Gegenstand der aktuellen Debatte um eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz, KJSG) ist deren Gesamtzuständigkeit für sämtliche Hilfen für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung, die bislang sowohl Leistungen aus dem SGB VIII als auch dem SGB IX erhalten. Damit steht insbesondere das Verhältnis von Hilfen zur Erziehung und Eingliederungshilfen im Fokus. Dieses Verhältnis verweist darauf, dass neben der Bedarfskategorie ‚erzieherischer Bedarf‘ die Bedarfskategorie ‚Behinderung‘ eine zentrale Schlüsselrolle einnimmt.

Die zugrundeliegende sozialrechtliche Definition von BehinderungFootnote 1 fungiert als zweigliedriges Behinderungsverständnis: Eine Behinderung liegt dann vor, wenn (1.) eine Beeinträchtigung diagnostiziert wird, welche (2.) zu einer eingeschränkten Teilhabe führt. Trotz Betonung der Wechselwirkungen zwischen personen- und umweltbedingten Barrieren wird die Kausalität zwischen Beeinträchtigung und Behinderung nicht überwunden. Bezug nimmt dieses Verständnis sowohl auf das biopsychosoziale Modell von Behinderung (ICF) der WHO sowie den menschenrechtlichen Behinderungsbegriff (Art. 1 UN-BRK). Obgleich sowohl ICF als auch UN-BRK mit deutlichen Erweiterungen einhergehen, sind die Kausalitäten zwischen Beeinträchtigung und Behinderung immer noch vorhanden. Dadurch ist das medizinische Modell von Behinderung nach wie vor sehr wirksam, da die Etikettierung mittels Defizitdiagnose als Voraussetzung für die Zuteilung von Ressourcen fungiert.

Daneben hat der Teilhabebegriff Einzug in das SGB VIII erhaltenFootnote 2. Ebenso wie das zuvor skizzierte Behinderungsverständnis ist auch der Teilhabebegriff im KJSG als ambivalent zu beurteilen. Denn Teilhabe kommt zuvörderst als individualistisches und interaktionistisches Verständnis zur Anwendung (Hopmann 2021a), da auf die „selbstbestimmte[…] Interaktion in allen junge Menschen betreffende[…] Lebensbereichen“ (BT 2021, Begründung zu Art. 1 Nr. 2b, S. 67) abgezielt wird. Darüber hinaus wird Teilhabe auf die Dichotomie Behinderung/Nicht-Behinderung verengt, geht es im SGB VIII doch darum, „die gleichberechtigte Teilhabe von jungen Menschen mit und ohne Behinderungen umzusetzen und vorhandene Barrieren abzubauen“ (§ 9 Abs. 4 SGB VIII).

Insgesamt ist zu konstatieren, dass auch die geplante Zusammenführung der Systeme nicht die bislang immer noch bestehende Notwendigkeit der kategorialen Zuordnung zu überwinden vermag. Die im Rahmen des Strukturentwurfs einer bedingungslosen Kinder- und Jugendhilfe postulierte Abkehr von stigmatisierenden und defizitorientierten Kategorien ist daher auch als Kritik an der bestehenden Behinderungskategorie des SGB IX zu lesen. Zu klären ist jedoch, welche Umgangsweisen mit der Behinderungskategorie sich stattdessen empfehlen und ob mit dem Verzicht auf stigmatisierende Bedarfskategorien auch gleichzeitig ein Mehr an Inklusion einhergeht.

Dis/ability: Mit Behinderung über Behinderung hinaus

Auseinandersetzungen um die Kategorie der Behinderung – vor allem aus Perspektive der Disability Studies – beschäftigen sich überwiegend mit dem Verhältnis von individueller Beeinträchtigung und gesellschaftlicher Behinderung und stellen sich deutlich gegen medizinisch-individualistische Auslegungen von Behinderung. Vor allem aber gehen diese weit über das zuvor skizzierte sozialrechtliche Modell von Behinderung hinaus, welches die Reformdiskussion maßgeblich prägt (Hopmann 2023).

Mit dem Sozialen Modell von Behinderung, dem aktivistisch-materialistischen Modell britischer Provenienz, wird eine systematische Unterscheidung zwischen Beeinträchtigung (impairment) und Behinderung (disability) vorgenommen. Behinderung wird als soziale Ungleichheit angesehen, die ihre Ursache hat in ungleichen sozioökonomischen Strukturen. Demnach habe sich nicht die einzelne Person, sondern die Gesellschaft zu ändern („People are disabled by society, not by their bodies“, UPIAS) (Barnes 2020).

Mit den Jahren hat jedoch auch das populäre Soziale Modell Weiterentwicklungen erfahren. Insbesondere – jedoch ohne Anspruch auf Vollständigkeit – wird auf die Berücksichtigung der „körperlichen, geistigen und psychischen Aspekte von Behinderung“ (Maskos 2022, S. 3) insistiert, um diese nicht allein naturalisierend der Medizin zu überlassen. Es finden zunehmend differenzierte Debatten darüber statt, „when does discourse end and the brute material fact of the body begin?“ (Goodley 2017, S. 135), welche eine deutliche Erweiterung für die Verhältnisbestimmung von Beeinträchtigung und Behinderung darstellen. Auch der „Zwangscharakter gesellschaftlicher Fähigkeitsorientierung“ (Karim und Waldschmidt 2019, S. 272) rückt im Rahmen einer Ableismus-Kritik gesellschaftlicher Normalitätsvorstellungen – pointiert durch die Unterscheidung von dis/ability bzw. Un/Fähigkeit – zunehmend ins Blickfeld. Fruchtbar für eine differenziertere Betrachtung von dis/ability ist einerseits die Pluralisierung der Ansätze und Theorien insbesondere durch die diversifizierten Particular Studies, andererseits tragen die transdisziplinär und intersektional ausgerichteten Critical Disability Studies für eine Erweiterung der Theoriedebatten (u. a. postkoloniale, queere, feministische Theoriestränge) bei (Goodley 2017, S. 191ff.; Waldschmidt 2020, S. 152ff.).

Die hier nur knapp skizzierten Begriffsdebatten der (Critical) Disability Studies könnten dazu beitragen, mit der Kategorie Behinderung über Behinderung hinaus zu denken, um somit den stigmatisierungskritischen Hauptfokus einer bedingungslosen Kinder- und Jugendhilfe zu erweitern.

Inklusion bedeutet mehr als nur Verzicht auf stigmatisierende Kategorien

Dass Inklusion eine über den Verzicht auf stigmatisierende Kategorien hinausreichende Bedeutung hat, lässt sich mithilfe der Theorie der trilemmatischen Inklusion (Boger 2019) verdeutlichen. Diese führt verschiedene inklusionsbezogene Theoriestränge zusammen und bündelt diese in insgesamt drei differenztheoretischen Leitsätzen, von denen jeweils zwei den dritten ausschließen: Erstens ist Inklusion als Empowerment zu verstehen, da Bemühungen der Selbstermächtigung einen zentralen Aspekt darstellen. Zweitens fungiert Inklusion als Normalisierung, da damit ebenso einhergeht, ein ‚normaler‘ Mensch sein zu dürfen, ‚normal‘ behandelt zu werden sowie gleiche Rechte zu haben. Drittens bedeutet Inklusion Dekonstruktion, da Kategorisierungen (insbesondere binäre Codes wie behindert/nicht-behindert) der Kritik unterliegen und deren Unterlassung oder wenigstens deren Irritation angemahnt werden.

Inklusion als Empowerment und Normalisierung fordert das Recht an einer Normalität ein, womit häufig auch ein „strategischer Essentialismus“ einhergeht. Diese Bemühungen schließen Dekonstruktion insofern aus, als dass dieses Recht nicht eingefordert werden kann, ohne auf die Kategorie der Behinderung zu verweisen.Footnote 3 Inklusion als Normalisierung und Dekonstruktion impliziert die Dekonstruktion von Normalität, um sich als „die Anderen“ nicht mehr „anders“ zu fühlen. Diese Strategien schließen Empowerment aus, da Empowerment gerade davon lebt, als „die Anderen“ zu sprechen. Schließlich zielt Inklusion als Dekonstruktion und Empowerment darauf ab, sich von Normalitätsvorstellungen durch die Zurückweisung der zugeschriebenen Opferrolle zu emanzipieren (siehe z. B. die sogenannten „Krüppelbewegungen“). Hier wird Normalisierung bewusst ausgeschlossen, da es dezidiert um eine Verweigerung von Anpassung geht (vgl. Boger 2015, S. 52ff., 2019).

Nicht nur bedingungslose Zugänge, sondern auch bedingungslose Eröffnung von Befähigungen

Inklusion zeichnet sich jedoch nicht nur durch eine Diversität verschiedener Zugänge aus, wie dies anhand der trilemmatischen Inklusion verdeutlicht wurde, sondern auch durch die Frage nach dem normativen Gegenstand inklusiver Bemühungen. Als eine solche normative Matrix für Inklusion kann der Befähigungsansatz (capabilities approach) herangezogen werden, der zentrale Bedingungen für ein gutes und wohlergehendes Leben eines jeden Menschen fundiert und als Reaktion auf Benachteiligungen in den Befähigungen (Soziale Exklusion) zu verstehen ist (Hopmann 2021b).

Konkret geht es sowohl (als substantielle Inklusivität) um die selbstbestimmungsfunktionale Ermöglichung und Unterstützung menschlicher Entwicklung im Einklang mit der menschlichen Würde (Hopmann 2019, S. 188; Nussbaum 2011, S. 152ff.), als auch (als prozedurale Inklusionsperspektive) um die Emanzipation als*durch Eröffnung von Befähigungen in Form von (Selbst-)ermächtigung und Erweiterung individueller Macht- und Autonomiespielräume (Waldschmidt 2020, S. 177ff.; Ziegler 2018, S. 1342).

Mit diesem Verständnis von Inklusion als Befähigung werden somit nicht nur tatsächlich realisierte Handlungen und Daseinsweisen und deren Unterstützung in den Blick genommen (Subjektperspektive), sondern insbesondere potenzielle Möglichkeiten vor dem Hintergrund sozialer, politischer und ökonomischer Ermöglichungsräume als Eröffnung von Befähigungen (Infrastrukturperspektive). Eine solche Inklusionsperspektive geht über bedingungslose Zugänge – so wichtig diese auch sein mögen – deutlich hinaus, da der Blick auch auf Ermöglichungspotenziale gerichtet wird.

Fazit und Ausblick: Bedingungslose Inklusion

Innerhalb der aktuellen SGB VIII-Reformdebatte sind nicht nur Inklusion (und Teilhabe) nach wie vor begrifflich unterbestimmt, sondern auch die bestehende Kategorie der ‚Behinderung‘ setzt den Reformbemühungen deutliche Grenzen. Eine bedingungslose Kinder- und Jugendhilfe könnte dazu beitragen, die Defizitorientierung und Stigmatisierungsgefahr der Kategorisierungen bei Behinderung überwinden. Damit stellt Bedingungslosigkeit einen wichtigen, allerdings nicht hinreichenden Baustein sowohl für die Kategorie der Behinderung als auch für Inklusion dar.

Der Stigmagefahr der sozialrechtlichen Behinderungskategorie lässt sich mithilfe einer bedingungslosen Bedarfsprüfung zwar begegnen, die vermeintliche Eindeutigkeit der Kategorie BehinderungFootnote 4 lässt sich jedoch erst unter Hinzunahme weiterführender Debatten um dis/ability dechiffrieren und überwinden. Die knappe Perspektivierung von Inklusion als Differenz- und Befähigungsgerechtigkeit verdeutlicht erstens, dass Inklusion sich nicht allein im – zweifellos wichtigen – Anliegen der Entstigmatisierung und Dekategorisierung erschöpft, sondern ein Nebeneinander vielschichtiger, jedoch gleichsam wichtiger diskriminierungskritischer Zugänge darstellt. Zweitens kann es nicht allein um bedingungslose Zugänge (d. h. Wegfall der Bedürftigkeitsprüfung) gehen, sondern vielmehr auch um die bedingungslose Unterstützung selbstbestimmter Lebensentwürfe und insofern bedingungslose Inklusion.