Zusammenfassung
Der Aufsatz stellt empirische Forschungsergebnisse vor, wie Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen praktiziert wird. Dazu wird zunächst eine exemplarische Fallgeschichte aus einer demokratieorientierten Kita interpretiert. Darin entscheiden Kinder über die gemeinsame Verwendung eines Kinderliedes. Dabei wird deutlich, dass ihnen demokratische Verfahrensweisen nicht einfach durch die Fachkräfte aufoktroyiert wurden, sondern sie sich diese aktiv selbst aneignen. Das zeigen auch Forschungsergebnisse des dreijährigen empirischen Projekts „Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen“, dessen Leiter der Autor war und dessen Ergebnisse in Bezug auf die Fallgeschichte vorgestellt werden. Es zeigt sich, dass auch schon kleine Kinder in der Kita zu Fragen ihrer Betroffenheit kompetent Demokratie praktizieren können.
Abstract
This paper presents the results of empirical research on how democratic education is practiced within early childhood institutions, beginning with an interpretation of an exemplary case study carried out in a democracy-oriented nursery. In the case study, children decide on the collective use of a song sung in their nursery. The study shows that participatory democratic practice is not something imposed upon the children by professionals, but rather something the children actively acquire themselves. Results of the three-year research project on democracy education in early childhood institutions lead by the author of this paper and comprising the results of the case study at hand indicate the same. It appears that nursery children can even at an early age practice democracy.
Notes
Auch wenn die Realisierung solcher ‚agency‘ im Sinne von Selbstwirksamkeit oder Handlungsfähigkeit wie bei allen Menschen von sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen abhängig ist, so. z. B. von der Anerkennung anderer (Homfeldt 2018) oder von sozialen Positionierung innerhalb diskursiver Machtverhältnisse (Machold 2015).
„Außer Streit steht, dass das Grundgesetz bereits in seiner jetzigen Fassung die Subjektstellung des Kindes gewährleistet“ (Eichholz 2008, S. 16).
Der Text des Volksliedes ist so überliefert: „Ein Hund kam in die Küche und stahl dem Koch ein Ei. Da nahm der Koch den Löffel und schlug den Hund zu Brei. Da kamen die anderen Hunde und gruben ihm ein Grab und setzten ihm ’nen Grabstein, darauf geschrieben stand: Ein Hund kam in die Küche …“ (ad inf.). In der ‚Mops-Variante‘ kommt noch mehr ein Kindchen-Schema ins Spiel.
Das Lied hatte S. Beckett bei seiner Deutschlandreise 1937 in Weimar von Nationalsozialisten gesungen gehört – wie er in seinem Tagebuch berichtet – und es 1952 in „Warten auf Godot“ aufgenommen (vgl. Wahl 2014).
„Die Affen rasen durch den Wald. Der eine macht den andern kalt. Die ganze Affenbande brüllt: Wo ist die Kokosnuss? Wo ist die Kokosnuss? Wer hat die Kokosnuss geklaut? (Ref. 1) //Der Affenonkel, welch ein Graus, reißt ganze Urwaldbäume aus. //Ref. 1 //Die Affenmama sitzt am Fluss und angelt nach der Kokosnuss. Die ganze Affenbande brüllt: //Ref. 1//Die Affentante kommt von fern, sie isst die Kokosnuss so gern. //Ref. 1 //Der Affenmilchmann, dieser Knilch, er wartet auf die Kokosmilch. //Ref. 1 //Das Affenbaby voll Genuss hält in der Hand die Kokosnuss. Die ganze Affenbande brüllt: Es hat die Kokosnuss, es hat die Kokosnuss, es hat die Kokosnuss geklaut (Ref. 2). //Die Affenoma schreit: Hurra! Die Kokosnuss ist wieder da! //Ref 2. //Und die Moral von der Geschicht? Klau keine Kokosnüsse nicht, weil sonst die ganze Bande brüllt: Wo ist die Kokosnuss? Wo ist die Kokosnuss? Wer hat die Kokosnuss geklaut?“ (Text und Musik: Verfasser unbekannt; seit Anfang der 1950er-Jahre in (christlichen) Jugendgruppen gesungen, in der Mundorgel ab 1956. Anm. des Autors: Ich habe das Lied als Kind im Jugendverband sowie als Junggruppenleiter mit Kindern sehr häufig gesungen.).
Als analog zu: Hobbes „homo homini lupus“ hier die Affen (simia = der Affe (lat.)).
Als hätte der Demokratieverächter Platon es geahnt: Für ihn folgt aus Demokratie „die Gleichheit in gleicher Weise unter Gleiche und Ungleiche vertheilt“ dass selbst die Tiere Gleichheit und Freiheit beanspruchen werden: „… als auch die Pferde und die Esel werden sich gewöhnen, in gar freier und stolzer Weise einherzuschreiten, und auf der Straße gegen jeden, der ihnen begegnet, ausschlagen, wenn er nicht aus dem Wege geht; und ebenso werden auch alle übrigen Thiere von Freiheitsschwindel erfüllt sein.“ (Platon: Der Staat).
Die inhaltliche Aussage des Textes der Lieder ist durchaus mit deren musikalischer Stimmung verbindbar. Der Sechsachteltakt des Mopsliedes lässt sich als gleichmäßiges Schwingen, als runde, d. h. sich wiederholende Form, als Schaukeln, auch als Leiern empfinden. Wikipedia behauptet, das Lied ginge auf eine neapolitanische Canzonetta („Oh cara mama mia“) zurück. Erneut zeigen sich ein mütterlich-behütendes Wiegen und die neapolitanische Erfahrung unausweichlicher Wiederholung von Gewalt. Der Viervierteltakt des Affensongs hingegen vermittelt Unruhe, Aktivismus, weitertreibenden Rhythmus. Hier spiegelt sich die hektische Aktivität der Affengesellschaft und damit auch eine Perspektive der Innovation. (Danke an den Pianisten Marc Awolin, Anm. d. Autors).
Zumindest für diesen singulären demokratischen Moment im Sinne J. Rancières.
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Danksagung
Für Diskussionen und Hinweise zu diesem Text danke ich: Marc Awolin, Vera King, Raingard Knauer, Gabriele Undine Meyer, Helmut und Elisabeth Richter, Lotte Rose und Moritz Schwerthelm sowie den anonymen Gutachter*innen des Journals Soziale Passagen.
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Sturzenhecker, B. Kinder praktizieren engagiert Demokratie in der Kita. Soz Passagen 11, 139–154 (2019). https://doi.org/10.1007/s12592-019-00311-7
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