1 Hausbesuche in der Sozialen Arbeit – Einleitung

Seit über hundert Jahren werden Hausbesuche in der Sozialen Arbeit für verschiedene Zwecke genutzt, z. B. um armutsbetroffene Familien und ihre Wohnungen zu inspizieren, um zu kontrollieren, wie sie ihren Haushalt führen und ihre Kinder erziehen, oder um Ansprüche auf materielle sowie immaterielle Hilfe abzuklären (z. B. Hancock und Pelton 1989; Matter 2011; Winter und Cree 2016). Auch heute noch finden Hausbesuche statt, inbesondere im Kindesschutz, wo sie gemeinhin als unumgänglich gelten (z. B. Ferguson 2016). Dennoch finden sich auch Stimmen, die auf die Grenzen von Hausbesuchen in diagnostischer Hinsicht sowie auf Risiken von Kontrollbesuchen für den Aufbau einer Hilfebeziehung verweisen (u. a. Meysen 2008) sowie Bedenken in grundrechtlicher Hinsicht äussern (u. a. Neuffer und Ollmann 2000). Vor dem Hintergrund eines möglichen Eingriffs in die Privatsphäre Betroffener erstaunt es, dass bisher international noch relativ wenig Forschung zu dieser Thematik vorliegt (Ausnahmen für Deutschland: Freres et al. 2019; Urban-Stahl et al. 2017; Gerull 2014; sowie für England: Cook 2017, 2019; Ferguson 2016). In der Schweiz fehlen Studien, die Hausbesuche als eigenständiges Thema behandeln.

2 Hausbesuche als eigenständiger Forschungsgegenstand – Forschungsdesign

Ein im Oktober 2018 an der Fachhochschule Nordwestschweiz gestartetes ForschungsprojektFootnote 1 erforscht abklärend-diagnostische Hausbesuche im Kindes- und Erwachsenenschutz in historischer (1960 bis 1980) sowie gegenwärtiger Perspektive (2000 bis 2020). Um dem föderalen Aufbau des Schweizer Kindes- und Erwachsenenschutzes gerecht zu werden, untersuchen wir verschiedene Regionen der Deutschschweiz. Aus sozialkonstruktivistischer Perspektive fragen wir danach, wie Hausbesuche stattfanden/stattfinden, welches Wissen dadurch erzeugt wurde/wird und wie dieses Wissen weiter prozessiert und entscheidungsrelevant gemacht wurde/wird (vgl. auch Pomey 2017). Das empirisch-qualitative Forschungsdesign umfasst die Erhebung verschiedener Datenmaterialien: Sowohl das historische als auch das gegenwärtige Teilprojekt werten Fallakten aus, in denen sich Berichte von Hausbesuchen finden. Ferner führen wir insbesondere im gegenwärtigen Teilprojekt Expert*innen-Interviews mit Fachpersonen, die Hausbesuche in Auftrag geben oder durchführen und dokumentieren. Weiter ist geplant, auch von Hausbesuchen betroffene Menschen zu interviewen, um deren Sicht auf den Hausbesuch rekonstruieren zu können. Schliesslich führen wir teilnehmende Beobachtungen von Hausbesuchen durch. Wir werten alle Datenmaterialien mitels des dreistufigen Kodierverfahrens der Grounded Theory aus (Strauss und Corbin 1996).

3 Hausbesuche an der Schnittstelle verschiedener Organisationen – Perspektiven und Erkenntnisinteressen

In der Schweiz sind die lokalen Prozesse und Organisationsformen im Kindes- und Erwachsenenschutz vielfältig und wenig einheitlich. Mit der Abklärung wurden/werden meistens Organisationen außerhalb der für die erstinstanzlichen Entscheidungen zuständigen Vormundschaftsbehörden (bis 2012) bzw. Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (ab 2013) mandatiert. Zum Zuge kamen und kommen dabei z. B. kommunale Sozialdienste, aber auch private Non-Profit- und Profit-Organisationen. Deshalb untersuchen wir Hausbesuche als behördlich induzierte Vorgänge, die häufig an der Schnittstelle zwischen mandatierender und mandatierter Organisation stattfanden/-finden. Wir interessieren uns dabei sowohl für Gemeinsamkeiten als auch für Unterschiede zwischen den Regionen und in der historischen Entwicklung: Wie wurden/werden Hausbesuche zwischen 1960 und 1980 und seit 2000 eingesetzt und wie wurden/werden sie dokumentiert? Wer ordnet(e) den Hausbesuch jeweils aus welchem Grund an? Welche fachlichen, juristischen, moralisch-normativen etc. Erwägungen gingen/gehen dem Hausbesuch voran? Wie erleb(t)en betroffene Personen den Hausbesuch?

Diesen Fragen liegt die Annahme zugrunde, dass Akten den „Fall“ durch Praktiken des Schreibens mitkonstruieren (vgl. u. a. Pomey 2017, S. 85 f.). Akten sind jeweils „aus dem Blickwinkel der Institution, die diese Akten für ihre Zwecke anlegt“ (Galle und Meier 2009, S. 108), verfasst. Sie dienen der Legitimation sowie der Nachvollziehbarkeit der getroffenen Entscheide. Berichte von Hausbesuchen sind also kaum je „neutrale“ Dokumente, denn sie sind in der Regel mit einem konkreten Auftrag und aus einer spezifischen Perspektive verfasst: Wie wurde/wird der „Fall“ durch Dokumentationen von Hausbesuchen mitkonstruiert und prozessiert? Wie beeinfluss(t)en Hausbesuche und dazugehörige Berichte den weiteren Fallverlauf, d. h. inwiefern spiel(t)en sie eine Rolle für nachfolgende behördliche Entscheidungen? Welcher Wandel bzw. welche Persistenzen zeigen sich in den Hausbesuchsberichten bezüglich normativer Annahmen, z. B. in Form abwertender Aussagen zu Personen und Wohnungen?

In der Analyse legen wir einen besonderen Fokus auf Geschlechtskonstruktionen im Kontext der Hausbesuchspraxen. Historische Befunde verweisen darauf, dass die Differenzkategorie Geschlecht in Hausbesuchsberichten eine grosse Rolle spielt (u. a. Businger und Ramsauer 2017; Matter 2011). Wie Studien zum Kindesschutz der Gegenwart zeigen, sind insbesondere Vorstellungen von „guter Mutterschaft“ weiterhin von zentraler Bedeutung (u. a. Pomey 2017). Daher fragen wir: Welche geschlechtsspezifischen Beschreibungen bzw. Rollenerwartungen finden sich in den Berichten von Hausbesuchen und inwieweit haben sich diese seit 1960 gewandelt? Inwiefern beziehen sich Geschlechtskonstruktionen auf Wohnen und auf die Haushaltsführung?

Einen weiteren Fokus legen wir auf Raumkonstruktionen, womit wir auch die Grenze zwischen privat und öffentlich ausloten, die durch den Hausbesuch verschwimmt. Denn im „Hausbesuch [wird] der private Raum der Klient_innen zum öffentlichen Raum gemacht“ (Bastian und Schrödter 2014, S. 292; vgl. auch Wolff 1983). Hausbesuche bedürfen deshalb einer Aushandlung, „wo die Grenze zwischen Arbeitsort und Wohnumgebung verläuft, aber auch, wie man sich an diesem Arbeitsort zu benehmen hat, der zugleich ein privater Wohnort ist“ (Müller 2017, S. 299). Welche Vorstellungen von „privat“ und „öffentlich“ lassen sich aus den Hausbesuchsberichten und den Interviews mit den betroffenen Personen sowie den Fachleuten rekonstruieren? Inwiefern verschwimmt die Grenze zwischen privat und öffentlich, welche Aushandlungen finden sich diesbezüglich?

Zu diesen Fragen sollten bis im Frühjahr 2022 die Ergebnisse unserer Studie vorliegen.