situativ wahrgenommenen Ereignissen im Sinne des Konstrukts „expanse“, auffallend ist aber auch, dass den Ereignissen ganz unterschiedliche Relevanz zugesprochen wird, was bei entsprechender Nachfrage nach dem für die Befragten wichtigsten Ereignis durch verschiedene Priorisierungen deutlich wirdFootnote 11:

„Also Raumaufteilung war für mich das Zentrale. (Warum ist das zentral?) Ja, weil das die Frage ist nach Erfolg eines Spiels oder auch Lernerfolg eines Spiels (..) auch dieses Spielverständnis schulen, das finde ich immer ganz wichtig. Und da finde ich, ist Raumaufteilung einfach so ein zentraler Punkt“ (L05, 01:45:41-4).

„Bedeutsam fand ich, das eine Mädchen war gar nicht im Spiel. Ich kenne die Schüler nicht. Aber mir wäre es wichtig, dass alle mitspielen (..), dass dieses eine Mädchen am Rand mitspielt. (Warum wäre das wichtig?) Ja, ich kann jetzt nur mutmaßen. Das ist eine Schülerin, die Angst vor Bällen hat, (..). Dann müsste man überlegen, wie kann man sie trotzdem integrieren. Nur wenn ich auch Spielanteile habe, kann ich mich wohler, sicherer, angstfreier fühlen“ (L06, 01:07:27-5).

Mit der taktischen Raumaufteilung einerseits und der Teilhabe andererseits werden zwei unterschiedliche Aufmerksamkeitsschwerpunkte sichtbar, die auch mit der Beschreibung unterschiedlicher Handlungskonsequenzen einhergehen. Das breite Spektrum dessen, was im Rahmen selektiver Aufmerksamkeit relevant wird, lässt sich zwischen eher motorischen (Schrittfehler, fehlender Sternschritt etc.) und eher sozial-personalen (Zusammenspiel, Schüler*innenaktivität etc.) Ereignissen verorten. Es deutet sich an, dass die Unterschiede in der selektiven Aufmerksamkeit mit differenten Zielvorstellungen der Befragten in Verbindung stehen, die sich im Rahmen der Stundenthematik im Unterrichtsgeschehen anscheinend unterschiedlich konkretisieren.

In der zweiten Interviewpassage wird zudem ein Ereignis thematisiert, das durch die wenigsten der befragten Sportlehrkräfte Erwähnung findet, was im Sinne der oben erwähnten Ausblendung von Ereignissen (van Es & Sherin, 2021) bzw. als „inattentional blindness“ interpretiert werden kann.Footnote 12 Grundsätzlich richtet sich die Aufmerksamkeit der Sportlehrkräfte mit wenigen Ausnahmen zunächst auf die gesamte Kleingruppe, die im Hinblick auf verschiedene Voraussetzungen und Ereignisse beschrieben wird. Im Laufe des Interviews werden dann von einigen Lehrkräften auch Einzelpersonen hervorgehoben, wobei einige eher auf leistungsstärkere, andere eher auf leistungsschwächere Schüler*innen fokussieren. Insbesondere bei der Deutung der Beobachtungen im Hinblick auf leistungsschwächere Schüler*innen liefern Aussagen der Befragten Hinweise auf eine reflexive Auseinandersetzung mit verschiedenen Deutungsoptionen (2), wie sie van Es und Sherin (2021) als forschende Haltung beschreiben. Dies soll die folgende Interviewpassage einer Sportlehrkraft (L06) veranschaulichen, die einen Jungen als „motorisch auffällig“ beschreibt, was von ihr folgend vielschichtig gedeutet wird:

„Jetzt könnte man mutmaßen, er weiß nicht so ganz Bescheid, was er machen soll. Man könnte auch überlegen, ich kenne die Schüler nicht. Das ist sehr schwierig. Man könnte auch überlegen, dass die Gruppe sich nicht abgesprochen hat, wer soll denn vielleicht gegen wen möglicherweise verteidigen. Das weiß ich nicht. Also dieser, dieser Junge war auffällig. Über den würde ich gerne mehr erfahren“ (L06, 01:02:32-0).

Auf dieses Ereignis kommt die befragte Lehrkraft im Verlauf des Interviews noch mehrmals zurück. Bereits in diesem kurzen Ausschnitt wird in den Formulierungen aber deutlich, dass Deutungen von der Lehrkraft, hier verschärft durch fehlende Kenntnisse über den Schüler, unter Vorbehalt getroffen werden, derer man sich im Unterrichtsgeschehen erst vergewissern müsste. Es wird gemutmaßt, verschiedene Deutungen werden in Erwägung gezogen, Unsicherheit wird zum Ausdruck gebracht, und schließlich wird aufgezeigt, dass man hier gerne mehr erfahren würde.

Ähnliche Abwägungen zeigen sich über alle Interviews hinweg auch in den Ausführungen zur Frage, was man als verantwortliche Lehrperson tun würde. Statt eindeutiger Handlungsentscheidungen werden, wie von van Es und Sherin (2021) im Sinn der konzeptionellen Weiterentwicklung beschrieben, eher Handlungsoptionen (3) aufgezeigt:

„Ich würde es, glaube ich, schrittweise machen. Ich würde erst mal gucken, wie es mit einem kleineren Ball und mit mehr Leuten, wie es ausgeht, das Spiel. Was sich da verändert. (…) Ich würde tippen, dass die nicht mehr so auf einer Stelle stehen und ich würde auch tippen, dass das automatisch variabler wird, was Pässe anbelangt, was Punkte anbelangt. Wenn es nicht passiert, müsste man als Lehrer hingehen und sagen: ‚Wenn ich pfeife, bleibt ihr alle an der Stelle stehen, wo ihr steht. Und wie könnte man das vielleicht verbessern?‘ Ich glaube, das können die selber. Also je nachdem, (…)“ (L05, 01:45:41-4).

Das Beispiel zeigt die Vorläufigkeit der Entscheidung durch den Verweis auf das nicht vollständig zu antizipierende Schüler*innenverhalten. Dabei wird auch in Betracht gezogen, dass sich die bevorzugte Handlungsentscheidung im Unterrichtsgeschehen als nicht geeignet erweist und Entscheidungen einer fortlaufenden reflexiven Vergewisserung bedürfen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass über alle Interviews hinweg eine große individuelle inhaltliche Vielfalt im Hinblick auf alle drei Fähigkeiten des PB festzustellen ist. Unter Bezugnahme auf die vorliegenden Studienergebnisse (Reuker, 33,34,a, b; Reuker, 2018) zeigten sich u. a. aber auch dahingehend Unterschiede, dass in der Gruppe E, die über hohe pädagogische und sportpraktische Expertise verfügt, anders als in der Gruppe L mit ausschließlich hoher pädagogischer Expertise, im Mittel öfter sportartspezifische Ereignisse wahrgenommen und unter einer sportartenfokussierten, häufig auch leistungsorientierten Perspektive gedeutet wurden, was sich oftmals auch in entsprechenden methodischen Handlungsalternativen konkretisierte. In Anlehnung an die zuvor dargestellten grundlegenden Überlegungen zum PB lassen sich diese Studienergebnisse als Hinweis auf sozio-kulturell konstruierte gruppenspezifische Übereinkünfte des Sehens und Interpretierens von Gruppen ähnlicher, hier sportpraktischer, Expertise interpretieren (Louie, 2018). Unter Bezugnahme auf die Ausführungen von van Es und Sherin (2021) zum Konstrukt „stretch“ ist der PB sowohl mit der leistungssportlichen Vergangenheit bzw. Gegenwart der Personen als auch mit ihren damit einhergehenden Wertvorstellungen an eine erwünschte Zukunft verbunden. Anhaltspunkte für eine solche sozio-kulturelle Eingebundenheit des PB liefert die folgende Interviewpassage, in der es um den vermeintlich fehlenden Spielehrgeiz der Schüler*innen gehtFootnote 13 und leistungssportliche Einflüsse auf den PB der befragten Lehrkraft ebenso sichtbar werden wie Schwierigkeiten, sich von damit verbundenen Zielvorstellungen im Schulkontext zu lösen:

„Insgesamt ist schon aufgefallen, dass sie zu wenig zielgerichtet zum Brett hin gespielt haben und da wurde eben nicht so – sagen wir mal aggressiv attackiert, wie wir das gerne hätten im Ballsport. (…) Und dann (…) habe ich auch selten jetzt so einen wirklichen Kampf um den Ball gesehen, sondern das war ein bisschen zu partnerschaftlich. Also so ein wirklicher Wettkampfcharakter kam nicht so richtig auf (Als verantwortliche Person, wie würden Sie sich verhalten?). Dann würde ich versuchen, auch ein bisschen den Ehrgeiz zu wecken und versuchen zu vermitteln, dass sie eben mit ihren Pässen nach vorne an den Korb kommen müssen. (Warum wäre das so wichtig?) Ja, das ist eine gute Frage. Vielleicht [lacht] das ist vielleicht auch speziell, weil ich jetzt mit Leistungssportlern zu tun habe und das vielleicht auch so im Hinterkopf habe oder so. Es ist schon richtig, also im Schulbasketball ist jetzt Ehrgeiz und Punkte und unbedingt gewinnen wollen, vielleicht auch wirklich nicht das Wichtigste, das stimmt. Aber trotzdem, wenn wir ein Ballspiel machen (…), also dann hätte ich das schon gerne, das versucht wird, mit einem gewissen Ehrgeiz eben Punkte oder so zu erzielen. Ich finde, das ist schon auch ein Sinn des Spiels, aber ist sicherlich nicht das Wichtigste im Schulsport“ (E14, 00:40:04-3).

Louie et al. (2021) verweisen in diesem Zusammenhang auf sogenannte „culturally dominant frames“ (S. 98) als sozio-kulturell geprägte interpretative Rahmen, welche die selektive Aufmerksamkeit und damit verbundene Priorisierungen von Lehrkräften zumeist unbewusst beeinflussen. Die nachfolgende Interviewpassage soll abschließend veranschaulichen, dass solche sozio-kulturell geprägten Wahrnehmungen und Deutungen von Unterrichtsereignissen und deren defizitorientierte Ausrichtung („deficit noticing“, S. 95) diskriminierend wirken können:

„Bei denen ist mir dann schon wichtig, (…) dass die (die Mädels, Anm.) einfach erst mal spielen, den Ball handeln können, dass die den fangen und sich zuwerfen und keine Angst vor dem Ball haben, gerade vor dem Basketball, wo man sich auch mal die Finger umknicken kann, wenn der ungünstig gefangen wird. (Das ist dir positiv aufgefallen?) ja, sind immer zwei, drei, vier Schülerinnen, die gar noch nicht den Ball fangen können und ganz unsicher sind das war jetzt hier nicht. (Kannst du dir vorstellen, wie du an die Stunde anschließen würdest?) (…) dann kann man auch gucken (…) wie ich dann gemischte Mannschaften bilde und Leistungsstärkere und Leistungsschwächere zusammen (Also auch hier?) Da würde ich dann in so einer Klasse schon immer gucken, dass das ein bisschen ausgeglichen ist (…) oder ich sage: ‚Jeder sucht sich jetzt einen Partner.‘ Und dann habe ich da so die Pärchen vor mir und dann bringe ich die zusammen, wo ich denke, ah ja, jetzt haben sich wieder zwei Starke gefunden, jetzt ordne ich denen mal wieder zwei Mädchen zu oder so etwas“ (L12, 00:56:24-7).

In diesem Beispiel werden „geschlechterdifferenzierende Könnens- und Leistungserwartungen“ (Heckemeyer, 2021, S. 232) zum Ausdruck gebracht, die auf die Frage nach zukünftigen Handlungsentscheidungen eine „sozial ordnende Wirkung entfalten“ (S. 228) und das, obwohl sich die Leistungsvoraussetzungen in dieser koedukativen Gruppe ganz anders gestalten. Dies wird von der Sportlehrkraft auch wahrgenommen, in den didaktischen Konsequenzen aber nicht berücksichtigt. Ungeachtet dessen werden hier weiter diskriminierende Stereotype reproduziert, die auf benachteiligende Partizipationsmöglichkeiten im Sportunterricht verweisen. Unter den Lehrkräften, die die Dimension Geschlecht in dieser Sequenz explizit thematisierenFootnote 14, wurden allerdings nicht nur stereotype Deutungen und Handlungsabwägungen deutlich, sondern andere Lehrkräfte setzen sich auch sehr differenziert und (selbst)kritisch mit den eigenen Wahrnehmungen und Deutungen auseinander.

Konsequenzen für den Professionalisierungsdiskurs im Kontext des Professionellen Blicks

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich die von van Es und Sherin (2021) aufgezeigten Weiterentwicklungen des PB in den Antworten der befragten Sportlehrkräfte beispielhaft aufzeigen lassen. Dabei deuten die Beispiele an, dass sich der PB von Lehrkräften nicht nur über die Fähigkeit zur richtigen selektiven Aufmerksamkeit, Deutung und Handlungsentscheidung bestimmen und fördern lässt, sondern dass er sich auch durch die kritische Auseinandersetzung mit Selektionsprozessen, Deutungsräumen und Handlungsabwägungen charakterisiert, die diese Eindeutigkeit in Frage stellt. Eine solche kritische Auseinandersetzung bedarf einer Offenheit für verschiedene Perspektiven und auch einer Bereitschaft, eigene Priorisierungen sowie Deutungen zu revidieren und Handlungsentscheidungen im Hinblick auf ihre Eignung im Unterrichtsgeschehen fortlaufend zu hinterfragen. Inwieweit sich diese Aspekte als Merkmale der Professionalisierung empirisch bestätigen lassen und wie sie weiter zu konkretisieren sind, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden und wird zukünftig zu klären sein.

Insbesondere mit Blick auf Fragen der Bildungsgerechtigkeit und auf unterrichtliche Diskriminierungsprozesse scheint eine ausschließliche Fokussierung auf die kognitiv-psychologische Perspektive allerdings zu kurz zu greifen und eine Erweiterung um die sozio-kulturelle Perspektive dringend erforderlich (Schicklinski & Reuker, 2023). Im Diskurs um pädagogische Professionalität wird mit biografischen, fachkulturellen oder auch strukturtheoretischen Ansätzen die Relevanz einer solchen Perspektive für die Lehrkräftebildung schon länger aufgezeigt (im Überblick Lüsebrink & Reuker, 2022). Wie zuvor angedeutet, könnte beispielsweise die kritische Analyse von Zusammenhängen zwischen dem im (Leistungs‑)Sport vorherrschenden Leistungsprinzip und dem PB interessante neue Erkenntnisse liefern, wie im internationalen Raum in etwas anderen Zusammenhängen als „coaching“ und „teaching“ Orientierungen von Sportlehrkräften diskutiert (Lawson, 1984). Anschlussmöglichkeiten zeigen sich auch zu dekonstruierenden Perspektiven auf das Leistungsprinzip im inklusiven Sport(Unterricht) (Ruin, Meier, & Leineweber, 2016) und zu kritischen Lesarten zu vorherrschenden Körper- und Normalitätsdiskursen (Heckemeyer, 2021). Die Analyse der selektiven Aufmerksamkeit von Lehrkräften im Hinblick auf Priorisierungen und damit verbundenen Diskriminierungsmechanismen könnten weitere wichtige Erkenntnisse für die Professionalisierung von Sportlehrkräften liefern. Entsprechende Analysen sind anschlussfähig an die Erkenntnisse zu Anerkennungs- und Missachtungsprozessen (Grimminger, 2012) oder auch zum Erleben von Scham (Wiesche & Klinge, 2017) im Sportunterricht. Auch lassen sich vermeintlich wertschätzende Wahrnehmungen von Fähigkeiten im Hinblick auf ihr Stigmatisierungspotenzial kritisch hinterfragen, wie sie mit Bezug auf das Phänomen des Othering auch für den Sportunterricht diskutiert werden (Bartsch, 2021). Inwieweit sich diese sozio-kulturelle Perspektive im Rahmenkonzept des PB mit der kognitiv-psychologischen Perspektive miteinander verbinden lässt, wird zukünftig zu klären sein. Dabei ist zu berücksichtigen, dass den Perspektiven unterschiedliche Professionsverständnisse zugrunde liegen, die auch eine Klärung unterschiedlicher Begriffsverständnisse und theoretischer Bezüge erforderlich macht.

Van Es und Sherin (2021) heben in ihren Ausführungen mit dem Konzept des „multidimensional noticing“ die Relevanz der Einsicht in multiple Wahrnehmungs‑, Deutungs- und Handlungsoptionen hervor und verweisen damit auf die Komplexität des PB und auf die mit der selektiven Auswahl verbundenen (potenziell diskriminierenden) Bedeutungszuschreibungen. Im Beitrag deutet sich an, dass Unterschiede im PB mit situationsspezifischen Zielsetzungen in Verbindung stehen, die sich im Rahmen der übergeordneten Stundenthematik individuell unterschiedlich konkretisieren. Hierbei handelt es sich um Ziele, die aus dem jeweiligen Unterrichtsgeschehen erwachsen, wenn sich Lehrkräfte mit unterschiedlichen Aufgaben (bspw. fachliche Hilfestellungen geben, soziale Prozesse moderieren, Abläufe organisieren) konfrontiert sehen, die sie notwendigerweise priorisieren müssen (Armour, 2010). Wenngleich die konkrete Ausgestaltung der Zusammenhänge zwischen Zielsetzungen und PB noch ungeklärt ist, legen Lerntheorien nahe, dass solchen Zielsetzungen für das, was selektiv wahrgenommen und gedeutet wird, eine entscheidende Bedeutung zukommen könnte (Reuker & Künzell, 2021). Implizit werden solche Überlegungen auch in aktuellen Konzepten zur Förderung des PB berücksichtigt, wenn bestimmte Zielsetzungen als Aufmerksamkeitsschwerpunkt vorgegeben werden (Jürgens & Neuber, 2020; Langer, Bruns, & Erhorn, 2022), um bei der Analyse von mit Video aufgenommenen Unterrichtssequenzen die selektive Aufmerksamkeit für die unter dieser Zielsetzung relevanten Ereignisse zu erlernen. In Anlehnung an die Weiterentwicklungen ist zukünftig zu klären, wie viele Aufmerksamkeitsschwerpunkte gleichzeitig überhaupt wahrnehmbar sind, inwieweit vorgegebene Aufmerksamkeitsschwerpunkte dazu führen, dass man andere Ereignisse nicht wahrnimmt und wie verschiedene Aufmerksamkeitsschwerpunkte am besten miteinander zu verbinden sind. Darüber hinaus ist unter einer sozio-kulturellen Perspektive aber auch den Priorisierungen der selektiven Aufmerksamkeit, die Lehrkräfte im komplexen Unterrichtsgeschehen notwendigerweise selbst vornehmen, zukünftig verstärkt nachzugehen. Auch hier könnten situationsspezifische Zielsetzungen eine wichtige Rolle spielen, die dann im Hinblick auf ihre sozio-kulturelle Bedingtheit und ihr Diskriminierungspotenzial kritisch zu analysieren wären. Unter der Annahme, dass der PB sich als multidimensional verstehen lässt, ist zukünftig zudem zu überlegen, wie diese Vielfalt als Anlass reflexiver Auseinandersetzungen in Bildungskonzepten stärker eingefangen werden kann.