1 Theorie und Theoriebildung in der Sozialen Arbeit

Seit über hundert Jahren wird regelmäßig Kritik an den Theoriediskursen der Sozialen Arbeit vorgebracht. Die Spannbreite reicht dabei von der Kritik an der Qualität und/oder Quantität, über die Feststellung wechselseitiger Nichtwahrnehmung und Nichtbezugnahme bis hin zum Vorwurf des gänzlichen Fehlens adäquater Theoriediskurse.Footnote 1 Dabei sind die formulierten Argumente in ihrer Vielfalt keineswegs widerspruchsfrei und unwiderlegbar. Es wäre z. B. zu fragen, ob als Grund einer Kritik allein die Qualität der kritisierten Theoriediskurse und -entwürfe angeführt werden kann, oder ob nicht etwa die an die Diskurse angelegten Maßstäbe und Erwartungen unpassend sein könnten. Beispielsweise muss die Zersplitterung der Diskurse nicht zwingend als Mangel kritisiert werden, sondern kann auch als Ausdruck der Passung zu den divergenten, historisch gewachsenen und zunehmend komplexer und unübersichtlicher gewordenen Gegenstandsbereichen und Funktionen der Sozialen Arbeit bewertet werden. Zudem ließe sich anführen, dass diese Entwicklung „auch der Expansion des Faches sowie dem ‚Grad an interner Differenzierung‘ (Beck et al. 2001, 63), wie etwa dem Auseinanderdriften gesellschaftlicher Teilbereiche, geschuldet“ (Thole 2012a, S. 57) ist.

Letztlich gilt auch für die Theoriediskurse der Sozialen Arbeit, dass einseitigen und vermeintlich eindeutigen Urteilen skeptisch zu begegnen ist. Die vorgebrachten Kritiken weisen Unzulänglichkeiten und Fehlstellen in den Diskursen der Sozialen Arbeit nach. Aus diesen Defiziten auf den gänzlichen Niedergang oder gar auf das Fehlen der Theoriediskurse zu folgern, wäre allerdings genauso überzogen wie die Abweisung jeglicher Kritik als unbegründet. Festzustellen ist zumindest, dass Diskurse über Theorien der Sozialen Arbeit geführt werden und auch in zahlreichen Übersichtswerken Theorieentwürfe präsentiert, systematisiert und kritisiert werden (vgl. etwa Otto et al. 2018; Thole 2012b; Kreft und Mielenz 2013; Lambers 2020; Engelke et al. 2018). So unterschiedlich diese Darstellungs- und Systematisierungsversuche auch sein mögen und so berechtigt die vorgebrachten Kritiken im Einzelfall auch sind, so kann doch festgehalten werden, dass theoretische und empirische Wissensbestände der Sozialen Arbeit vorliegen (vgl. etwa Kraus 2018b).

1.1 Definitionsnotwendigkeit

Kritisch festzuhalten ist: Einerseits führen zahlreiche Publikationen der Sozialen Arbeit den Begriff Theorie im Titel, andererseits bleibt in vielen dieser Beiträge entweder unbestimmt, welche Kriterien eine Theorie als solche spezifizieren, oder es wird deutlich, wie unterschiedlich die diesbezüglichen Vorstellungen sind (vgl. ähnlich argumentierend etwa Sandermann und Neumann 2018). Allerdings sind diese Schwierigkeiten kein exklusives Spezifikum der Sozialen Arbeit. Sie lassen sich vergleichbar auch in und gegenüber anderen disziplinären Zusammenhängen finden. Auch jenseits der Theoriediskurse der Sozialen Arbeit wird kritisiert, dass der Begriff der Theorie inflationär verwendet, aber keineswegs immer definitorisch bestimmt wird (vgl. Lembeck 2011, S. 2181, Zima 2017, S. 1). Dementsprechend wird auch in Grundlagenwerken zur Methodologie der Sozialwissenschaften die Notwendigkeit zur kritischen Reflexion des Theoriebegriffs moniert:

Der Analyse ihrer Theorien kommt im Bereich der Sozialwissenschaften eine besondere Relevanz zu: zum einen, weil innerhalb der Sozialwissenschaften eine Tendenz besteht, jede Ansammlung von Meinungen, so zusammenhanglos und unbegründet sie auch sein mögen, mit dem Wort „Theorie“ zu würdigen, und zum anderen weil viele sozialwissenschaftliche Theorien, bspw. makrosoziologische Theorien, auch wenn sie begründet sind und eine innere Konsistenz aufweisen, den Anforderungen einer wissenschaftlichen Theorie nicht genügen. (Wenturi et al. 1992, S. 330)

Damit wird dann auch betont, dass es offenbar einen zu beachtenden Unterschied zwischen wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Theorien gibt, auf den im Folgenden noch eingegangen wird.

Auf der Suche nach einem Minimalkonsens zur Bestimmung des Theoriebegriffs finden sich in der Philosophie Hinweise. In den begrifflichen Ursprüngen in der griechischen Antike stand der Begriff Theorie, altgriechisch θεωρέειν theoréein, kontrahiert θεωρεῖν theoreîn, für beobachten, betrachten, [an]schauen und ἡ θεωρία hē theoría für die Anschauung, Überlegung, Einsicht, wissenschaftliche Betrachtung (vgl. Pittioni 2008, S. 611; Lembeck 2011, S. 2180). Gemeint war damit in der griechischen Antike eine besonders würdevolle Form der Erkenntnisgewinnung, die ausdrücklich ohne aktives operieren mit den Gegenständen der Betrachtung auskommt. Insofern geht es um rein gedankliche Untersuchungen, da dieser Form ein höheres Maß an Erkenntnispotenzial als der sinnlichen Wahrnehmung zugebilligt wurde. Die Auseinandersetzung mit der Begründbarkeit und Plausibilität dieser Annahme ist seitdem Gegenstand der Erkenntnis- und der Wissenschaftstheorie, und die Antworten darauf fallen bekanntermaßen sehr unterschiedlich aus (vgl. etwa Lembeck 2011, S. 2180–2193). So wird die Frage, ob reines Nachdenken zur Erkenntnis führen kann oder ob hierzu Empirie notwendig ist, etwa von Idealist*innen theorieimmanent anders beantwortet als von Empirist*innen.

1.2 Definitionsversuche

Nutzen wir zur weiteren Annäherung zunächst eine möglichst weite Definition von Theorie:

Allgemein wird mit T. ein System von Begriffen, Definitionen und Aussagen bezeichnet, das dazu dienen soll die Erkenntnisse über einen Bereich von Sachverhalten zu ordnen, Tatbestände zu erklären und vorherzusagen. (Wienold 2011, S. 685)

Weiter spezifizieren lässt sich diese doch sehr allgemeine Definition mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit, wozu zu klären ist, wie eine Theorie als eine wissenschaftliche qualifiziert werden kann. Die Antwort auf diese Frage fällt allerdings bei näherer Betrachtung weniger eindeutig aus, als es vielleicht zu vermuten wäre. Zwar wird schnell deutlich, dass wissenschaftliche Theorien dadurch klassifiziert werden, dass sie in Genese und Form besonderen Regeln unterliegen. Die Festlegung dieser Regeln gestaltet sich jedoch nicht einheitlich und während die einen versuchen einen Minimalkonsens zu erarbeiten, bestreiten andere, dass dies überhaupt möglich sei (vgl. Rost 2018, S. 13–20).

Bei näherer Betrachtung scheint eine einheitliche Wissenschaftskonzeption kaum möglich, und die Unterschiede gehen über die einfache Unterscheidung von Natur‑, Geistes- und Sozialwissenschaften deutlich hinaus.

Die Unterschiede betreffen vor allem den Spielraum der Aussagegültigkeit, etwa von der Rigidität einer extrem empirisch-positivistischen Position bis hin zu hermeneutischen und phänomenologischen Positionen, für die „Sinn“, „Verstehen“ und „Evidenz“ bereits hinreichende Wahrheits‑, Wahrhaftigkeits- und Angemessenheitskriterien für wissenschaftliche Aussagen darstellen (Matthies/Simon 2009). (Dewe und Otto 2018, S. 1835)

Allerdings können trotz der unterschiedlichen Verständnisse zentraler Kriterien zumindest Anforderungen identifiziert werden, die mehrheitlich als relevant anerkannt werden. Zustimmung dürften etwa folgende Punkte finden: Wissenschaftliche Aussagen sollen grundsätzlich entweder belegt oder begründet werden, die Wege der Genese sollen systematisch, nachvollziehbar und kritisierbar sein, Prozesse der theoretischen und empirischen Erkenntnisgenerierung sollen ergebnissoffen vollzogen werden und deren Ergebnisse prinzipiell falsifizierbar sein (vgl. Kraus 2019, S. 158 ff., 198 ff.). Ein solcher Minimalkonsens ist auch Grundlage der folgenden Bestimmung von Theorie:

Eine Theorie kann aufgefasst werden als ein System von intersubjektiv überprüfbaren, methodisch gewonnenen, in einem konsistenten Zusammenhang formulierten Aussagen über einen definierten Sachbereich. (Dewe und Otto 2018, S. 1835)

Die Frage nach der Bestimmung einer Theorie als eine Theorie der Sozialen Arbeit wird ebenfalls unterschiedlich beantwortet (vgl. etwa Dewe und Otto 2018, S. 1833). Gleichwohl ist festzustellen, dass die Frage nach einer möglichen Gegenstands- und Funktionsbestimmung umfangreich diskutiert wurde und gerade die Vielfalt der Bestimmungsversuche nicht nur die diesbezüglichen Problemlagen verdeutlicht, sondern auch zu einer näheren Vorstellung von Sozialer Arbeit beiträgt (vgl. Klüsche 1999, S. 31 ff.; Hey 2000; Kraus 2012, 2019, S. 145–169). Die Auseinandersetzung mit gängigen GegenstandsbestimmungenFootnote 2 veranschaulicht sowohl die Vielfalt der Praxis als auch, dass neben gegenstandsbezogenen Definitionsversuchen solche vorliegen, die sich eher an den Aufgaben der Sozialen Arbeit orientieren. Zu letzteren gehört auch meine eigene Definition Sozialer Arbeit als Beitrag zur Gestaltung des Sozialen (vgl. Kraus 2019, S. 24, 2021b):

Soziale Arbeit leistet einen Beitrag zur Gestaltung des Sozialen, der ...

  1. 1.

    normativ an den Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit orientiert ist,

  2. 2.

    fachlich in seinen Entscheidungen wissenschaftlich begründet ist,

  3. 3.

    zugleich die Interessen von Individuen und Gesellschaft im Blick hat,

  4. 4.

    in seiner Zuständigkeit auf die Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft fokussiert ist.

Aufgrund der historischen Entwicklung der Sozialen Arbeit mit ihren vielfältigen Feldern (vgl. Galuske 2011, S. 38 ff.) ist es schwer vorstellbar, einen exklusiven Gegenstand der Sozialen Arbeit zu definieren, der zugleich Domänen abgrenzen und alle Handlungsbereiche der Sozialen Arbeit umfassen kann.

Dennoch kann daraus nicht der Verzicht auf die immer wieder neue Bestimmung dessen, was wir unter Sozialer Arbeit verstehen, folgen. Das Ringen um Definitionen der Sozialen Arbeit bleibt schon aus Gründen der innerdisziplinären Selbstverständigung ein notwendiges Unterfangen. Trotz der Unterschiede der vorliegenden Bestimmungsversuche wird an diesen die Notwendigkeit deutlich, sich sowohl mit empirischen Erkenntnissen als auch mit normativen Ansprüchen auseinanderzusetzen. Denn aufgrund der normativen Begründung der Sozialen Arbeit sowie der für sie charakteristischen Fokussierung des Individuums in seiner Umwelt wird theoretisches Rüstzeug benötigt, sowohl zur Reflexion dieser normativen Ansprüche als auch der individuellen und ebenso der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Soziale Arbeit entsteht, besteht und agiert (Kraus 2013, S. 141 ff.).

Damit kommen wir zu der Frage nach den konkreten Relationen von Theorien der Sozialen Arbeit zu empirischen Erkenntnissen und normativen Annahmen. Denn bislang haben wir lediglich die Notwendigkeit solcher Relationen begründet; ungeklärt ist bislang aber, welcher Art diese sein können und sollen.

2 Wissenschaft als Theoriebildung und empirische Forschung

Betrachten wir zur weiteren Konkretisierung nun zunächst die Relation von Theoriebildung und empirischen Erkenntnissen. Basierend auf dem zumindest basal bestimmten Verständnis von Wissenschaft, liegt der Fokus dabei auf den empirischen Erkenntnissen, die nach den Regeln der Wissenschaft als Ergebnis empirischer Forschung zu Stande kommen. Denn gemeinhin gelten „Theoriebildung und Forschung als die beiden zentralen Tätigkeiten der Erkenntnisgewinnung“ (Lüders und Rauschenbach 2005, S. 562).

Mit dem Begriff »Forschung« wird dabei üblicherweise die systematische, d. h. theoretisch und methodologisch begründete und überprüfbare Beobachtung, Beschreibung und Rekonstruktion gesellschaftlicher Ausschnitte der Wirklichkeit auf der Basis sozialwissenschaftlicher Erhebungs- und Analyseverfahren beschrieben (ebd.).

Bei näherer Betrachtung ist allerdings auch diese Bestimmung nicht so unstrittig wie es zunächst scheinen mag. Schon mit der hier verwendeten Unterscheidung zwischen theoretischer Arbeit auf der einen und empirischer Forschung auf der anderen Seite sind Diskussionspotentiale verbunden. So wird etwa angeführt, dass einerseits auch die systematische Beschäftigung mit Texten der Sozialen Arbeit und deren Interpretation als Forschung eingeordnet werden kann, und andererseits auch empirische Forschung Theorie zur Voraussetzung und meist auch zum Ergebnis hat, bzw. zumindest haben sollte (vgl. ebd.). Dennoch wird „Forschung vor allem als empirische Forschung“ (ebd.) verstanden:

Bezeichnet wird damit der gezielte Einsatz sozialwissenschaftlicher Verfahren der Erkenntnisgewinnung, also der Datengewinnung und Datenanalyse (ebd.).

2.1 Praktische und theoretische Notwendigkeiten empirischer Forschung

Thole betont, dass weder Praxis noch Theorie auf Forschung verzichten können (vgl. Thole 2012a, S. 45) und konstatiert trotz der auch von ihm benannten Kritikpunkte:

Die Vielfalt von sich ergänzenden und widersprechenden theoretischen Paradigmen und Konzepten, sowie von empirischen Beobachtungsformen ist ein Indiz für die Existenz und Vitalität einer wissenschaftlichen Disziplin. (ebd.)

Die Kategorisierung von Forschung als Forschung der Sozialen ArbeitFootnote 3 ist mit ähnlichen Schwierigkeiten konfrontiert, wie sie zuvor für die Theorieentwicklung der Sozialen Arbeit thematisiert wurden. Anschließend an die grundsätzliche Unterscheidung zwischen der Bestimmung Sozialer Arbeit über ihre Gegenstände oder über ihre Funktionen, kann die Forschung der Sozialen Arbeit nicht nur über ihre Forschungsgegenstände, sondern mit Blick auf die Funktion der Sozialen Arbeit auch mittels einer spezifischen Forschungsperspektive bestimmt werden.Footnote 4 Ausgehend von meinem zuvor definierten Verständnis von Sozialer Arbeit trägt vor allem die Fokussierung der Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft zur Bestimmung einer spezifischen Perspektive der Forschung der Sozialen Arbeit bei. Damit ist ein deutlich weiteres Verständnis von Forschung der Sozialen Arbeit möglichFootnote 5 als etwa mit Beschränkungen, die ausschließlich praxisorientierte Forschungen als solche gelten lassen.Footnote 6 Eine Reduktion auf Praxisforschung ist m. E. ebenso wie die Beschränkung auf ein praxisanleitendes Verständnis von Handlungswissenschaft eine Verkürzung des Wissenschaftsverständnisses, das die Breite der notwendigen Aufgaben einer Wissenschaft der Sozialen Arbeit nicht umfassen kann (vgl. Kraus 2018b, 2019, S. 155–212).

Wenn der Fokus der Sozialen Arbeit auf dem Menschen in seinen Verhältnissen liegt, muss eine Theorie der Sozialen Arbeit begründete Aussagen sowohl über Menschen als auch über die für Menschen relevanten materiellen und sozialen Verhältnisse ermöglichen. Das ist nun wiederum ohne Empirie nicht vorstellbar. Zwar können wir ohne theoretisch bestimmte Begriffe und begründete Regeln keine empirische Forschung betreiben,Footnote 7 aber ohne empirische Forschung können wir nichts über die Welt, über Menschen und ihre Verhältnisse erfahren. Neben diesen eher pragmatischen Argumenten, gibt es jedoch auch rein theoretische Gründe für die Notwendigkeit von Empirie. Denn mit Kant gesprochen, kann zwar mittels logischer Gesetze die Form von Erkenntnissen beurteilt werden; die Logik ist somit im kantschen Sinne ein „negativer Probierstein“ (Kant KrV 1956 A61/B85). Allein aus der Qualität der Form folgen jedoch keine Aussagen über die Qualität des Inhaltes:

so kann sich niemand bloß mit der Logik wagen, über Gegenstände zu urtheilen und irgend etwas zu behaupten, ohne von ihnen vorher gegründete Erkundigung außer der Logik eingezogen zu haben. (Kant KrV A61/B86)

Mit anderen Worten: Allein mittels Logik kann man nicht zu welthaltigen Erkenntnissen gelangen. Das wäre ein dialektischer Schein, der auf der Verwechslung von Form und Inhalt beruht (vgl. ebd.).

Zu Beginn der transzendentalen Logik unterscheidet Kant Sinnlichkeit und Verstand als zwei Erkenntnisstämme (mit zugehörigen Erkenntniselementen) und bestimmt deren Verhältnis. Dabei betont er zunächst, dass diese ihre Rollen nicht austauschen können:

Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. (Kant KrV A51/B75)

Kant betont, dass keine der beiden Erkenntnisstämme, also weder Sinnlichkeit noch Verstand allein zu Erkenntnis führen können, denn „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ (ebd.).

Insofern gehe ich davon aus, dass die Theorienbildung der Sozialen Arbeit auch empirische Erkenntnisse benötigt, weswegen nachfolgend die grundsätzlichen Möglichkeitsbedingungen empirischer Forschung diskutiert werden.

2.2 Relational-konstruktivistische Möglichkeit empirischer Forschung

Wie dargelegt, hängt die Antwort auf die Frage, ob und inwieweit zur Erkenntnisgewinnung auch Empirie notwendig ist, wesentlich vom jeweiligen wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Standpunkt ab. Vergleichbar gilt dies auch für die Frage, ob mittels empirischer Forschung überhaupt zu Erkenntnissen gelangt werden kann, bzw. welche Qualität diesen zugesprochen werden kann. Besonders deutlich mag dies an konstruktivistischen Diskursen werden, denen stellenweise vorgeworfen wird, sie würden die Möglichkeit empirischer Erkenntnisse grundsätzlich in Frage stellen. Zumindest wird immer wieder problematisiert, dass „radikalisierte“ erkenntnistheoretische Positionen wie die des Radikalen Konstruktivismus dazu führen, dass, „würde man sie ernst nehmen, empirische Forschung eigentlich gar nicht mehr möglich ist“ (Lüders und Rauschenbach 2005, S. 562). Solchen Annahmen widerspreche ich aus einer konstruktivistischen Position, da selbst vor dem Hintergrund einer radikal-konstruktivistischen Erkenntnistheorie die Möglichkeit empirischer Forschung begründet werden kann.Footnote 8 Grundlage für diese Position sind vor allem die beiden folgenden Punkte.

2.2.1 Existierende Realität (Lebenslagen) und konstruierte Wirklichkeit (Lebenswelten)

Konstruktivistisch wird nicht die Existenz der Realität, sondern deren Erkennbarkeit bezweifelt. Aus der Annahme, die Realität nicht abbildend erkennen zu können, folgt keineswegs die Unmöglichkeit empirischer Forschung. Denn selbst radikal-konstruktivistisch wird nicht die Beliebigkeit kognitiver Konstrukte behauptet.

Verdeutlichen lässt sich dies an der Unterscheidung und Relationierung der Begriffe Wirklichkeit und Realität. Dabei steht dann der Begriff der Wirklichkeit für die subjektive Konstruktion eines Menschen. Hingegen der Begriff der Realität für die tatsächlich existierende Welt. Nun wird zwar angenommen, dass die subjektive Konstruktion der Wirklichkeit nicht durch die zur Verfügung stehende Realität determiniert wird und die Realität auch nicht sicher erfasst werden kann. Gleichwohl ist die Konstruktion der Wirklichkeit, wie überhaupt die Konstruktion kognitiver Schemata, nicht beliebig, da sie unter den Bedingungen der Realität Bestand haben müssen. Diese Annahmen sind die Grundlage der relational-konstruktivistischen Bestimmung von Lebenswelt und Lebenslage:

Als Lebenslage gelten die materiellen und immateriellen Lebensbedingungen eines Menschen. Als Lebenswelt gilt das subjektive Wirklichkeitskonstrukt eines Menschen, welches dieser unter den Bedingungen seiner Lebenslage bildet. (Kraus 2019, S. 35)

Zur nähren Bestimmung der Relationalität von Lebenswelt und Lebenslage kann das Modell der Viabilität genutzt werden.

2.2.2 Viabilität und Relationalität von Wirklichkeit (Lebenswelt) und Realität (Lebenslage)

Mit dem Modell der Viabilität lässt sich erklären, dass die Konstruktion der Lebenswelt nicht im luftleeren Raum vollzogen wird, sondern unter den relationalen Bedingungen der Lebenslage. Die jeweilige Lebenslage stellt sowohl die anregenden als auch die einschränkenden Bedingungen zur Verfügung, und das Konzept der Viabilität von Konstruktionen betont, dass sich das subjektive Konstrukt Lebenswelt unter diesen Bedingungen bewähren muss. Nur wenn die subjektiven Lebensweltkonstrukte der jeweiligen Lebenslage nicht widersprechen und das auf ihrer Basis erprobte Handeln zum erwarteten Erfolg führt, können sie Bestand haben und in diesem Sinne viabel sein (vgl. von Glasersfeld 1978, S. 65–75, Kraus 2013, S. 25–26).

Hier wird auch deutlich, dass der Begriff viabel (via, der Weg) für gangbare Wege steht. Konstruktivistisch gilt es also einerseits als grundsätzlich nicht möglich, Theorien mittels Forschung im Sinne eines korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriffes zu qualifizieren. Infolgedessen wird der Versuch einer korrespondenztheoretisch begründeten Wahrheitsbehauptung aufgegeben. Andererseits führt diese Aufgabe nicht in den freien Raum der Beliebigkeit, sondern an deren Stelle lässt sich das Kriterium der Viabilität von Theorien einführen (vgl. Kraus 2019, S. 170–212). Zudem sind damit keineswegs die Kriterien der Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit, Konsistenz und Verallgemeinerbarkeit zu ersetzen, sondern das Kriterium der Viabilität ist diesen Kriterien hinzuzufügen.

Wissenschaftliche Erklärungen können auch unter der Maßgabe der Viabilität die Realität nicht abbilden, aber sie müssen in Auseinandersetzung mit sozialen und materiellen Bedingungen zu gangbaren Ergebnissen gelangen. Dabei geht es aus der hier zu Grunde gelegten Perspektive des Relationalen Konstruktivismus (Kraus 2019) nicht nur um die materiell utilitaristische Ebene erfolgreichen Handelns, sondern auch um die kognitive Ebene „begrifflicher Äquilibration“ (Piaget 1976; Kraus 2019, S. 201). Kognitive Konstruktionen sollen nicht nur erfolgreiches Handeln ermöglichen, sondern darüber hinaus auch in eine möglichst widerspruchsfreie Wirklichkeitskonstruktion integriert werden können bzw. diese ermöglichen. Neue Schemata sollen also aus pragmatischen Gründen der Realität nicht widersprechen und erfolgreiches Handeln ermöglichen und aus Gründen des inneren Gleichgewichts möglichst nicht im Widerspruch zu bisherigen Schemata stehen bzw. eine konsistente Wirklichkeitskonstruktion ermöglichen.

Auch auf Basis einer relational-konstruktivistischen Erkenntnistheorie wird also nicht die erkenntnisgenerierende Funktion von Wissenschaft in Frage gestellt. Es wird keinesfalls bestritten, dass dem erkennenden Subjekt eine Realität gegenübersteht und dass es möglich ist, sich mit dieser mittels empirischer Forschung systematisch auseinanderzusetzen. Mittels welcher Methoden die empirische Erkenntnisgewinnung sinnvoll ist, hängt nun wiederum vom Gegenstand des Erkenntnisinteresses ab – so sind etwa Lebenslagen eher quantitativ erfassbar, wohingegen Lebenswelten qualitative Methoden erfordern.

Festzuhalten ist also, dass unter diesen Maßgaben eine Wissenschaft der Sozialen Arbeit sowohl Theorienbildung als auch empirische Forschung benötigt und dass sich beide Formen der Wissensgenerierung mit der Praxis der Sozialen Arbeit, mit deren Aufgaben und Bedingungen auseinandersetzen können. Dabei wird vorausgesetzt, dass es auch konstruktivistisch möglich und sinnvoll ist, zu diesbezüglich viablen und im Diskurs anschlussfähigen Beschreibungen und Erklärungsmodellen zu gelangen.

Auf dieser Basis ist dann schließlich die Auseinandersetzung mit den Folgen normativer Annahmen für die Praxis der Sozialen Arbeit möglich. Womit wir zu der Frage nach dem Zusammenhang von Wissenschaft und normativen Ansprüchen gelangen.

3 Wissenschaft und normative Ansprüche

Diesbezüglich gilt es ebenso, zunächst die zu relationierenden Begriffe genauer zu bestimmen. Ausgehend von Pieper (1973, S. 1012, Krieger 2018, S. 23 ff.) werden hierzu Normen in vier Typen unterschieden:

  1. 1.

    Normen als Durchschnitt

  2. 2.

    Normen als technisch-pragmatische Muster

  3. 3.

    Normen als notwendige Gesetze

  4. 4.

    Normen als freie Gesetze

3.1 Normen als Durchschnitt

Normen als Durchschnitt gehen von einem empirisch bestimmten Durchschnittswert aus, der als Vergleichsmaßstab zum normativen Anspruch werden kann. Ein Beispiel hierfür wäre etwa die durchschnittliche Lesekompetenz von Kindern in der 4. Klasse. Ebenso können auf diesem Wege normative Ansprüche an Lebenslagen, wie etwa an das Einkommen oder an die Wohnbedingungen bestimmt werden. Insofern können solche Normen nur als Ergebnis von empirischen Erkenntnisverfahren generiert werden.

In den Diskursen der Sozialen Arbeit begegnen uns Normen dieser Art etwa, wenn empirisch bestimmte Durchschnittswerte als das Normale zum Bezugspunkt von Abweichungen gemacht werden. Hier ist dann u. a. zu diskutieren, wie problematisch und/oder notwendig solche Normen sind. Etwa im Bereich der sozialen Diagnostik, wenn Durchschnittswerte genutzt werden, um Förderbedarfe zu identifizieren und zu begründen. Auch Feststellungen von Kindeswohlgefährdungen korrelieren mit derartigen Normalitätsvorstellungen.

Dabei sind normative Ansprüche, die auf Durchschnittswerten basieren ein zweischneidiges Schwert, und es sind sowohl deren Nutzen als auch deren Risiken und Nebenwirkungen zu diskutieren. Bezüglich der Risiken wurde und wird z. B. gesellschaftskritisch problematisiert, inwieweit Soziale Arbeit eine gesellschaftlich orientierte Normalisierungsarbeit ist, welche individuelle Perspektiven übersieht, ignoriert oder anzupassen und zu kolonialisieren versucht (Kraus 2021a). Bezogen auf den Nutzen ist unter anderem zu erörtern, inwieweit derartige normative Ansprüche zur Begründung von Teilhabe- und Unterstützungsbedarfen zumindest hilfreich, wenn nicht sogar notwendig sind.

3.2 Normen als technisch-pragmatische Grund- und Verhaltensmuster

Hier handelt es sich um Normen, die auf der Festlegung von technischen oder sozialen Mustern beruhen. Es wird also etwas per Definition zur Norm: Im technischen Bereich etwa, wenn festgelegt wird welches Maß ein DIN-A4-Blatt hat oder welcher Stromverbrauch zu welchen Energieeffizienzklassen führt. Im sozialen Bereich wäre dies dann die Festlegung von Verkehrs- oder Verfahrensregeln. Beispiele hierfür wären die Normen, die in der Straßenverkehrsordnung festgelegt sind.

In der Sozialen Arbeit begegnen uns solche normativen Ansprüche etwa, wenn in Einrichtungen fallspezifisch bestimmte Leitlinien festgelegt sind. Etwa im Bereich der Kindeswohlgefährdung, wenn regelhaft bestimmte methodische Schritte, Vorgehensweisen und Verfahrensabläufe bestimmt werden. Auch diese technisch-pragmatischen Muster haben Vor- und Nachteile, Nutzen und Risiken. Einerseits geben sie Orientierung und Sicherheit, und zwar nicht nur für die Fachkräfte, sondern auch für die Adressat*innen. Andererseits ist mit jeder Festlegung auf bestimmte Mittel und Verfahren immer auch eine Einschränkung der Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten verbunden. Dennoch sind solche normativen Ansprüche aus guten Gründen in der Sozialen Arbeit Gegenstand theoretischer Reflexionen und empirischer Überprüfungen.

3.3 Normen als notwendige Gesetze

Diese Normen sind das Ergebnis der Festlegung von Regeln, die als erforderlich, also als in der Sache begründet erachtet werden, um bestimmte Ziele zu erreichen. Ein solches Verständnis von Normen beruht im naturwissenschaftlichen Bereich auf empirisch beobachtbaren Regelmäßigkeiten (wie etwa den Naturgesetzen) oder im sozialwissenschaftlichen Bereich auf der Herstellung von Regeln, die zum Erreichen bestimmter Ziele als notwendig angenommen werden. Hierzu gehören auch die formalen Ansprüche, die an Forschung und Theoriebildung gestellt werden. Denn zu diesen notwendigen Gesetzen zählen auch die sogenannten logischen Normen, also „jene Begriffe, Regeln und Gesetze des Denkens, die seine Folgerichtigkeit und Widerspruchsfreiheit verbürgen“ (Pieper 1973, S. 1011).

Diese Normen sind „konstitutiv bzw. regulativ für das Wissen schlechthin“ (ebd.) und können als logisch notwendige Gesetze auch gegenüber wissenschaftlicher Erkenntnisgenerierung in Anschlag gebracht werden. Solche Normen sind es, die bestimmen was als Wissenschaft gilt, und die damit die Unterscheidung ermöglichen etwa zwischen alltäglicher Beobachtung und empirischer Forschung oder von Alltagstheorien und wissenschaftlichen Theorien.

3.4 Normen als freie Gesetze

Mit diesem Normentyp werden Urteilsnormen beschrieben, sowohl im Bereich der Ästhetik (zur Beurteilung des Schönen) als auch im Bereich der Moral und Ethik (zur Beurteilung des Guten). Dieser Normentyp ist zumeist im Fokus, wenn normative Ansprüche in Diskursen der Sozialen Arbeit verhandelt werden. Denn hierzu gehören auch die normativen Ansprüche, die zu den Charakteristika der Sozialen Arbeit beitragen: Auf Werten basierende Forderungen und Orientierungen, die als moralische Ansprüche an die Soziale Arbeit gestellt werden, bzw. die als moralische Ansprüche von der Sozialen Arbeit vertreten werden.Footnote 9

Prominentes Beispiel hierfür wäre die Orientierung an Kriterien der sozialen Gerechtigkeit.

Entscheidend für diesen Typ Norm ist, dass er nicht als zwingendes, notwendiges Gesetz begründet werden kann, sondern als ein freies Gesetz stets das Ergebnis einer Setzung ist. Das ist dann auch anschlussfähig an das, was Max Weber im ersten Werturteilstreit in den 1910er-Jahren als Werte und Wertungen diskutiert hat. Weber bestimmte Wertungen als „[…] ‚praktische‘ Bewertungen einer durch unser Handeln beeinflussbaren Erscheinung als verwerflich oder billigenswert“ (Weber 1922, S. 451).

Im Rahmen der damaligen Debatte plädierte er ausdrücklich für die Trennung von empirischen Feststellungen und praktischen Wertungen sowie für den weitestmöglichen Verzicht auf solche Wertungen in den soziologischen und ökonomischen Wissenschaften. Ob diese Forderung auch für die Theoriebildung in der Sozialen Arbeit aufgestellt werden kann, soll abschließend diskutiert werden. Denn gerade diese Ansprüche sind es, mit denen Soziale Arbeit nicht nur regelmäßig konfrontiert wird, sondern aufgrund derer Soziale Arbeit überhaupt erst als soziale Funktion begründet werden kann (vgl. Kraus 2019, S. 170 ff.).

Ein Blick auf die vorliegenden Publikationen zeigt, dass die Diskurse über Verbindlichkeiten, Gewichtungen und Konflikte von solchen normativen Ansprüchen gegenüber der Sozialen Arbeit, so zahlreich wie vielfältig sind.Footnote 10 Bei näherer Betrachtung kann allerdings festgehalten werden, dass die Debatten vor allem auf das Verhältnis von praktischer Sozialer Arbeit und praxisleitenden Werten konzentriert sind. Das Verhältnis von Wissenschaft und Werturteilen, mithin von normativen Ansprüchen und Theoriebildung ist hingegen kaum im Fokus.

Grund hierfür mag sein, dass für die Praxis der Sozialen Arbeit die Auseinandersetzung mit normativen Annahmen, die als moralische Ansprüche verstanden werden können, unausweichlich ist. Fachkräfte der Sozialen Arbeit müssen fortwährend Entscheidungen treffen und sind dabei von zahlreichen normativen Ansprüchen geradezu umstellt. Sie werden mit normativen Annahmen und Ansprüchen konfrontiert, und sie werden aufgefordert, solche normativen Annahmen anzuwenden. Faktisch greift Soziale Arbeit auf Basis von Werten und normativen Ansprüchen konkret in die Lebensbezüge ihrer Adressat*innen ein, je nach Fall entweder helfend und/oder kontrollierend (vgl. Kraus 2021a). Für die Praxis der Sozialen Arbeit ist also die Auseinandersetzung mit normativen Ansprüchen schon deshalb unausweichlich, da diese zu den Grundlagen fachlichen Entscheidens und Handelns gehören.

Nun ergibt sich diese Folgerung aus den Handlungs- und Entscheidungsnotwendigkeiten der Praxis der Sozialen Arbeit. Von diesen Notwendigkeiten kann hingegen eine Wissenschaft der Sozialen Arbeit entbunden sein und je nach Wissenschaftsverständnis sollte sie dies auch. Aus der Handlungsnotwendigkeit der Praxis lässt sich jedenfalls nicht zwingend ableiten, welches Verhältnis einer Theorie der Sozialen Arbeit zu Fragen der Normativität (und damit zu praktischen Werturteilen) zukommt. Relevanter für die Beantwortung dieser Frage sind sowohl das jeweilige Wissenschaftsverständnis und die zugrunde liegenden Wissenschaftstheorien als auch die zugrunde liegenden erkenntnistheoretischen Positionen. Wichtig zu unterscheiden ist zudem, ob normative Ansprüche Gegenstand von Theoriebildung und Forschung sind, oder ob normative Ansprüche als Anforderung an die Theoriebildung und Forschung gerichtet werden.

Hierzu soll abschließend noch expliziert werden, was implizit schon bei der Diskussion der vier Normentypen Anklang gefunden hat: Die notwendige Unterscheidung von normativen Ansprüchen in wissenschaftsinterne und in wissenschaftsexterne Normen.

3.5 Wissenschaftsinterne und wissenschaftsexterne Normen

Bei der Diskussion der Relation von normativen Annahmen zur Theoriebildung gilt es grundlegend zwei Anspruchsrichtungen zu unterscheiden. Die eine Perspektive reflektiert die Frage, welche Funktion einer Theorie der Sozialen Arbeit bezüglich solcher normativen Ansprüche zukommen kann, die in oder gegenüber der Praxis geltend gemacht werden. Dabei geht es um das Verhältnis von Theorien der Sozialen Arbeit zu wissenschaftsexternen Normen, hier also den Normen der Praxis der Sozialen Arbeit. Diese Normen können Gegenstand sowohl von Empirie als auch von Theoriebildung sein. Typisch wären hier etwa Normen als freie Gesetze, wie der normative Anspruch Soziale Arbeit solle einen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit leisten.

Die zweite Perspektive folgt der Frage, welche normativen Ansprüche an das wissenschaftliche Arbeiten gestellt werden können. Dabei geht es um wissenschaftsinterne Normen, die gegenüber der Wissenschaft und somit gegenüber der Praxis der Forschung und der Theoriebildung der Sozialen Arbeit geltend gemacht werden. Das sind vor allem Normen als notwendige Gesetze wie etwa der Anspruch die Regeln des logisch Notwendigen zu beachten oder auch Normen als technisch-pragmatische Verhaltensmuster, wenn etwa bestimmte Methoden und Verfahren im Bereich des wissenschaftlichen Arbeitens (sowohl theoretisch, als auch empirisch) festgelegt werden. Diese Normen sind also nicht nur möglicher Gegenstand von Forschung und Theoriebildung, sondern vor allem notwendiger Anspruch an Forschung und Theoriebildung, um diese überhaupt erst als wissenschaftlich klassifizieren zu können.

4 Bilanz und Ausblick

Ziel war die Erörterung möglicher Relationen zwischen Theorienbildung, normativen Ansprüchen und empirischen Erkenntnissen. Deutlich wurde dabei, dass Theoriebildung und empirische Erkenntnisse wechselseitig miteinander verbundene und gleichermaßen notwendige Teile einer Wissenschaft der Sozialen Arbeit sind (vgl. Abb. 1). Im Rahmen der Begriffsbestimmungen wurde auch deutlich, dass Theoriebildung und empirische Erkenntnisse erst durch spezifische Kriterien als wissenschaftlich klassifiziert werden. Infolgedessen kann Wissenschaft nicht nur normative Ansprüche zum Gegenstand haben, sondern ist immer auch mit normativen Ansprüchen konfrontiert. Diese normativen Ansprüche ermöglichen erst die Unterscheidung zwischen Alltags- und Wissenschaftstheorien, wie auch zwischen alltäglichen Beobachtungen und empirischen Forschungsprozessen.

Abb. 1
figure 1

Zum Verhältnis von Theorie, Empirie und Normativen Ansprüchen

Zur weiteren Bestimmung des Verhältnisses der als Wissenschaft klassifizierten Bereiche zu normativen Ansprüchen wurden vier Normentypen unterschieden in 1. Normen als Durchschnitt, 2. Normen als technisch-pragmatische Muster, 3. Normen als notwendige Gesetze und 4. Normen als freie Gesetze.

Gerade diese Unterscheidung und die Diskussion der Relevanz der einzelnen Normentypen, sowohl für die Profession als auch für die Disziplin der Sozialen Arbeit, verdeutlichte Folgendes: Selbst unter Maßgabe der Weberschen PositionFootnote 11 auf Werturteile durch die Wissenschaften zu verzichten, können normative Ansprüche Gegenstand von Theoriebildung und empirischer Forschung sein. Dabei handelt es sich um wissenschaftsexterne Normen, die maßgeblich für die Praxis der Sozialen Arbeit sind – wie etwa der Anspruch, Soziale Arbeit solle sich an Kriterien der sozialen Gerechtigkeit orientieren. Deutlich wurde aber auch, dass es normative Ansprüche gibt, die als wissenschaftsinterne Normen an das Betreiben von Wissenschaft gestellt werden können bzw. die insoweit an Wissenschaft gestellt werden müssen, dass erst dadurch Wissenschaft als solche klassifiziert wird. Hierzu gehören wissenschaftsinterne Normen, wie etwa notwendige Gesetze oder technisch-pragmatische Muster, mittels derer die Regeln wissenschaftlichen Arbeitens festlegt werden. Diese normativen Ansprüche werden also benötigt, um die Regeln von Theoriebildung und empirischer Forschung festzulegen. Zudem können wissenschaftsinterne Normen auch Gegenstand von Theoriebildung und empirischer Überprüfung sein und somit gegebenenfalls nach den gleichen Regeln wie wissenschaftsexterne Normen untersucht, entwickelt und diskutiert werden.

Angesichts der vielfältigen Bestimmungsversuche zur Theorie und Empirie in den Diskursen der Sozialen Arbeit und den vielfältigen diesbezüglich relevanten normativen Ansprüchen möchte ich abschließend festhalten, dass weder eine allgemeingültige Bestimmung der Begriffe und noch weniger der Relationen zwischen Theorie, Empirie und normativen Ansprüchen möglich scheint. Eine Forderung, Begriffe und Relationen einheitlich zu bestimmen, wäre somit dem Gegenstand nicht angemessen. Allerdings kann gefordert werden, dass sowohl im Bereich der Theoriebildung als auch im Bereich der empirischen Forschung die genannten Begriffe als auch deren Relationen theoriespezifisch bestimmt werden. Dabei werden die Antworten mindestens so vielfältig ausfallen wie die theoretischen Standpunkte, von denen aus sie begründet werden.

Zu fordern sind also keine einheitlichen Antworten, sondern dass überhaupt eine systematische Erörterung der aufgeworfenen Fragen stattfindet.

Hier liegt m. E. bislang ein deutliches Desiderat sowohl in den empirischen als auch in den theoretischen Diskursen der Sozialen Arbeit vor. Der vorliegende Beitrag soll zum einen die allgemeine Erörterung anstoßen und zu dieser beitragen, zum anderen eine aktuelle Antwort für meine spezifische theoretische Perspektive zumindest skizzieren.